Wir Kinder vom Bahnhof Zoo - Horst Rieck - E-Book
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Horst Rieck

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Beschreibung

Schonungslos ehrlich – eine Kindheit zwischen Heroinabhängigkeit und Kinderstrich. Christiane F.s lebenslanger Kampf gegen die Sucht.   Mit zwölf kam Christiane F. in einem evangelischen Jugendheim zum Haschisch, mit dreizehn in einer Diskothek zum Heroin. Sie wurde süchtig, ging morgens zur Schule und nachmittags mit dem ebenfalls heroinabhängigen Freunden auf den Kinderstrich am Bahnhof Zoo, um das Geld für die Droge zu beschaffen. Ihre Mutter bemerkte fast zwei Jahre lang nichts vom Doppelleben ihrer Tochter. Christiane F. berichtet mit minutiösem Erinnerungsvermögen und rückhaltloser Offenheit über Schicksale von Kindern, die von der Öffentlichkeit erst als Drogentote zur Kenntnis genommen werden. Nach turbulenten Jahren in Amerika und Griechenland lebt die Autorin wieder in Berlin und machte im Sommer 2008 erneut Schlagzeilen. Den Kampf gegen die Drogen hat sie immer wieder von neuem geführt - vor Rückfällen ist kaum ein ehemaliger Junkie sicher.   Die Vorlage zur Amazon-Original-Serie nach einer wahren Begebenheit!

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Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo

Mit zwölf kam Christiane F. in einem evangelischen Jugendheim zum Haschisch, mit dreizehn in einer Diskothek zum Heroin. Sie wurde süchtig, ging morgens zur Schule und nachmittags mit dem ebenfalls heroinabhängigen Freunden auf den Kinderstrich am Bahnhof Zoo, um das Geld für die Droge zu beschaffen. Ihre Mutter bemerkte fast zwei Jahre lang nichts vom Doppelleben ihrer Tochter. Christiane F. berichtet mit minutiösem Erinnerungsvermögen und rückhaltloser Offenheit über Schicksale von Kindern, die von der Öffentlichkeit erst als Drogentote zur Kenntnis genommen werden. Nach turbulenten Jahren in Amerika und Griechenland lebt die Autorin wieder in Berlin und machte im Sommer 2008 erneut Schlagzeilen. Den Kampf gegen die Drogen hat sie immer wieder von neuem geführt - vor Rückfällen ist kaum ein ehemaliger Junkie sicher.

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Die Anklage

Auszüge aus der Anklageschrift des Staatsanwalts beim Landgericht Berlin vom 27. Juli 1977

Die Schülerin Christiane Vera F. wird angeklagt, als Jugendliche mit Verantwortungsreife in Berlin nach dem 20. Mai 1976 fortgesetzt vorsätzlich Stoffe bzw. Zubereitungen, die den Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes unterstehen, ohne die erforderliche Erlaubnis des Bundesgesundheitsamtes erworben zu haben.

Die Angeschuldigte ist seit Februar 1976 Heroinverbraucherin. Sie injizierte sich – anfangs in Abständen, später täglich – ungefähr ein Szeneviertel. Seit dem 20. Mai 1976 ist sie strafrechtlich verantwortlich.

Anlässlich zweier Kontrollen am 1. und 13. März 1977 wurde die Angeschuldigte in der Halle des Bahnhofs Zoo und auf dem U-Bahnhof Kurfürstendamm angetroffen und überprüft. Sie führte 18 mg bzw. 140,7 mg einer heroinhaltigen Substanz mit sich.

Außerdem wurde am 12. Mai 1977 in der persönlichen Habe der Angeschuldigten ein Stanniolbriefchen gefunden, welches ebenfalls 62,4 mg einer heroinhaltigen Substanz enthielt. Bei ihr wurden auch Fixerutensilien gefunden. Die PTU-Untersuchung ergab auch, dass an den Fixerutensilien teilweise heroinhaltige Anhaftungen vorhanden waren. Auch die Urinprobe ergab einen Morphingehalt.

Am 12. Mai 1977 fand die Mutter der Angeschuldigten, Frau U. F., in der persönlichen Habe ihrer Tochter 62,4 mg einer heroinhaltigen Substanz, die sie der Kriminalpolizei übersandte.

In ihrer Einlassung gab die Angeschuldigte an, seit Februar 1976 Heroinkonsumentin zu sein. Sie sei außerdem im Winter 1976 der Prostitution nachgegangen, um so das Geld für den Heroinkauf zu beschaffen.

Es muss davon ausgegangen werden, dass die Angeschuldigte auch weiterhin Heroin konsumiert.

Das Urteil

Auszüge aus dem Urteil des Amtsgerichts Neumünster vom 14. Juni 1978. Urteil im Namen des Volkes

In der Strafsache gegen die Schülerin Christiane Vera F. wegen Op.-Vergehen.

Die Angeklagte ist des fortgesetzten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit fortgesetzter Steuerhehlerei schuldig. Die Entscheidung, ob Jugendstrafe zu verhängen ist, wird zur Bewährung ausgesetzt.

Gründe: Die Angeklagte hat bis zu ihrem 13. Lebensjahr eine normale Entwicklung durchlaufen. Sie ist überdurchschnittlich intelligent und hatte durchaus erfasst, dass der Erwerb von Heroin eine mit Strafe bedrohte Handlung darstellt. Zwar bestehen hinreichend Anzeichen dafür, dass die Angeklagte bereits am 20. Mai 1976 drogenabhängig war (vor der Strafmündigkeit). Dadurch war jedoch weder ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit noch ihre Schuldfähigkeit ausgeschlossen. Die Angeklagte hatte zwischenzeitlich ihre Situation durchaus erkannt und sich selbst um einen Entzug bemüht. Sie war daher durchaus in der Lage, das Unrecht ihres Verhaltens einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.

Die Prognose für die Zukunft ist jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt günstig, wenn auch nicht gesagt werden kann, dass bei der Angeklagten ein Rückfall ausgeschlossen ist. Der weitere Werdegang der Angeklagten muss zumindest in nächster Zeit mit Aufmerksamkeit verfolgt werden.

Es war wahnsinnig aufregend. Meine Mutter packte tagelang Koffer und Kisten. Ich begriff, dass für uns ein neues Leben anfing.

Ich war sechs geworden und nach dem Umzug sollte ich zur Schule gehen. Während meine Mutter pausenlos packte und immer nervöser wurde, war ich fast den ganzen Tag beim Bauern Völkel. Ich wartete, dass die Kühe zum Melken in den Stall kamen. Ich fütterte die Sauen und die Hühner und tobte mit den anderen im Heu. Oder ich trug die jungen Katzen herum. Es war ein herrlicher Sommer, der erste, den ich bewusst erlebte.

Ich wusste, dass wir bald weit wegfuhren, in eine große Stadt, die Berlin hieß. Zuerst flog meine Mutter allein nach Berlin. Sie wollte sich schon mal um die Wohnung kümmern. Meine kleine Schwester und ich und mein Vater kamen ein paar Wochen später nach. Für uns Kinder war das unser erster Flug. Alles war ungeheuer spannend.

Meine Eltern hatten herrliche Geschichten erzählt von der riesigen Wohnung mit den sechs großen Zimmern, in der wir nun wohnen würden. Und viel Geld wollten sie verdienen. Meine Mutter sagte, dann hätten wir ein großes Zimmer für uns ganz allein. Sie wollten tolle Möbel kaufen. Sie hat damals ganz genau erklärt, wie unser Zimmer aussehen sollte. Ich weiß das noch, weil ich als Kind nie aufgehört habe, mir dieses Zimmer vorzustellen. Es wurde in meiner Fantasie immer schöner, je älter ich wurde.

Wie die Wohnung aussah, in die wir dann kamen, habe ich auch nie vergessen. Wahrscheinlich, weil ich zunächst einen urischen Horror vor dieser Wohnung hatte. Sie war so groß und leer, dass ich Angst hatte, mich zu verlaufen. Wenn man laut sprach, hallte es unheimlich.

Nur in drei Zimmern standen ein paar Möbel. Im Kinderzimmer waren zwei Betten und ein alter Küchenschrank mit unseren Spielsachen. Im zweiten Zimmer war ein Bett für meine Eltern und im größten standen eine alte Couch und ein paar Stühle. So wohnten wir in Berlin-Kreuzberg, am Paul-Lincke-Ufer.

