Winzerfluch - Britta Habekost - E-Book
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Britta Habekost

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Realität ist eine Illusion – die durch einen Mangel an Wein entsteht. Carlos Herb, Privatdetektiv aus Hamburg, kehrt in seinen Sehnsuchtsort, das wunderschöne Elwenfels in der Pfalz, zurück – doch seine Ankunft steht unter keinem guten Stern. Ein brutaler Mord erschüttert die Dorfgemeinschaft, der Täter ist geständig. Doch Carlos Herb hat berechtigte Zweifel. Im Wald hinter dem Dorf wird irgendetwas vertuscht. Hat das Opfer etwas beobachtet, das ihm zum Verhängnis wurde? Als eine völlig verstörte Frau auftaucht, eskaliert die Lage, und es steht mehr auf dem Spiel als nur der Frieden in Elwenfels. Zwischen Weinreben und Pfälzer Lebensart wartet eine tödliche Überraschung … und jede Menge rasanter Krimi-Spaß!  In vino veritas – der Täter hat keine Chance! Packen Sie Ihre Koffer und auf nach Elwenfels! Jeder Fall für Privatermittler Carlos Herb ist ein Weinfest für Krimi-Fans und kann unabhängig voneinander gelesen werden. Unser Serviervorschlag: Bei "Weingartengrab" anfangen, nach vorne durcharbeiten und wieder neu beginnen. Denn diesen Regionalkrimi werden Sie ins Herz schließen!  Alle Bücher der Elwenfels-Reihe: Band 1: Rebenopfer Band 2: Winzerfluch Band 3: Rieslingmord Band 4: Weingartengrab Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

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© Piper Verlag GmbH, München 2020

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: SilkenOne / Getty Images und Motive von Shutterstock.com

Karte: Tino Latzko

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Inhalt

Cover & Impressum

Achtung / Owacht

Karte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Glossar

Abspann

Donkschää!!!

Achtung / Owacht

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Das Dorf Elwenfels gibt es in (dieser) Wirklichkeit nicht. Ähnlichkeiten mit pfälzischen Lebendigkeiten, Mentalitäten, existierenden Orten und Persönlichkeiten waren allerdings nicht zu vermeiden.

Prolog

Ganz weit draußen, wo auch die letzten Wege enden, wird der Wald so undurchdringlich und dunkel, dass nur die Eingeweihten von Elwenfels die unsichtbaren Pfade kennen.

Hier, an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, kämpfte sich ein Mann durch den stockfinsteren, nächtlichen Wald. Plötzlich waberte Licht durch die dichten Stämme. Irritiert blieb der Mann mit einem Ruck stehen. Schweiß brach ihm so heftig aus allen Poren, dass es richtig wehtat, und ihm wurde schmerzlich bewusst, was er da eigentlich vorhatte. Und was passieren würde, wenn sie ihn erwischten.

Er stand reglos zwischen den Bäumen im Unterholz und knipste die Taschenlampe aus. Sein Rucksack fühlte sich an wie eine schwere Last, die seinen ganzen Körper nach unten zu drücken schien. Dabei befand sich nur ein einziger Gegenstand darin, und der war eigentlich nicht sonderlich schwer.

Angestrengt starrte er zwischen die Scherenschnitte der Äste und Blätter. Hier, unmittelbar vor der Lichtung am ehemaligen Kletterfelsen, wo unterirdisch ein Bach entsprang und durch ein kleines Bett aus Steinen, Moos und Sträuchern sprudelte, schien das Wort »Idylle« erfunden worden zu sein. Doch er hatte nie besonders viel für diese Stelle übriggehabt – sie war nur eine einprägsame Wegmarke zu einem anderen Ort tiefer im Wald. Und dieser Ort war viel wichtiger. Das leise Rauschen und Gurgeln des Baches bot eine gute Orientierung in der Nacht. Es half ihm, auf dem richtigen Weg zu bleiben – ein Weg, der schon bei Tageslicht verschlungen und schwer zu finden war.

Dort vorne war etwas. Etwas, das dort nicht sein sollte. Der Mann kniff die Augen zusammen. Im diffusen Licht sah er undeutlich die Schemen von Menschen. Rufe und Gesprächsfetzen wehten zu ihm herüber. Auf einmal überlagerten andere Gefühle seine Furcht vor Entdeckung: bittere Wehmut und wütender Trotz.

Sie hatten ihn wieder einmal ausgeschlossen. Er bekam grundsätzlich nichts mit von ihren heimlichen Zusammenkünften. Sie weihten ihn niemals ein. Nicht dass es ihn interessierte, er hatte wenig zu schaffen mit der Dorfgemeinschaft. Aber weh tat es ihm doch. Es hielt ihm vor Augen, wo er im Leben stand. Am Rand. Immer am Rand und außen vor.

Jetzt trafen sie sich also wieder einmal auf der Lichtung am Felsen. Der Sinn dahinter erschloss sich ihm nicht, aber er hatte ohnehin aufgehört zu versuchen, die anderen zu verstehen. Da hätte man genauso gut versuchen können, sich auf Klingonisch zu verständigen. Sollte er umkehren? Er konnte sich zwar an ihnen vorbeischleichen und sein Ziel in einem weiten Bogen ansteuern. Doch dann lief er Gefahr, sich entweder zu verlaufen, oder sie würden ihn entdecken. Und was sie dann mit ihm anstellten, wollte er sich gar nicht erst ausmalen.

Auch wenn er nun seinen ursprünglichen Plan nicht weiterverfolgen konnte, war jetzt die Gelegenheit, endlich einmal herauszufinden, was in aller Welt sie dort trieben. Schließlich glaubten sie sich unbeobachtet.

Ohne die Taschenlampe wieder einzuschalten, ging er ein paar Schritte vorwärts und näherte sich der Stelle, wo er das diffuse, huschende Licht wahrnahm. Mit jedem Schritt wurde die Szene klarer. Und auch die Geräusche wurden deutlicher.

Er runzelte die Stirn. Etwas stimmte nicht. Die Stimmen hörten sich fremd an. Und die Geräusche … Er wusste nicht, wie er es benennen sollte. Sie passten nicht hierher. Seine Brust verengte sich ein wenig, aber er lief weiter. Schließlich blieb er zwischen zwei Bäumen stehen und hatte volle Einsicht auf die Lichtung. Was war das? Seine Fantasie wollte ihm einreden, dass hier gerade ein Raumschiff gelandet sei.

Er sah, dass das Licht von zwei Lagerfeuern kam, von Sturmlaternen und einem Baustrahler, dessen Reflektor auf die Steinwand gerichtet war. Die Kletterhaken warfen lange Schatten auf den Fels. Einige der Zelte auf der Lichtung waren von innen beleuchtet. Er verstand nicht, was sich da vor seinen Augen abspielte. Er konnte nichts damit anfangen. Letztendlich erklärte er es sich damit, dass sie hier einen Film drehten, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte. Aber warum erlaubten die Elwenfelser so etwas? Sie hüteten den Wald und all seine Geheimnisse doch so eifersüchtig. Niemals hätten sie zugelassen, dass sich hier auf der Lichtung so eine absolut verstörende Szene abspielte. Da war er sich ganz sicher.

Was hatte dieses Geschehen vor der Steilwand zu bedeuten? Angstvolles Keuchen. Ein Mann, der sich im Griff der anderen wand. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet, sein Mund verzerrt zu einem stummen Schrei.

Der heimliche Beobachter blinzelte. Ja, das waren eindeutig Tränen, die er im Schein der Lampen auf dem Gesicht des Mannes sah. Er bettelte und flehte, das konnte man trotz der fremdartig klingenden Worte verstehen. Seine Körpersprache war eindeutig. Die anderen lachten und hielten etwas Schwarzes in die Höhe.

Unwillkürlich machte er einen Schritt rückwärts und hielt die Luft an. Das konnten die doch nicht ernst meinen? Warum schritt denn niemand ein? Da waren doch mindestens zwanzig Leute auf der Lichtung, darunter auch einige wenige Frauen. Warum standen die alle tatenlos herum und befeuerten das Geschehen noch durch begeisterte Zurufe? Was hatte der arme Kerl verbrochen, dass sie ihm so etwas antaten?

Der Beobachter schluckte. Nur schnell weg von hier. Er wollte sich gerade leise zurückziehen, als die Aktion auf der Lichtung noch dramatischer wurde. Drei Männer drückten ihr Opfer brutal zu Boden und stülpten ihm einen schwarzen Stoffsack über den Kopf. Unterdrückte Schreie, verzweifeltes Zappeln. Im nächsten Moment trat einer vor und drückte eine Pistole an den schwarzen Sack. Nein, das war zu viel.

Er wirbelte herum und begann zu rennen. Doch schon nach drei Schritten stolperte er über eine Wurzel, krachte ins Unterholz, rappelte sich hoch und warf erschrocken einen Blick zurück. Auf der Lichtung waren alle in ihren Bewegungen erstarrt und schauten in seine Richtung. Jemand rief etwas, dann wurde ein starker Scheinwerfer auf den Wald gerichtet. Er kniff die Augen zu und hob die Hand vors Gesicht. Für Sekunden verlor er die Orientierung. In welche Richtung lag sein Rückweg? Er drehte sich aus dem hellen Lichtstrahl und hastete blindlings los.

