Wir hatten keine Zeit uns zu beeilen - Dieter Chr. Ochs - E-Book

Wir hatten keine Zeit uns zu beeilen E-Book

Dieter Chr. Ochs

4,9

Beschreibung

Wir hatten keine Zeit uns zu beeilen Mit dem Traktor durch Südwesteuropa Dieter und Barbara sind unterwegs auf einer Guinness Weltrekord-verdächtigen Tour: 17.000km - 6 Monate - durch 17 Länder Europas - mit einem 25 Jahre alten Traktor tschechischer Produktion und einem angehängten Bauwagen. Mit dem Erfolg ihres ersten Buches ist ihre Reise noch lange nicht zu Ende. Aus dem Inhalt: Der Traktor ist fast so alt wie ihre Idee, Europa ohne große Eile zu erkunden. Und doch dauert es über 20 Jahre, bis Dieter Ochs einen ausgedienten Trecker ersteht, ihn restauriert und sie sich die Zeit nehmen, mit einer Höchstgeschwindigkeit von 27 km/h, Europa vom Eismeer bis zur Côte d‘Azur zu bereisen. Zurück vom Nordkap durchqueren sie Europa von Ost nach West, erkunden unsere Nachbarländer mit einem Wohnwagengespann, das selbst Holländer verblüfft, gelangen durch Belgien nach Frankreich und nähern sich langsam aber beharrlich dem Mittelmeer. Während der Ackerschlepper sich in Europas Süden tapfer schlägt, ist es diesmal der Mensch, der an seine Grenzen stößt - und die Gesundheit, die droht das große Abenteuer scheitern zu lassen. Doch die dringend benötigte Rettung ist nur ein paar Alpenpässe entfernt.

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Bildnachweis:

Die Bilder des Textteils: Dieter Chr. OchsCoverfoto: Dieter Chr. Ochs

Kartenicon: © Stepmap GmbH, Berlin

Karte: © Cartomedia, Karlsruhe

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2014 traveldiary.de Reiseliteratur-Verlag, Hamburgwww.reiseliteratur-verlag.dewww.traveldiary.de

Der Inhalt wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Bei Interesse an Zusatzinformationen, Lesungen o.ä. nehmen Sie gerne Kontakt zu uns auf.

Umschlagentwurf und Layout: Jürgen Bold, Jens Freyler Satz: Jens Freyler

Druck: Standartu Spaustuve

ISBN 9783944365275 eISBN 9783944365428

Dieter Chr. Ochs

Wir hatten keine Zeit uns zu beeilen

Mit dem Traktor durch Südwesteuropa

Vorwort

„Wir lassen den Stau hinter uns“ war schon das Versprechen des ersten Teils unserer Europatour. Im gleichnamigen Buch nimmt das Abenteuer seinen Anfang, das nach 7.000 getuckerten Kilometern an der Grenze zwischen Polen und Deutschland noch nicht sein Ende finden sollte.

Im Gegenteil, zwar nicht ganz ungeplagt von den Erlebnissen und der langen Zeit im Traktorsattel, freuten wir uns doch ungemein darauf, nach einigen durchzitterten Frosttagen Mitte Mai am Polarkreis nun den wärmeren Süden Europas besser kennenzulernen. Wir können uns partout nicht vorstellen, dass sich auf dem sogenanntem Affenfelsen Gibraltar die Primaten die Hintern verkühlen.

Aber es sind immerhin noch mindestens 3.000 weitere, schweißtreibende Traktorkilometer zu bewältigen, um unser zweites Etappenziel auf dieser Europatour zu erreichen.

Unterwegs sind wir sehr oft gefragt worden, wo das hinführen soll. Und manchmal, wenn mir der Schalk mal wieder im Nacken saß, habe ich geantwortet: „Immer nur nordwärts! Über Nordnorwegen nach Nordgibraltar!“ So - und vielleicht auch durch unser ungewöhnliches und auffälliges Reisegespann - bekamen wir häufig recht schnell Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung und hatten die Chance, die Menschen Europas kennenzulernen.

