Winzerkrieg - Uwe Ittensohn - E-Book

Winzerkrieg E-Book

Uwe Ittensohn

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Beschreibung

Privatschnüffler André Sartorius findet beim Joggen am Speyerer Rheinufer eine durch einen Kopfschuss schrecklich entstellte Leiche. Da die Tatwaffe fehlt, geht die Polizei von Mord aus. Ein mysteriöser Facebook-Post spricht hingegen für Selbstmord. Dazu kommen gleich zwei Geständnisse. Kriminalhauptkommissar Achill verstrickt sich aussichtslos in den Fall. Sartorius ermittelt derweil auf eigene Faust. Unter den Winzern im Weinort Deidesheim trifft er auf ein Gespinst übler Machenschaften - und entwickelt eine eigenwillige Hypothese …

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Uwe Ittensohn

Winzerkrieg

Kriminalroman

Zum Buch

Wenn Winzer hassen ... Privatschnüffler André Sartorius und seine Mitstreiterin Irina finden beim Joggen am Speyerer Rheinufer eine durch einen Kopfschuss schrecklich entstellte Leiche. Da die Tatwaffe fehlt, geht die Polizei von Mord aus. Eine mysteriöse Abschiedsbotschaft auf Facebook spricht hingegen für Selbstmord. Als Kriminalhauptkommissar Frank Achill, der in alle Richtungen ermittelt, der Ex-Frau des Toten und ihrer Lebensgefährtin – einer mit dem Toten konkurrierenden Winzerin – auf den Zahn fühlt, gestehen beide unabhängig voneinander den Mord. Während sich Achill immer tiefer im Fall verstrickt und seine Ermittlungen immer groteskere Formen annehmen, recherchiert André Sartorius wie immer auf eigene Faust. Er trifft auf ein Gespinst aus Neid und Hass in der Deidesheimer Winzerszene. Bald kommt er auf eine eigenwillige Lösung des Falls, mit der er seinen Freund, Frank Achill, vor den Kopf stößt.

Uwe Ittensohn, in Landau/Pfalz geboren, ist vielseitig engagiert: Krimischriftsteller, Autor für Weinliteratur, anerkannter Berater für deutschen Wein, Kultur- und Weinbotschafter sowie Hochschuldozent. Er lebt in Speyer, wo er ein denkmalgeschütztes Stiftsgebäude sanierte und sich um den historischen Klostergarten kümmert, in dessen schattigen Winkeln er auch die Muße zum Schreiben findet. Der vorliegende siebte Band seiner Krimireihe ist wieder eine gelungene Symbiose zwischen Pfalz, Wein und Spannung. Mit seinem schriftstellerischen Wirken will er die Kultur, Lebensart und den im Herzen der Pfälzer verankerten Hang zu Wein und Genuss über die Grenzen der Region hinaus bekannt machen. Uwe Ittensohn ist Mitglied der Schriftstellervereinigung Syndikat.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ManuelVenturini / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3310-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Figurenübersicht

Die Ermittler und ihr Anhang:

André Sartorius: privater Schnüffler und Stadtführer in Speyer

Irina Worobjowa: BWL-Studentin und Sartorius’ Mieterin

Frank Achill: Kriminalhauptkommissar bei der Mordkommission Ludwigshafen, daneben Andrés Freund

Verena Bertling: Kriminaloberkommissarin und rechte Hand Achills

Jonas: Mitglied in Achills Team

Bernd Scherer: Kollege und Freund von Achill im Kriminaldauerdienst (KDD) des Polizeipräsidiums Ludwigshafen

Professor Doktor Astrid Schmollinger-Backhaus: Direktorin des Rechtsmedizinischen Instituts der Uni-Klinik Mainz

Polizeidirektor Andreas Metzger: Polizeipräsident am Polizeipräsidium Ludwigshafen

Die Winzerszene

Kuno Körber: Winzer und Vinothekenbesitzer im pfälzischen Deidesheim

Ute Wassler: Winzerin und ebenfalls Vinothekenbesitzerin in Deidesheim

Sally Wassler: Ehefrau von Ute Wassler

Doktor Ilonka Bolz-Bräsig: Rechtsanwältin von Ute und SallyWassler

Diego Martinez-Montero: Weingutbesitzer in Haro/Rioja

Alonso Martinez-Montero: ältester Sohn von Diego

Pedro Martinez-Montero: jüngster Sohn von Diego

Marc Dechamps: Chefredakteur der Genießerzeitschrift Weingenuss

Zitat

»Kein Wein ist so sauer wie der reine, der einem eingeschenkt wird.«

Markus M. Ronner, Theologe, Publizist und Journalist

1 Morgenrunde

Sonntag, 16. April 2023, 6.15 Uhr

»Wo bleibst du nur wieder, alter Mann? Läufst du rückwärts?« Irina tänzelte leichtfüßig, spöttisch grinsend in weiten Bögen um André herum.

»Ich hab halt ein Auge auf die Landschaft. Schau mal den schönen Sonnenaufgang da drüben.« André wies hinüber aufs badische Rheinufer, wo die Sonne ihre goldenen Strahlen ausschickte, um die kleinen Wellen im Fluss in warm funkelnde Diamanten zu verwandeln.

»Lenk nicht ab. Du bist kurz vorm Ersticken. Du schnaufst wie eine in die Jahre gekommene Dampflok.«

»Bin ich ja auch, und mitten in der Nacht ist es auch. Wer geht schon um 6 Uhr joggen?«

»Leute, die es sich nicht leisten können oder wollen, hier als Mumienschieberin gesehen zu werden.«

»Charming Irina mal wieder ganz in ihrem Element. Ich darf dich daran erinnern, dass das hier deine Idee war. Wie meintest du? ›Lass mich deine Personal Trainerin sein‹.«

»Da wusste ich ja noch nicht, dass Monsieur de l’Escargot so langsam läuft, dass ihm Efeu an den Beinen hochwächst.«

André schüttelte entgeistert den Kopf und brabbelte »Herr Schnecke« vor sich hin. »Ich bin ja auch doppelt so alt wie du.«

»Sehr wohlwollend formuliert. Doppelt … haha, dass ich nicht lache, hätt’ste wohl gerne.« Irina war dazu übergegangen, sich am ebenen Uferweg zwischen Strandbar und Rheinbrücke locker trabend in Serpentinen zu bewegen, um André wenigstens ansatzweise eine Chance zum Aufholen zu geben.

»Das ist das erste und letzte Mal, dass ich mit dir joggen gehe. Nächstens fahren wir wieder Fahrrad«, zischte André atemlos.

»Mit deinem Tempo musst du aber achtgeben, nicht umzukippen, schließlich funktionieren die gyroskopischen Kräfte beim Radfahren nur bei Bewegung, wie mir Herr Oberklug letztens erklärt hat – Hashtag ›unnötiges Wissen‹.«

»Na, wenigstens kannst du meinen großzügigen Wissenstransfer fehlerfrei reproduzieren.« André beobachtete, wie Irina nach links zog, von irgendwas am Wegesrand magnetisch angezogen.

Sie trabte auf ein parkendes Auto zu und blieb abrupt stehen, so als sei sie gegen eine Glasscheibe gelaufen. »Scheiße, was ist das denn?«, schrie sie. Entsetzen lag in ihrer Stimme.