Sie hatten ihn gesehen. Panik flutete seinen Körper. Die Taschenlampe glitt aus seiner Hand. Äste peitschten ihm ins Gesicht, seine Knie schmerzten vom Sturz. Folgten sie ihm? Mittlerweile war ihm egal, ob er sich im Wald verirren würde. Wenn er nur möglichst viel Abstand zwischen sich und die Lichtung brachte. Sein Herz schlug wild, und sein Brustkorb brannte von der ungewohnten Anstrengung. Kurz Atem holen. Widerwillig blieb er stehen und sah zurück. Nichts. Nur das schwache Licht in der Ferne. Niemand. Da war niemand. Oder doch? Er glaubte, die Anwesenheit eines anderen Menschen zu spüren.

Mann, das sind nur deine überreizten Nerven, sagte er sich. Wie sollen die dich denn im Dunkeln finden?

Er hastete weiter und hatte nur noch den einen Wunsch: so schnell wie möglich zurück ins Dorf, in sein Haus, in sein Bett. Und vergessen, was er gesehen hatte. Sein ursprünglicher Plan kam ihm jetzt völlig absurd vor. Er würde nie wieder einen Fuß in den Wald setzen, erst recht nicht nachts.

Er blieb noch einmal stehen und sah zurück. Nichts. Aber das beruhigte ihn kaum. Jetzt, wo diese Gefahr gebannt war, kam die Angst zurück, sich wirklich zu verlaufen. Wie sollte er ohne Taschenlampe zurückfinden? Doch plötzlich sah er zwischen den Zweigen die schwachen Umrisse von Häusern und einen zarten Lichtschimmer. Erleichtert atmete er aus. Noch nie war er so froh gewesen, in das Dorf zurückzukehren. Er lief jetzt gemächlicher, und die Zweige knackten unter seinen Tritten.

Er wischte sich abgerissene Blätter aus dem Haar und näherte sich der Mauer, die den Ort umgab. Er musste sich nur kurz orientieren, um zu sehen, dass er nur wenige Meter von seinem Haus entfernt gelandet war. Noch mal Glück gehabt, dachte er. Ihm war vor Erleichterung fast schwindelig. Er tastete nach den Steinen der niedrigen Mauer und wollte sich gerade darüberschwingen, als er den Umriss einer Gestalt sah. Direkt neben ihm schälte sie sich aus der Dunkelheit des Waldes.

Ihm blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Er wollte gerade etwas sagen, wollte sich rechtfertigen, als die Gestalt ausholte und ihm mit voller Wucht etwas Schweres, Hartes auf den Kopf schlug. Einen Stein.

Es ging ganz schnell. Sein Körper reagierte verspätet, er tastete noch einmal nach der Steinmauer und sah verwundert in das Gesicht vor sich. Der Stein sauste noch einmal herab und traf ihn an der Schläfe. Sein Gesichtsfeld schien zu explodieren, er taumelte. Bevor er ganz zuletzt seinen Geruchssinn verlor, nahm er noch einmal das ganze wunderbare Aroma des Waldes wahr. Im Sturz bekam er eine der Efeuranken zu fassen, die an der Mauer hochkletterten. Er empfand noch eine Art Trost, sich daran festhalten zu können. Dann fühlte er nichts mehr.

Kapitel 1

Wie ein bereits vielen Lesern bekannter Privatdetektiv drei pfälzische Nadeln in einem Hamburger Heuhaufen findet

Ein Ellbogen landete grob in Carlos Herbs Rippen, und ein Schwall Bier ergoss sich aus einem Plastikbecher direkt auf seine Hose.

»Ja, danke. Ich dich auch«, knurrte er genervt in Richtung des ausgelassenen Typen rechts neben sich.

Doch der bemerkte es gar nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die lauthals geschrienen Sprüche mitzugrölen, die jetzt durch das Stadion hallten.

Ich sollte bei gewissen Aufträgen in Zukunft eine Gefahrenzulage verlangen, dachte Carlos. Dazu eine Reinigungspauschale. Und eine gegen Hörschäden und Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit.

Seine Laune befand sich seit einer halben Stunde im steilen Sinkflug. Er machte sich ganz klein zwischen den johlenden Fans des FC St. Pauli und hoffte, dass die zwei Stunden, die er hier gefangen sein würde, schnell vorübergingen. Bis jetzt war noch nicht mal der Anpfiff erfolgt, und Carlos Herbs Toleranz war bereits aufgebraucht. Er redete sich ein, dass auch das Teil seiner Arbeit war und er jetzt einfach die Zähne zusammenbeißen musste.

Seine Hand umklammerte das kleine Opernglas in der Jackentasche. Er durfte auf keinen Fall das Objekt seiner Beobachtung aus den Augen verlieren. Der Rest war unwichtig. Sicherheitshalber setzte Carlos das Glas an und sah, dass Bernhard Schüssler noch da war. Seine Zielperson stand in der Mitte der Gegengerade und vollbrachte gerade das Kunststück, gleichzeitig mit seinen beiden Nebenmännern zu sprechen, mit der einen Hand eine Bratwurst und einen Plastikbierbecher zu halten und mit der anderen, die ein Handy hielt, Selfies dieser Szene zu knipsen. Carlos steckte sich so unauffällig wie möglich ein Teleobjektiv auf sein iPhone und machte ein paar Bilder von Schüssler. Es lohnte sich gewiss herauszufinden, wer seine beiden Begleiter waren.

Wieder knallte ein Ellbogen in seine Seite, sodass ihm fast das Handy aus der Hand fiel. Bierdunst stieg in seine Nase, und Carlos stellte fest, dass er Durst hatte. Aber sich jetzt, so kurz vor dem Anpfiff, noch einmal durch die Menge zu schieben, um sich am Getränkestand anzustellen? Auf gar keinen Fall.

Carlos hasste große Menschenmengen. Erst recht ausgelassene, laute, grölende, alkoholisierte Menschenmengen. Er kam sich dann vor wie ein Gänseblümchen auf einer Weide voller Kühe. Und noch dazu hasste er Fußball. Er hatte nie verstanden, warum man um diesen Sport einen solchen Hype machte, warum an jedem Wochenende laut singende Horden durch Hamburg zogen, um ihren Vereinen zu huldigen. Andere größere Städte mussten dieses Spektakel wenigstens nur einmal alle zwei Wochen erleben, aber Hamburg besaß gleich zwei Clubs, die Tausende von sogenannten Fans in ihren Bann zogen.

Für Carlos gab es allerdings einen winzigen Lichtblick in diesem Chaos, dem er sich ausgeliefert hatte. Der heutige Gegner von St. Pauli hieß: 1. FC Kaiserslautern. Als Carlos den Namen des pfälzischen Traditionsvereins auf der Eintrittskarte gelesen hatte, war ein erwartungsvolles Prickeln in seinem Nacken aufgestiegen. In seinem Innern hatte sich ein schönes Gefühl ausgebreitet, das nicht gerade Dauergast war: Freude. Er hob das Opernglas und sah hinüber in den gegnerischen Block. Eine wogende Menschenmenge in Rot. Vielleicht achthundert Pfälzer, die sich dort drüben selbst feierten. Darin waren sie wahrlich Meister, auch abseits von Fußballstadien. Carlos lächelte unwillkürlich und stellte sein Opernglas schärfer. Sollte vielleicht das eine oder andere bekannte Gesicht dort drüben …

Mann, motivierte sich Carlos, jetzt konzentrier dich auf deine Arbeit! Er sah wieder hinüber zu Bernhard Schüssler, der mit seinen Begleitern für ein neues Selfie posierte. Was gab es hier zu observieren? Aber sein Auftrag lautete, Schüssler nicht aus den Augen zu lassen. Der Immobilien-Boss, der in alle möglichen Finanz- und Halbweltgeschäfte verstrickt war, traf sich hier vielleicht noch mit jemandem, der von Interesse sein könnte. Es musste ja nicht gleich der Innensenator sein, obwohl auch der schon in seiner Nähe gesichtet worden war.

Carlos überwachte Schüssler jetzt schon seit einer Woche, und er tat es so gewissenhaft, dass er sich sogar den Horror eines Fußballspiels zumutete. Der Auftrag war wenigstens gut bezahlt, auch wenn er sich dabei langweilte und den alten Zeiten nachtrauerte. Er konnte heute immer noch bei der Kriminalpolizei sein. Wenn nicht … Nein, daran wollte er jetzt nicht denken. Carlos atmete tief durch. Plötzlich ertönten die ersten Takte von AC/DC’s Hells Bells, und der erwartungsfrohe Jubel erreichte einen vorzeitigen Höhepunkt. Die Mannschaft erschien im Stadion und wurde lauthals begrüßt.

Carlos hob das Opernglas und betrachtete die frenetisch mit ihren roten Schals wirbelnden Fans des 1. FC Kaiserslautern. Das Geschehen auf dem Platz trat in den Hintergrund. Warum wurde er nur immer noch so gefühlsduselig, wenn er an die Pfalz dachte? Plötzlich war er aufgeregt wie ein kleiner Junge. Die Erinnerungen an den vergangenen September kamen mit solcher Wucht zurück, dass Carlos’ Umgebung für eine Weile von ihm abrückte und sich etwas wie eine Trennwand zwischen ihn und die schreienden Fans schob. Es war jetzt acht Monate her, dass Carlos selbst fast zu einem Spiel auf den Betzenberg in Kaiserslautern gefahren war, eingezwängt in einen knallroten Londoner Doppeldeckerbus, in den sich viel mehr Bewohner eines ganz besonderen Dorfes gezwängt hatten, als es eigentlich erlaubt war.

Elwenfels.