Wir werden ganz sicher im Süden keinen schwedischen Blutpudding und auch keinen skandinavischen Kaffeekäse oder angefaulten, fermentierten Hering probieren müssen - und denken da eher an ein saftiges Eselsteak in Spanien oder auch an einen herzhaften Schweizer Madenkäse. Man gönnt sich ja sonst nichts!?

Wenn wir dagegen an der deutschen Grenze schon gewusst hätten, was uns -oder besser gesagt mir - noch so alles widerfahren würde, wären wir auf dem „schnellsten“ Weg direkt zurück nach Hause gefahren.

So aber nahm unser seit 25 Jahren geplanter Ausflug seinen Fortgang und sollte letztendlich auch ein gutes Ende finden. Aber dazwischen…

Inhalt

Karte

Die Idee

Die Philosophie

Tante Paula

Technische Daten

Deutschland

Niederlande

Belgien

Frankreich

Schweiz

Wieder Deutschland

Über uns

Die Idee

Eigentlich begann unsere Reise schon 1986, als unser damaliges Lieblingsgefährt mangels zusammengehörender Massen sich anschickte, sich von jeglichen Adhäsionskräften vehement zu befreien. Die Rede ist hier von unserer letzten heißgeliebten Ente, auch Döschewo genannt, in der wir mit unseren Kindern jahrelang pannenfrei durch die verschiedensten Länder Europas gefahren sind, um sogenannte gutbürgerliche Sommerurlaube in gutbürgerlichen Zelten und Ferienhäusern oder Mietcaravans zu verbringen.

Der größte Feind aller sauerstoffumwehten Karossen, ein brauner Geselle mit starker Tendenz zum Lochfraß, zeigte sich erwartungsgemäß schon nach 13 Jahren als Sieger, und wir nahmen vorerst Abschied von wohltuend erschütterungsarmen Ausflügen in dieser wonnenreichen Sänfte auf vier Rädern, über deren unglaubliche Endgeschwindigkeit von 110 km/h wir so manchen Stinkefinger motorisch unterlegener Polski-Fiats und schwachbrüstiger Schwalbenschwanzdiesels beim Überholtwerden auf der Autobahn stets stoisch ertragen haben.

Aber zurück ins Jahr 1986. Wir beide, damals zwischen 30 und 40, dachten uns viele Jahre weiter. Wir waren uns ganz sicher, dass Träume Wirklichkeit werden können, wenn man nur fest an sie glaubt. So entstand die Idee, dass wir zig Jahre später die „guten alten Zeiten“ der 70er und 80er Jahre wieder aufleben lassen wollten. Irgendwann, so nahmen wir uns fest vor, wenn es uns einmal vergönnt sein sollte, in den Ruhestand zu treten, wollen wir sofort wieder aus demselben kraftvoll austreten, um uns eine weit über 20 Jahre alte, supergepflegte Ente zu kaufen und damit wie früher mehrere Wochen im Jahr in Erinnerung schwelgend durch Europa zu touren. Just for fun! Wer sagt denn, dass Oldies nur noch Rollatorenbremsen bedienen können und am Fensterbrett aufgestützt bangend auf weitere ruhige Jahre warten. Wir nicht!