André folgte ihren Blicken und sah die Ursache für ihren Schrecken. Auf der Windschutzscheibe eines ein paar Meter von der Uferpromenade entfernt vor der rheinseitigen Einfahrt zum Kanu-Club parkenden Fahrzeuges waren dicke rote Spritzer zu sehen, die teilweise in Schlieren heruntergelaufen waren und den Blick ins Innere unmöglich machten.

»Schmierfinken, nur weil der falsch parkt, die Scheibe mit Farbe zu beschmieren.« André schüttelte empört den Kopf.

»Das ist innen.« Irina näherte sich dem Auto vorsichtig. »Und die Seitenscheibe ist auch offen.«

»Nicht, bleib stehen!«

Irina stoppte.

Er überholte sie und trat auf die Bahnstrecke, die parallel zur Uferpromenade verlief, auf den Zufahrtsweg zum Kanu-Club. Hier hatte sich das parkende Auto in die schmale Lücke hinter der Bahnstrecke und vor das Gittertor des Klubanwesens gequetscht. Einige Meter vor dem Wagen auf Höhe der heruntergelassenen Fahrerscheibe stoppte er. Aus der Fensteröffnung ragte eine Hand mit seltsam abstehenden Fingern, so als wären sie im Begriff, nach etwas oder jemandem zu greifen.

»Hallo?«, rief André.

Nichts.

»Sie da im Auto«, fügte er mit mehr Nachdruck hinzu.

Es blieb still und die Hand unbewegt liegen.

André schluckte. Noch konnte er nicht in das von den hohen Kastanienbäumen verschattete Wageninnere sehen. Unsicher näherte er sich.

»Was ist? Was siehst du?«, rief Irina mit zittriger Stimme.

Jetzt sah André den Fahrer des Wagens. Sein Kopf war seitlich nach vorne weggekippt und ruhte unnatürlich verdreht auf der Schulter. Auch der Oberkörper war seltsam Richtung Fenster gewunden.

Mit wackligen Beinen näherte er sich weiter. Er bückte sich etwas, um dem Mann ins Gesicht zu sehen. Was er sah, traf ihn wie ein Faustschlag. Er schaute in ein riesiges klaffendes Loch. Die linke Kopfhälfte ab der Nasenwurzel fehlte. Blut, Gehirnmasse und Knochensplitter waren überall im Wagen verteilt.

»Scheiße, pass auf!«, rief Irina panisch und wies auf ein blutiges Etwas dicht neben Andrés Füßen.

André, der bis jetzt ganz auf den Fahrer konzentriert gewesen war, sah nach unten. Vom Boden starrte ihm ein einsames Auge entgegen.

Er musste sich abwenden, um den aufkommenden Würgereflex zu unterdrücken.

Wie versteinert, unfähig zu gehen oder etwas zu erwidern, stockte er. »Oh Gott«, entfuhr es ihm heiser.

»Was ist das?«, krächzte Irina.

»Ruf Achill an!«, schrie André und taumelte zurück auf die Promenade. Seine Beine drohten unter ihm wegzuknicken.

Offensichtlich hatte auch Irina verstanden, was ihn so fassungslos machte. Ohne weitere Rückfrage riss sie ihr Handy aus der Tasche der Laufjacke. Zittrig und nach mehreren Fehlversuchen gelang es ihr, die Nummer des mit ihr und André befreundeten Kriminalhauptkommissars der Mordkommission Ludwigshafen, Frank Achill, zu wählen.

»Du musst sofort kommen, hier ist …« Sie stockte und schaute zu André hinüber.

»Ein Mord …«, stammelte André fahrig. »Er soll die Spurensicherung und die Rechtsmedizin mitbringen.«

2 Kopflos

Sonntag, 16. April 2023, 7.50 Uhr

Die Beamten des Streifenwagens, der zehn Minuten nach Irinas Telefonat mit zuckendem Blaulicht und brüllendem Martinshorn hier eingetroffen war, hatten sie schon zweimal angewiesen, sich auf einer 50 Meter entfernt stehenden Bank niederzulassen und sich zur Verfügung zu halten. Doch Irina und André standen noch immer unweit des Fahrzeuges auf dem Weg.

Während Achill sich mit der mittlerweile aus Mainz angekommenen Rechtsmedizinerin und dem Leiter der Spurensicherung unterhielt, hatte sich Kriminaloberkommissarin Verena Bertling, Achills engste Mitarbeiterin, zu ihnen gesellt. »Ihr könnt nach Hause gehen, das mit den Personalien können wir uns sparen, und eure Aussage könnt ihr später machen. Ihr solltet das hier nicht mit anschauen. Die Kollegen werden nun gleich den Wagen öffnen.« Sie musterte Irina mitleidig. »Und dir würde ein starker Kaffee nichts schaden, du bist blass wie ein Leintuch.«

André, der wie immer in solchen Situationen in einer Art Autistenmodus gefangen war, sich ausschließlich auf den Fall fokussierte und sonst alles um sich herum vergaß, schaute sie nun betroffen an.

»Verena hat recht, du solltest …« Erstmals wurde ihm bewusst, dass auch er nur mit Mühe ein Zittern unterdrücken konnte. Seine schweißnasse Joggingkluft hatte sich wie eingekleisterte Tapete an seinen Körper geklebt und ließ ihn frösteln. »Und mir würde ein heißer Kaffee auch nicht schaden.«

»Na dann tschüs«, sagte Bertling und wirkte erleichtert.

»Ihr könnt ja nach dem hier gerne zu uns auf einen Cappu kommen, ich kaufe uns ein paar Cornetti«, frohlockte André, bei dem allein die Vorstellung eines Frühstücks wieder die Lebensgeister geweckt hatte.

»Und das alles ohne Hintergedanken«, entgegnete Bertling lachend. »Sollen wir die Tatortfotos gleich mitbringen? Du weißt aber, dass die Rechtsmedizin immer sehr sparsam mit Spontanaussagen ist.«

»Na ja, ich dachte nur, ihr könntet auch einen warmen Cappu vertragen.«

Irina lachte. »Gib’s auf, alter Mann. Verena weiß genau, dass du vor Neugierde saugfähig wie ein trockener Schwamm bist.«

»Ich wollte doch nur …«

Irina zwinkerte Verena Bertling verschwörerisch zu. »Nein, nein, er ist nicht neugierig und bewirtet euch natürlich auch gerne, wenn ihr verschwiegen seid wie eine Karmeliterin mit Schweigegelübde.«

Sie gab André einen kameradschaftlichen Klaps auf den Oberarm. »Komm schon, alter Mann. Ich hab Hunger und hoffe für dich, du bewirtest mich genauso fürstlich wie die Polizei, auch ohne dass ich dir vertrauliche Informationen ausplaudere.«

André trottete konsterniert dreinblickend mit ihr mit, als sie ihn am Ärmel seiner Joggingjacke von der Bildfläche zog.

*

»Wenn es Sie stört, nehm ich das da schon mal weg.« Die Rechtsmedizinerin, Frau Professor Doktor Schmollinger-Backhaus, wies dabei auf den Augapfel, der noch immer ziellos vom Boden vor der Fahrertür in die Luft starrte.

»Von mir aus gerne«, erwiderte Achill, der sich nur schwer an das starr vor sich hin glotzende Auge, das auf einem Batzen aus Blut und Gewebe thronte, gewöhnen konnte.