War das wirklich in diesem Leben passiert?, fragte er sich. Das kleine Dorf im Pfälzerwald erschien ihm unendlich weit weg von Hamburg. So weit weg, dass er sich immer wieder bei dem Gedanken ertappte, die Ereignisse damals nur geträumt zu haben. Elwenfels – das war eine Insel in seinem Kopf, die den gleichen Stellenwert hatte wie bei anderen Menschen solche Orte wie Mittelerde, Narnia oder Hogwarts. Naja, vielleicht nicht ganz so fantastisch. Aber im Angesicht der schnöden deutschen Realität war die Versuchung groß, mithilfe magischer Welten dem Alltag zu entrücken. In Elwenfels und in dem Wald, der das Dorf umgab, war die Wirklichkeit eine ganz andere. Diese Diskrepanz ließ Carlos immer wieder glauben, dass er seine Erlebnisse nur geträumt hatte. Eigentlich wusste er nur eines mit absoluter Sicherheit: dass in Elwenfels die besten Menschen lebten, die die Evolution hervorgebracht hatte.

Die Sehnsucht nach dem Dorf fühlte sich an wie eine kleine, enge Kammer in seinem Herzen, wo die Tür klemmt und es kein Fenster gibt, durch das man hineinklettern kann. Es hatte bisher keinen Anlass und keinen Grund gegeben, noch einmal dorthin zu fahren. Aus Elwenfels war er damals zurückgekehrt mit einem Dachgepäckträger, der mit den Abschiedsgeschenken der Dorfbewohner voll beladen war, darunter auch drei Kisten Pfälzer Riesling – die hatte er allerdings auf dem Rücksitz verstaut. Dass sie ihn vom passionierten Bier- zum Weintrinker bekehrt hatten, war eines dieser Wunder, die er dort erlebt hatte.

Zurück in Hamburg hatte er viele Wochen gebraucht, um wieder in seinen alten Takt zurückzufinden, und seine Freude an der Hafenluft, dem Hamburger Lebensgefühl und seinem einstmals geliebten Jever war nur widerwillig zurückgekehrt. Wochenlang hatte er sich nach dem rauschenden Wald gesehnt, in dem Elwenfels eingebettet lag. Und als er eines Tages an der Alster einer Touristengruppe begegnete, die Pfälzisch sprach, hatte er sich eine halbe Stunde lang unauffällig in ihrer Nähe aufgehalten, nur um seinen Gehörsinn den weichen, zischenden Lauten dieses Dialektes auszusetzen, dieser urlautigen Mundart, die er trotz anhaltender Verständigungsschwierigkeiten so lieb gewonnen hatte. Er fühlte sich an, als würde man mit den Ohren trinken. Danach hatte ihn eine solche Wehmut überfallen, dass er kurz davor war, sich in seinen Audi zu setzen und die sechshundert Kilometer am Stück runterzureißen. Er entschied sich dann doch gegen diesen Anflug von Gefühlsduselei.

In den folgenden acht Monaten nach seiner Rückkehr hatte Carlos nichts mehr von den Elwenfelsern gehört. Aber dieses unbestimmte Gefühl, dass ihm etwas fehlte, war immer präsent. Hatte es an dem verzauberten Wein gelegen, von dem er drei Schlucke gekostet hatte? Oder das unverblümt herzlich-grobe Wesen der Dorfbewohner? Oder doch die Erinnerung an Charlottes Abschiedskuss? Ein Kuss, den sie sehr nah an seinem Mundwinkel platziert hatte und den er manchmal immer noch zu spüren glaubte.

Wieder ein Ellbogenknuff und ein Schrei direkt neben seinem Ohr. Carlos war so in Gedanken versunken gewesen, dass er den Beginn des Spiels gar nicht registriert hatte. Erschrocken fand er zurück in die Realität und überprüfte, ob Bernhard Schüssler noch da war. Der saß inzwischen auf seinem Hartschalensitz und verfolgte gebannt das Spiel. Carlos sah nur kurz auf den Rasen. Seltsamerweise hatte seine Laune den Sinkflug eingestellt. Die Tatsache, dass auf der anderen Seite des Stadions Pfälzer standen, die er sozusagen als Oberbegriff der Elwenfelser sah, besänftigte, ja tröstete ihn irgendwie. Er entspannte sich ein wenig und betrachtete durch das kleine Opernglas den Lauterer Fanblock. Er wurde nachdenklich. Sein Interesse für Schüssler verwandelte sich in Resignation. Es mochte ja sein, dass der Beruf des Privatdetektivs eine angemessene Fortsetzung für ein gescheitertes Polizistendasein war. Und es war leicht, sich zu sagen, dass den Detektiv immer etwas Geheimnisvolles, Undurchsichtiges umwehte. Dass es schlechtere Alternativen gab. Das hatte sich Carlos damals, als er umgesattelt hatte, jedenfalls eingeredet, um sich von der Schmach abzulenken, dass er bei der Kripo rausgeflogen war. Aber jetzt, da er den Beruf »Detektiv« täglich ausübte, musste er einsehen, dass Sherlock Holmes wesentlich edlere Motive hatte, sich an die Fersen eines Verbrechers zu heften. Er, Carlos, wollte einfach nur seine Miete bezahlen.

In diesem Moment erklang ein vielstimmiger Schrei, und kurz darauf brandete ein Stöhnen durchs Stadion. Ein Tor war gefallen. Carlos wusste nicht gleich, auf welcher Seite, sah aber am Toben im Kaiserslauterer Fanblock, dass St. Pauli nun zurücklag. Instinktiv duckte er sich. Um ihn herum wurden missmutige Rufe laut, gleich darauf anfeuernde Schreie in doppelter Lautstärke. Wie gerne hätte er jetzt den pfälzischen Kommentaren auf der anderen Seite gelauscht.

Er hob wieder das Opernglas. Schüssler hatte die Unterlippe eingesaugt. Dann redete er wütend auf seine beiden Begleiter ein.

Schneller als befürchtet war die erste Halbzeit vorbei, und Carlos verließ seinen Beobachtungsposten. Er ließ sich von der Menge hinaus zu den Getränkeständen tragen. Schüssler konnte er während der Pause nicht observieren, denn der hielt sich in einer VIP-Lounge auf. Während Carlos durstig in der Schlange stand, wurde ihm bewusst, dass er gerade so etwas wie einen Moment der Selbsterkenntnis erlebt hatte. Die Anwesenheit der gegnerischen Fans aus der weit entfernten Pfalz hatte etwas in ihm ausgelöst, das er nicht definieren konnte. Eine Art diffuses Gefühl von Unvollständigkeit, etwas, das im vergangenen September begonnen hatte, als er an der Deutschen Weinstraße auf der Suche nach Hans Strobel war, der dort ein Jahr zuvor spurlos verschwunden war. Seitdem hing dieses Gefühl irgendwie in der Luft. Er war so von seinen Erinnerungen an diese Zeit absorbiert, dass er gar nicht merkte, dass er in der Schlange vor dem Getränkestand nun vorn stand und an der Reihe war.

»Was darf’s sein für Sie?«, fragte eine junge Frau mit blau gefärbten Haaren und tätowierten Armen.

Und ohne dass er darüber nachdachte, indem er einfach nur seinem momentanen Gefühl folgte, sagte Carlos Herb: »Ich hätte gerne eine Rieslingschorle.«

»Hä?«, machte der Blauschopf. Sie sah ihn an, als hätte er um einen Eimer Dispersionsfarbe gebeten. »Gib’s hier nich, sorry.«

Ein spöttisches Grinsen zog ihren Mund in die Breite, und Carlos registrierte, was er da gerade für einen Unsinn gesagt hatte. Eine Schorle im Millerntor-Stadion. Saukomisch. Vielleicht im VIP-Bereich, wo Bernhard Schüssler jetzt war. Aber doch nicht hier, an den klebrigen Ausschanktheken, wo es nur Bier und Softdrinks in dickwandigen Plastikbechern gab. Über seine Schulter hinweg bestellte der Typ hinter ihm sechs Bier und überging Carlos einfach. Das blaue Mädchen drehte sich zum Ausschank, um die Bestellung abzuarbeiten.

In diesem Augenblick legte sich eine schwere Hand auf Carlos’ Schulter, und eine tiefe Stimme sagte: »Ou, do hot awwer mol jemond en gscheide Durscht.«

»Rieslingschorle: de Champagner ausm Dubbeglas.«

»Wo er des wohl gelernt hot, hä?«

Dann ein triumphales, dreifach glucksendes Lachen. Dasselbe Lachen, das Carlos manchmal in seinen Träumen hörte. Er drehte sich ganz langsam um, weil er an eine Halluzination glaubte. Und sah direkt in drei bekannte Gesichter über rot-weiß gestreiften Wollschals.

Willis Hand, die einer Grizzly-Pranke alle Ehre gemacht hätte, lag noch immer auf seiner Schulter, und seine Augen starrten allzu direkt in seine Seele, um als Halluzination abgetan werden zu können. Carlos konnte es nicht glauben. Er schloss die Augen. Sein Herz führte einen Freudentanz in seiner Brust auf.

Da standen sie. Willi, der Sägewerksbesitzer, und hinter ihm Automechaniker Otto und Karl, der Pfarrer aus dem sechshundert Kilometer weit entfernten Ort seiner Träume.

Elwenfels.

Die ungeduldige Menge vor dem Getränkestand drängte Carlos förmlich in Willis Arme hinein, der zupackte und ihn an sich zog. Es fühlte sich an, als würde man vom Koloss von Rhodos umarmt werden. Willi quetschte jeden Rest schlechter Laune aus Carlos heraus.

»Wo … wo kommt ihr denn her?«, stammelte er, als Willi ihn losließ. »Und was macht ihr hier?«

»Eins von unsere Elwetritsche is abgehaue«, antwortete Otto mit sorgenvoller Miene, während er Carlos umarmte. Sein Zopf war seit letztem September ein Stück länger und grauer geworden.