Eines schönen Tages, mehr als 20 Jahre waren mittlerweile ins Land gegangen – wir waren friedhofsblonder, seniorenrunder und faltenfroher geworden – lag das Thema „Europatour mit einer Ente“ nach Jahren des Schweigens mal wieder auf dem Küchentisch. Da ich mir aber knapp sieben Jahre zuvor ein Vehikel mit ganzen 10 PS, einer Höchstgeschwindigkeit von 65 km/h und einer spartanisch engen Kabine zugelegt hatte, in der man automatisch gezwungen wird, mit seinem Sitznachbarn Tuch- oder besser gesagt Ganzkörperfühlung aufzunehmen und wir mit diesem Ausbund von Minimalismus 4 - 5 mal in den Urlaub gestartet waren, unterbreitete ich meiner Sozia eines Abends den ernstgemeinten Vorschlag, unsere geplante Europatour mit diesem Gefährt zu verwirklichen. Auch machte ich ihr im gleichen Atemzug noch einmal die Vorteile eines einzylindrigen Wagens und einer Getrenntschmierung sowie der vier Rückwärtsgänge schmackhaft. Doch an dieser Stelle (der kleine Dreiraditaliener hätte wohlwollendere Töne verdient) erhob sich ein unerwartetes Grollen in der guten Stube, Blitze aus rollenden Sehschlitzen schossen zu mir herüber und aufziehende dunkle Wolken ließen meine krause Stirn noch krauser und mein erschrockenes Antlitz noch blasser werden. Kurz: Meine sonst sehr verständnisvolle Ehefrau ließ mit nur einer einzigen vernichtenden Handbewegung keine weiteren Gespräche über eine eventuelle Tour mit diesem Straßenfloh zu.

Und mit der Ente? Auch dieser Plan wurde mit dem Argument, dass ein Oldtimer doch viel zu teuer sei und sie nicht monatelang jede Nacht in einem anderen Hotelbett schlafen wolle, kurzerhand vom Tisch gewischt mit den Worten: „Lass es uns noch einmal durchdenken, wenn es soweit ist! Es ist ja noch etwas Zeit bis zur Rente.“

Anhand meiner abgeheiterten Stimmung muss sie jedoch gespürt haben, dass ich auf ein Trostwort wartete, und sei es auch nur winzig klein. Als ich mich im Geiste bereits täglich stundenlang das Fensterbrett belasten sah, kam aufgebracht die sicher wohlwollend gemeinte Retoure: „Dann kauf ’ dir halt einen alten Trecker und einen alten Caravan. Der fährt auch!“ Und damit schien für sie das Thema Europatour für weitere Jahre geschickt hinausgeschoben.

In der folgenden Nacht drängte sich zwischen die Schäfchen immer wieder die Silhouette eines träge dahinfauchenden Traktors mit einem angehängten stillosen, silberfarbenen Caravan in einer endlosen, unwirtlichen Landschaft. Dieses Bild verblasste erst, als ich am nächsten Tag einen Geschäftstermin im Nachbarort wahrnehmen musste. Am Ortseingang dieses Dorfes firmiert schon in der 4. Generation ein mittelständischer Landmaschinenhandel. Seit Jahr und Tag dominieren rote Traktoren mehrerer Hersteller den Hof des Händlers.

Als ich etwas zögerlich beim Juniorchef des Hauses vorsprach und ihm so nach und nach erklärte, dass ich kein Landwirt sei, sondern nur zum Spaß einen älteren Traktor zu kaufen beabsichtigte, mit dem ich vier Jahre später eine Tour über 17.000 Kilometer durch halb Europa unternehmen wolle, drang minutenlang nur das Geräusch einer hammermäßig tickenden Werkstattuhr an mein Ohr. Auch die Ehefrau des Juniors, eine sonst sehr redegewandte Person, die inzwischen zu uns gestoßen war, schien mit hochgezogenen Brauen minutenlang stumm, aber ernsthaft über mein wohl nicht alltägliches Ansinnen nachzudenken.

Doch ein Geschäftsmann wäre kein Geschäftsmann, wenn er einem zukünftigen Kunden kein Angebot unterbreiten könnte. Gewiss, einen „Renntraktor“ würde er mir nicht besorgen können, aber das wäre ja auch total an meinen Planungen vorbei gewesen.