Nach ein paar Tagen traute ich mich mit dem Fahrrad allein auf die Straße, weil da Kinder spielten, die etwas älter waren als ich. In unserem Dorf hatten die Älteren immer auch mit den Kleinen gespielt und auf sie aufgepasst. Die Kinder vor unserer Wohnung sagten gleich: »Was will die denn hier?« Dann nahmen sie mir das Fahrrad weg. Als ich es zurückbekam, war ein Reifen platt und ein Schutzblech verbogen.

Mein Vater vertrimmte mich, weil das Fahrrad kaputt war. Ich bin dann nur noch in unseren sechs Zimmern mit dem Fahrrad gefahren.

Drei Zimmer sollten eigentlich Büro werden. Meine Eltern wollten da eine Heiratsvermittlung aufmachen. Aber die Schreibtische und Sessel, von denen meine Eltern sprachen, kamen nie. Der Küchenschrank blieb im Kinderzimmer.

Eines Tages wurden Sofa, Betten und Küchenschrank auf ein Lastauto geladen und dann zu einem Hochhaus in der Gropiusstadt gebracht. Da hatten wir nun zweieinhalb kleine Zimmer im 11. Stock. Und all die schönen Sachen, von denen meine Mutter gesprochen hatte, wären in das halbe Kinderzimmer gar nicht reingegangen.

Gropiusstadt, das sind Hochhäuser für 45000 Menschen, dazwischen Rasen und Einkaufszentren. Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in Gropiusstadt leben. Am meisten stank es im Treppenhaus.

Meine Eltern schimpften auf die Proletenkinder, die das Treppenhaus verunreinigten. Aber die Proletenkinder konnten meist nichts dafür. Das merkte ich schon, als ich das erste Mal draußen spielte und plötzlich musste. Bis endlich der Fahrstuhl kam und ich im 11. Stockwerk war, hatte ich in die Hose gemacht. Mein Vater verprügelte mich. Als ich es ein paarmal nicht geschafft hatte, von unten rechtzeitig in unser Badezimmer zu kommen, und Prügel bekam, hockte ich mich auch irgendwo hin, wo mich niemand sah. Da man aus den Hochhäusern fast in jede Ecke sehen kann, war das Treppenhaus der sicherste Platz.

Auf der Straße blieb ich auch in Gropiusstadt erst mal das dumme Kind vom Land. Ich hatte nicht dieselben Spielsachen wie die anderen. Nicht einmal eine Wasserpistole. Ich war anders angezogen. Ich sprach anders. Und ich kannte die Spiele nicht, die sie da spielten. Ich mochte sie auch nicht. In unserem Dorf waren wir oft mit dem Fahrrad in den Wald gefahren, zu einem Bach mit einer Brücke. Da hatten wir Dämme gebaut und Wasserburgen. Manchmal alle zusammen, manchmal jeder für sich. Und wenn wir es hinterher wieder kaputt gemacht haben, dann waren wir alle damit einverstanden und hatten zusammen unseren Spaß. Es gab auch keinen Anführer bei uns im Dorf. Jeder konnte Vorschläge machen, was gespielt werden sollte. Dann wurde so lange rumkrakeelt, bis sich ein Vorschlag durchgesetzt hatte. Es war gar nichts dabei, wenn die Älteren mal den Kleinen nachgaben. Es war eine echte Kinder-Demokratie.

In Gropiusstadt, in unserem Block, war ein Junge der Boss. Er war der Stärkste und hatte die schönste Wasserpistole. Wir spielten oft Räuberhauptmann. Der Junge war natürlich der Räuberhauptmann. Und die wichtigste Spielregel war, dass wir alles zu tun hatten, was er befahl.

Sonst spielten wir mehr gegeneinander als miteinander. Es ging eigentlich immer darum, den anderen irgendwie zu ärgern. Zum Beispiel, ihm ein neues Spielzeug wegzunehmen und kaputt zu machen. Das ganze Spiel war, den anderen fertigzumachen und für sich selbst Vorteile herauszuschinden, Macht zu erobern und Macht zu zeigen.

Die Schwächsten kriegten die meisten Prügel. Meine kleine Schwester war nicht sehr robust und ein bisschen ängstlich. Sie wurde ständig vertrimmt und ich konnte ihr nicht helfen.

Ich kam zur Schule. Ich hatte mich auf die Schule gefreut. Meine Eltern hatten mir gesagt, dass ich mich da immer gut benehmen müsse und zu tun hätte, was der Lehrer sagt. Ich fand das selbstverständlich. Auf dem Dorf hatten wir Kinder Respekt vor jedem Erwachsenen. Und ich glaube, ich freute mich, dass nun in der Schule ein Lehrer sein würde, dem auch die anderen Kinder gehorchen mussten.

Aber es war ganz anders in der Schule. Schon nach ein paar Tagen liefen Kinder während des Unterrichts in der Klasse herum und spielten Kriegen. Unsere Lehrerin war völlig hilflos. Sie schrie immer »hinsetzen«. Aber dann tobten die nur noch doller und die anderen lachten.

Ich habe Tiere schon als ganz kleines Kind geliebt. In unserer Familie waren alle wahnsinnig tierlieb. Deshalb war ich stolz auf unsere Familie. Ich kannte keine Familie, die so tierlieb war. Und mir taten die Kinder leid, deren Eltern keine Tiere mochten und die auch keine Tiere geschenkt bekamen.

Unsere Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung wurde mit der Zeit ein kleiner Zoo. Ich hatte später vier Mäuse, zwei Katzen, zwei Kaninchen, einen Wellensittich und Ajax, unsere braune Dogge, die wir schon nach Berlin mitgebracht hatten.

Ajax schlief immer neben meinem Bett. Ich ließ beim Einschlafen einen Arm aus dem Bett baumeln, um ihn zu spüren.

Ich fand andere Kinder, die auch Hunde hatten. Mit denen verstand ich mich ganz gut. Ich entdeckte, dass außerhalb von Gropiusstadt, in Rudow, noch richtige Reste von Natur waren. Da fuhren wir dann mit unseren Hunden hin. Wir spielten auf den alten Müllkippen in Rudow, die mit Erde zugeschüttet worden waren. Unsere Hunde spielten immer mit. »Spürhund« war unser Lieblingsspiel. Einer versteckte sich, während sein Hund festgehalten wurde. Dann musste der Hund ihn suchen. Mein Ajax hatte die beste Nase.

Die anderen Tiere nahm ich manchmal mit in die Sandkiste und sogar in die Schule. Unsere Lehrerin benutzte sie als Anschauungsmaterial im Biologieunterricht. Einige Lehrer erlaubten auch, dass Ajax während des Unterrichts bei mir war. Er störte nie. Bis zum Pausenklingeln lag er bewegungslos neben meinem Platz.

Ich wäre ganz glücklich mit meinen Tieren gewesen, wenn es mit meinem Vater nicht immer schlimmer geworden wäre. Während meine Mutter arbeitete, saß er zu Hause. Mit der Ehevermittlung war es ja nichts geworden. Nun wartete mein Vater auf einen anderen Job, der ihm gefiel. Er saß auf dem abgeschabten Sofa und wartete. Und seine irrsinnigen Wutausbrüche wurden immer häufiger.

Schularbeiten machte meine Mutter mit mir, wenn sie von der Arbeit kam. Ich hatte eine Zeit lang Schwierigkeiten, die Buchstaben H und K auseinanderzuhalten. Meine Mutter erklärte mir das eines Abends mit einer Affengeduld. Ich konnte aber kaum zuhören, weil ich merkte, wie mein Vater immer wütender wurde. Ich wusste immer, wann es gleich passierte: Er holte den Handfeger aus der Küche und drosch auf mir rum. Dann sollte ich ihm den Unterschied von H und K erklären. Ich schnallte natürlich überhaupt nichts mehr, bekam noch einmal den Arsch voll und musste ins Bett.

Das war seine Art, mit mir Schularbeiten zu machen. Er wollte, dass ich tüchtig bin und was Besseres werde. Schließlich hatte sein Großvater noch unheimlich Kohle gehabt. Ihm gehörte in Ostdeutschland sogar eine Druckerei und eine Zeitung, unter anderem. Nach dem Krieg war das in der DDR alles enteignet worden. Nun flippte mein Vater aus, wenn er glaubte, ich würde in der Schule was nicht schaffen.