Schmollinger-Backhaus lachte ihr typisches Raucherlachen und schüttelte den Kopf. »Solange ein Leichenteil aussieht wie ein frisches Rindersteak, seid ihr immer alle ganz tapfer, aber wehe, ein Auge wird ektomiert.«

»Ektomiert?«, fragte Achill verwirrt.

»Na ja, in diesem Fall wohl eher herausgerissen«, korrigierte Schmollinger-Backhaus grinsend.

»Herausgerissen?«, wiederholte Achill.

»Ja, etwas populärwissenschaftlicher ausgedrückt, hat offensichtlich der Überdruck des Projektils, der ihm unter anderem auch das Jochbein weggerissen hat, aus der dadurch nicht mehr intakten Augenhöhle das Auge herauskatapultiert.«

Achill schluckte. Obwohl die Kollegen von der Kriminaltechnik bereits den Boden vor dem Pkw, die Tür und den Türgriff fein säuberlich nach Spuren abgesucht hatten, hatte er noch ganz bewusst etwas Abstand gewahrt.

»Dürfen wir schon an das Fahrzeug herantreten, Herr Achill wünscht eine ästhetische Tatortbereinigung«, witzelte Schmollinger-Backhaus, die dafür bekannt war, sich an den Ekelgefühlen ihrer Mitmenschen – ganz besonders der männlichen – zu weiden.

Die Kollegen der KT lachten, traten etwas zur Seite und gaben die Tür frei.

Achill meinte, ein geflüstertes »Sensibelchen« zu hören. Er ärgerte sich, schließlich war es ihr Vorschlag gewesen.

Nachdem Schmollinger-Backhaus das Auge in einem Beutel verstaut und Achill einmal kräftig geschluckt hatte, gesellte er sich neben sie. »Und welchem Umstand haben wir es zu verdanken, dass wir heute die Chefin der Rechtsmedizin höchstpersönlich hier vor Ort haben?«

»Mir läuft eben bei den Worten ›frische Leiche‹ immer das Wasser im Mund zusammen, und bei solch einer Verlockung konnte ich nicht anders«, sagte sie, wieder begleitet von ihrem Raucherlachen.

Dabei wirkte sie – eingezwängt in einen der weißen Spusi-Overalls – wie ein Engerling vor der nächsten Häutung.

»Spaß beiseite, kein Personal, alle krank, das Übliche wie überall, da muss halt die Chefin ran.«

Achill hasste es, an Tatorten stundenlang zu warten, bis Spusi und Rechtsmedizin fertig waren. Und danach noch wie ein Bittsteller allen die Würmer aus der Nase ziehen zu müssen. Schmoba, wie Bertling die Frau Professor nannte, war diesbezüglich besonders anstrengend. Sie liebte es, das Wenige, das sie vor dem offiziellen Gutachten bekannt gab, mit professoralem Gehabe zu inszenieren. Aber selbst bis dahin galt es, sich frierend, mit rebellierendem nüchternem Magen die Beine in den Bauch zu stehen.

Aber abziehen war keine Alternative, die Kollegen von der KT würden das als Drückebergerei betrachten.

3 Grauen

Sonntag, 16. April 2023, 15.15 Uhr

Mittlerweile hatte man mit transportablen, mit Planen bespannten Stellwänden das Fahrzeug vor den Blicken der steigenden Zahl der Passanten, die nun zu allem Übel auch noch von einem soeben angelegten Flusskreuzfahrtschiff strömten, abgeschirmt.

So zogen sich die Spurensicherungsarbeiten an der Uferpromenade – oder, wie es nun offiziell hieß, dem Helmut-Kohl-Ufer – über die Mittagszeit hin. Durch die Enge des Pkws konnten immer nur Teile des Teams effektiv arbeiten.

Kälte, Hunger und die Ernüchterung über die spärlichen ersten Erkenntnisse, die nicht weit über das hinausgingen, was man durch bloßes Hinsehen erkannte, hatten Achills Laune nach unten gezogen. Aber eines wussten sie nun wenigstens: Der Tote hatte Papiere dabei, er hieß Kuno Körber und stammte aus Deidesheim an der Weinstraße.

»Kommissar Google meint, er hat in Deidesheim ein Weingut und eine Vinothek, die hat aber geschlossen«, zwitscherte Bertling und starrte auf ihren Tablet-PC.

»Ach, du meinst, er ist für heute arbeitsunfähig?«

»Wie meinst du das?«, fragte Bertling abwesend, aufs Tablet starrend.

»Vergiss es«, brummte Achill. »Lass uns vorne bei Rentschlers einen Cappu trinken und dann einen Abstecher zur Vinothek und zum Weingut dieses Körber machen.« Er wies dabei mit dem Zeigefinger in Richtung des Café-Restaurants an der Zufahrt zur Rheinpromenade.

*

»Ich sagte doch, ›vorübergehend geschlossen‹ stand im Netz«, zischte Bertling, als Achill am Griff der Vinothekentür rüttelte. »Und laut diesem Schild hier schon seit Dezember.«

»Dabei sieht das hier nicht schlampig aus. Hat bestimmt Millionen gekostet.« Achill ließ seinen Blick über die gewagte Stahl-Glas-Konstruktion gleiten, die etwas oberhalb von Deidesheim unweit des Freibades mitten in die Rebflächen am Hang gebaut worden war.

»Das ist die Kehrseite dieser stylishen Dinger. Irgendwann schließen sie und rosten als Ruinen in den Weinbergen vor sich hin.«

»Na ja, vom Rosten ist die hier noch weit entfernt. Bestimmt ist sie nur vorübergehend geschlossen. So stand es ja auch im Netz«, erwiderte Achill.

»Voriewergehend, dass ich ned lach. Der Körber is mausedood, un des Ding ist uff Dauer zu.«

Achill fuhr herum. Hinter ihnen hatte sich ein grobschlächtiger Mann in Winzerkluft genähert.

»Wie … wie meinen Sie das: mausetot«, fragte Bertling erstaunt.

»Ah, kabutt halt. Der hod doch Influenz ohmelde misse.«

»Äh, Sie meinen, er hat Influenza?«, fragte Bertling verwirrt.

Achill kam ihr zu Hilfe. »Sie meinen sicherlich ›Insolvenz‹?«

»Ha jo, des, wu se im Fernseh immer denn Grohkopp rufen mit seuner Dafel – denn Schwegert odder wie der häßt.«

»Peter Zwegert«, verbesserte Achill.

»Ha jo, genau denn.«

»Und warum ist er insolvent? Die Vinothek sieht doch schick aus, liegt schön über dem Ort, genau das, was gerade boomt.«

»Do missense ihn selwer frooche. Der hot wohl Huddel mit de Gemäh g’habt.«

»Huddel? Gemäh?« Bertling wirkte noch verwirrter.

»Ah Ärscher halt – Krach mit de Gemoindeverwaldung.«

»Mit der Gemeinde? Aber sein Weingut ist noch geöffnet. Das ist doch auch hier im Ort?«, hakte Achill nach.

»Ha jo, des hot noch uff. Mol sehe, wie long.« Der Alte lachte hämisch.

»Und seine Familie?«

»Familie? Der hot doch niemand mehr, seit seu Aldie fort is.«

»Aldie? Sie meinen seine Ehefrau?«, fragte Achill.