So wurden mir zwei Fotos eines einst orangeroten Schleppers vorgelegt, der sich verzweifelt auf seinen vier abgefahrenen Ackerpneus zu halten versuchte. In der Frontansicht dominierte lediglich die durch eine lange Standzeit erblindete Scheibe des Vollglasrahmenaufbaues und die nur noch von zwei vergilbten Kabeln gehaltenen Arbeitsscheinwerfer, die in die nicht einsehbare Kabine zu blinzeln schienen. Weitere Ein- und Ansichten blieben dem Betrachter durch frontale Patinaüberlagerungen verborgen. Es war wider Erwarten ein richtig ausgewachsener Ackerschlepper. Und das Wichtigste: Es gab noch Ersatzteile für den fast 30 Jahre alten Boliden. Und er stand im nahen Thüringen, im Zweigbetrieb des Händlers. Sicher keine nachgefragte Marke, zumindest in unserer Gegend. Ganz sicher auch kein scheunengepflegtes Modell. Aber ein rostschwangeres Arbeitstier, das treu und brav seinen Dienst in einer ehemaligen LPG verrichtet hatte. Ich schloss die Augen und… unterschrieb. Nicht blind, sondern sehend. Und hoffend. Mein Rentenalter schien nun in „trockenen Tüchern“, und doch war ich in den Sekunden des Unterschreibens schweißnass.

Dann kam der große Moment und ich hielt ihr den Kaufvertrag unter die spitze Nase. Es war ein lauer Frühlingsabend, wie gemacht für eine Beichte. Ich hatte Kuchen aus der Stadt mitgebracht und einen Strauß rostroter Tulpen, passend zur Traktorfarbe. Die Rotfinken sangen im Garten um die Wette, der Nachbar verbrachte seine braunrote Jauche aufs humushungrige Land, und im Radio mühte sich auf einem Regionalsender Heino mit dem Schlager der „Schwarzen Barbara“ redlich ab, meiner Frau ein zustimmendes Lächeln auf ihre patinaroten Lippen zu zaubern. Ich fabulierte von dem eingebrannten Hochleistungs-Silberbronzelack am Auspuff unserer Neuerwerbung, von der Luftdruckbremse, der kräftigen Ackerschiene und dem wunderschönen DDR-Radio. Meine Worte verhallten, und gespannte Stille breitete sich aus. „Na gut, dann muss ich mich wohl mit dem Gedanken anfreunden, dass wir jetzt Traktoristen sind“, kam es nach einer kurzen Bedenkpause aus ihrem schlepperroten Mund. Und ein wenig später nach einem rationellen Nachdenken: „Aber du musst mir da auch einen Sitz einbauen. Ich werde nicht auf dem nackten Kotflügel herumrutschen!“ Nichts leichter als das, aber meine Gedanken kreisten bereits um die erwartete Überführung des Traktors aus dem fernen Thüringen.

Die Idee einer Tour durch Europa war nun schon 23 Jahre alt, so alt wie unser erster Traktor. Nur, dass wir alte Träume begraben hatten und uns einem neuen näherten, war uns noch etwas fremd. Und dieser begann nun zu wachsen…

Die Philosophie

Eile mit Weile! Wer langsam geht, kommt auch ans Ziel! In der Ruhe liegt die Kraft! Viele Wenig geben auch ein Viel! Diese Lebensweisheiten haben sicher ihre Berechtigung, wenn man nicht gerade zufällig noch mitten im Berufsleben steht. Denn dann gilt auch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! Widersprüchlich scheinen diese Aussagen zu sein, aber nur wenn man auf der „falschen“ Seite steht.

Gewiss, es ist schon sehr verführerisch, mit dem Gedanken zu spielen, eine große Europatour mit einem herkömmlichen Auto, einem Motorrad oder sogar mit dem Flieger zu unternehmen. Viele Menschen, die von unserem Vorhaben erfahren haben, rieten uns dazu. Das wäre dann aber die Fortsetzung der gewohnt gebotenen Eile gewesen, die das Berufsleben jahrzehntelang vorgegeben hat und deren williger Sklave man war. Reise um die Welt in 80 Tagen. Der bekannte Roman von Jules Verne hat mich in Kindertagen sehr fasziniert.

Schneller, höher, weiter! Gesünder? Viele unserer Zeitgenossen teilen uns jederzeit ungefragt mit nicht unbeträchtlichem Stolz mit, sie wären im letzten Urlaub soundsoweit in nur einem Tag gefahren, um möglichst viel Zeit zu sparen und um viel zu erleben. Welch ein „Erleben“! „Durch China in 10 Tagen“ und andere Schauerreiseangebote haben mich schon immer unberührt gelassen.

