8,99 €
Der Killer wird gestalkt. Oder ist es umgekehrt? Das Leben von Clementine Starke spielt sich fast nur online ab. Reale soziale Kontakte fallen ihr schwer. Auf einer Social-Media- Seite namens ›True Crime London‹ lässt sie sich in die Suche nach einem Serienmörder hineinziehen. Um an Informationen über den Fall zu gelangen, geht sie immer größere Risiken ein, verschafft sich Zugang zu einem versiegelten Tatort, hackt die Polizeicomputer, überwacht den Leiter der Ermittlungen, Dominic Bell. Was sie dabei über das Schicksal der Opfer erfährt, geht ihr zunehmend unter die Haut. Was sie nicht ahnt: Der Killer hat sie längst im Visier – er ist ihr näher, als sie glaubt. Killer hat sie längst im Visier – er ist ihr näher, als sie glaubt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 507
Veröffentlichungsjahr: 2018
Stephanie Marland
Wir sehen dich
Thriller
Deutsch von Christine Blum
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Grammy,
die mich ermutigte, immer tapfer zu sein,
und mich ihren Namen klauen ließ!
Wichtiger Hinweis:
Das Lektorat dieses Textes ist noch nicht abgeschlossen.
Wir bitten evtl. Fehler und Ungenauigkeiten zu entschuldigen.
Noch immer spürt Kate seine Berührung auf der Haut. Dabei hat er nur ihre Hand gehalten. Nein, nicht einmal das – er hat ein paar Sekunden lang seine Hand auf ihre gelegt. Nicht der Rede wert. Nur zum Trost, weil sie so durcheinander war, redet sie sich ein. Vor ein paar Tagen kam er in den Pausenraum, als sie gerade ein Gespräch mit Mart wegklickte; sie hatten sich wieder gestritten. Er sah, dass sie geweint hatte, und nahm ihre Hand. Eine ganz normale Geste unter Kollegen; nein, Freunden.
Seither hat sie oft an diesen Moment, an ihren Moment, gedacht. Es hatte sich aufregend angefühlt. Sie weiß gar nicht mehr, wann sie zuletzt eine solche Aufregung empfunden hat. Sie mochte dieses Gefühl. Ein Teil von ihr wünscht sich, so etwas wieder zu empfinden.
Sie weigert sich, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben.
Sie ist jetzt fast zu Hause. Aus Gewohnheit schaut sie zum ersten Stock hinauf, ohne etwas anderes als Dunkelheit zu erwarten. Aber durch die Vorhänge dringt ein schwacher Lichtschein – da brennt eine Lampe. Sie runzelt die Stirn. Mart arbeitet doch heute, oder? Sie könnte schwören, dass er gesagt hat, er habe das späte Set im Club. War nicht das der Grund, warum er abwinkte, als sie sich dafür entschuldigen wollte, dass sie die Spätschicht überziehen würde? Hat er nicht gemeint, es sei ihm egal?
Sie stellt die beiden Jutetaschen mit den Einkäufen auf der Vortreppe ab und kramt in ihrer Jacke nach den Schlüsseln. Ihre Hände sind taub vor Kälte, sie braucht mehrere Versuche, um sie herauszuziehen. Handschuhe kaufen, fügt sie ihrer inneren To-do-List hinzu. Zu Hause hatten alle behauptet, mitten in London würde es nie richtig kalt. Jetzt, mitten in diesem dunklen, regnerischen November, weiß Kate, dass sie keine Ahnung haben.
Sie schließt auf, hebt die Taschen wieder an und schiebt mit der Schulter die Tür auf. Während diese sich hinter ihr schließt, schaltet sich automatisch das Licht im Treppenhaus ein. Sie blinzelt in die Helligkeit, die von den kirschroten Wänden reflektiert wird, und drückt sich an dem Fahrrad des Nachbarn aus dem zweiten Stock vorbei zur Treppe. Dabei wirft sie einen Blick auf die Poststapel auf dem schäbigen Beistelltisch und entdeckt einen für Mart und sich.
»Mist noch mal«, murmelt sie. »Muss ich denn alles machen?«
Sie blättert die Briefe durch: zwei Rechnungen, eine Werbung und etwas, was wie ein Kreditkartenbescheid für Mart aussieht. Auf dem Umschlag prangt in knallroten Lettern der Stempel Letzte Mahnung. Sie seufzt. Schüttelt den Kopf. Was Geld angeht, ist er hoffnungslos.