»Ha jo«, grunzte der Alte. »Un warum wollen Se des alles wisse? Geht Sie des iwwerhaupt was o?«

»Nein, im Prinzip nicht, wir hatten uns nur gewundert, warum die Vinothek geschlossen ist, danke für Ihre Unterstützung.« Achill hatte keine Lust, diesem Einfaltspinsel etwas über den Grund ihres Besuches zu erzählen.

Der Alte trollte sich, und Bertling und Achill gingen zum Auto.

»Wolltest du nicht probieren, ob einer der Schlüssel passt, die wir am Fundort sichergestellt haben?«

»Nein, erstens wollte ich nicht, dass es der Alte sieht, und zweitens ist mir sein Wohnhaus wichtiger. Das hier können wir uns noch später vornehmen.«

»Der Herr schien ja alles zu wissen, was im Ort so vor sich geht, wolltest du ihn nicht vorladen?« Bertling grinste spöttisch.

Achill zeigte ihr nur genervt den Vogel.

*

Zehn Minuten später trafen sie an der in Körbers Personalausweis genannten Wohnadresse ein.

»Ganz schön runtergekommen, krasses Gegenkonzept zur Vinothek«, kommentierte Bertling, als sie vor dem Winzeranwesen im Zentrum von Deidesheim ankamen.

»Wie heißt es so schön? Vorne hui und hinten pfui. Jedenfalls keiner dieser Schicki-Micki-Winzer«, bestätigte Achill und schaute sich kurz um. Er wollte sichergehen, dass sie nicht wieder jemand beobachtete. Dann zückte er den Asservatenbeutel, in dem Körbers Schlüsselbund steckte, beugte sich hinunter, las den im Schließzylinder eingravierten Herstellernamen in der Fußgängertür zum Winzerhof und suchte durch die Folie des Beutels nach dem passenden Schlüssel. Er bugsierte dessen Spitze so aus der Tüte, dass er damit aufschließen konnte.

Die schräg in den Angeln hängende Tür scharrte beim Aufschwingen geräuschvoll über das Kopfsteinpflaster des Hofes.

»Wow, sieht ziemlich abgewrackt aus«, sagte Bertling, als sie ihren Blick über den Hof, auf dem einige schon etwas eingerostete Winzergeräte herumstanden, schweifen ließ.

»Daraus möchte ich keinen Wein trinken«, ergänzte Achill und schaute sich fasziniert eine rostige Kelter an, in deren Wanne sich einiges an Herbstlaub angesammelt hatte. »Ich hoffe für seine Kunden, dass das nur ein nos­talgisches Ausstellungsstück ist.«

Gras und vereinzelte Löwenzahnblüten hatten sich ihren Weg durch die Fugen des holprigen Kopfsteinpflasters gebahnt. »Hat was«, kommentierte Bertling.

Achill steuerte auf die Tür des Fachwerkhauses zu, das die linke Begrenzung des Hofes bildete.

»Du meinst, das ist das Wohnhaus?«, fragte sie entgeistert. »Da ist ja nix gerade dran.«

»Siehst du ein anderes? Alte Fachwerkhäuser sind halt nun mal krumm und schief.« Achill war wieder vorm Schloss in die Knie gegangen und wiederholte die Prozedur mit dem Schlüssel. Wieder wurde er fündig.

»Willst du nicht mal klingeln, vielleicht gibt es ja eine Mitbewohnerin?«

»Versuch dein Glück«, sagte Achill, ohne vom Schlüsselbund aufzusehen.

Bertling betätigte die Klingel. Ein mechanisch-metallisches Schellen, begleitet von einem kaum hörbaren Poltern erklang.

»Hast du das auch gehört? Da ist doch jemand.«

»Ach was, da war nichts.« Achill stand schon mit der aus dem Plastikbeutel lugenden Schlüsselspitze bereit. »Wir gehen jetzt rein.«

»Wenn du meinst, aber klingle noch mal.« Bertling drückte die Ohrmuschel an die Tür.

Achill betätigte die Klingel in einer hektischen Dreierfolge.

Nichts.

»Hallo, ist da jemand? Polizei! Wir kommen jetzt rein.«

Auch dies blieb unbeantwortet.

*

André lief unruhig in seiner Wohnküche auf und ab.

»Setz dich endlich. Du kommst mir vor wie einer der Bären im Landauer Zoo, die immer am Gitter auf und ab laufen.«

»Lass mich. Ich muss nachdenken.«

»Du hättest diese Lauffreude besser vorhin beim Joggen gezeigt. Das war ja voll Panne. Ich hab gedacht, du hast Klebstoff an den Sohlen.«

»Hmm.« André winkte nur mit mürrischem Gesichtsausdruck ab, wie immer, wenn er über etwas nachdachte und nicht gestört werden wollte. Mit den Händen gestikulierte er, als würde er einem tonlosen Gespräch, das er wohl mit sich selbst führte, mehr Ausdruck verleihen wollen.

»Du ärgerst dich, dass du dich vor lauter Entkräftung vorhin einfach so von Verena hast heimschicken lassen?«

»Woher weißt du das schon wieder?«

»Ich seh’s dir an. Immer wenn du dich in Gedanken mit jemandem streitest, gestikulierst du. Sieht aus wie Pantomime. Echt crazy.«

»Ach.« Wieder winkte er nur ab.

»Über was denkt denn unser Superhirn nach?«

»Es war Mord.«

»Aha, und woher diese Erkenntnis? Es könnte genauso gut Selbstmord gewesen sein. Hab gehört, wie Frank so etwas wie ›aufgesetzter Schuss‹ gesagt hat.«

»Unsinn«, erwiderte er harsch. »Wo war dann die Tatwaffe? Über die hätten sie doch sofort gesprochen. Der Täter hat sie mitgenommen, ist doch logisch.«

»Die Stelle, an der er geparkt hat, ist völlig abgelegen. Ich wüsste nicht mal, wie ich mit dem Auto dahinkomme«, erwiderte Irina etwas zickig, offensichtlich ärgerte sie sich über Andrés rüde Abfuhr.

»Was willst du damit sagen? Die Zufahrt zum Vereinsgelände des Kanu-Clubs ist zwar versteckt. Man will eben nicht, dass da direkt an der Uferpromenade wild geparkt wird. Aber ein Parkplatz, der nur wenige Meter von der Promenade entfernt ist, ist doch nicht abgelegen.«

»Vielleicht hat ihn ja ein Parkwächter vom Kanu-Club wegen Falschparkens erschossen. Immerhin blockiert er deren Gittertor zum Rheinufer, und wenn die Boote zu Wasser lassen wollen, wird das nicht klappen.«

»Sei nicht albern. Das machen sie doch nicht nachts.« André begann mit verärgerter Miene, wieder seinen Marsch durch die Küche fortzusetzen. »Und ein kleiner Verein hat weder einen Park- oder Nachtwächter noch eine Kameraüberwachung.«

»Du wirst doch wohl nicht wieder Frank und Verena ins Handwerk pfuschen wollen!«

Er blieb stehen und musterte sie entgeistert. »Was heißt hier ins Handwerk pfuschen? Wer hat denn im letzten Herbst Frank, Verena und ganz Speyer vor einer Kata­strophe bewahrt? Ohne mich wäre Verena gar nicht mehr im Polizeidienst.«

Irina schluckte. Böse Erinnerungen durchzuckten sie wie ein Blitz, der unverhofft ein Gewitter ankündigt. Sie schlug mildere Töne an. »Ich gebe es ungern zu. Ohne dich wäre ich jetzt auch nicht mehr hier und würde gesiebte Luft durch ein Gefängnisgitter atmen, oder man hätte mich längst nach Russland abgeschoben.«

Sie spielte darauf an, dass sie als ehemals russische Austauschstudentin wegen persönlicher Verstrickungen in ihrem letzten Fall kurz davorgestanden hatte, dauerhaft inhaftiert oder abgeschoben zu werden.