Da gab es Abende, die ich noch in allen Einzelheiten erinnere. Einmal sollte ich ins Rechenheft Häuser malen. Die sollten sechs Kästchen breit und vier Kästchen hoch sein. Ich hatte ein Haus schon fertig und wusste genau, wie es ging, als mein Vater sich plötzlich neben mich setzte. Er fragte, von wo bis wo das nächste Häuschen gezeichnet werden müsse. Vor lauter Angst zählte ich die Kästchen nicht mehr, sondern fing an zu raten. Immer, wenn ich auf ein falsches Kästchen zeigte, bekam ich eine geklebt. Als ich nur noch heulte und überhaupt keine Antworten mehr geben konnte, da ging er zum Gummibaum. Ich wusste schon, was das bedeutete. Er zog den Bambusstock, der den Gummibaum hielt, aus dem Blumentopf. Dann drosch er mit dem Bambusstock auf meinen Hintern, bis man buchstäblich die Haut abziehen konnte.

Meine Angst fing schon beim Essen an. Wenn ich kleckerte, hatte ich ein Ding weg. Wenn ich etwas umstieß, versohlte er mir den Hintern. Ich wagte kaum noch, mein Milchglas zu berühren. Vor lauter Angst passierte mir dann bei fast jedem Essen irgendein Unglück.

Abends fragte ich meinen Vater immer ganz lieb, ob er nicht wegginge. Er ging ziemlich oft weg und wir drei Frauen atmeten dann erst einmal tief durch. Diese Abende waren herrlich friedlich. Wenn er dann allerdings in der Nacht nach Hause kam, konnte es wieder ein Unglück geben. Er hatte meistens etwas getrunken. Irgendeine Kleinigkeit dann und er rastete total aus. Es konnten Spielsachen oder Kleidungsstücke sein, die unordentlich rumlagen. Mein Vater sagte immer, Ordnung sei das Wichtigste im Leben. Und wenn er nachts Unordnung sah, dann zerrte er mich aus dem Bett und schlug mich. Meine kleine Schwester bekam anschließend auch noch etwas ab. Dann warf mein Vater unsere Sachen auf den Fußboden und befahl, in fünf Minuten wieder alles ordentlich einzuräumen. Das schafften wir meistens nicht und bekamen noch mal Kloppe.

Meine Mutter stand dabei meistens weinend in der Tür. Sie wagte selten, uns zu verteidigen, weil er dann auch sie schlug. Nur Ajax, meine Dogge, sprang oft dazwischen. Sie winselte ganz hoch und hatte sehr traurige Augen, wenn in der Familie geschlagen wurde. Sie brachte meinen Vater am ehesten zur Vernunft, denn er liebte ja Hunde wie wir alle. Er hatte Ajax mal angeschrien, aber nie geschlagen.

Trotzdem liebte und achtete ich meinen Vater irgendwie. Ich dachte, er sei anderen Vätern haushoch überlegen. Aber vor allem hatte ich Angst vor ihm. Dabei fand ich es ziemlich normal, dass er so oft um sich schlug. Bei anderen Kindern in der Gropiusstadt war es zu Hause nicht anders. Die hatten sogar manchmal richtige Veilchen im Gesicht und ihre Mütter auch. Es gab Väter, die lagen betrunken auf der Straße oder auf dem Spielplatz rum. So schlimm betrank sich mein Vater nie. Und es passierte in unserer Straße auch, dass Möbelstücke aus den Hochhäusern auf die Straße flogen, Frauen um Hilfe schrien und die Polizei kam. So schlimm war es bei uns also nicht.

Mein Vater machte meine Mutter ständig an, sie gäbe zu viel Geld aus. Dabei verdiente sie ja das Geld. Sie sagte ihm dann manchmal auch, das meiste ginge für seine Sauftouren, seine Frauen und das Auto drauf. Dann wurde der Krach handgreiflich.

Das Auto, der Porsche, war wohl das, was mein Vater am meisten liebte. Er wienerte ihn fast jeden Tag, wenn er nicht gerade in der Werkstatt stand. Einen zweiten Porsche gab es wohl nicht in der Gropiusstadt. Jedenfalls bestimmt keinen Arbeitslosen mit Porsche.

Ich hatte natürlich damals keine Ahnung, was mit meinem Vater los war, warum er ständig regelrecht ausrastete. Mir dämmerte es erst später, als ich mich auch mit meiner Mutter häufiger über meinen Vater unterhielt. Allmählich habe ich einiges durchschaut. Er packte es einfach nicht. Er wollte immer wieder hoch hinaus und fiel jedes Mal auf den Arsch. Sein Vater verachtete ihn deshalb. Opa hatte schon meine Mutter vor der Ehe mit dem Taugenichts gewarnt. Mein Opa hatte eben immer große Pläne mit meinem Vater gehabt. Die Familie sollte wieder so toll dastehen wie früher, bevor ihr in der DDR der ganze Besitz enteignet wurde.

Wenn er meine Mutter nicht getroffen hätte, wäre er vielleicht Gutsverwalter geworden und hätte seine eigene Doggenzucht gehabt. Er lernte gerade Gutsverwalter, als er meine Mutter traf. Sie wurde schwanger mit mir, er brach seine Lehre ab und heiratete sie. Irgendwann muss er dann auf die Idee gekommen sein, dass meine Mutter und ich schuld an seinem Elend seien. Von all seinen Träumen war ihm nur sein Porsche geblieben und ein paar aufschneiderische Freunde.

Er hasste die Familie nicht nur, er lehnte sie einfach total ab. Das ging so weit, dass keiner seiner Freunde wissen durfte, dass er verheiratet war und Kinder hatte. Wenn wir Freunde von ihm trafen oder wenn ihn Bekannte zu Hause abholten, musste ich ihn immer mit »Onkel Richard« anreden. Ich war mit Schlägen so darauf programmiert, dass ich da niemals einen Fehler machte. Sobald andere Leute da waren, war er für mich der Onkel.

Mit meiner Mutter war das nicht anders. Sie durfte vor seinen Freunden nie sagen, dass sie seine Frau war, und vor allem sich nicht so verhalten wie seine Frau. Ich glaube, er gab sie immer als seine Schwester aus.

Die Freunde meines Vaters waren jünger als er. Sie hatten das Leben noch vor sich, jedenfalls meinten sie das sicher. Mein Vater wollte einer von ihnen sein. Einer, für den alles erst anfing. Und keiner, der sich schon eine Familie aufgehalst hatte, die er nicht mal ernähren konnte. So etwa war das mit meinem Vater.

Ich hatte im Alter von sechs bis acht natürlich überhaupt keinen Durchblick. Mein Vater bestätigte mir nur die Lebensregel, die ich schon auf der Straße und in der Schule lernte: schlagen oder geschlagen werden. Meine Mutter, die in ihrem Leben genug Prügel bekommen hatte, war zu derselben Erkenntnis gekommen. Immer wieder bläute sie mir ein: »Fang niemals an. Aber wenn dir jemand was tut, hau zurück. So doll und so lange du kannst.« Sie selber konnte ja nicht mehr zurückschlagen.

Ich lernte das Spiel langsam: selber Macht über andere oder unterdrückt werden. In der Schule fing ich bei dem schwächsten Lehrer an. Ich rief ständig etwas in den Unterricht. Die anderen lachten jetzt über mich. Als ich das auch bei den strengeren Lehrern machte, da fand ich endlich echte Anerkennung bei meinen Mitschülern.

Ich hatte gelernt, wie man sich in Berlin durchsetzte: immer eine große Schnauze haben. Am besten die größte von allen. Dann kannst du Boss spielen. Nachdem ich mit meiner Klappe so erfolgreich war, wagte ich auch, meine Muskeln auszuprobieren. Eigentlich war ich nicht sehr stark. Aber ich konnte wütend werden. Und dann habe ich auch die Stärkeren umgehauen. Ich habe mich nachher beinahe gefreut, wenn mir in der Schule einer blöd kam und ich ihn dann vor der Schule wiedertraf. Ich musste meistens gar nicht handgreiflich werden. Die Kinder hatten einfach Respekt vor mir.

Ich war mittlerweile acht. Mein sehnlichster Wunsch war, schnell älter zu werden, erwachsen zu sein wie mein Vater, wirkliche Macht zu haben über andere Menschen. Was ich an Macht hatte, probierte ich inzwischen aus.