Zeit ist Geld! Richtig. Die Zeit ist das einzige, was man uns nicht nehmen kann! Auch richtig. Sicher haben wir uns für das Unternehmen „Europareise“ ein zeitliches Limit gesetzt, und auch die Tage wollen sehr gut eingeteilt sein. Doch es hat keine Eile, wenn wir erst einmal in Fahrt gekommen sind. Wir müssen keine 100 km am Tag fahren. Wir müssen keine acht Stunden am Tag auf den harten Sitzen des Treckers verbringen. Wir müssen auch nicht alle Tage durchfahren, wenn uns nicht danach ist.

Es soll überhaupt kein Müssen mehr geben. Schon in den vergangenen zwei Jahren, in denen wir einige Probefahrten mit unserem Gespann durchgeführt haben, wurde uns schmerzlich bewusst, wie wenig wir zuvor auf unseren Reisen von der Fahrtstrecke wahrgenommen hatten. Besonders wenn man selbst am Steuer sitzt und permanent angespannt auf den fließenden Verkehr achten muss, auch wenn er mal nicht fließt oder dann erst recht. Die Augen erfassen dann nur bruchstückhaft die Landschaft links und rechts der Straße.

Gut, man wirft schon mal gezwungenermaßen einen oder mehrere kurze Blicke während des Fahrens auf das gerade vorbeirauschende wunderschöne Tal rechts von der Chaussee oder auf das Gipfelkreuz in der Ferne links vom Asphalt. Die getriebene Seele jammert lautlos vor sich hin, möchte man doch just in diesen Augenblicken für eine längere Zeit von der schönen Landschaft eingefangen sein. Der kleine Wildbach im Tal tief unten, die Kinderwandergruppe neben der Pferdekoppel, die Schafherde auf der Wiesenanhöhe oder auch nur der golden blühende Huflattich im Straßengraben bleiben unseren Augen entweder durch die zu hohe Fahrgeschwindigkeit verborgen oder werden nur schemenhaft wahrgenommen. Allein die Reisegeschwindigkeit bestimmt unser Sehen!

Am Ende einer längeren Autoreise haben wir zwar viel gesehen in unseren Blickwinkeln, aber nichts erlebt, was uns glücklich macht. Erst das innere Erleben, das längere Verweilen an einem Platz, das Aufnehmen mit den Augen, das Verarbeiten der Eindrücke mit allen unseren Sinnen, die erlebte Freude über das Schöne, Beschauliche, Sehenswerte macht uns zu Sehenden, zu Wissenden. Und das geht nur wenn unsere Reisegeschwindigkeit dem inneren starken Bedürfnis, sehen zu wollen, angepasst ist.

Ein Dreiviertelleben im Alltag gehetzt zu sein, getrieben zu werden, die innere und auch die sichtbare Uhr immer im Kopf und vor Augen zu haben, stets auf Hochleistung, Geschwindigkeit, Pünktlichkeit und Angepasstheit getrimmt zu sein, kann letztendlich nicht zur Zufriedenheit führen. Der schleichende Trend zum inneren Chaos, dem Motto folgend: „Wer durch das Leben hastet, kommt früher im Himmel an!“ wollen wir Paroli bieten.

Wir haben uns deshalb vorgenommen, unsere Lebensgeschwindigkeit zu bremsen, gefühlvoll aber gezielt zu drosseln, um uns einer größeren Lebensqualität zu erfreuen. Aber auch unsere Neugier auf das Neue, das Fremde, das Unerwartete und besonders auf Menschen, die uns auf unserer Reise begegnen werden, sind ein starkes Motiv, das Wagnis einer ungewöhnlichen Reise einzugehen.