»Ich will aber nicht, dass du dich wieder in Gefahr bringst, du warst monatelang außer Gefecht gesetzt mit deiner Beinverletzung.«

»Deine Erinnerung an meine Beinverletzung hätte ich mir vorhin beim Joggen gewünscht«, sagte er vorwurfsvoll.

*

Achill drehte geräuschvoll den Schlüssel im Schloss. Eine letzte Chance für einen Bewohner, sich bemerkbar zu machen.

Langsam schob er das Türblatt nach innen und lugte durch den Spalt. »Nichts«, flüsterte er und drückte die Tür ganz auf.

Ihnen schlug ein muffiger Geruch nach altem Essen, Räucherwurst und getragenen Schuhen entgegen. Im Haus war es kühl, alles wirkte feucht und klamm.

Sie passierten eine unaufgeräumte Wohnküche, in der sich schmutziges Geschirr türmte. Dann ein altbacken eingerichtetes Wohnzimmer mit einer überdimensionierten, großen altmodischen Schrankwand, die den niedrigen Raum bis zur Decke ausfüllte.

Die Enge des übermöblierten Zimmers wirkte erdrückend.

»Wenn das keine gute Vorbereitung auf einen Sarg ist«, flüsterte Bertling.

Sie gingen den kurzen gefliesten Korridor entlang. Es gab noch einen weiteren Raum, dessen Tür halb zugezogen war. Achill schob sie auf und winkte Bertling herbei. »Hier war schon jemand vor uns.«

In dem als Büro genutzten Raum sah es chaotisch aus. Aus den Schränken herausgezerrte Aktenordner, aus denen zum Teil die Blätter herausgerissen und auf dem Boden verstreut lagen.

Achill zog sich Latexhandschuhe über und hob nacheinander zwei fast komplett entleerte Ordner vom Tisch auf und las den Text auf dem Ordnerrücken vor: »Ehevertrag, Lebensversicherung, Grundbuchauszüge«, und auf dem zweiten »Konzession«.

Er bückte sich, um einen weiteren leeren Ordner aufzuheben. Über ihren Köpfen hörten sie eine Art Stampfen.

»Was war das?«, zischte Bertling.

Achill legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und flüsterte ihr ins Ohr: »Der, der das angerichtet hat, scheint noch hier zu sein.«

Bertling fasste reflexartig an die Seite ihres Blazers, unter dem das Holster ihrer P99 hing.

Achill zog ebenfalls seine Dienstwaffe und bewegte sich langsam Richtung Tür. Mit einer Geste signalisierte er ihr, sich hinter ihm zu halten und ihm den Rücken zu decken.

Als sie das verwüstete Büro verließen, verfielen sie, ohne dass es einer Absprache bedurfte, in die typische SEK-Choreografie. Bertling in Achills Rücken, lugten sie in die kleine Abstellkammer, die sie bisher übersehen hatten, und schlichen zur Treppe.

Langsam setzten sie Fuß um Fuß auf die Holzstufen, die jedes Mal ein verräterisches Ächzen von sich gaben.

Egal wer da oben war, er wäre vorbereitet. Ihre Schritte konnte er nicht überhören. Auch Bertling zog nun die Waffe.

»Pass auf!«, flüsterte er ihr zu.

Oben gingen drei Türen vom Flur ab, bis auf die letzte waren alle geschlossen.

Ohne dass es eines Wortes bedurfte, arbeiteten sie sich als gut eingespieltes Team voran. Sie positionierten sich rechts und links der Tür. Achill hielt die Walther mit beiden Händen fest umschlossen und stand an der Seite, an der sich die Tür öffnete. Bertling griff quer und drückte die Klinke hinunter. Achill ließ die Tür mit einem Fußtritt aufspringen und stürmte hinein.

Nichts.

Es war eine Art Gästezimmer, alles wirkte unberührt.

Er prüfte noch den Kleiderschrank, sah unters Bett und hinter die Gardinen.

Nichts.

Beim nächsten Raum wiederholten sie die Prozedur. Die Tür donnerte an einen Schrank dahinter. Ein lautes Scharren auf dem Fußboden vom Zimmer daneben. Bertling wandte sich um, die Pistole im Anschlag, um Achill den Rücken zu decken.

Auch hier sah sich Achill kurz um. »Alles sauber«, zischte er tonlos in Bertlings Richtung und baute sich vor der nur angelehnten Tür des Raumes auf, aus dem das Geräusch gekommen war.

Bertling prüfte noch einmal, ob ihre Waffe durchgeladen war. Ihr Hände krampften sich um das Griffstück, sodass die Fingergelenke weiß hervortraten.

Achill versicherte sich mit einer Geste, ob sie bereit war.

Er trat gegen die Tür.

Sie sprang laut auf. Er preschte zwei Schritte hinein. Ein lautes, ohrenbetäubendes heiseres Schreien. Etwas streifte sein Bein.

»Scheiße!«, schrie Bertling. Ihr Herz überschlug sich.

4 Hilfe

Sonntag, 16. April 2023, 17.35 Uhr

»Wir brauchen euch, ihr müsst uns helfen«, schnarrte es aus Irinas Smartphone knapp.

Irina war verwirrt. »Verena, bist du’s?«

»Wer sonst?«

»Was ist denn um Himmels willen los?«

»Wir haben hier einen medizinischen Notfall, der keinen Aufschub duldet. Seid ihr zu Hause?«

»Ja doch. Und warum fahrt ihr nicht ins Krankenhaus?«

»Geht in diesem Fall nicht.«

Irina spürte, wie ihr die Knie weich wurden. »Hat es mit dem Rheinufer-Fall zu tun?«

»Ja.«

»Geht es euch gut?«

»Den Umständen entsprechend. Wir müssen jetzt aber wirklich sofort kommen. Sind in 20 Minuten da.«

*

»Haben sie endlich gelernt, dass es besser ist, uns von Anfang an einzubeziehen«, feixte André. »Hätten wir in den anderen Fällen immer gleich zusammengearbeitet, wäre uns so manches Unheil erspart geblieben.«

»Oh Mann. André-Sensibel mal wieder in Hochform. Da ist einer unserer Freunde verletzt und braucht Hilfe, und du hast nur deine Ermittlungen im Kopf. Du nervst echt.«

»Ach was, wäre es schlimm, wären sie direkt ins Krankenhaus gefahren oder hätten einen Notarzt gerufen.«

»Trotzdem sitzen sie irgendwie in der Patsche. Ich mach mir Sorgen. Mir ist speiübel. Erst das heute Morgen und nun das schon wieder. Da treibt ein bösartiger Mörder sein Unwesen, und du bist einfach nur neugierig.«

In diesem Augenblick drehten sich beide wie auf Kommando zum Fenster. Draußen warf ein Blaulicht seine Reflexe auf die Hauswände der Nachbarhäuser. »Siehst du, es geht um Leben und Tod.«

*

Schmollinger-Backhaus fühlte ein inneres Vibrieren. Nicht, dass es ihr als altem Hasen noch etwas ausmachte, wenn ein neuer Leichnam auf ihrem Seziertisch landete. Es war vielmehr ein Ausdruck der Neugierde, die von ihr Besitz ergriff. Bei Fällen wie diesem führte das regelmäßig dazu, dass sie ihnen Vorrang vor all jenem gewährte, was sich sonst auf ihrem Schreibtisch türmte oder im Sezierraum auf sie wartete.