Mein Vater hatte irgendwann Arbeit gefunden. Keine, die ihn glücklich machte, aber eine, mit der er Geld für seine Sausen und seinen Porsche verdiente. Ich war deshalb nachmittags allein mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester zu Haus. Ich hatte eine zwei Jahre ältere Freundin gefunden. Ich war stolz, eine ältere Freundin zu haben. Mit ihr war ich noch stärker.

Mit meiner kleinen Schwester spielten wir fast jeden Tag das Spiel, das wir gelernt hatten. Wenn wir aus der Schule kamen, suchten wir Zigarettenkippen aus Aschenbechern und Mülleimern. Wir strichen sie glatt, klemmten sie zwischen die Lippen und pafften. Wenn meine Schwester auch eine Kippe haben wollte, bekam sie was auf die Finger. Wir befahlen ihr, die Hausarbeit zu machen, also abwaschen, Staub wischen und was uns die Eltern noch so aufgetragen hatten. Dann nahmen wir unsere Puppenwagen, schlossen die Wohnungstür hinter uns ab und gingen spazieren. Wir schlossen meine Schwester so lange ein, bis sie die Arbeit gemacht hatte.

In dieser Zeit, als ich so acht, neun war, machte in Rudow ein Ponyhof auf. Wir waren zuerst sehr sauer, denn für den Ponyhof wurde so ziemlich das letzte Stück freie Natur, in das wir mit unseren Hunden flüchten konnten, eingezäunt und abgeholzt. Dann verstand ich mich mit den Leuten da aber ganz gut und machte Stallarbeiten und Pferdepflege. Für die Arbeit durfte ich ein paar Viertelstunden in der Woche frei reiten. Das fand ich natürlich wahnsinnig.

Ich liebte die Pferde und den Esel, den sie da hatten. Aber am Reiten faszinierte mich wohl noch etwas anderes. Ich konnte wieder beweisen, dass ich Kraft und Macht hatte. Das Pferd, das ich ritt, war stärker als ich. Aber ich konnte es unter meinen Willen zwingen. Wenn ich runtergefallen bin, dann musste ich wieder rauf. So lange, bis mir das Pferd gehorchte.

Mit den Stallarbeiten klappte es nicht immer. Dann brauchte ich Geld, um wenigstens eine Viertelstunde reiten zu können. Taschengeld bekamen wir selten. Da habe ich angefangen, ein bisschen zu betrügen. Ich habe die Rabattmarkenhefte eingelöst und die Bierflaschen von meinem Vater weggebracht, um das Pfandgeld zu bekommen.

So mit zehn fing ich auch an zu klauen. Ich klaute in den Supermärkten. Sachen, die wir sonst nicht bekamen. Vor allem Süßigkeiten. Fast alle anderen Kinder durften Süßigkeiten essen. Mein Vater sagte, von Süßigkeiten bekäme man schlechte Zähne.

Man lernte in Gropiusstadt einfach automatisch zu tun, was verboten war. Verboten zum Beispiel war, irgendetwas zu spielen, was Spaß machte. Es war überhaupt eigentlich alles verboten. An jeder Ecke steht ein Schild in der Gropiusstadt. Die sogenannten Parkanlagen zwischen den Hochhäusern, das sind Schilderparks. Die meisten Schilder verbieten natürlich Kindern irgendetwas.

Ich habe die Sprüche auf den Schildern später mal für mein Tagebuch abgeschrieben. Das erste Schild stand schon an unserer Eingangstür. Im Treppenhaus und in der Umgebung unseres Hochhauses durften Kinder eigentlich nur auf Zehenspitzen rumschleichen. Spielen, Toben, Rollschuh- oder Fahrradfahren – verboten. Dann kam Rasen und an jeder Ecke das Schild: »Den Rasen nicht betreten.« Die Schilder standen vor jedem bisschen Grün. Nicht einmal mit unseren Puppen durften wir uns auf den Rasen setzen. Dann gab es da ein mickriges Rosenbeet und wieder ein großes Schild davor: »Geschützte Grünanlagen«. Unter diesem Hinweis war gleich ein Paragraf aufgeführt, nach dem man bestraft wurde, wenn man den mickrigen Rosen zu nahe kam.

Wir durften also nur auf den Spielplatz. Zu ein paar Hochhäusern gehörte immer ein Spielplatz. Der bestand aus verpisstem Sand und ein paar kaputten Klettergeräten und natürlich einem Riesenschild. Das Schild steckte in einem richtigen eisernen Kasten drin, unter Glas, und vor dem Glas waren Gitter, damit wir den Quatsch nicht kaputt schmeißen konnten. Auf dem Schild stand also »Spielplatzordnung« und darunter, dass die Kinder ihn zur »Freude und Erholung benutzen« sollten. Wir durften uns allerdings nicht »erholen«, wann wir gerade Lust hatten. Denn was dann kam, war dick unterstrichen: »… in der Zeit von 8 bis 13 Uhr und 15 bis 19 Uhr.« Wenn wir also aus der Schule kamen, war nichts mit Erholung.

Meine Schwester und ich hätten eigentlich gar nicht auf den Spielplatz gedurft, weil man dort laut Schild »nur mit Zustimmung und unter Aufsicht des Erziehungsberechtigten« spielen durfte. Und das auch nur ganz leise: »Das Ruhebedürfnis der Hausgemeinschaft ist durch besondere Rücksichtnahme zu wahren.« Einen Gummiball durfte man sich da gerade noch artig zuwerfen. Ansonsten: »Ballspiele sportlicher Art sind nicht gestattet.« Kein Völkerball, kein Fußball. Für die Jungens war das besonders schlimm. Die ließen ihre überschüssige Kraft an den Spielgeräten und Sitzbänken und natürlich an den Verbotsschildern aus. Es muss einige Kohle gekostet haben, die kaputten Schilder immer wieder zu erneuern.

Über die Einhaltung der Verbote wachten die Hauswarte. Ich hatte schon ziemlich schnell bei unserem Hauswart verschissen. Nach unserem Umzug in die Gropiusstadt langweilte mich der Spielplatz aus Beton und Sand mit der kleinen Blechrutsche schon wahnsinnig. Da fand ich dann doch noch etwas Interessantes. Die Gullys im Beton, durch die das Regenwasser abfließen sollte. Damals konnte man das Gitter über dem Abfluss noch abheben. Später machten sie es dann fest. Ich hob also das Gitter ab und warf mit meiner Schwester allen möglichen Mist in den Gully. Dann kam der Hauswart, griff uns und zerrte uns in das Büro der Hausverwaltung. Da mussten wir beide, sechs und fünf Jahre alt, unsere Personalien angeben. So gut wir das schon konnten. Meine Eltern wurden benachrichtigt und mein Vater hatte einen guten Grund zum Prügeln. Ich begriff noch nicht so ganz, warum das so schlimm war, den Abfluss zu verstopfen. In unserem Dorf am Bach hatten wir ja ganz andere Sachen gemacht, ohne dass je ein Erwachsener gemeckert hätte. Ich begriff aber so ungefähr, dass man in Gropiusstadt nur spielen durfte, was von den Erwachsenen vorgesehen war. Also rutschen und im Sand buddeln. Dass es gefährlich war, eigene Ideen beim Spielen zu haben.

Das nächste Zusammentreffen mit dem Hauswart, das ich erinnere, war schon ernster. Das kam so: Ich ging mit Ajax, meiner Dogge, spazieren und kam auf die Idee, für meine Mutter Blumen zu pflücken. Wie ich es in unserem Dorf früher fast auf jedem Spaziergang gemacht hatte. Es gab aber zwischen den Hochhäusern nur die mickrigen Rosen. Ich machte mir die Finger blutig, um ein paar Blumen von den Strauchrosen abzuknicken. Das Schild »Geschützte Gartenanlage« konnte ich noch nicht lesen oder habe es auch nur nicht kapiert.

Ich verstand aber sofort, als ich den Hauswart schreiend und fuchtelnd über den nicht zu betretenden Rasen rennen sah. Ich bekam panische Angst vor dem Typen und rief: »Ajax, pass auf!«

Mein Ajax spitzte natürlich gleich die Ohren, ein paar Nackenhaare gingen hoch, Ajax wurde steif und sah den Kerl mit den bösesten Augen an, die er machen konnte. Der Typ ging sofort rückwärts über den Rasen und wagte erst wieder zu schreien, als er vor dem Hauseingang war. Ich war froh, versteckte die Blumen aber, denn ich ahnte ja, dass ich wieder mal was Verbotenes getan hatte.