Sie klemmt sich die Post unter den Arm, nimmt die Taschen und stapft zur Treppe. Dabei überlegt sie, wieviel sie gerade auf ihren Konten hat – dem einen, von dem er weiß, und den beiden anderen.
Egal was ihre Mum über Mart sagt, dass er ein nichtsnutziger Schmarotzer sei und sie etwas Besseres verdient hätte – Kate hat ihm bisher jedes Mal aus der Patsche geholfen. Sie weiß, er glaubt, sie würde es wieder tun. Aber das würde bedeuten, dass sie sich den Urlaub in Dubai, auf den sie gespart hat, nicht leisten könnte. Der Gedanke, den ganzen Winter im kalten, feuchten London verbringen zu müssen, macht sie noch wütender. Die Taschen fühlen sich schwerer an, ihre Beine auch. Sie überlegt, ob noch Wein im Kühlschrank steht, und hat die schreckliche Ahnung, dass die Antwort nein ist.
Scheiß drauf. Diesmal wird sie sich nicht für ihn opfern. Sie fährt mit Eva nach Dubai.
Vor der Wohnungstür stellt sie die Einkäufe ein letztes Mal ab und schließt auf. Mit dem Fuß schiebt sie die Taschen hinein. »Hey, Mart, ich bin da«, ruft sie, während sie die Tür hinter sich zuzieht.
Keine Antwort.
Na toll, denkt sie und hebt die Taschen auf. Nicht mal helfen kannst du mir. Seit sie zusammengezogen sind, behandelt er sie eher wie seine Mutter oder Haushälterin als als Freundin. Anfangs hatten sie die Hausarbeit gerecht unter sich aufgeteilt: Er putzte und kaufte ein, sie kochte und bügelte. Jetzt ist er ständig zu sehr mit seiner Musik beschäftigt, was auch bedeutet, dass er das, was sie macht, für weniger wichtig hält. Dass er sie für weniger wichtig hält.
Kate stößt die Tür zum Wohnzimmer auf. Tritt ein und bleibt stehen.
Die Lampe in der Ecke brennt. Das sanfte Licht erzeugt eine schummrige Atmosphäre. Auf dem verglasten Couchtisch stehen zwei Gläser Rotwein. Aus Marts High-End-Lautsprechern tönt leise Musik, irgendwas aus den Achtzigern, von dem sie sich vage erinnert, dass ihr Dad es gut findet. Nicht Marts üblicher Geschmack, aber vielleicht versucht er retro und romantisch zu sein. Es ist eine Weile her, seit er sich solche Mühe gegeben hat; die süßen Liebesbriefe und Überraschungsgeschenke ihrer Anfangszeit sind längst passé.
»Mart?«, sagt sie.
Nichts.
Sie lässt die Taschen sinken und geht noch ein paar Schritte in den Raum hinein. Lauscht konzentriert, hört aber nichts. »Mart, wo bist du?«
Immer noch nichts.
Kate tritt an den Couchtisch, nimmt eines der Gläser. Trinkt einen Schluck Wein. Er ist lecker, kein billiger. Den kann sie nach der Doppelschicht gut gebrauchen. Und um die Hand über ihrer zu vergessen und sich darin zu bestärken, dass sie kein schlechtes Gewissen haben muss – kein noch schlechteres. Sie nimmt einen zweiten Schluck und lässt den Blick durchs Zimmer wandern. Da bemerkt sie die roten Tupfer auf dem Teppich vor der Schlafzimmertür. Die Tür steht leicht offen, durch den Spalt scheint schwaches Licht.
Als sie näher herangeht, erkennt sie, was die Tupfer sind. Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Schlechtes Gewissen schnürt ihr das Herz zusammen. Was für eine große, unerwartete Geste.
Staunend betrachtet Kate die Rosenblätter und fragt sie sich, was in Mart gefahren ist. Egal was es war, es wurde höchste Zeit. Sie hatte geglaubt, die Beziehung sei so gut wie am Ende, aber wenn er sich solche Mühe gibt, haben sie vielleicht doch noch eine Chance.
»Mart?«, fragt sie, ihre Stimme klingt weich, kokett.
Die Schlafzimmertür öffnet sich ein Stück.