Gemeinsam mit einem Kollegen der Rechtsmedizin und dem Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, der gerade den Leichnam angeliefert hatte, bugsierte sie Körbers sterbliche Überreste auf den Edelstahltisch.

Sie konnte es kaum abwarten, mit aller Sensibilität und Wachsamkeit all das in sich aufzunehmen, was der tote Körper ihr »erzählen« würde.

*

Irina rannte zur Tür und riss sie auf. Draußen wartete schon Bertling. Sie schien eine Wolldecke um ihren Oberkörper gewickelt zu haben. Achill trottete mit betretenem Gesicht hinterher.

»Was ist mit euch los?«, fragte André, der hinzugetreten war. Auch ihm war bei dem Anblick seiner Freunde bange geworden.

Achill trat mit Grabesblick auf ihn zu und legte seine Hand auf Andrés Oberarm. »Du musst jetzt ganz stark sein.«

André schluckte. »Was … was ist passiert?«

»Mach erst mal die Tür zu«, sagte Bertling an Irina gerichtet.

Irina gehorchte, sie war kreidebleich.

Warum nur dieses eigenartige Lächeln, das Bertlings Gesicht nun überzog? War es Galgenhumor?

»Soll ich Verbandszeug …«, setzte André an.

Ein Wimmern. War es Verena, doch sie lächelte nur.

Sie öffnete langsam die Wolldecke, die sie wie einen Poncho über ihren Oberkörper gelegt hatte.

Darunter kam ein zierlicher, bang dreinblickender schwarz-weiß gefleckter Katzenkopf hervor.

»Er heißt wohl Charly«, kommentierte Bertling und lachte.

»Wie und was ist mit ihm?«, fragte André, nach wie vor etwas verunsichert.

»Er ist sozusagen der Kollateralschaden eines Polizeieinsatzes.«

»Kollateralschaden?« André war nun völlig verwirrt.

Bertling schob die Wolldecke zur Seite, sodass der Blick auf den mit einer Binde umwickelten Schwanz des Tieres frei wurde.

Achill rieb sich mit betretener Miene das Kinn. »Ich hab ihn … also ich bin beim Sichern eines Raumes draufgetreten.«

»Ist nur angebrochen, wird wieder, er braucht ein paar Tage Ruhe und eine sichere Unterkunft – sagt jedenfalls die Tierärztin, bei der wir mit ihm waren«, fügte Bertling hinzu.

Irinas Gesicht hatte wieder Farbe angenommen. »Gott, ist der süß«, flötete sie hochfrequent.

»Ist ein zierliches Katerchen. Er ist zu goldig«, stimmte Bertling ebenso euphorisiert mit ein.

»Darf ich ihn mal?«

Bertling übergab das Tier in Irinas Arme.

Sie lächelte selig.

»Sieht so aus, als hättest du ein neues Haustier«, sagte Achill an André gerichtet.

»Das, das … kommt überhaupt nicht infrage. Ich mag keine Tiere. Der haart bestimmt … und unhygienisch ist so was auch, der schleppt nur Ungeziefer wie Flöhe und so an«, stammelte André.

Irina schüttelte entgeistert den Kopf.

»Könnt ihr ihn nicht in ein Tierheim, also bis er gesund ist, und dann …« André war völlig überfordert. Dass ihn nun alle anblickten wie einen Tierschänder, regte ihn auf. »Er kann doch zu dir, Frank, schließlich hast du ihn ja … also ich meine …«

»Das sind wir alles schon durchgegangen. Tierheim würde ihm schaden. Die Ärztin meinte, so ein angeknackster Schwanz ist sehr gefährlich. Katzen sterben häufig an Schwanzbruch. Und im Tierheim, wo ihn die anderen Katzen jagen … Frank und ich würden ihn gerne aufnehmen, aber unsere Vermieter haben das ausdrücklich im Mietvertrag ausgeschlossen und …«, erklärte Bertling.

»Kein Problem, ich nehme ihn«, unterbrach sie Irina.

»In deinem Mietvertrag ist das auch ausgeschlossen, dein Vermieter mag keine Tiere im Haus«, erwiderte André schroff.

»Wäre doch nur für ein paar Tage, alter Mann.« Irina dehnte das »alter Mann« und zog eine Schnute.

André hatte keine Lust auf solche Diskussionen, wo man ihn in eine Ecke drängte, indem man seine vermeintliche moralische Überlegenheit ausspielte.

»Und welche Erkenntnisse gibt es im Fall?«, wechselte er, an Achill gerichtet, abrupt das Thema.

»Dass wir das Katerchen des Toten aus seiner leeren Wohnung mitgenommen haben, dass es keine Angehörigen gibt und wir ein echtes Problem haben. Mann, André, meinst du, es tut mir nicht leid, dass ich ihn getreten habe.«

André schluckte.

Irina ließ das verängstigte Tier nun auf den Boden und setzte es direkt vor Andrés Füße. Der zierliche, etwas magere Kater schaute jämmerlich zu ihm hoch, als wollte er Achills Appell unterstreichen.

André räusperte sich. Er wusste, er hatte verloren. Aus dieser Situation würde er nicht mehr gesichtswahrend rauskommen.

»Aber nur unter einer Bedingung«, sagte er zu Achill. »Du sagst mir alles, was du über den Fall weißt. Quid pro quo – Leistung und Gegenleistung.«

Achill schüttelte den Kopf. »Du bist unverbesserlich.« Er schien mit sich zu ringen. Dann hob er drei Finger. »Du hast drei Fragen, mein Freund, nicht mehr.«

»Okay«, erwiderte André. »Erstens: Habt ihr eine Tatwaffe gefunden?«

»Nein, keine Spur davon.«

»Mmh. Gibt es Abwehrspuren?«

»Möglicherweise unter den Nägeln des Opfers. Hier meinte die Rechtsmedizinerin, typische Hautreste zu erkennen, wie sie bei Gegenwehr manchmal vorkommen.«

»Kann das Auge vor der Fahrertür auf einen Ritualtäter hinweisen?«

»Nein, Schmoba, also die Rechtsmedizinerin, hat gemeint, dass durch den Schuss ein Überdruck im Schädel des Opfers aufgetreten ist, der das Auge aus der Höhle gerissen hat.«

Irina schluckte. »Lecker – aber zurück zum Thema, bedeutet das, dass ich nun einen Gast habe?«

»Okay, wenn’s nun mal sein muss, aber es ist dein Gast, und wehe, ich finde ihn auf meiner Couch oder in meinem Schlafzimmer. Und wenn du Flöhe hast, komm nicht zu mir damit.«

Bertling atmete beruhigt auf.

Das Katerchen schien verstanden zu haben und schmiegte sich an Andrés Bein, das er erschreckt zurückzog.