Als ich zu Hause ankam, hatte die Hausverwaltung schon angerufen. Ich hätte den Hauswart mit einem Hund bedroht, hatten sie gesagt. Statt des Küsschens von meiner Mutti, das ich mir mit den Blumen hatte einhandeln wollen, gab es den Hintern voll von Vati.

Im Sommer war die Hitze bei uns manchmal unerträglich. Die Hitze wurde regelrecht von Beton, Asphalt und Steinen gespeichert und zurückgestrahlt. Die paar mickrigen Bäume gaben keinen Schatten. Und der Wind wurde von den Hochhäusern abgehalten. Es gab weder ein Schwimmbad noch ein Planschbecken. Nur einen Springbrunnen mitten auf unserem Betonplatz. Da planschten und spritzten wir manchmal. War natürlich verboten und wir wurden auch immer schnell weggejagt.

Dann kam die Zeit, da wollten wir Murmeln spielen. Aber wo findest du einen Platz in Gropiusstadt, auf dem man murmeln kann. Auf Beton, Asphalt oder Rasen Marke »Betreten verboten« kann man eben nicht murmeln. In der Sandkiste auch nicht. Denn zum Murmeln braucht man einen einigermaßen festen Untergrund, in den man kleine Löcher buddeln kann.

Wir fanden eine beinah ideale Murmelbahn. Unter den Ahornbäumen, die sie bei uns gepflanzt hatten. Damit die Bäumchen nicht unter all dem Asphalt erstickten, hatte man für sie eine kreisrunde Öffnung im Asphalt gelassen. Der Kreis um den Stamm war aus fester, sauber und glatt geharkter Erde. Einfach ideal zum Murmeln.

Nun hatten wir aber, wenn wir dort unsere kleinen Kuhlen zum Murmeln buddelten, nicht nur die Hauswarte, sondern auch noch die Gärtner auf dem Hals. Wir wurden immer wieder unter wüsten Drohungen vertrieben. Eines Tages hatten die Vertreiber aber leider eine gute Idee. Sie harkten die Erde nicht mehr glatt, sondern gruben sie um. Aus war es mit dem Murmeln.

Bei Regen waren die Eingangshallen der Häuser eine fantastische Rollschuhbahn. Diese großen Hausflure wären jedenfalls fantastisch gewesen. Da unten keine Wohnungen waren, störte nicht einmal der Krach jemanden. Als wir es ein paarmal versuchten, beschwerte sich tatsächlich auch niemand. Bis auf die Hauswartsfrau. Die sagte, das Rollschuhlaufen mache Striemen auf dem Fußboden. War also auch nichts. Bis auf das Arschvoll von meinem Vater.

Bei schlechtem Wetter war es echt beschissen in der Gropiusstadt für uns Kinder. Freunde durfte eigentlich niemand von uns mit in die Wohnung nehmen. Dazu waren die Kinderzimmer auch viel zu klein. Fast alle Kinder hatten wie wir das halbe Zimmer bekommen. Bei Regen saß ich manchmal am Fenster und habe daran gedacht, was wir früher bei Regen machten. Geschnitzt haben wir zum Beispiel. Wir waren richtig auf Regenwetter vorbereitet. Wir hatten uns im Wald dicke Stücke Eichenrinde geholt und daraus schnitzten wir bei schlechtem Wetter kleine Boote. Und wenn es zu lange regnete, hielten wir es nicht mehr aus. Dann zogen wir Regenzeug an und gingen runter zum Bach, um unsere Boote auszuprobieren. Wir bauten Häfen und machten richtige Wettfahrten mit unseren Booten aus Eichenrinde.

Bei Regen zwischen den Hochhäusern rumzuhängen machte echt keinen Spaß. Wir mussten uns schon etwas einfallen lassen. Etwas, was wahnsinnig verboten war. Das gab es auch: mit den Fahrstühlen spielen.

Zunächst mal ging es natürlich darum, andere Kinder zu ärgern. Da griffen wir uns ein Kind, sperrten es in einen Fahrstuhl und drückten alle Knöpfe. Den anderen Fahrstuhl hielten wir fest. Dann musste der bis zum obersten Stock hochjuckeln mit einem Halt in jedem Stockwerk. Mit mir haben sie das auch oft gemacht. Gerade wenn ich mit meinem Hund zurückkam und rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause sein musste. Dann haben die alle Knöpfe gedrückt und es dauerte eine elend lange Zeit, bis ich im elften Stock war, und Ajax wurde dabei wahnsinnig nervös.

Gemein war es, jemandem alle Knöpfe zu drücken, der hochwollte, weil er musste. Der pullerte am Ende in den Fahrstuhl. Noch gemeiner allerdings war es, einem Kind den Kochlöffel wegzunehmen. Alle kleinen Kinder gingen nur mit einem Kochlöffel nach draußen. Denn nur mit einem langen hölzernen Kochlöffel kamen wir an die Fahrstuhlknöpfe ran. Ohne Kochlöffel war man also total aufgeschmissen. Wenn man ihn verloren hatte oder andere Kinder ihn weggenommen hatten, konnte man elf Stockwerke zu Fuß hochlatschen. Denn die anderen Kinder halfen einem natürlich nicht, und die Erwachsenen dachten, man wolle nur im Fahrstuhl spielen und ihn kaputt machen.

Die Fahrstühle waren oft kaputt und daran waren wir nicht schuldlos. Wir machten nämlich auch richtige Wettfahrten mit den Fahrstühlen. Die fuhren zwar gleich schnell, aber es gab einige Tricks, mit denen man ein paar Sekunden einsparen konnte. Die äußere Tür musste man schnell, aber mit viel Gefühl zumachen. Denn wenn man sie zu heftig zuschlug, ging sie noch einmal wieder ein Stück auf. Die Sicherheitstür ging automatisch zu, aber wenn man mit den Händen nachhalf, schloss sie sich schneller. Oder ging auch mal kaputt. Ich war ziemlich gut im Fahrstuhl-Wettfahren.

Unsere 13 Stockwerke reichten uns schon bald nicht mehr. Außerdem war uns der Hauswart natürlich ständig auf den Fersen. Das Pflaster wurde also immer heißer in unserem Haus. Das Betreten anderer Häuser war aber für Kinder streng verboten. Wir kamen da auch nicht rein, weil wir keinen Hausschlüssel hatten. Aber es gab immer einen zweiten Eingang. Für Möbel und irgendwelche großen Gegenstände. Der war mit einem Gitter abgesperrt. Ich fand heraus, wie man durch das Gitter kam. Mit dem Kopf zuerst. Es war richtig trickreich, wie man den Kopf drehen musste, um durchzukommen. Den Körper quetschten wir dann irgendwie durch. Nur die Dicken konnten nicht mit.

Ich habe uns so den Weg in ein richtiges Fahrstuhl-Paradies geöffnet. In ein Haus mit 32 Stockwerken und unheimlich raffinierten Fahrstühlen. Da entdeckten wir dann erst, was man mit Fahrstühlen alles machen kann. Besonders gern haben wir Hopsen gespielt. Wenn alle zusammen während der Fahrt hochsprangen, blieb das Ding stehen. Die Sicherheitstür ging auf. Oder die Sicherheitstür ging erst gar nicht zu. So eine Hopse-Fahrt war jedenfalls eine ziemlich spannende Sache.

Dann ein sensationeller Trick: Wenn man den Schalter für die Notbremse nicht nach unten, sondern zur Seite drückte, dann blieb die Sicherheitstür auch während der Fahrt auf. Da merkte man erst, wie schnell die Dinger fuhren. In einem irren Tempo sausten Beton und Fahrstuhltüren an uns vorbei.

Die schärfste Mutprobe war es, den Alarmknopf zu drücken. Dann ging eine Klingel los und die Stimme des Hauswarts kam durch einen Lautsprecher. Dann hieß es türmen. In einem Haus mit 32 Stockwerken hat man eine gute Chance, dem Hauswart zu entkommen. Der lag sowieso immer auf der Lauer, erwischte uns aber selten.