Kate schnappt nach Luft. Die cremefarbene Bettdecke ist voller Rosenblätter. Um das schmiedeeiserne Bettgestell herum brennen Kerzen. »Mart, das ist wunderschön.«
Ohne den Blick abwenden zu können, tritt sie in den Türrahmen. Erinnert sich an die guten alten Zeiten: das gemeinsame Baden bei Kerzenlicht, das stundenlange Quatschen über alles und nichts. Mart ist der Richtige. Das hier ist der Beweis. Sie fragt sich, ob er vorhat, ihr einen Antrag zu machen.
Mit einem Schritt in den Raum hinein sagt sie: »Das ist atemberaubend. Woher hast du –«
Das Licht erlischt. Abgesehen von den Kerzen steht sie im Dunkeln.
Rechts von ihr knallt die Tür zu. Sie zuckt zusammen.
Hinter sich spürt sie Bewegung. Atmet einen Cocktail unvertrauter Gerüche ein: Zitrone, Vanille. Noch etwas, was sie nicht einordnen kann. »Mart?«
Er sagt nichts, aber er berührt sie: ein sanftes Streicheln von der Schläfe über die Wange zum Mund hin. Sie will sich zu ihm umdrehen. »Ich …«
Seine Hand legt sich ihr über Lippen und Nase und zerrt sie zurück. Sie stemmt sich gegen ihn, schlägt um sich, versucht sich loszureißen.
Vergebens.
Sie verliert das Gleichgewicht.
Wankt.
Ein zweiter Arm schlingt sich ihr um ihre Arme, ihre Taille. Fesselt sie rückwärts an einen Körper, einen Brustkorb. Schnürt sie ein. Sie wehrt sich noch heftiger. Versucht unter der erstickenden Hand zu schreien. Die Schreie werden von der Handfläche geschluckt.
Sein Griff um ihr Gesicht wird härter, gräbt sich in ihre Wange, zwingt ihren Kopf nach links. Etwas sticht sie neben dem Ohr in den Hals. Sie keucht auf.
Das Zimmer scheint zu schwanken, das Kerzenlicht tanzt, das Creme der Bettdecke und das Rot der Rosenblätter werden zu einem kaleidoskopischen Muster. Ihr Denken verlangsamt sich auf Schneckentempo. Bleierne Trägheit senkt sich über ihre Glieder. Ihre Augenlider werden schwer.
Der Druck um ihren Mund verschwindet. Hände legen sich auf ihre Schultern, drehen sie um.
Schwindel. Übelkeit. Angst.
Sein Gesicht ist verschwommen, vom flackernden Kerzenlicht verzerrt.
Er hebt die Hand. Streicht ihr über die Wange. »Schlaf, Geliebte.«
Sie versucht den Kopf zu schütteln. Versucht zu sprechen, seinen Namen zu sagen, ihn zu fragen, warum. Ihm zu sagen, dass er ihr bitte nicht noch mehr wehtun soll. Dass sie tun wird, was immer er will.
Ehe ihre Lippen die Worte formen können, wird sie von Finsternis verschluckt.
Es heißt, ich sei dreitausendundsechs Sekunden lang tot gewesen. Es heißt, nach dem Aufwachen sei ich anders gewesen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Was ich weiß, ist: Nachdem all diese kostbaren Sekunden verstrichen waren, war meine Welt eine andere. Die Leute – vor allem Mutter – schienen mit doppelter Geschwindigkeit um mich herumzuwirbeln und zu reden, ständig zu reden, während ich auf Zeitlupe geschaltet war, unfähig, den Nebel der Schläfrigkeit in meinem Gehirn zu durchdringen, egal wie sehr ich es versuchte.
Es hieß, ich würde mich wieder erholen, alles würde gut werden. Dass ich nur etwas Zeit bräuchte. Aber selbst damals, durch den verwirrenden Nebel aus Medikamenten und Schmerz hindurch, wusste ich, dass sie logen.
Das Problem war die Wirklichkeit. Die Tatsachen, die sich nicht unter Verbänden verstecken ließen. In mir geisterte ein Wort herum, ein einziges gehauchtes Wort, und ich wusste, es stimmte .
Mörderin.
Zuerst redeten die Ärzte sich heraus: Ich hätte ein schweres Trauma erlitten, ich bräuchte Zeit, um den Schock zu verarbeiten. Sie erwähnten die Panik, die ich gehabt haben musste, das Grauen, als die Flammen mich umschlossen, das Entsetzen, als ich zusehen musste, wie das Leben ihn verließ.