»Oh!«, rief Carlos erstaunt. Die pfälzischen Fabelwesen waren zwar aus dem Bereich der Mythen und Sagen. Aber trotzdem, das hatte Carlos am eigenen Leib erfahren, war mit ihnen nicht zu spaßen. »Abgehauen? Das ist ja … Und ihr sucht es hier in Hamburg?«

»Ah jo.« Willi machte ein ernstes Gesicht. »Hot sich als blinder Passagier im ICE versteckelt.« Bei diesem Satz fingen seine Mundwinkel an zu zucken. »Un schwimmt jetzt in de Alster.«

»Als Schwan verkleidet«, nickte Karl, und seine Augenbrauen zuckten vergnügt.

Damit brachen die drei in lautes Gelächter aus. Und wenn Elwenfelser lachen, das hatte Carlos immer wieder amüsiert festgestellt, dann lacht ihr ganzer Körper mit. Das vibrierende Zwerchfell scheint dann die Knochen in Gummi zu verwandeln, und sie brechen im wahrsten Sinn des Wortes vor Lachen zusammen. Carlos konnte nicht anders, als sich davon anstecken zu lassen.

»Mann, Großer!«, stieß Willi hervor, als er sich wieder gefangen hatte. »Hascht du schon emol des Wort ›Auswärtsspiel‹ gehört?«

»Und weißt du auch, was en Auswärtssieg is?«, frohlockte Karl. Er trug ein T-Shirt mit einem Bild von Fritz Walter, und auf seine Worte wurde missbilligendes Genörgel in den Reihen vor dem Ausschank laut.

»Jawohl, A-u-s-w-ä-r-t-scharfes s-s-i-e-g!«, buchstabierte Willi mit seinem donnernden Organ, und ein sichtlich angetrunkener Pauli-Fan musste von seinen Kumpels festgehalten werden, sonst wäre er auf Willi losgegangen.

»Aber … aber … ihr seid doch …«, stotterte Carlos vor Freude und Überraschung.

Karl legte ihm den Arm um die Schulter. »Tja, Carlos, des is die Macht der Gefühle«, sagte er mit geheimnisvollem Grinsen.

»Wie meinst du das?«

»Du tust uns so arg vermisse, dass in Elwenfels jeden Tag die Dachziegel wackle!«

»Und mir, mir vermisse disch auch!«, ergänzte Otto. »Mir brauche disch sogar e bissel.«

»Desderwege sin mir heut mitgefahre zum Auswärtsspiel. Mir wollte dich besuche«, sagte Karl.

»Aber … das ist … das ist … einfach großartig!«, stieß Carlos hervor. Seine Freude über dieses Wiedersehen war so groß, dass er sein Observationsobjekt Bernhard Schüssler völlig vergessen hatte.

»Jo, jetzt stotter mol net glei«, lachte Karl.

»Da muss ich mich in ein Hamburger Fußballstadion verirren, um euch wiederzusehen, unglaublich!«

»Hajo, awwer immer noch ken Grund, en Herzkaschper zu kriege, gell?!« Otto tätschelte ihm die Schulter.

»Wie geht es euch denn?«, fragte Carlos, der am liebsten viele Fragen gleichzeitig gestellt hätte.

Willi hatte mittlerweile vier Plastikbecher mit Bier organisiert und sie verteilt. »Wie soll’s uns schon gehe, bei dem Gschlorps do?« Missbilligend hob er den Becher mit der milde schäumenden Flüssigkeit, trank ihn aber doch bis zur Hälfte in einem Zug leer und atmete dann kräftig aus: »Jo, besser wie nix.«

»Genau so isses«, ergänzte Otto und wischte sich den Mund ab. »Besser Schaum vorm Mund wie Trollinger im Bauch, weeschwieschmään?!«

Alle lachten.

»Ich habe von eurem Riesling auch nichts mehr«, beeilte Carlos sich zu sagen. »Alles ausgetrunken.«

»Brav!«

»Ja, und da hab ich mir überlegt, ob ich nicht mal wieder nach Elwenfels kommen und das Leergut abgeben soll«, lächelte Carlos die Elwenfelser an. Er freute sich über seine spontane Idee, aber die drei Männer schmunzelten bloß. Niemand griff den Vorschlag auf.

»Na ja, jetzt sin mir jo erschtermol do, in Hamburg, odder?« Willi schaute Carlos herausfordernd an.

»Aber ja, klar, ich zeig euch die Stadt. Ich mach den Fremdenführer für euch!«, stieß Carlos hervor. »Oder fahrt ihr nach dem Spiel gleich wieder nach Hause?« Bei dieser Frage war ihm, als würde sein Herz bei seinem Freudentanz auf einen Reißnagel treten.

»Nee, nee. Dehääm kann warte«, brummte Otto. »Do is grad net so gemütlich.«

»Was? Wieso das denn?«

»Verzähle mir dir später«, sagte Karl.

Carlos musste erneut lachen, als er das hörte. Seit er in Elwenfels ermittelt hatte, wusste er, dass Verzählen nichts mit Rechnen zu tun hatte.

»Hopp, wir müsse wieder rein«, drängte Otto. »De Auswärtssieg kummt net von allein. Mir sehn uns drauße, nachm Spiel!«

»Aber wo …?«

Und weg waren sie. So schnell, dass Carlos sich nicht sicher war, ob nicht alles nur ein Wunschtraum in rot-weiß gestreiften Schals war. Er wollte schon hinter ihnen hereilen, um einen festen Treffpunkt und eine Uhrzeit auszumachen, aber er konnte Willi, Otto und Karl in der Menge nicht mehr ausmachen.

Er musste sich regelrecht dazu zwingen, zurück auf die Tribüne zu gehen. Dort holte er sein Opernglas aus der Tasche, um Schüssler wieder ins Visier zu nehmen. Aber der war nicht mehr da. Nur noch seine beiden Begleiter saßen auf den Plätzen. Carlos unterdrückte einen Fluch. Doch im nächsten Moment war es ihm egal. Es sah ganz danach aus, als hätte er heute definitiv viel Besseres zu tun, als einem korrupten Unsympathen hinterherzuhecheln. Sein Auftraggeber musste ja nichts von seiner kleinen privaten Auszeit wissen …

Stattdessen schwenkte er das kleine Fernglas in die andere Richtung und entdeckte im gegnerischen Fanblock tatsächlich seine drei Freunde Willi, Otto und Karl. Sie hatten sich im Arm und grölten offensichtlich aus vollem Hals Fangesänge. Ab und zu hüpften sie wie kleine Kinder und schwenkten ihre Schals. Was dieses Spiel aus erwachsenen Menschen zu machen imstande war …

Carlos sammelte sich und gab sich ganz bewusst das erste Fußballspiel seines Lebens. Er verfolgte tatsächlich das Geschehen auf dem Rasen, beobachtete jeden Spielzug und brach in lautes Jubelgeschrei aus, als Kaiserslautern ein zweites Tor schoss – um ihn herum wurde es still. Feindselige, irritierte Blicke trafen ihn. Carlos scherte sich nicht darum. Plötzlich fühlte es sich an, als wäre in seiner Brust ein Fenster aufgegangen.

Das Spiel endete 2 : 1 für Lautern, und Carlos drängte sofort nach draußen. Er lief zum Ausgang vor dem Gäste-Fanblock und hielt fieberhaft nach den drei Männern Ausschau. Und wenn sie nun fort waren? Wenn er sie in dieser Menge nicht finden konnte? Und überhaupt – wie war es möglich, dass sie genau in dem Moment aufgetaucht waren, als seine Sehnsucht nach Elwenfels so überwältigend groß gewesen war? Das war fast schon ein bisschen übersinnlich. So wie Elwetritsche in der Alster.

»Entschuldischung, der Herr. Wo geht’s denn hier zur Reeperbahn. Mir Pälzer hätte do e bissel was zu feiern heut«, dröhnte eine Stimme hinter ihm.

Erleichtert sah Carlos sich nach Willi um und gratulierte zum Sieg. »Super Spiel, wirklich.«

»War gar net so schwer gege die Gurketrupp«, lachte Otto und zupfte vergnügt an seinem grauen Zopf.

Zwei junge Pauli-Fans in Kapuzenpullis mit Piratensymbol warfen ihm im Vorbeilaufen böse Blicke zu.

»Do! Sogar denne ihm Totekopp is schunn ganz verknittert vor lauder, lauder«, rief Karl und fügte dann noch kichernd an: »Vor lauder Lautern!«

»Alla hopp«, Willi legte grinsend einen Arm um Carlos’ Schulter, »un jetzt zeig uns den Stadtteil, der wo heut Trauer trage muss.«

Eine halbe Stunde später schlenderten sie, jeder mit einem Heringsbrötchen versorgt, an den Landungsbrücken entlang. Dass ausgerechnet heute die Queen Mary 2 im Hafen lag und kurz vor dem Auslaufen stand, wertete Carlos als weiteres unverhofftes Wunder. Er gehörte nicht zu jenen Hamburgern, die sich die Tage im Jahr, an denen das Schiff in Hamburg einlief, rot in den Kalender eintrugen. Das Spektakel war aber jedes Mal so beeindruckend, dass Carlos sich freute, es mit den Elwenfelsern teilen zu können. Die zeigten sich allerdings weit weniger ergriffen als die vielen Leute am Kai, die dem Luxusliner mit offenem Mund hinterherschauten, während das tiefe, lange Tuten der Schiffssirene durch Mark und Bein ging.