Das spannendste Spiel bei schlechtem Wetter war das Keller-Spiel. Das war auch das verbotenste. Wir haben irgendwie einen Weg in den Hochhaus-Keller gefunden. Da hatte jeder Mieter eine Box aus Maschendrahtgitter. Die Gitter gingen nicht bis zur Decke. Man konnte also oben rüberklettern. Da haben wir dann Verstecken gespielt. »Verstecken mit alles« hieß das. Man konnte also überall reinklettern, um sich zu verstecken. Das war wahnsinnig gruselig. Es war an und für sich schon unheimlich zwischen all dem fremden Kram in ziemlich schummrigem Licht. Dazu kam die Angst, dass jemand kommen könnte. Wir ahnten ja, dass wir so ungefähr das Verbotenste überhaupt machten.

Dann haben wir auch gespielt, wer die tollsten Sachen in den Verschlägen fand. Spielsachen, Trödelkram oder Kleider, die wir uns anzogen. Nachher wussten wir natürlich nicht mehr so genau, wo wir den Kram herhatten, und schmissen ihn einfach irgendwo rein. Manchmal ließen wir auch was ganz Tolles mitgehen. Natürlich kam es raus, dass da unten jemand »eingebrochen« war. Aber uns schnappten sie nie. So lernte man also ganz automatisch, dass alles, was erlaubt ist, unheimlich fade ist und dass das Verbotene Spaß bringt.

Das Einkaufszentrum, das unserem Haus gegenüberlag, war für uns auch mehr oder weniger verbotenes Viertel. Da war ein ganz wilder Hauswart, der uns immer scheuchte. Am wildesten war er, wenn ich mit meinem Hund in die Nähe kam. Er sagte, wir machten den ganzen Dreck im Einkaufszentrum. Es war wirklich stinkig da, wenn man genau hinsah und hinroch. Die Läden taten einer feiner und vornehmer und moderner als der andere. Aber die Müllkisten dahinter quollen ständig über und stanken. Man trat überall in geschmolzenes Speiseeis oder Hundescheiße und trat gegen Bierdosen und Coladosen.

Der Hauswart da sollte das abends alles sauber machen. Kein Wunder, dass er den ganzen Tag lauerte, um jemanden zu erwischen, der Dreck machte. Aber gegen die Geschäftsleute, die den Müll neben die Kästen warfen, konnte er nichts machen. An die betrunkenen Halbstarken, die mit den Bierdosen rumwarfen, traute er sich nicht ran. Und die Omas mit ihren Hunden gaben ihm auch nur patzige Antworten. Da hielt er sich in seiner urischen Wut eben an die Kinder.

In den Läden mochte man uns auch nicht. Wenn einer von uns mal Taschengeld bekommen hatte oder sich sonst Geld ergaunert hatte, dann ist er in den Kaffee-Laden, wo es auch Süßigkeiten gab. Und die anderen natürlich hinterher, weil das ein kleines Ereignis war. Die Verkäuferinnen hat das unheimlich genervt, wenn da ein halbes Dutzend Kinder in den Laden kam und dann das Palaver anfing, was für die paar Groschen gekauft werden sollte. Wir bekamen irgendwie einen Hass auf die Ladenbesitzer und fanden es gut, wenn jemand von uns sie beklaut hatte.

Im Ladenzentrum gab es auch ein Reisebüro, da haben wir uns oft die Nasen an der Scheibe platt gedrückt, bis wir verscheucht wurden. Im Schaufenster standen herrliche Bilder mit Palmen, Strand, Negern und wilden Tieren. Dazwischen hing ein Flugzeugmodell. Und wir haben rumgesponnen, wir säßen in dem Flugzeug und flögen an diesen Strand da und kletterten auf die Palmen, von denen aus Nashörner und Löwen zu sehen waren.

Neben dem Reisebüro war die »Bank für Handel und Industrie«. Damals haben wir uns noch nicht gewundert, was eine Bank für Handel und Industrie ausgerechnet in der Gropiusstadt macht, wo doch Menschen wohnen, die allenfalls von Handel und Industrie ihren Lohn bekommen. Wir mochten die Bank. Die feinen Herren in den schnieken Anzügen waren nie unfreundlich zu uns. Sie hatten auch nicht so viel zu tun wie die Frauen im Kaffee-Laden. Bei ihnen konnte ich die Pfennige in Groschen eintauschen, die ich meiner Mutter aus der Pfennig-Flasche geklaut hatte. Denn im Kaffee-Laden rasteten die aus, wenn man mit Pfennigen bezahlte. Und wir bekamen, wenn wir artig bitte sagten, immer wieder irgendein Spartier. Vielleicht dachten die netten Herren ja, wir brauchten so viele Spartiere, weil wir so fleißig sparten. Ich habe allerdings nie einen Pfennig da reingesteckt. Wir haben mit den Sparelefanten und Schweinen im Sandkasten Zoo gespielt.

Als es immer doller wurde mit den Streichen bei uns, haben sie einen sogenannten Abenteuerspielplatz gebaut. Ich weiß nicht, was die Leute, die so was planen, unter Abenteuer verstehen. Aber wahrscheinlich heißen diese Dinger ja auch nicht so, weil Kinder da wirklich Abenteuerliches machen dürfen, sondern weil die Erwachsenen glauben sollen, ihre Kinder könnten da ganz tolle Sachen erleben. Eine Menge Kohle hatte das Ding sicherlich gekostet. Die haben jedenfalls ziemlich lange daran rumgebaut. Und als wir endlich draufdurften, da empfingen uns freundliche Sozialarbeiter: »Na, was möchtet ihr denn gern machen« und so. Das Abenteuer bestand darin, dass man auf diesem Spielplatz ständig beaufsichtigt wurde.

Es gab richtiges Werkzeug und fein gehobelte Bretter und Nägel. Da durfte man also was bauen. Und ein Sozialarbeiter passte auf, dass man sich nicht mit dem Hammer auf die Finger kloppte. Wenn ein Nagel drin war, dann war er drin. Dann konnte man nichts mehr verändern. Dabei wollte man doch, noch ehe etwas fertig war, dass es ganz anders aussehen sollte.

Ich habe so einem Sozialarbeiter mal erzählt, wie wir früher etwas gebaut hatten, Höhlen und richtige Baumhütten. Ohne Hammer und ohne einen einzigen Nagel. Aus irgendwelchen Brettern und Ästen, die wir fanden. Und jeden Tag, wenn wir wieder hinkamen, haben wir wieder daran rumgebastelt und alles verändert. Und das hat den Spaß gemacht. Der Sozialarbeiter hat mich sicherlich verstanden. Aber er hatte ja seine Verantwortung und seine Vorschriften.

Am Anfang hatten wir noch eigene Ideen, was man auf dem Abenteuerspielplatz machen könnte. So wollten wir einmal Steinzeitfamilie spielen und über einem Feuer eine richtige Erbsensuppe kochen. Der Sozialarbeiter fand die Idee prima. Aber leider, sagte er, Erbsensuppe kochen, das ginge nicht. Ob wir nicht eine Hütte bauen wollten. Mit Hammer und Nägeln – in der Steinzeit.

Bald wurde der Spielplatz wieder geschlossen. Sie sagten uns, sie wollten ihn umbauen, damit wir auch bei schlechtem Wetter spielen könnten. Dann wurden Eisenträger abgeladen, Betonmischmaschinen kamen und ein Bautrupp. Sie bauten einen Betonbunker mit Fenstern. Ernsthaft, so einen richtigen Betonsilo. Keine Blockhütte oder so etwas, sondern einen Betonklotz. Die Fenster waren schon nach ein paar Tagen eingeschmissen. Ich weiß nicht, ob die Fenster von den Jungen alle eingeschmissen wurden, weil das Betonding sie so aggressiv machte. Oder ob man unser Spielhaus gleich als Bunker baute, weil in Gropiusstadt alles kaputtging, was nicht aus Eisen oder Beton war. Der dicke Betonsilo nahm nun schon einen großen Teil des Abenteuerspielplatzes ein. Dann haben sie da noch eine Schule direkt drangebaut und die bekam ihren eigenen Spielplatz, den mit Blechrutsche, Klettergerüst und ein paar senkrecht eingegrabenen Holzbohlen, hinter denen man ganz gut pinkeln konnte. Der Schulspielplatz wurde in den Abenteuerspielplatz reingebaut und mit Maschendraht abgeteilt. Da gab es dann nicht mehr viel Abenteuerspielplatz.