»Charly, der Herr wünscht keine übergriffigen Körperkontakte«, sagte Irina spöttisch grinsend.

»Ganz recht. Und wieso Charly?«

»Er ist gechippt, und die Tierärztin hat das bei dieser Registrierungsstelle herausgefunden.«

»Er ist also aktenkundig und hoffentlich nicht vorbestraft«, sagte André – erfreut, dass sich die kleine Anspannung zwischen ihm und den anderen etwas gelöst hatte.

5 Unruhe

Montag, 17. April 2023, 6.35 Uhr

Sally lag noch im Bett. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen. In ihrem Kopf drehte sich unentwegt das Gedankenkarussell. Seit gestern der Leiter der für Deidesheim zuständigen Polizeiinspektion in Hassloch bei ihr gewesen war, hatten sich ihre Schuldgefühle von Stunde zu Stunde gesteigert. Sie trug für diese Grausamkeit die Verantwortung. Sie und keine andere. Auch wenn man Ute die Schuld zuschieben würde, letztlich war sie selbst für alles, was geschehen war, verantwortlich. Und dies war nur der grausame Schlusspunkt unter einer Geschichte, die sie selbst geschrieben hatte. Und schon war die Polizei an ihr und Ute dicht dran.

Dieser Polizist war nicht das Problem. Sie kannte ihn. Er war Kunde des Weingutes. Er wollte sie nur vom Tod Kunos informieren. Bezweckte er etwas, wenn er von »Ihrem Mann« sprach? Er wusste doch, was geschehen war.

»Er ist eines unnatürlichen Todes gestorben«, hatte er sich ausgedrückt. »Die Kollegen von der Kripo werden Sie dazu noch befragen.« Ernst hatte er dreingeschaut.

Was wusste er? »Reine Routine«, sie hasste diese Floskeln, die nur ablenken sollten und eigentlich das Gegenteil aussagten.

Ob sie von seinem seltsamen Auftritt am Sonntagabend hier wussten? Aber woher sollten sie?

Sie würden es herauskriegen. Irgendein schwatzhafter Nachbar würde es ausplaudern. Und dann würden sie sich wie ein Rudel hungriger Jagdhunde auf sie stürzen.

Sie waren geliefert.

Dabei wollte sie doch um alles in der Welt nur dieses grässliche Kapitel abhaken.

Nicht mehr kämpfen müssen. Sich nicht mehr ducken. Endlich unbeschwert in die Zukunft schauen, wieder sie selbst sein. Wieder lernen, Freude und Glück zu empfinden. Auch wenn das alles nur außerhalb von Deutschland wäre.

Aber wie das anstellen? Ob er daran gedacht hatte, die Lebensversicherung umzuschreiben? Oder hatten sich schon die Banken drüber hergemacht?

*

André hatte es nicht im Bett gehalten. Er war schon um 7 Uhr auf den Beinen. Dabei hätte er sich Zeit lassen können. Er hatte heute nur eine Stadtführung, und die war für 11 Uhr angesetzt.

Nach dem Ausstieg aus seinem Job bei einem Frankfurter Bankhaus, wo er als Risikoanalyst tätig gewesen war, hatte er sich für eine – wie er es nannte – alternative Berufstätigkeit als Gästeführer entschieden. Er wollte nur noch das tun, was ihm Freude bereitete. Und da er seine Heimatstadt Speyer liebte, empfand er es nicht als Arbeit, ihre Sehenswürdigkeiten und ihre Schönheit Besuchern aus dem In- und Ausland nahezubringen. Im Gegenteil, es war geradezu eine Mission für ihn.

Er hatte sich gerade die zweite Tasse Cappuccino mit seiner original italienischen Siebträgermaschine – einer echten Bezzera –, die er mit Hingabe hegte und pflegte, zubereitet, als er das Geräusch von Irinas laut knackenden Gelenken auf der Treppe vernahm.

Sie war als russische Austauschstudentin nach Speyer gekommen, und man hatte ihn damals vonseiten der Stadtspitze genötigt, sie doch in seinem für eine Person reichlich großen Haus zur Miete aufzunehmen.

Aus einem anfänglich als kurzfristige Notlösung gedachten Arrangement, das ihn damals schwer belastet hatte, war ein Dauerzustand geworden.

Er, der Eremit, der zeitlebens alleine hier gewohnt hatte, sollte nun einen fremden Menschen – und dazu noch eine junge Frau – so nah an sich heranlassen. Undenkbar und anfänglich für beide nervenaufreibend. Doch sie hatte all seine Schrullen, ohne zu klagen, ertragen.

Irinas Familie lebte noch immer im russischen Kursk, der Partnerstadt Speyers. Ihr fehlten ihre Angehörigen. Die Kommunikation war durch die aktuelle politische Situation nahezu zum Erliegen gekommen. Sie wollte ihre Leute nicht in Gefahr bringen.

Mittlerweile war er zu ihrem Anker geworden. Und er hatte nach und nach verstanden, dass sie in ihm so etwas wie eine Vaterfigur sah, auch wenn sie das nie zugeben würde.

»Morgen«, brummte sie, schlurfte an ihm vorbei und setzte sich an ihren angestammten Platz am Küchentisch.

»Guten Morgen, und wo ist dein haariger Freund?«

»In Sicherheit in meinem Bettchen. Nach deinem Auftritt gestern ist es wohl besser, dir keinen Anlass zur Klage zu geben, sonst kündigst du mir noch das Mietverhältnis.«

»Du tust ja so, als wäre ich ein Unmensch.«

»Aha, was sonst? Und dein seltsamer Deal ›Nothilfe gegen Informationen‹ war voll Cringe. Einfach nur zum Fremdschämen.«

André schluckte.

»Ich will doch nur helfen. Schließlich ist mir das schon einige Male ganz gut gelungen.«

»Wenn du das ›mir‹ durch ›uns‹ ersetzt, stimmt es sogar.«

»Bin extra früh aufgestanden, damit wir vor meiner Führung noch ein Katzenklo und etwas Futter kaufen können, eines der zwei Päckchen, die Verena mitgebracht hat, ist schon leer.«

Irina schüttelte den Kopf. »Schlechtes Gewissen oder Angst, dass er deine Fliesen verunreinigt?«

»Reine Fürsorge«, sagte André und wies auf eine alte schwarze Mörtelwanne im Flur.

»Was ist das denn? Willst du umbauen?«

»Das ist ein Behelfskatzenklo. Hab es mit Sand gefüllt.«

Irina schüttelte den Kopf. »Was du alles aus Angst um deine ollen Teppiche so tust.«

»Willst du ihn nicht herunterholen? Dann können wir mal schauen, wie es seinem Schwänzchen geht.«

Irina lachte. »Wow, die reinste Tierschutzinitiative.«

Sie erhob sich und trottete hoch, um den Kater zu holen.

Unten angekommen, setzte sie ihn behutsam vor André auf den Boden. »Aber ich warne dich, er ist noch nicht vernehmungsfähig.«

Ängstlich schaute sich der zierliche Kater um und machte mit wackeligen Beinen ein paar vorsichtige Schritte. Die Spitze seines verbundenen Schwänzchens schleifte dabei auf dem Boden.

»Der Arme, das sieht gar nicht gut aus. Sollten wir nicht noch mal zum Tierarzt mit ihm?«, fragte André besorgt.