Wer langsam geht, kommt auch ans Ziel! Das ist wohl wahr. Wahr ist aber auch, dass Träume und Sehnsüchte mitunter erst ab einem gewissen Lebensalter realisierbar werden. So haben wir beide erst in der siebten Dekade unseres Lebens ein neues, erreichbares und lebenswertes Ziel gefunden, welches vor mehr als 20 Jahren aus einer fixen Idee entstand und uns nun in naher Zukunft zu mehr innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Zufriedenheit führen soll - eine Traktorfahrt durch Europa im Schneckentempo und mit übergroßer Lebenslust.

Aufstehen, losgehen, ankommen! Diese drei Vorsätze waren Zeit meines Lebens meine Begleiter. Unsere Philosophie dieser bevorstehenden Mammutreise mit einem Traktor wird hoffentlich nicht nur uns stets Mahnung und Ansporn sein: Es lebe die Entschleunigung.

Tante Paula

Mit einem halbwegs restaurierten, aber stets schwer schnaufenden Traktor über Stock und Stein, einen frisch gepflügten Acker oder eine örtliche Schnellstraße zu tuckern, machte zwar bisher einen Heidenspaß. Wie sich jedoch schon recht bald herausstellte, konnte man im Traktor weder ein ordentliches Essen zubereiten noch eine Schlafstätte aufsuchen oder mit vier Personen gescheit Karten spielen. Etwas Entscheidendes fehlte!

Eine kräftige Ackerschiene war vorhanden, eine drehzahlabhängige Heizung gab es - wenngleich die Minimotoren während des Betriebes entsetzlich quietschten - einen von Hand bedienbaren Heckscheibenwischer aus russischer Produktion und viele undefinierbare Hebel links und rechts, vor und hinter dem Fahrersitz. Deren Sinn erschloss sich im Laufe der Zeit eher zufällig, wenn beim bewussten Durchbewegen der Hebel oder auch beim unachtsamen Anstoßen derselben irgendetwas zuvor Ratterndes oder Surrendes ausfiel oder anfing, sich lautstark bemerkbar zu machen. Aber es fehlte nun mal ein Anhänger. Irgendwann klickte es in den Tiefen meines Oberstübchens und das furchteinflößende Bild eines stromlinienförmigen, modernen Caravans entstand plastisch vor meinen Augen. Hatte meine Ehefrau nicht einmal so ein anhängbares Luxusei favorisiert? Ich dagegen empfand eine solch hypermoderne Reisebude für einen röhrenden, alten Ackerschlepper weniger passend und schon fast beleidigend. Man stelle sich einen altgedienten Landwirt vor, der über den Acker statt einer Egge einen Bootsanhänger hinter sich herzieht. Aber wozu gibt es denn das Internet? Wir suchten eine Baubude auf Rädern. Begeistert schien meine Liebste nicht gerade zu sein, als ich ihr meine Ausbeute präsentierte. Verbeulte und überwiegend plattfüßige, meist orangefarbene Bauwagenfragmente, die in der Regel finanzschwache Gemeinden abstoßen wollten. Einen Schäferwagen, den ein süddeutscher Kleinbetrieb in Handarbeit herstellte, erregte für Augenblicke unser Interesse. Doch die zu kleinen Abmaße und die erhebliche Summe Geldes, die man aufwenden musste, um solch ein Schmuckstück zu erwerben, hielten mich von weiteren Überlegungen ab. Die Tage vergingen.

Eines Tages, mitten in einem TV-Krimi, rüttelte mich meine andere Hälfte unsanft in meinem Fernsehsessel wach und tat lautstark zwischen der dritten und der vierten Leiche ihre präzisen Vorstellungen von einem Wohnbauwagen kund. So wie ein alter Zirkuswagen oder Zigeunerwagen, so sollte unser zukünftiger Schlafwohnkochanhänger aussehen, meinte sie. Und natürlich aus Holz, nicht aus Blech. „Du weißt schon, so einer mit einer Treppe und einer Veranda und mit Fensterläden und Blumenkästen am Geländer und so…“ Ich war sprachlos und verpasste den fünften Toten, der irgendwo aus einem Fluss gefischt wurde. „Du kennst doch wohl noch die Fernsehserie ‚Pusteblume’ mit Peter Lustig“, versuchte sie meine Denkblockaden aufzudröseln. Ich war völlig perplex in diesem Überraschungsmoment.