Ich erinnere mich an nichts davon. Ich weiß nur noch, was ich brüllte; welcher Zorn mir im Mund brannte, als ich ihm entgegenschleuderte: »Ich hasse dich«. Der Zorn, der in mir aufwallte, bis ich ihn nicht mehr beherrschen konnte – bis er mich beherrschte.
Seit jenem Augenblick habe ich gar nichts mehr gefühlt.
Während aus den Sekunden Minuten wurden, die Minuten sich zu Tagen zusammenreihten und die Tage zu Monaten, gewöhnte ich mich an das Nichts. Wie die Hauttransplantationen wurde es Teil von mir. Manchmal frage ich mich, ob ich mich damals wirklich verändert habe, aber ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht war ich schon immer so.
Etwas jedoch, was ich definitiv mit jener Nacht in Verbindung bringe, ist meine Faszination für das Was-wäre-wenn. Was, wenn ich an jenem Tag in die Schule gegangen wäre? Was, wenn Vater nicht so wütend geworden wäre? Was, wenn ich ihn nicht umgebracht hätte?
Davor hatte ich im Jetzt gelebt. Seither verharre ich in der Möglichkeit einer Zukunft, verstecke mich hinter Theorien und Hypothesen, ohne je zu handeln. Ohne mich je lebendig zu fühlen.
Ich will mich verändern.
Ich glaube, ich weiß, wie.
Denn ich beobachte sie jetzt schon eine ganze Weile.
Das schrille, monotone Piepen seines Handys reißt Dom aus dem Schlaf. Er tastet auf dem Boden vor dem Bett herum, ungeschickt, noch nicht ganz wach. Das Klingeln verstummt, ehe er annehmen kann.
Es ist viel zu früh, verdammt, draußen ist es noch dunkel. Ächzend, mit schmerzendem Rücken, wälzt er sich herum, tastet nach Therese. Er ist dreiundvierzig, aber verdammt, fühlt er sich alt. Ihre Seite des Bettes ist kalt, und da fällt es ihm wieder ein. Es ist fast zwei Monate her, seit sie zum letzten Mal hier geschlafen hat.
Von dem zweistündigen Fitnesstraining gestern Abend tut ihm alles weh. Er hätte noch weitergemacht, aber um halb elf wurden alle Kunden aus dem Studio geworfen, er konnte niemanden aus dem Team überreden, länger zu bleiben. Er hat zum Abschluss keine Dehnübungen gemacht. Und zu wenig getrunken. Er wusste von vornherein, dass sich das rächen würde, und so ist es: sein Kopf pocht.
Nicht, dass die körperliche Anstrengung ihm geholfen hätte, Schlaf zu finden. Also hat er sich wieder in die Morde vertieft, die er momentan bearbeitet, hat über der Fallakte gebrütet, die er nicht hätte mit nach Hause nehmen sollen. Zwei junge Frauen: Jenna Malik vor vier Wochen, Zara Bretton vor sechs Tagen. Noch immer hat er keine Verbindung zwischen ihnen gefunden außer der Art, wie sie getötet wurden, und dem Entsetzen ihrer Angehörigen, als er es ihnen sagen musste. Auch nach neunzehn Jahren im Job ist das nicht leichter geworden. Die Erinnerung daran, wie fassungslos sie waren, ruft ihm immer wieder ins Bewusstsein, dass Jenna und Zara echte Menschen waren, mit einem echten Leben, und dass ihr Tod Auswirkungen auf andere hat. Diese verheerenden Wellen, die ein Mord schlägt. All das vergrößert nur seine Angst. Ein solcher Mörder mordet weiter, solange er nicht aufgehalten wird. Solange Dom ihn nicht aufhält. Er will nicht, dass das auf seinem Gewissen lastet. Da lastet schon genug.
Danach hat er versucht zu schlafen, aber um drei lag er immer noch wach. In Gedanken bei ihr. Wie immer. Genau wie jede Nacht seit dem Desaster konnte er nicht anders, als wieder und wieder ihren Streit durchzugehen. Wie bitter er es vermasselt hatte. Er wollte sie doch niemals verletzen.
Das Handy in seiner Hand beginnt wieder zu klingeln.