»Wie die all gucken«, schmunzelte Otto ungläubig. »Wie die Kuh, wenn’s blitzt. Un alles bloß wege dem Kahn.«

»Is schunn bissel was anneres wie unser Ruderboot uffm Isenachweiher, gell?«, sagte Willi und schickte ein markerschütterndes, bellendes Lachen hinterher.

Zwei Zuschauer vor ihnen, ausgestattet mit Kapitänsmützen und Deutschlandfähnchen, zuckten merklich zusammen und warfen fragende Blicke nach hinten. Offensichtlich konnten sie die fremde Sprache keinem Land zuordnen, das sie kannten.

»Jetzt awwer«, Karl setzte eine ernste Miene auf, »määnen ihr net, dass do jetzt e bissel Respekt vor menschlicher Ingenieurskunscht angebracht wär, hä?«

»Ganz recht«, nickte Willi bedeutungsschwer. »Wenn du, liewer Otto, mit deim schääne, breide, weiße Ranze nämlisch e Schiff wärscht, dann …«

»Dann wär do gar ke Wasser meh in der Elbe«, rief Karl dazwischen.

»Genau«, ergänzte Otto trocken und tätschelte seinen Bauch, »alles wege denne wertvolle Schopperegistertonne«.

Carlos hatte keine Wahl, als in das schallende Gelächter mit einzustimmen. Oh, wie hatte er diese Art von rhetorischem Schlagabtausch vermisst. »Uzen«, so wurde dieses Ritual genannt, dem fast alle Pfälzer mit einer geradezu erschöpfenden Inbrunst frönten. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, war vor ihnen am Geländer der Hafenpromenade etwas mehr Platz. Wahrscheinlich waren die zwei mit den Kapitänsmützen vor den herumfliegenden Spucketröpfchen geflohen, die bei pfälzischen Verbal-Balgereien unweigerlich durch die Luft flogen.

»Warum habt ihr vorhin gesagt, dass es in Elwenfels gerade ungemütlich ist?«, fragte Carlos schließlich. »Was ist denn los? Muss ich mir Sorgen machen?«

Willi schüttelte unwirsch den Kopf. »Bei uns is grad e ziemlisch wüschdi Bagage unnerwegs. Un keiner kann was gege die mache.«

»E Invasion«, schickte Otto grimmig hinterher.

»Was? Wen oder was meint ihr denn damit?« Carlos erinnerte sich noch gut daran, wie schwer sich Elwenfels mit allem tat, was von außen kam. Seien es Touristen, die sich ohnehin nur in sehr geringer Zahl in das abgelegene Dorf verirrten, oder aber Politiker der benachbarten Verbandsgemeinde, Polizisten oder schnüffelnde Privatermittler. In den beiden Wochen, die Carlos in Elwenfels verbracht hatte, hatten die Dorfbewohner ihn zwar überaus zuvorkommend behandelt, aber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie seiner Heimreise mit Freude entgegensahen. Dann war aber alles anders gekommen.

Auch wenn sein Fall die Ausnahme war: Carlos hatte gesehen, was sie mit dem Verbandsbürgermeister gemacht hatten, der ihnen mit seinen politischen Plattheiten zu nah gekommen war, oder wie sie den eingeheirateten schwäbischen Winzer Hartmut Bitterlinger auf Distanz hielten, weil er sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze von Elwenfels hielt. Der Ort war eine Insel im Meer des Mainstreams. Die Bewohner waren sich dessen auf eine überaus rebellische Art bewusst. Wahrscheinlich hatten die antiken Vorfahren der Dorfbewohner ebenso gerne römische Legionäre verprügelt und auf einen Haufen gestapelt wie die seelenverwandten Bewohner eines kleinen, gallischen Dorfes weiter westlich.

Aber das heutige Elwenfels machte sich klein und unauffällig in seinem großen Wald, um in dieser Abgeschiedenheit Dinge zu tun, die anderswo in der Republik schlicht undenkbar, vielleicht sogar illegal waren.

»Also, wenn uns jemand gefragt hätt, dann hätte mir unsern Wald für zum Sperrgebiet erklärt, zur Weltfrieden-Mini-Zone«, sagte Karl. »Aber uns fragt halt keiner. Und schon sin die einmarschiert.«

»Einmarschiert? Wer denn?«

»Ah, die Bundeswehr«, stieß Otto hervor. »Frag net warum, aber die ham sich unsern Wald für e Manöver ausgesucht. Die spielen jetzert paar Tag lang Krieg am alte Kletterfelsen. Weißt du noch, wo der is?«

Natürlich wusste Carlos das. Die hohe, steile Felswand, aus deren Tiefen der Bach entsprang, wäre ein Paradies für Kletterer gewesen – die aber nicht kamen, weil die Elwenfelser das nicht zugelassen hätten. Die Lichtung lag still und verlassen da, und jeder Landschaftsmaler hätte bei ihrem Anblick feuchte Augen bekommen.

»Wie jetzt …?« Carlos konnte nicht glauben, was er da hörte. Wie war es möglich, dass ausgerechnet die Bundeswehr auf dieses versteckte Stück Paradies aufmerksam geworden war?

Willi nickte düster, verdrückte den letzten Rest seines Fischbrötchens und wischte sich die Finger mit einer überforderten Papierserviette ab. »Es kummt aber noch schlimmer. Unser Lieblingsfreunde sin auch noch mit dabei.« Er setzte ein schiefes Grinsen auf und wirkte dabei fast schon ein bisschen diabolisch, als er hinzufügte: »Unser Bschützer aus Yankeestanien.«

»Du meinst die U.S. Army?«

»Jo genau, die Leut, wo schon seit Jahrzehnte unsern Pälzerwald mit ihrer friedfertige Anwesenheit veredle.«

»Fuffzehn Soldate aus Deutschland und noch mal fuffzehn aus Amerika. Elitesoldaten, Spezialkräfte, so heißt’s«, erklärte Karl resigniert.

»Speschäl Forzes«, schnaubte Willi, »weeschwieschmään?«

»Ja, und was treiben die da?«, wollte Carlos wissen.

»Oh, was weiß dann isch«, spuckte Otto aus. »Spiele halt, bumm, bumm, wie frieher an Fastnacht. Wie heißt’s gleich? Leistungsmarsch. Die sin wohl all von Ramstein aus losgewandert, bis zu uns nach Elwefels!«

»Von de Höll gradwegs ins Paradies«, schnaubte Willi.

»Jo. Un jetzt klettern die da de ganze Tag nuff un runner, renne nachts durch de Wald un mache einer uff Forzathlet.«

»Forzathlet?« Carlos schmunzelte.

»Ah jo. Erscht groß Wind mache, un dann Angscht hawwe, dass es stinke könnt. So laaft’s doch in de Weltpolitik, odder?«

»Aber dann werden die irgendwann euren geheimen Wingert entdecken!«, stellte Carlos fest, und ihm wurde ein bisschen flau im Magen.

Willi, Otto und Karl wirkten seltsamerweise ganz entspannt.

»Oh, un wenn schon«, winkte Willi ab. »Die ham doch ihr Satellitenbilder sowieso. Un die Spitzel von de NASA zähle wahrscheins jeden Tag die Traube an de Henkel.«

»Die NSA määnscht du«, korrigierte Karl den Sägewerksmeister.

»Jo, is doch egal. Die ham doch sowieso all ken Schimmer, was des wirklich is.«

»Da wär ich mir nicht so sicher«, sagte Carlos, dem auf einmal ganz beklommen zumute war.

Der Wingert, der versteckt auf einer Lichtung im Wald hinter Elwenfels lag, war in vielfacher Hinsicht ein Phänomen. Zuerst war er ein biologisches Wunder, denn nirgendwo sonst auf der Welt wuchsen gesunde Weinreben im Mikroklima des Waldes. Und der Wein, den die Dorfbewohner aus den Trauben herstellten – das war so etwas wie der Stein der Weisen unter den alkoholischen Getränken. Von diesem Geheimnis wusste niemand außerhalb des Dorfes (nun ja, fast niemand), und seine Bewohner hüteten es wie einen Schatz.

»O kumm, die arme Deifel saufen eh bloß Bier, die interessieren sich doch gar net für Traube un so Zeugs.«

Otto lachte gehässig. »Vielleicht, wenn mir jetz e Schild uffbaue, wo draufsteht Zur Budweiser-Plantage, dann täte die unsern Wingert stürme.«

»Außerdem weißt du doch, dass unsern Wingert sei ganz spezielle Security hot, odder?« Karl zwinkerte Carlos verschwörerisch zu.

Er dachte an das vogelartige Glucksen und Schnarren, das vor allem nachts aus dem Wald um Elwenfels herum ertönte. Auch davon träumte er manchmal. Er erinnerte sich an die Schemen von großen, gefiederten Wesen, die sich durchs Unterholz bewegten, an das Aufblitzen gelber Augen. Er hatte nie einen lebendigen Elwetritsch aus der Nähe gesehen. Aber er wusste, dass es sie gab.

Otto hob lächelnd eine Hand und strich liebevoll über Carlos’ rechte Wange. »Is gut verheilt, die Narb«, kommentierte er die blasse, leicht gezackte Erinnerung an den Zusammenstoß mit einem der geheimnisvollen Tiere.

Auch in Carlos’ Nacken klaffte eine solche Narbe, die aber von seinem Haar verdeckt wurde, das er sich seit seinem Austritt aus der Kriminalpolizei wachsen ließ. »Also, ich hoffe, wenn ich euch mal wieder in Elwenfels besuche«, sagte er, »dass mich eure Haustiere dann nicht mehr als Eindringling betrachten.«

Alle drei hoben lächelnd die Schultern. Keiner sprach die von Carlos sehnlich erhoffte Einladung nach Elwenfels aus.