Selig, dass wir ohne viele Worte fast dieselbe Vorstellung von einem fahrbaren Wohnzimmer hatten, ging die Suche nach dem Objekt unserer Begierde jetzt erst richtig los! In den folgenden Tagen und Wochen wurden die Anzeigenseiten aller Tages- und Wochenzeitungen nach einem Bauwagen durchforstet, aber leider erfolglos.

Fündig wurde ich schließlich im Internet. Da bot ein Schlepperfreund aus einem Nachbarstädtchen seinen Oldtimerbauwagen zur Versteigerung an. Fast komplett zum Schlafen und Wohnen ausgebaut mit vielen sinnvollen Extras und außen und innen mit Holz verkleidet und mit Treppenaufgang, Veranda, Doppelstockbetten und einer angepriesenen Auflaufbremse. Dazu gab es noch eine Sitzbank, einen Tisch, elektrischen Strom und viele andere Annehmlichkeiten mehr. Zwar hatte er schon weit über 40 Jahre auf dem runden Buckel, aber er schien straßentauglich und für unsere Zwecke das ideale Gefährt zu sein.

„Tante Paula“ noch im schlichten Kleid

Schon am nächsten Tag fuhr ich mit meinem Sohn und einem sachverständigen Nachbarn hin, um die Karre aus nächster Nähe zu betrachten. Vier Blicke in alle Ecken des Bauwageninneren genügten, um hocherfreut festzustellen, dass wir unseren Reisebegleiter gefunden hatten. Schnell war ich mit den Vorbesitzern handelseinig. Der eine war Schreiner und hatte sich handwerklich eine Weile am Innenleben des Gefährts ausgetobt, der zweite Schlosser und, wie man sehen konnte, ebenso begabt in seinem Beruf. Welch ein Glück für mich, da ich nur ein sehr mittelmäßiger Bastler und Schrauber bin. So stand ein fast fertig ausgebauter Oldie vor mir, der zwar noch einige Wünsche und Sehnsüchte offen ließ, aber mit der vorhandenen Ausstattung schon einen ordentlichen Eindruck machte. Gekauft wie besichtigt, das ging ohne großes Zögern.

Einziges Manko an der ganzen Geschichte war: Der Bauwagen hatte keine Papiere mehr und durfte nur notfallmäßig gezogen werden. Und wir hatten uns vorgenommen, drei Jahre später damit Europas Feldwege unsicher zu machen. Aber nicht notfallmäßig, sondern mit dem Segen des TÜV. Das sollte noch Nerven kosten…

Technische Daten

Traktor

Hersteller: Zetor, Tschechien

Typ: 5011 wassergekühlt

Baujahr: 1984

Hubraum: 2.696 ccm

KW/PS: 33/ 45

Zylinder: 3

Höchstgeschwindigkeit: 27 km/h

Gänge: 5 Ackergänge, 5 Schnellgänge, 2 Rückwärtsgänge

Gesamtgewicht: 2.840 kg

Restauration: 2007/08

Bauwagen

Hersteller: Hachmeister, Deutschland

Baujahr: 1964

Gesamtgewicht: 2.800 kg

Länge: 7.500 cm

Breite: 2.350 cm

Höhe: 3.200 ccm

Bremse: Auflaufbremse + Feststellbremse

Restauration: 2008

Deutschland

1. Juli

Heute sind wir schneller mit der Morgentoilette fertig geworden als wir gedacht haben. Der Übernachtungsplatz neben der Tankstelle ist nun auch nicht gerade der hübscheste und leiseste. Der Vortag steckt mir noch mächtig in den Knochen. 180 km waren einfach zu viel. Meine Glieder schmerzen, die linke Flanke sticht ab und zu erbärmlich und meine Därme grummeln ständig unanständig. Aber nicht vor Hunger. Mir geht es nicht besonders gut. Mir ist zwischendurch immer mal ganz heiß und im nächsten Moment friere ich dann. Wird schon wieder! Es sind ja auch nur 85 Kilometer bis zum Campingsplatz am Werbellin-See nördlich von Berlin, den wir als Tagesziel ausgewählt haben.