»Bell?«
»Chef?« Abbotts leicht näselnde Stimme. »Wir haben noch eine.«
Shit. So viel zu meinem freien Tag. Es ist, als werfe sich sein Gehirn gegen seinen Schädel. Dom reibt sich die Stirn in der Hoffnung, dass der Druck dadurch etwas schwächer wird. Wird er nicht. »Was wissen wir?«
»Sie wurde zu Hause gefunden, von ihrem Freund. Zuerst hat er sie nicht erkannt, weil sie so anders aussah – gefärbte Haare und so weiter. Als die erste Streife den Tatort sah, zogen sie gleich die Verbindung zu unserem Fall und informierten uns.«
»Also sieht es nach unserem Mann aus?«
»Jackson sagt ja. Er hat grünes Licht gegeben, Sie anzurufen.«
Dom runzelt die Stirn. Sicher, bisher leitet ermittelt er die Ermittlungen, aber er hätte gedacht, DCI Paul Jackson würde die Chance ergreifen, den Fall an jemand anderen zu übergeben. Nicht nur, weil er den Killer noch nicht gefunden hat, sondern auch, weil wegen der Razzia vor einem Monat, die so katastrophal schief gelaufen war, nun die staatliche Untersuchungskommission für polizeiliches Fehlverhalten IPCC die interne Untersuchung von den Professional Standards übernommen hat. Dom staunt, dass er nicht längst zum Schreibtischtäter degradiert wurde.
Er klemmt sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und schlüpft in seine Hose. »Okay. Wo?«
»In der Nähe von Angel. Ich schicke Ihnen die Adresse.«
»Gut.« Er steht auf, humpelt zum Schrank, um sich ein frisches Hemd zu holen. Seine Beine sind bleiern und träge.
»Es heißt, es sind schon Gaffer da.« Abbott klingt angespannt. »Die Medien kommen sicher auch bald.«
»Ich beeile mich.«
»Lassen Sie sich nicht von den Ratten erwischen. Die stehen wieder an der Fulham Palace Road, die Mistkerle.«
»Mistkerle«, wiederholt Dom. Die Verkehrspolizei ist der letzte Abschaum, das ist allgemein bekannt. Mit dem Auto braucht er womöglich eine Stunde bis Angel – wenn er Pech hat, länger. »Ich nehme die Tube. Bin in einer halben Stunde da.«
Er legt auf. Die Uhr seines Handys zeigt 5:56 an, aber er registriert es kaum. Sein Blick klebt am Hintergrundfoto. Therese lächelt ihn an. Sie liegt in ihrem Bett, das lange blonde Haar über das Kissen drapiert. Ihr Blick ist kokett, verführerisch. Sie ist braungebrannt und strotzt vor Gesundheit. Ein ganz anderer Mensch als beim letzten Mal, als er sie sah. Vor vier Tagen war sie blass. Hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr Haar war strähnig, die Wurzeln dunkel, was gegen das Weiß des Verbands stärker auffiel als sonst. Darunter die Wunde. Seine Schuld.
Er schiebt die Gedanken an Therese beiseite. Er hat einen Fall zu lösen. Klickt sie weg, schaut zu, wie ihr Gesicht in Schwarz übergeht, dann greift er nach einem Paar Schuhe, zieht die schwarze Jeansjacke über und hastet zur Wohnungstür.
Auf der Fußmatte davor liegt ausgestreckt eine kleine schwarze Katze und schläft.
Dom öffnet die Tür einen Spalt. Schaut die Katze an. »Tut mir leid, du musst dich bewegen.«
Die Katze öffnet ein Auge, ohne sich zu rühren.
»Komm schon, BC.«
Die Katze schaut ihn missbilligend an und schließt das Auge wieder.
Kopfschüttelnd schiebt Dom die Tür langsam weiter auf, bis der Druck die Katze zum Aufstehen zwingt. Er ignoriert ihren grimmigen Blick.
Draußen in der frischen Morgenluft pocht sein Kopf noch stärker. Eine Migräne an einem Tatort ist kein Vergnügen, das weiß er aus Erfahrung. Er zieht ein Briefchen Schmerztabletten aus der Tasche und schluckt ein paar.
Das Handy piept. Abbotts versprochene Nachricht. Dom liest die Adresse und marschiert zur U-Bahn. Mit jedem Schritt durchpulst ihn schlechtes Gewissen.
Nicht noch eine Leiche.
Heute Morgen wurde es spannend.
Ich bin einen Kaffee und zwei Zigaretten weit in meinem Tag, als die Nachricht auf Twitter auftaucht. Es ist 5:42. Das Licht der Straßenlampen gibt den Blick auf das Chaos aus Säcken und Tonnen in der St. John Street an einem Müllabfuhrtag frei, nicht aber das zunehmende Ausmaß an Dreck. .