Auf dem bisschen Abenteuerspielplatz, das dann noch war, machten sich immer mehr die älteren Jungen breit, die wir Rocker nannten. Sie kamen nachmittags schon besoffen da an, terrorisierten die Kinder und machten einfach kaputt. Kaputtmachen war so ungefähr ihre einzige Beschäftigung. Die Sozialarbeiter kamen gegen sie nicht an. Da war dann der Abenteuerspielplatz sowieso meistens geschlossen.

Dafür bekamen wir Kinder eine richtige Attraktion. Sie bauten einen Rodelberg. Im ersten Winter war das schon toll. Wir konnten uns unsere Pisten vom Berg selber wählen. Wir hatten eine Todesbahn und leichte Strecken. Die Jungs, die wir Rocker nannten, machten es gefährlich. Sie bildeten Ketten mit den Schlitten und legten es regelrecht darauf an, uns umzufahren. Aber man konnte ihnen auf andere Pisten ausweichen. Die Tage mit Schnee gehörten zu meinen schönsten Tagen in Gropiusstadt.

Im Frühling machte es dann auf dem Rodelberg beinah ebenso viel Spaß. Wir tobten da mit unseren Hunden rum und kugelten uns die Abhänge runter. Das Tollste war, mit dem Fahrrad da rumzugurken. Die Abfahrten waren irre. Es sah gefährlicher aus, als es war. Denn wenn man mal stürzte, fiel man auf dem Gras ja weich.

Das Spielen auf dem Rodelberg haben sie uns bald verboten. Sie haben gesagt, dass sei ein Rodelberg und kein Tobeplatz und schon gar keine Radrennbahn. Die Grasnarbe müsse sich erholen und so weiter. Wir waren nun schon so alt, dass wir uns aus Verboten überhaupt nichts mehr machten, und gingen weiter auf den Rodelberg. Da kamen eines Tages die Männer vom Gartenbauamt und legten einen richtigen Stacheldrahtverhau um den Rodelberg. Wir gaben uns nur für ein paar Tage geschlagen. Dann besorgte jemand eine Drahtschere und wir schnitten ein Loch in den Stacheldraht, das groß genug war, um mit Hunden und Fahrrädern durchzukommen. Wenn sie das Loch wieder flickten, schnitten wir es wieder auf.

Ein paar Wochen später rückten wieder Bautrupps an. Die begannen, unseren Rodelberg zuzumauern, zuzuzementieren, zuzuasphaltieren. Aus unserer Todesbahn wurde eine Treppe. Asphaltierte Wege durchschnitten fast alle Pisten. Auf die Plattform oben kamen Betonplatten. Ein Streifen Rasen blieb als Rodelbahn.

Im Sommer war auf dem Berg nichts mehr anzufangen. Im Winter war es auf der einen Bahn lebensgefährlich. Das Schlimmste aber war das Raufgehen. Da musste man jetzt über Steinplatten und Treppen. Die waren ständig vereist. Wir holten uns aufgeschlagene Knie, Beulen am Kopf und, wenn es böse kam, eine Gehirnerschütterung.

Es wurde eben alles immer perfekter mit der Zeit in Gropiusstadt. Als wir hinzogen, war die großartige Modellsiedlung noch nicht fertig. Vor allem außerhalb des Hochhausviertels war vieles noch gar nicht perfekt. In kleinen Ausflügen, die auch wir jüngeren Kinder schon alleine machen konnten, erreichte man richtig paradiesische Spielplätze.

Der schönste war an der Mauer, die ja nicht weit von Gropiusstadt ist. Da gab es einen Streifen, den nannten wir Wäldchen oder Niemandsland. Der war kaum 20 Meter breit und wenigstens anderthalb Kilometer lang. Bäume, Büsche, Gras so hoch wie wir, alte Bretter, Wasserlöcher.

Da kletterten wir, spielten Verstecken, fühlten uns wie Forscher, die jeden Tag wieder einen uns bis dahin unbekannten Teil des Urwäldchens entdeckten. Wir konnten da sogar Lagerfeuer machen und Kartoffeln braten und Rauchzeichen geben.

Irgendwann haben sie dann gemerkt, dass da Kinder aus Gropiusstadt spielten und Spaß hatten. Da sind wieder die Trupps angerückt und haben Ordnung gemacht. Dann haben sie Verbotsschilder aufgestellt. Nichts durfte man mehr, wirklich alles war verboten: Radfahren, auf Bäume klettern, Hunde frei laufen lassen. Die Polizisten, die wegen der Mauer da ständig rumlungerten, kontrollierten die Einhaltung der Verbotstafeln. Angeblich war unser Niemandsland jetzt ein Vogelschutzgebiet. Wenig später haben sie es zur Müllkippe gemacht.

Dann gab es noch den alten Müllberg, der mit Erde und Sand abgedeckt war und auf dem wir oft mit unseren Hunden spielten. Der wurde dann auch erst mit Stacheldraht, dann mit hohen Zäunen gegen uns gesichert, bevor sie anfingen, da ein Aussichtsrestaurant zu bauen.

Schön war es auch auf ein paar Feldern, die von den Bauern nicht mehr bestellt wurden. Da wuchsen noch Korn und Kornblumen und Mohnblumen und Gras und Brennnessel, so hoch, dass man bald bis zum Kopf darin versank. Die Felder hatte der Staat gekauft, um sie eben zu echten Erholungsgebieten zu machen. Stück für Stück wurden sie weggezäunt. Auf dem einen Teil der alten Felder machte sich der Ponyhof breit, auf dem anderen wurden Tennisplätze gebaut. Da gab es dann eigentlich nichts mehr, wo wir hingingen, um aus Gropiusstadt herauszukommen.

Meine Schwester und ich arbeiteten und ritten dann ja wenigstens auf dem Ponyhof. Zunächst konnte man noch ausreiten, wohin man wollte. Dann wurde auf allen Straßen und Wegen das Reiten verboten. Sie hatten nämlich einen extra Reitweg angelegt. Schön mit Sand und wie ein ordentlicher Reitweg auszusehen hat. Kostete sicher eine Menge Geld. Dieser Reitweg führte direkt an den Bahngleisen entlang. Zwischen Zaun und Schienen waren so gerade zwei Pferdebreiten Platz. Da ritt man nun, und die Kohlegüterzüge donnerten vorbei. Es gibt wohl kein Pferd, das nicht ausrastet, wenn ein paar Meter neben ihm ein Kohlegüterzug vorbeidonnert. Unsere Pferde jedenfalls gingen dann meistens durch. Und man hat nur noch gedacht, hoffentlich läuft der Gaul nicht in den Zug. Aber ich war ja echt besser dran als die anderen Kinder, ich hatte meine Tiere. Meine drei Mäuse nahm ich manchmal mit auf den Spielplatz in die Sandkiste. An der Spielplatzordnung stand ja wenigstens nicht »Mäuse verboten«. Wir bauten ihnen Gänge und Höhlen und ließen sie darin laufen.

Eines Nachmittags lief eine Maus in das Gras, das wir nicht betreten durften. Wir fanden sie nicht wieder. Ich war ein bisschen traurig, tröstete mich aber mit dem Gedanken, dass es der Maus draußen viel besser gefallen würde als im Käfig.

Ausgerechnet am Abend dieses Tages kam mein Vater in das Kinderzimmer, sah in den Mäusekäfig und fragte ganz komisch: »Wieso sind da nur zwei? Wo ist denn die dritte Maus?« Ich witterte noch kein Unheil, als er so komisch fragte. Mein Vater hatte die Mäuse nie gemocht und mir immer wieder gesagt, ich solle sie weggeben. Ich erzählte, dass mir die Maus auf dem Spielplatz weggelaufen sei.

Mein Vater sah mich an wie ein Irrer. Ich wusste, dass er nun total ausrastete. Er schrie und schlug sofort zu. Er schlug und ich war eingezwängt in meinem Bett und kam nicht raus. Er hatte noch nie so zugeschlagen und ich dachte, er haut mich tot. Als er dann auch auf meine Schwester eindrosch, hatte ich ein paar Sekunden Luft und versuchte instinktiv zum Fenster zu kommen. Ich glaube, ich wäre rausgesprungen, aus dem 11. Stock.

Aber mein Vater packte mich und warf mich auf das Bett zurück. Meine Mutter stand wohl wieder weinend in der Tür, aber ich sah sie gar nicht. Ich sah sie erst, als sie sich zwischen meinen Vater und mich warf. Sie schlug mit Fäusten auf meinen Vater ein.