Schon wieder ein Reißnagel. Also versuchte er es anders. »Aber habt ihr euch mal überlegt, wie gefährlich es ist, wenn diese Soldaten durch euren Wald rennen? Was ist denn, wenn da was passiert?«

»Du sagst es«, bestätigte Willi mit einem grimmigen Grinsen. »Deswegen sin wir ja extra nach Hamburg gefahre. Damit mir uns hier e bissel abreagiere könne.«

»Soldaten in Elwenfels«, bohrte Carlos weiter. »Das ist doch Konfliktpotenzial pur! Wie haben die euch überhaupt gefunden?«

Karl sah Carlos an und machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Du weißt doch noch. Jeder, der ebbes richtig sucht, kummt irgendwann nach Elwenfels.«

Carlos nickte. So war das damals wirklich gewesen bei ihm. Bloß, was war mit den Menschen, die das, was sie in Elwenfels gefunden hatten, wieder verloren haben? »Ja, aber wie soll das auf dreißig Soldaten zutreffen?«, wollte er wissen.

Die drei zuckten etwas hilflos mit den Schultern.

»Des Schicksal«, sagte Karl und versuchte seiner Stimme ein wenig Pathos zu verleihen, »des Schicksal geht oft verschlungene Wege. Wer weiß, was es vorhat mit uns.«

Eine gedrückte Stimmung lag auf einmal über ihnen.

»Jo alla. Jetzt aber mol!«, brach Willi den Bann. »Jetzt häng mol do net de Pfarrer naus uff emol. Mir sin do in Hamburg.«

Er breitete die Arme aus. »Weit un breit is do ke Kirch zu sehe, un dei Peif hascht auch net dabei. Alla, blos die Backe net so uff!«

Das folgende Gelächter war wie eine Befreiung aus diesem Moment der Hilflosigkeit.

»Genau«, rief Carlos. »Das weiß ich noch: In der Pfalz geht der Pfarrer nämlich …«

»… mit de Peif in die Kirch!«, fielen die anderen lauthals ein.

»Alla hopp, moin guter Palatino-Hanseat«, sagte Otto, »jetzt zeig uns mol, was do so gebote is!«

»Jo«, Willi ließ eine Hand auf Carlos’ Schulter niedersausen, »mir täten uns jetzt gern e bissel – wie sagt ma gleich – animiere.«

»Amü…«, fiel Karl glucksend ein, »du määnscht amüsiere. So was nennt ma in de Psyschologie en freudischer Versprescher.«

»Okay«, unterbrach Carlos die neue Runde des verbalen Schlagabtausch-Rituals, »was wollt ihr denn jetzt genau machen?«

»Ah do«, Otto wischte mit seiner Pranke durch die Luft, »die ›Rote Meile‹, die ›Sündige Serpentine‹«, er schnippte nach Worten suchend mit den Fingern, »ha die Gass do vorne halt, wo jeder Tourist drüwwerschlappt.«

»Ihr meint die Reeperbahn.«

»Genau. Do täte mir jetzt gern hie.«

Die Augen der drei leuchteten auf, und Carlos bekam einen kleinen Schweißausbruch.

Kapitel 2

… zeigt, wie schnell sich Leichenblässe und Schamesröte abwechseln können

Charlotte tastete nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe. Sie war mit einem Schlag so hellwach, als hätte ihr jemand Eiswasser ins Gesicht geschüttet. Alarmiert sah sie sich im Schlafzimmer um. Alles war ruhig. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte. Das Fenster war gekippt, und der Nachtwind umschmeichelte die Gardine, die im Mondlicht einen kleinen, schüchternen Schleiertanz aufführte. Sie setzte sich im Bett auf und lauschte. Vielleicht balgten sich draußen die Katzen, und das Geschrei hatte sie aus dem Schlaf geschreckt. Aber alles blieb still.

Es war eindeutig zu still. Sie wandte den Kopf und sah, dass die andere Seite des Bettes leer war. Charlotte maß diesem Umstand keine besondere Bedeutung zu. Es kam oft vor, dass ihr Ehemann erst ins Bett ging, wenn sie schon lange schlief. Oder dass er mitten in der Nacht aufstand und hinunterging, um … Charlotte wusste nicht, was er dann machte. Sie hatte aber mal gelesen, dass es typisch für derart getriebene Charaktere wie Hartmut war, nachts aufzustehen und zu grübeln oder zu arbeiten, obwohl es nichts zu arbeiten gab. Ob er gerade eben aufgestanden und sie deswegen aufgewacht war? Aber dann hätte sie erstens das Knarren der Holzböden im Erdgeschoss des alten Hauses gehört, und zweitens wäre seine Bettseite noch warm gewesen. Das war sie aber nicht. Irgendwie sah sie sogar so aus, als hätte Hartmut heute noch gar nicht darin gelegen. Charlotte seufzte und wollte sich wieder hinlegen. Doch eine sonderbare innere Unruhe hinderte sie daran. Sie saß eine Weile aufrecht im Bett und lauschte in die Nacht hinaus mit ihrer friedlichen dörflichen Stille.

Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 2:39 Uhr. In zwei Stunden würde sie das geschäftige Geklapper aus der Bäckerei hören, wenn Frau Zippel die ersten Brötchen backte. Etwas später würde dann das Geknatter von Erwins Traktor zu hören sein, der direkt unter ihrem Fenster auf dem schmalen Weg zwischen den Häusern und dem Waldrand vorbeifuhr.

Charlotte schwang die Beine aus dem Bett. Sie war zu wach, um einfach wieder einzuschlafen zu können, und wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Da draußen war etwas nicht so, wie es sein sollte.

Sie trat ans Fenster und sah hinaus. Es war eine mondhelle, leicht windige Nacht, und aus dem nahen Wald drang der feuchte, würzige Geruch zu ihr herüber, den sie so liebte. Sie schaute hinunter zu der niedrigen Mauer, die den kleinen Weg zum Wald hin abgrenzte. Charlotte stutzte und kniff die Augen zusammen. Die Efeuranken, die die Mauerkrone überzogen, zitterten an einer Stelle leicht. Und das lag nicht am Wind, denn die anderen Pflanzen dort unten bewegten sich nicht. Nur die Blätter in den Baumkronen rauschten. Charlotte schaute genauer hin. Die Efeuranken sahen wirklich so aus, als würde jemand an ihnen ziehen.

Charlotte blinzelte. Wahrscheinlich ein Vogel, eine Ratte oder sonst ein Tier. Im nächsten Moment hörte die Bewegung auf, und die Efeuranken lagen wieder still da wie die Mauer, die sie umklammerten. Es war dieses plötzliche Ende der Bewegung, das Charlotte frösteln ließ. Sie war ein intuitiver Mensch, und irgendetwas sagte ihr, dass sie hinuntergehen und nachschauen musste, was sich hinter der Mauer abspielte – und zwar jetzt sofort. Eine andere Stimme in ihrem Innern lachte sie aus und behauptete, dass sie einer optischen Täuschung unterlag. Und dass die Sinne nachts schärfer, zugleich aber auch trügerischer waren. In der Nacht kamen die dunklen Gedanken, und die Welt war eine andere als bei Tageslicht.

Charlotte zog sich vom Fenster zurück, schlüpfte in ihre Jeans und einen dünnen Pullover. Sie stieg die knarzenden Holzstufen ins Erdgeschoss hinunter. Von Hartmut keine Spur. Vorsichtshalber schaute sie kurz in die Küche, ins Wohnzimmer und in die kleine Halle am Eingang des Weinguts, das ans Haus angeschlossen war. Nichts. Sie zog ihre Turnschuhe an und nahm eine Jacke vom Garderobenhaken.

Dank jahrelanger Lektüre von Kriminalromanen wusste sie, dass es ratsam war, sich jetzt mit irgendeinem Gegenstand zu bewaffnen, bevor sie nach draußen ging. Sie beließ es jedoch bei der Taschenlampe, die auf der Flurkommode lag. Sie atmete tief aus, trat in den dunklen Hof hinaus und lief durch die geöffnete Scheune nach hinten zum Waldrand. Im Dunkeln der Scheune stand ein uralter Traktor. In der hintersten Ecke war das Fiepen von Mäusen zu hören. Charlotte folgte dem stillen Weg hinter den Häusern. Sie konnte sich nicht eines seltsamen euphorischen Gefühls erwehren, dass sie um diese Uhrzeit draußen war. Das kam nicht oft vor, und sie genoss den nächtlichen Zauber. Das feuchte Gras machte zarte, wischende Geräusche unter ihren Schritten und strich an ihren Beinen entlang. Die Waldluft war betörend.

Jetzt lag die Mauer vor ihr. Sie hielt inne und suchte die etwas niedrigere Stelle, wo der Efeu vorhin so merkwürdig gezittert hatte. Hier waren sie als Kinder immer drübergeklettert, wenn sie zum Spielen in den Wald wollten. Auf einmal kam es Charlotte ein bisschen komisch vor, mit welchen Gedanken sie hier nachts herumlief. Sie schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete über die Mauer. Leise Spuren von Angst kämpften gegen den lauten Spott ihres Verstandes, der im nächsten Moment schockartig verstummte. Charlotte hörte auf zu atmen.

Das war … das konnte nicht wahr sein. War sie in einen Albtraum gerutscht? Eine gefühlte Ewigkeit stand sie einfach nur da, über die Mauer gebeugt, und leuchtete die Gestalt an, die dahinter lag. Hartmut.

Das Grauen legte sich wie eine schwere Decke über Charlotte. Sie riss die Taschenlampe zurück, taumelte ein paar Schritte gegen die Hauswand und begann am ganzen Körper zu zittern. Ihre Gedanken überschlugen sich: Was jetzt? Schreien? Hilfe holen? Über die Mauer klettern? Oder war das alles doch nicht real?