Vor Schwedt fahren wir über die Oder, polnisch Odra. Wir waren mit meinem 10 PS Dreiradautochen 2002 schon einmal für einen Tag in Polen und haben die Oder gesehen. Sogar unsere örtliche Presse schrieb damals über die „Wagemutigen“, die mit nur 10 PS und nur einem Zylinder in einer Minikabine zu solch einer Entdeckungsfahrt aufgebrochen sind. Bei Guben (Gubin) in der brandenburgischen Niederlausitz war das seinerzeit, als wir über die damals noch kontrollierte Grenze fuhren.

Eine lange, blau gestrichene, eiserne Bogenkonstruktion überspannt den trüben Strom bei Schwedt, der selten tiefer als 6 Meter, aber sehr breit ist. Meine Mutter hat als Kind am Oderstrand in Oppeln (Oppole) gebadet. Sie ist Oberschlesierin und denkt immer noch gerne an ihre frühe Kindheit, die zu Anfang unbeschwert war, zurück. Und ich habe fast jeden Tag in Polen an meine Mutter und ihre Geschwister, meine Onkel und Tanten denken müssen, die in diesem schönen Land aufgewachsen sind. Jetzt kann ich noch viel besser zwischen den Zeilen der Autobiographie meiner Mutter, die sie vorletztes Jahr in einer Kleinauflage in Buchform hat drucken lassen, lesen. Bezeichnender Titel des Buches: „Ich bin in meinem Leben!“ Sie hat leider noch keinen Verleger für ihr spannend nacherzähltes Leben gefunden. Sicher habe ich die Lust zu schreiben von ihr geerbt. Doch eine Autobiographie habe ich nicht vor zu schreiben. Dazu fällt mir folgender Satz ein: „Vom Schreiben leben zu müssen, wäre ein hartes Brot! Lieber schreibe ich vom Leben, um daran mein täglich Brot reiben zu können!“ Zur Gegenwart zurück. Nun haben wir das freie Polen von Nordost nach Südwest durchfahren und mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen gesprochen. Mit Armen wie auch mit Begüterten. Jeder Einzelne wusste uns eine spannende Geschichte zu erzählen. Seine! Lebensgeschichten von Freud und Leid, vom Krieg und von der harten Arbeit auf dem Felde, von dekadenten Veranstaltungen auf reichen Hofgütern und dem Tragen von Zweizentnersäcken Mehl, um ein paar Zlotys als Tagelöhner zu verdienen und die große Familie zu ernähren, vom Kindererziehen in der Großstadt in einer Einzimmerwohnung, vom Kohleeinlagern im Stadtkeller und der Rübenernte mit 200 Knechten auf dem Felde, vom Trauern um die viel zu früh Verstorbenen, vom Feiern von Hochzeiten mit dem ganzen Dorf, von Festtagsbräuchen und lustigen Begebenheiten. Sehr viele Geschichten bekamen wir zu hören, einmal aus einer ganz anderen Sichtweise heraus. Diese Lebenserzählungen machen mich sehr nachdenklich und erweitern ein Stück weit meinen Horizont. Wir müssen lernen, europäischer zu denken und… zu handeln. Viele Polen haben eine Sechstagewoche und arbeiten an den Wochentagen bis zu 10 Stunden. Es ist materiell gesehen gewiss kein reiches Land, aber die Menschen scheinen noch zufrieden zu sein. Ich habe keinen einzigen Polen getroffen, der sich über zu viel Arbeit beklagt hat. Im Gegenteil. An den freien Sonntagen hilft ein Nachbar dem anderen beim Hausum- oder ausbau oder bei anderen nachbarschaftlichen Verrichtungen, und dabei wird gescherzt und gesungen und an die Zukunft geglaubt. Und… immer fleißig gebetet. Ein reiches Land! Reich an Mitmenschlichkeit!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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