Er war völlig von Sinnen. Er prügelte meine Mutter auf den Flur. Ich hatte plötzlich mehr Angst um meine Mutter als um mich. Ich ging hinterher. Meine Mutter versuchte ins Badezimmer zu fliehen und die Tür vor ihm zuzumachen. Aber mein Vater hielt sie an den Haaren fest. In der Badewanne war wie an jedem Abend Wäsche eingeweicht. Denn zu einer Waschmaschine hatte es bisher bei uns nicht gereicht. Mein Vater stieß den Kopf meiner Mutter in die volle Badewanne. Irgendwie kam sie wieder frei. Ich weiß nicht, ob mein Vater sie losließ oder ob sie sich selbst befreite.

Mein Vater verschwand leichenblass im Wohnzimmer. Meine Mutter ging zur Garderobe und zog sich den Mantel an. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie aus der Wohnung.

Das war wohl einer der schrecklichsten Momente in meinem Leben, als meine Mutter einfach, ohne ein Wort zu sagen, aus der Wohnung ging und uns alleinließ. Im ersten Moment dachte ich nur, nun kommt er wieder und schlägt weiter. Aber im Wohnzimmer blieb es ruhig bis auf den Fernseher, der lief.

Ich holte meine Schwester zu mir ins Bett. Wir umklammerten uns. Meine Schwester musste pinkeln. Sie traute sich nicht ins Badezimmer und zitterte. Sie traute sich aber auch nicht, ins Bett zu machen, denn darauf stand Prügel. Irgendwann habe ich sie an die Hand genommen und ins Badezimmer gebracht. Mein Vater sagte aus dem Wohnzimmer »Gute Nacht« zu uns.

Am nächsten Morgen weckte uns niemand. Wir gingen nicht zur Schule. Irgendwann vormittags kam meine Mutter zurück. Sie sagte kaum ein Wort. Sie packte ein paar Sachen von uns zusammen, steckte Peter, den Kater, in eine Tasche und sagte mir, ich solle Ajax an die Leine nehmen. Dann sind wir zur U-Bahn. Die nächsten Tage haben wir bei einer Arbeitskollegin meiner Mutter in einer kleinen Wohnung gewohnt. Meine Mutter erklärte uns, dass sie sich scheiden lassen wolle.

Die Wohnung der Arbeitskollegin war zu klein für meine Mutter, meine Schwester, Ajax, Peter und mich. Die Kollegin jedenfalls tat nach ein paar Tagen ganz schön genervt. Da packte meine Mutter wieder die paar Sachen, wir nahmen die Tiere und fuhren zurück zur Gropiusstadt.

Mein Vater kam in die Wohnung, als meine Schwester und ich gerade in der Badewanne saßen. Er ging zu uns in das Badezimmer und sagte in so ganz normalen Ton, so, als wäre überhaupt nichts los: »Warum seid ihr denn weggegangen? Ihr habt es doch wirklich nicht nötig, bei fremden Leuten zu schlafen. Wir drei hätten es uns schon schön gemacht.« Meine Schwester und ich sahen uns nur blöd an. Mein Vater tat an dem Abend so, als ob er meine Mutter gar nicht sähe. Dann guckte er auch an uns vorbei, als wären wir gar nicht da. Und er sagte auch kein Wort mehr zu uns. Das war irgendwie schlimmer als die Schläge.

Mein Vater schlug mich nie wieder. Aber dass er jetzt so tat, als gehöre er gar nicht mehr zu uns, war schrecklich. Jetzt spürte ich erst richtig, dass er mein Vater war. Ich hatte ihn ja nie gehasst, sondern nur Angst vor ihm gehabt. Ich war auch immer stolz auf ihn gewesen. Weil er tierlieb war, und weil er ein so starkes Auto hatte, seinen 62er Porsche. Nun war er irgendwie nicht mehr unser Vater, obwohl er noch mit uns in der kleinen Wohnung wohnte. Dann passierte noch etwas sehr Schlimmes: Ajax, meine Dogge, bekam einen Bauchhöhlendurchbruch und starb. Es war niemand da, der mich tröstete. Meine Mutter war ganz mit sich und der Scheidung beschäftigt. Sie weinte viel und lachte überhaupt nicht mehr. Ich fühlte mich sehr einsam.

Als es eines Abends klingelte und ich die Tür aufmachte, war es Klaus, ein Freund meines Vaters. Klaus wollte meinen Vater zu einer Kneiptour abholen. Aber der war schon los.

Meine Mutter bat den Typen rein. Er war viel jünger als mein Vater. So Anfang zwanzig. Und dieser Klaus fragte dann meine Mutter plötzlich, ob sie nicht mit ihm essen gehen wolle. Meine Mutter sagte sofort: »Ja, warum nicht.« Sie zog sich um, ging mit dem Mann los und ließ uns allein.

Andere Kinder wären vielleicht sauer gewesen, hätten Angst um ihre Mutter gehabt. Ich hatte wohl für einen Moment auch solche Gefühle. Aber dann freute ich mich ehrlich für meine Mutter. Sie hatte richtig fröhlich ausgesehen, als sie gegangen war, auch wenn sie das nicht so gezeigt hatte. Meine Schwester fühlte ähnlich wie ich und sagte: »Mutti hat sich richtig gefreut.«

Klaus kam nun öfter vorbei, wenn mein Vater nicht da war. Es war ein Sonntag, das weiß ich noch genau, da schickte mich meine Mutter die Mülleimer runterbringen. Als ich wieder raufkam, war ich ganz leise. Vielleicht war ich absichtlich sehr leise. Als ich in das Wohnzimmer guckte, da sah ich, dass dieser Klaus meine Mutter küsste.

Mir war ganz komisch. Ich schlich in mein Zimmer. Die beiden hatten mich nicht gesehen. Und ich sprach mit niemandem darüber, was ich gesehen hatte. Auch mit meiner Schwester nicht, vor der ich sonst kein Geheimnis hatte.

Der Mann, der jetzt immer kam, wurde mir unheimlich. Aber er war nett zu uns. Er war vor allem sehr nett zu meiner Mutter. Sie lachte wieder und weinte überhaupt nicht mehr. Sie fing auch wieder an zu träumen. Sie redete von dem Zimmer, das meine Schwester und ich bekommen sollten, wenn wir mit Klaus in eine neue Wohnung ziehen würden. Aber noch hatten wir die Wohnung nicht. Und mein Vater zog bei uns nicht aus. Auch nicht, als die beiden endlich geschieden waren. Meine Eltern schliefen im Ehebett und hassten sich. Und wir hatten immer noch kein Geld.

Und als wir endlich eine Wohnung hatten, eine U-Bahnstation weiter, in Rudow, da lief auch nicht alles so ideal. Klaus war nun fast immer da und er war irgendwie im Weg. Er war eigentlich noch immer nett. Aber er war einfach zwischen meiner Mutter und mir. Ich akzeptierte ihn innerlich nicht. Ich wollte mir von diesem Mann, der Anfang zwanzig war, nichts sagen lassen. Ich reagierte immer aggressiver auf ihn.

Wir bekamen dann auch Krach miteinander. Wegen Kleinigkeiten. Ich provozierte manchmal diesen Krach. Meistens ging es ums Plattenspielen. Meine Mutter hatte mir zum 11. Geburtstag einen Plattenspieler, so eine kleine Funzel, gekauft und ich hatte ein paar Platten, Disco-Sound, Teenie-Musik. Und abends legte ich mir dann eine Scheibe auf und drehte die Funzel so weit auf, dass es zum Ohrenzerreißen war. Eines Abends kam Klaus in das Kinderzimmer und sagte, ich solle den Plattenspieler leiser stellen. Ich tat das nicht. Er kam wieder und riss den Arm von der Platte. Ich legte ihn wieder auf und stellte mich so vor den Plattenspieler, dass er nicht drankam. Da fasste er mich an und schubste mich weg. Als dieser Mann mich anfasste, flippte ich aus.

Wenn wir diese Kräche hatten, stellte sich meine Mutter meistens vorsichtig auf meine Seite. Das war auch wieder blöd, denn dann wuchs sich das zu einem Streit zwischen Klaus und meiner Mutter aus und ich fühlte mich irgendwie schuldig. Es war jemand zu viel in der Wohnung.