Charlotte zwang sich, zur Mauer zurückzugehen und noch einmal darüber zu leuchten. Die Szenerie dahinter war unverändert. Hartmut lag dort, sein Körper kaum sichtbar, seine Hand krampfhaft verkrümmt zwischen den Efeuranken. Der Kopf war voller Blut, seine Augen waren halb geschlossen.

Charlotte stieß einen lautlosen Schrei aus. Ihr war eiskalt. Ohne die harten Steine wahrzunehmen, kletterte sie über die Mauer. Ihr Fuß verhedderte sich in einer der Efeuranken, und sie stürzte auf die andere Seite. Mit einem kleinen Aufschrei landete sie halb auf Hartmut, halb auf dem steinigen Boden. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihre Hand. Sie hatte sich im Fallen instinktiv abgestützt, dabei war ihr Handgelenk umgeknickt. Der Schmerz lähmte sie sekundenlang.

Keuchend rappelte sie sich auf. Die Taschenlampe stand jetzt an Hartmuts Körper gelehnt und schickte ihr Licht nach oben in die Baumkronen. Es war gespenstisch. Charlotte drehte Hartmuts Kopf zu sich. Seine Augen hatten etwas Trauriges. Dieser richtungslose Blick ging bis auf den Grund ihrer Seele. Sie hielt die Luft an. Sein Haar war auf der einen Seite des Kopfes ganz blutig, und der Schädel sah irgendwie merkwürdig eingedrückt aus. Ihr wurde übel.

Was war passiert? Hatte Hartmut über die Mauer klettern wollen und war gestürzt? Aber dann verletzte man sich doch nicht so schwer! Was hatte er hier draußen denn gemacht? Sie sah, dass er einen Rucksack trug. Vorsichtig drehte sie seinen Körper ein Stückchen zur Seite. Aus der Lasche des Rucksacks lugte der Schneidkopf einer Zweihandschere heraus.

Bevor Charlottes erschüttertes Bewusstsein diese Information richtig einordnen konnte, registrierte ihr Verstand endlich, dass sie hier nicht einfach so sitzen bleiben konnte. Sie legte ihre Finger an Hartmuts Hals. Kein Puls. Sie ließ ihren Mann los, und sein Körper sank schwer zurück. Wieder dieser Blick unter den halb geschlossenen Lidern. Charlotte spürte die Tränen über ihre Wangen laufen. Sie hatte sich gewünscht, dass ihre Ehe schnellstmöglich endete. Aber doch nicht so! Ohne zu wissen warum, folgte sie einem Impuls und strich durch Hartmuts Haare.

Sie weigerte sich, das alles zu begreifen. Du hast einen Schock, sagte sie sich. Du kannst nicht mehr klar denken. Sie ließ sich zurücksinken und lehnte sich gegen den dünnen Stamm einer Buche. Ihre Finger spielten mit der kalten Oberfläche eines Steins, die andere Hand vergrub sich im Laub. Um sie herum lag der Wald in nächtlichem Schweigen.

So blieb sie sitzen. Und so fanden einige Dorfbewohner sie am nächsten Morgen.

Carlos Herb hasste die Reeperbahn. Als junger Typ gehörte es zum Standardprogramm, sich hier auszukennen. Später dann, als Polizist, war diese Gegend immer wieder die Bühne für spektakuläre Einsätze gewesen. Er hatte nie verstanden, was so anziehend war an einem Ort, an dem das Verbrechen hinter schrill blinkenden Fassaden gedieh, wo Zuhältern gehuldigt wurde, als seien sie Popstars. Muskelbepackte Türken und Bulgaren bewachten eine Welt, in der Frauen im Akkord Selbstausbeutung betrieben und den Besuchern aus aller Welt lustvolle Sünde und genussvolle Verruchtheit demonstrierten. Carlos konnte nichts Sündiges an der Reeperbahn finden, und mit Genuss hatte sie schon gar nichts zu tun. Das hier war nichts weiter als ein Industriegebiet, in dem ein stumpfer, immer gleicher Arbeitsrhythmus herrschte. Er sah auch keine Freude dort. Die allgegenwärtige Fröhlichkeit war unterspült vom Alkohol und konnte jeden Moment in Gewalt und Trauer umschlagen. Für Carlos’ Begriff von Ausgelassenheit und Genuss lagen hier zu viele Glasscherben rum, blinkte zu oft Blaulicht, floss zu viel Blut – auf der Straße ebenso wie hinter den Mauern. Spätestens seit er, während seiner Zeit als Kommissar, den Mord an zwei rumänischen Frauen aufklären musste, die in einem der Hinterzimmer der rot blinkenden Fassaden zu Tode geprügelt worden waren, erfüllte ihn die Reeperbahn mit Abscheu. Am schlimmsten war für ihn jedoch ein Phänomen, das in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen hatte: Junggesellenabschiede.

Auch heute, als er mit seinen neugierig feixenden Elwenfelsern in die breite, zugige Straße einbog, bot sich ihm ein Bild johlender, betrunkener Männergruppen, die es witzig fanden, in Frauenkleidern herumzulaufen und junge Mädchen anzusprechen, um für blödsinnige Handyfotos zu posieren. Als wäre das nicht schon genug, gab es auch immer wieder Frauengruppen, die im Schulmädchen-Outfit durch die Straße zogen, vor den patrouillierenden Streifenpolizisten ihren Hintern oder ihre Brüste entblößten und dabei Geräusche ausstießen wie ein Flipperautomat auf Lachgas.

Er fragte sich, warum Menschen sich einen Ort wie diesen zum Feiern aussuchten. Es stank nach Schweiß, Urin und billigem Parfüm, und in der Luft lag eine Atmosphäre von gekünstelter Freude und latenter Aggressivität. Carlos schämte sich vor Willi, Otto und Karl, dass die weltberühmte Reeperbahn, ein Wahrzeichen seiner geliebten Stadt, so verkommen und leer und deprimierend war. Seit er erfahren hatte, was in dem kleinen pfälzischen Elwenfels an subtiler Erotik möglich war, erschien ihm die »Amüsiermeile« wie ein Fotoroman aus einem billigen Sexmagazin.

Plötzlich klingelte sein Handy. Er machte den dreien ein Zeichen, dass er kurz telefonieren müsse, und zog sich hinter eine Werbetafel am Straßenrand zurück.

»Sag mir, dass du dein Geld wert bist, Herb«, ertönte die Stimme seines Auftraggebers. Er war Anwalt und wollte Bernhard Schüssler drankriegen, indem er Beweise gegen ihn suchte, die bei einem Gerichtsverfahren hilfreich sein konnten. Sein Mandant war ein junger Investor, der durch Schüssler sein gesamtes Vermögen verloren, aber nichts Verwertbares gegen den Immobilienhai in der Hand hatte.

»Äh, was meinen Sie?« Carlos brach der Schweiß aus.

»Hey, war das nicht so, dass ich dich dafür bezahle, dass du an Schüssler dran bleibst? Auf Schritt und Tritt?«

Der Anwalt duzte ihn sonst nie. Wenn er jetzt damit anfing, war das ein schlechtes Zeichen.

»Ich … ich habe ihn verloren«, presste Carlos etwas kleinlaut hervor.

»Verloren? Wie das denn?«, blaffte der Anwalt. »Was erzählst du mir hier für einen Mist, Herb? Schüssler sitzt bei Austern und Champagner in seinem Lieblingslokal und schnackt ganz locker mit dem Wirtschaftssenator.«

Carlos fühlte, wie das Adrenalin seine Adern flutete. So ein Schiet. »Woher wissen Sie das denn so genau?«, fragte er möglichst sachlich.

Der Anwalt stieß ein verächtliches Lachen aus. »Ich weiß, wo ich suchen muss, Mann.«

»Und wozu brauchen Sie dann einen Privatdetektiv?« Dass die Frage ein Fehler gewesen war, wusste Carlos bereits in dem Augenblick, als die Worte seinen Mund verließen.

Der Anwalt atmete hörbar ein und sagte schließlich: »Alles klar, du Klugscheißer. Behalt deinen Vorschuss. Du wirst ihn brauchen. Es wird sich schnell herumsprechen, dass du ein Loser bist.« Dann legte er auf.

Das war wohl das Ende dieses bequemen und lukrativen Auftrags. Carlos fluchte, stopfte das Handy in seine Hosentasche zurück und sah sich um. Wo waren sie, verdammt? Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Aber seine Elwenfelser, der Grund für den ganzen Ärger, waren spurlos verschwunden.

Er wartete, bis eine Horde Junggesellen laut grölend an ihm vorbeigezogen war, und hielt weiter Ausschau. Auch auf der anderen Straßenseite konnte er sie nicht entdecken. Carlos scannte die Ladenzeile ab. Dann sah er etwas, das ihn augenblicklich überforderte. Er war sich nicht sicher, ob er lauthals auflachen oder gequält stöhnen sollte. Er machte eine Bewegung in diesem großen Sexshop fünf Meter weiter aus. Der Laden – rund um die Uhr und dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr geöffnet – war berühmt-berüchtigt, selbst für Reeperbahnverhältnisse, und verfügte über eine beachtliche Auswahl an speziellen Utensilien, die das Angebot eines gewöhnlichen Geschäfts dieser Ausrichtung bei Weitem überschritt. In dessen riesigem, hell ausgeleuchtetem Schaufenster sah er jetzt Otto, der einen quietschgrünen Vibrator in die Höhe hielt und damit vor Willis Nase herumfuchtelte. Sein Mund formte Worte, die Carlos gar nicht hören wollte. Er konnte sich aber vorstellen, dass sie alle üblichen Kommentare, die in diesem Shop für gewöhnlich fielen, in den Schatten stellten. Im Hintergrund stand Pfarrer Karl und musste sich vor Lachen auf den Knien abstützen.