»Wie? Hör ich da richtig? Bist du das? Hat dir Frank bei guter Führung noch mal drei Fragen angeboten?«

»Reine Tierliebe«, erwiderte er gönnerhaft.

Irina schüttelte ungläubig den Kopf. »Du führst doch was im Schilde, alter Mann?«

6 Ankunft

Bilbao, rund 23 Jahre vorher, Montag, 8. Mai 2000

Ihr Stiefvater hatte Araceli nach Bilbao zum Flughafen geschickt, um den jungen Praktikanten aus Deutschland abzuholen. Typisch, immer, wenn es etwas gab, das ihm unwichtig oder gar lästig erschien, war es ihre Aufgabe.

Hätte er den Eindruck gehabt, aus dieser Sache würde sich irgendetwas gewinnen lassen, wäre einer ihrer Halbbrüder am Zug gewesen. Sie, seine leiblichen Söhne, galten etwas in der Bodega, sie selbst war nur da, um sich um die Brosamen des Weingutes zu kümmern. Alonso, der Erstgeborene, war für den Vertrieb und das Marketing in Spanien zuständig, ein stolzer, arroganter Pfauenhahn. Der Aufgabenbereich seines Bruders Pedro waren der Keller und der Außenbetrieb. Pedro war ein klassischer Mitläufer und Ja-Sager. Gleich, was sein Vater bestimmte, er erledigte es stets widerspruchslos.

Ihr hatte man, weil sie schnell lernte und neben Spanisch Baskisch, Englisch, Französisch und sogar Deutsch sprach, die Aufgabe zugewiesen, sich um die Auslandsmärkte zu kümmern.

Das klang weitaus besser, als es war. Denn streng genommen bestand der Auslandsvertrieb in Deutschland aus kaum mehr als einer kleinen Feinkostkette in München und einigen auf spanische Weine spezialisierten Fachhändlern. In Frankreich sah es ähnlich aus, und damit hatte es sich auch schon.

Sie wusste, dass ihr Bruder Alonso sie deshalb gerne mit Spott überzog und sie hinter ihrem Rücken »la homeópata – die Homöopathin« nannte, weil sie aus seiner Sicht ihre Weine nur in kleinsten Dosen verkaufte.

Ihr Stiefvater belächelte sie auch nur. Eine Frau, die Önologie studierte, war zu jener Zeit in Spanien in dieser Branche eine Exotin.

Als sie mit dem Wunsch angekommen war, einen Auslandsstudenten aus der Pfalz aufzunehmen, war er alles andere als begeistert. »Würde deutscher Wein etwas taugen, würde man ihn auch hier im Supermarkt kaufen können. Kannst mir ja mal das Regal mit den Pfälzer Weinen zeigen«, ätzte er. »Saurer Riesling und Rotweine, die so dünn sind wie Wasser, das ist die Pfalz. Und für Entwicklungshilfe sind wir nicht zuständig. Dafür gibt es Beamte in Madrid.«

Nur mit größter Anstrengung war es ihr gelungen, sich trotzdem durchzusetzen. Sie stand im Wort gegenüber ihrem Professor an der Uni, einen Hospitanten aus der Hochschulkooperation mit Deutschland aufzunehmen. Schließlich gab es nicht viele Weingüter hier, die eine deutschsprachige Betreuung stellen konnten. Im Übrigen empfand sie es als horizonterweiternd, etwas über die Weinproduktionen in anderen Regionen der Welt zu lernen.

So stand sie nun in der Ankunftshalle des Flughafens und hielt das alberne Schild mit Logo und Namen ihres Weingutes »Bodega Martinez-Montero« hoch.

Der junge Mann, der linkisch auf sie zusteuerte, schien das Schild nicht zu brauchen, so intensiv schaute er ihr mit seinen leuchtenden hellblauen Augen ins Gesicht.

Sie schluckte. Schlank, mit einer üppigen blonden Tolle, war er so anders als die Jungs hier. »Ich denke, ich bin bei Ihnen richtig.« Unbeholfen streckte er ihr die Hand zur Begrüßung entgegen.

Sie konnte sich ein Lächeln über diesen ernsten Deutschen nicht verkneifen, umarmte ihn und hauchte ihm je ein Küsschen rechts und links auf die Wange. »Hola, so begrüßt man sich hier bei uns.«

»Si, si, Señora.«

Sie kicherte. »Heb dir das für meine Großmutter auf. Vamos, Señor! – Gehen wir, mein Herr!« Dabei packte sie seine Laptoptasche und ging Richtung Ausgang voraus.

7 Eingriff

Montag, 17. April 2023, 9.35 Uhr

»Wie Sie bestimmt von Ihrem Studium wissen, setzt jeder Schuss eine Wolke unsichtbarer mikroskopisch kleiner Partikel frei, die sich auf Schusshand und bei Nahschüssen auch auf dem Opfer niederschlagen. Wir haben das vorab in einem Reinraum unter dem Rasterelektronenmikroskop untersucht. Die Art und Weise der Anordnung lässt zwei Schlüsse zu. Erstens, es war ein aufgesetzter Schuss. Das heißt, die Pistolenmündung dürfte teilweise Berührung mit der Schläfe des Opfers gehabt haben. Zweitens, auch die rechte Hand des Toten weist Schmauchspuren auf. Das gibt uns nicht unbedingt einen Hinweis darauf, dass er selbst geschossen hat. Es könnte genauso gut von einer versuchten Gegenwehr, bei der er an oder neben der Pistole herumgefuchtelt hat, stammen.«

Bertling spürte Ärger in sich hochsteigen. Die naive Art, wie ihr Schmollinger-Backhaus erklärte, dass es Schmauchspuren gab, reizte sie. Sie hatte sich in ihrem Studium ausgiebig damit beschäftigt, und der Umgang mit dieser Thematik gehörte zum Tagesgeschäft des Kommissariats für Tötungsdelikte, dem sie seit mehr als fünf Jahren angehörte.

Trotzdem blieb sie beherrscht und lauschte konzentriert den Ausführungen der Leiterin des Rechtsmedizinischen Instituts der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.

Da Achill einen unaufschiebbaren Termin beim Oberstaatsanwalt hatte, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als heute bei der Obduktion, die stets unter vier Augen zu erfolgen hatte, anwesend zu sein.

Ein mulmiges Gefühl pflügte ihr durch die Eingeweide. Die olfaktorische Melange aus dem scharfen Geruch nach Desinfektionsmitteln und dem süßlichen nach Tod und Verwesung setzte ihr zu. Zudem war die Aussicht, noch einmal den zerschmetterten Kopf des Opfers sehen zu müssen, auch nicht verlockend.

»So, gehen wir rein und hören uns an, was uns unser Patient zu sagen hat«, sagte Schmollinger-Backhaus und erhob sich vom Schreibtisch.

Waren bisher hier im Nebenraum und dem Flur die Gerüche schon unangenehm gewesen, potenzierte sich das Ausmaß, als sie den Sektionsraum betraten.

Bertling konnte nur mit Mühe ein Würgen unterdrücken. An Tatorten war das meist weniger ausgeprägt, die Toten waren eher frisch dahingeschieden oder man war im Freien, aber hier …

Den Leichnam hatte man bereits auf den Obduktionstisch verbracht und mit einem grünen Tuch abgedeckt. An der linken Hand, die seitlich etwas herausragte, erkannte Bertling eine Plastiktüte.