Schnell hastete Carlos auf den Eingang des Sexshops zu, passierte den breitschultrigen Security-Mann und stellte sich, die Hände in die Seiten gestützt, vor seiner ausgelassenen pfälzischen Reisegruppe auf. Er kam sich vor wie ein Vater, der seine übermütig gewordenen Jungs einfangen muss.

»Do bischt jo endlisch!«, rief Otto ihm entgegen und reichte das summende, grüne Ding an Willi weiter, in dessen Pranken es plötzlich erheblich an Größe und Imposanz einbüßte.

Carlos sah sich schnell im Eingangsbereich des Ladens um. Er lächelte bemüht und versuchte krampfhaft, gelassen zu bleiben.

»Oh, du guckscht jetzt awwer auch grad e bissel peinlich aus de Reizwäsch, mein Guder«, lachte Otto. »Bischt du heut zum erschte Mol do?«

»Ich? Nein. Klar kenn ich den Laden hier«, beeilte Carlos sich zu sagen, bereute es aber sofort wieder.

Seine Freunde sahen ihn erstaunt an und nickten anerkennend.

»So einer bischt du also«, stellte Willi fest.

»Und was kannscht du hier so empfehle?«, fragte Karl.

Carlos setzte ein säuerliches Lächeln auf.

»Des do vielleicht?« Otto griff nach einer großen Flasche mit Gleitmittel und schwenkte sie vor Karls verdutztem Gesicht. »So was tät dir vielleicht helfe, Herr Pfarrer. Dass dei Kirchetür endlisch uffhört, so gottserbärmlisch zu quietsche.«

Karl prustete los. »Hör uff jetzert! Mir wern noch verhaftet von de Sittenpolizei. Guck do, die annere benehmen sich aach.«

Sie blickten sich um. Ein Mann, der am anderen Ende des Ladens mit dem Rücken zu ihnen vor einer Wand mit Magazinen stand, schien den Kopf einzuziehen. Die Kunden des Geschäfts waren die übliche Mischung aus Typen, die entweder verschämt und unauffällig in irgendwelchen Ecken standen oder mit demonstrativ zur Schau gestellter Lockerheit durch die Regalreihen zogen und alles anfassten, was ihnen in die schweißnassen Finger kam. Im hinteren Bereich des Ladens waren ein paar alkoholisierte Party-Junggesellen damit beschäftigt, sich lauthals lachend und stöhnend mit Reitgerten und Staubwedeln aus Straußenfedern zu traktieren, bis eine Verkäuferin dazwischenging.

Die Einzigen, die hier offensichtlich wirklich Spaß hatten, waren die Pfälzer Karl, Willi und Otto.

Letzterer nahm jetzt interessiert ein kleines Fläschchen in die Hand. »Guck emol do! Spanische Fliege, was’n des?«

»Des is e Aphro…«, versuchte sich Willi. »E Aphrodite-Tonikum nennt ma des. Also ebbes, dass ma widder mehr Luschd kriggt do druff.«

»Wo druff?« Otto zog die Augenbrauen hoch und spielte den Unwissenden.

»Ah uff des, wo die Aphrodite fer berühmt is.«

»Fer ihr uffgestellte Lockehaar määnscht?«, fragte Otto.

»Nää. Des is de Afro-Look, wo du määnscht. Des hot mit dere griechische Göttin der Liebe …«, bei diesem Wort zog Willi das untere Lid seines rechten Auges mit dem Zeigefinger nach unten und starrte Otto bedeutungsschwer an, »… mit der hot des ebbes zu tun.«

»Aha, des määnscht du.«

»Ja.«

»Dass ma mehr Luschd kriegt?«

»Ja.«

»Noch mehr?« Otto warf einen abschätzigen Blick auf das kleine Fläschchen in seiner Hand. »Awwer wer braucht denn so ebbes?«

Die drei Elwenfelser sahen sich fragend an und zogen dann wie auf Kommando die Schultern hoch.

»Spanische Fliege. Des klingt fascht so unnütz wie Pälzer Essigmück. Gibt’s haufenweis, aber keiner tät die vermisse, wenn sie nimmi do wärn. Ferzz!«

Mit diesem lautmalerischen Schlusswort stellte Otto das Fläschchen klirrend wieder ins Regal zurück.

»Haben die Herrschaften vor, auch etwas zu kaufen?« Dieselbe Verkäuferin, die gerade die überdrehten Junggesellen gerügt hatte, näherte sich.

Carlos stellte sich vor, wie frustrierend der Job hier sein musste, wenn man bei angeblichen Kunden dauernd die Rolle einer Kindergärtnerin zu übernehmen hatte.

»Ob mir was kaufe?«, fragte Karl. »Jo, des hängt davon ab, ob man do was finde könne tät, was ma brauche könne wollt, wissen Sie, wie isch mein?«

»Was suchen Sie denn?«, fragte die Frau mit professioneller, distanzierter Höflichkeit.

»Etwas, wo uns befreie tut von den Fesseln der Konvention«, antwortete der Pfarrer mit hochdeutsch gestelztem Pfälzer Pathos.

»Dann gehen Sie doch am besten in die SM-Abteilung im Untergeschoss«, erklärte die Verkäuferin trocken, »Bondage-Utensilien, Peitschen und Nonnenkostüme aus Latex und Lack. Da finden Sie bestimmt was für Ihre Fessel-Convention.« Sie zwang ihrem chronisch gelangweilten Gesicht ein Zucken ab, das wohl ein Lächeln darstellen sollte, und wandte sich ab.

Karl sah ihr entgeistert nach. »Woher hot die gewusst, dass isch … also des mit de Nonne?«

»Die wird dafür bezahlt, dass sie dir in den Kopf guckt«, meinte Carlos.

»Gibt’s eigentlich auch Winzerkutte aus Gummi?«, schaltete Willi sich ein. »Is vielleicht ebbes fer de Bitterlinger. Dann wird er net nass, wenn’s regnet.«

Sie lachten.

»Na, dann auf in den Untergrund, Männer«, sagte Carlos. Er hatte beschlossen, sie einfach machen zu lassen. So lustig würde es auf der Reeperbahn so schnell nicht mehr werden. Er fühlte sich durch die Anwesenheit der Elwenfelser einfach nur gut, obwohl er gerade einen lukrativen Auftrag verloren hatte. Was die drei hier abzogen, hatte etwas von einer selbstironischen Performance, eine Art Doku-Soap mit dem Titel Von Elwenfels nach Sodom & Gomorrha: drei Pfälzer im Erotik-Palast der Großstadt.

Im Untergeschoss gingen sie zunächst wortlos an den Verkaufsregalen mit diversen Schlaginstrumenten und Fesselutensilien vorbei, und Carlos nahm innerlich Habtachtstellung an, weil er jederzeit einen zwerchfellstrapazierenden Spruch erwartete, der gleichzeitig die Blutzufuhr im Gesicht ankurbelte. Und der ließ auch nicht lange auf sich warten.

»Ou, ou, ou mol do!«, rief Willi ihnen plötzlich über zwei Regalreihen hinweg zu und hielt eine Gummimaske in die Höhe, die eindeutig einen Schweinskopf darstellte. »Isch hab gar net gewusst, dass die do auch Fastnachtsartikel führe.« Er steckte eine Hand in die Halsöffnung und benutzte die Maske als eine Art Kasperlepuppe, die er nun hin und her bewegte und dazu laute Grunzgeräusche machte. Dann rief er: »Isch bin die ärmscht Sau von de Reeperbahn, weil isch vom FC Pauli kam. Ke Chance gehabt gege starke Pälzer, schunn land isch im Kochtopf vom Tim Mälzer.«

Das folgende Gelächter war so laut, dass die Verkäuferin plötzlich an der Treppe auftauchte, um nach dem Rechten zu sehen.

»Alles gut hier unten«, rief Carlos, »alles gut! Meine Freunde aus der Pfalz sind nur ein bisschen angetörnt von der Atmosphäre hier.«

»Ja genau«, ergänzte Karl. »Is alles so schää esoterotisch do, gell Männer?«

Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatten, entdeckten die drei Elwenfelser eine Regalreihe, bei der sie nicht zu den üblichen Sprüchen animiert wurden. Beim Anblick von Feinstrümpfen und Nylons wurden sie plötzlich ganz ruhig und zahm. Plötzlich zeigten sie sich so staunend interessiert wie Kinder in einem Streichelzoo.

Es endete damit, dass sie Strümpfe für die halbe Damenwelt von Elwenfels aussuchten, besonders für Cordula, die in dem winzigen Dorf ein ziemlich bemerkenswertes Miederwarengeschäft betrieb. Seit letztem Jahr wusste Carlos, dass in Elwenfels eine Art Fetisch für feine Strumpfwaren existierte, und die Erinnerung an ein Erlebnis in der Felshöhle ließ ihn erröten.

Der Großeinkauf wurde an der Kasse von der Verkäuferin mit – für ihre Verhältnisse wohl euphorisch – nach oben gezogenen Mundwinkeln quittiert. Als sie Willi das Wechselgeld überreichte und sich bedankte, neigte der höflich den Kopf und sagte: »Donkschää, Madame«. Dann wandte er sich seinen Begleitern zu und bemerkte: »Hopp, schnell jetzert! Isch kann’s kaum erwarte, die Dinger anzuziehe.«