Von meinem Dachzimmer im vierten Stock aus spähe ich auf die Fleischlieferwagen hinab, die zum Smithfield Market rumpeln, dann wende ich mich wieder meinem Laptop zu und lese den Tweet ein zweites Mal.
@DeathStalker Der Lover hat wieder zugeschlagen. Frauenleiche nahe Angel gefunden. Bullen schon vor Ort.
Mit einem langen Zug an meiner Zigarette beobachte ich, wie sich die Antworten häufen: neun, dreizehn, einundzwanzig. True-Crime-Fans schlafen nie. Sie lauern permanent auf einen neuen Fall, eine neue Leiche, den nächsten Adrenalinschub. Fast alle sind Fantasten. Fast alle – aber ich glaube, nicht alle.
Ich drücke die Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus und klicke CrimeStop an, ein auf True-Crime-Fans spezialisiertes soziales Netzwerk. Die Homepage lädt hoch. Ihr Logo, ein blutbespritztes Mikroskop, ist mir so vertraut wie die Leute, die sich in diesem virtuellen Raum herumtreiben.
Das Icon in der Ecke des Bildschirms zeigt dreiundzwanzig Nachrichten an. Ich klicke darauf.
Nachricht von Death Stalker in True Crime London
Kommentare von Mysteries Solved, Blood City und zwanzig weitere
Ich klicke auf die erste Nachricht und gelange so in den privaten Bereich für die in London lebenden Fans von Verbrechen. Ganz oben erscheint Death Stalkers Post:
Eilmeldung: Hat der Lover zum dritten Mal zugeschlagen?
Meine Insiderquelle sagt, die Frau war völlig unkenntlich. Um die Leiche herum waren Rosenblätter verstreut. Hat der Lover von London wieder zugeschlagen? Bilder folgen.
Es sind drei Fotos. Die Qualität ist nicht übermäßig, aber sie sind mit Geotag versehen. Das erste zeigt die Fassade eines Stadthauses aus rotem Backstein, im Erdgeschoss befindet sich ein Takeaway, darüber Wohnungen. Der Bürgersteig davor ist mit Polizeiband abgesperrt.
Auch die beiden anderen sind Außenansichten. Eine vom Hauseingang: drei Steinstufen, dahinter eine schwarze Tür, über dem Messingtürknauf die Hausnummer 43. Das letzte Foto zeigt ein Fenster im ersten Stock. Ich vergrößere es durch Doppelklick, aber Gardinen verhindern jeden Blick ins Innere. Bildunterschriften gibt es keine, aber das ist egal, es ist klar, was die Fotos zeigen. Death Stalker, der inoffizielle Anführer der Londoner True-Crime-Gruppe, ist am Tatort.
Ich lese die Nachricht noch einmal und frage mich, was für eine Insiderquelle er hat. Und dann, mit einem Blick auf das Avatarfoto neben seinem Nickname – der Umriss eines Gesichts, zu dunkel, um Gesichtszüge oder selbst das Geschlecht zu erkennen – wer er oder sie ist. Jung oder alt? Männlich oder weiblich? Online kann man sein, wer man will.
Ich klicke zurück zum ersten Foto, zoome hinein, betrachte eingehend das Fenster des Takeaway, in dem sich die Umgebung spiegelt. Hinter dem grellen Fotoblitz ist schwach die Silhouette einer Person sichtbar. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Das Foto ist zu dunkel, um Einzelheiten auszumachen, aber zwei Dinge kann ich erkennen: erstens, der Fotograf trägt ein Hoodie, und zweitens, es ist ein Mann.
Ich sehe dich.
Über den Karton vom Thailänder von gestern hinweg greife ich nach meinem Notizbuch, notiere mir den Wortlaut von Death Stalkers Post und was an den Fotos interessant war. Neben die dürftige Beschreibung der Person, die sich in dem Schaufenster gespiegelt hat, schreibe ich: hat sein Geschlecht zu erkennen gegeben – aus Versehen oder absichtlich?
Sollte es ein Fehler sein, dann ist es der erste, den er begeht, seit ich ihn beobachte, und das tue ich schon lange. Vor neunzehn Monaten habe ich angefangen, Daten für meine Doktorarbeit zu erheben. Damals war CrimeStop nur eine von vielen Webadressen auf meiner Liste, und True-Crime-Fans waren lediglich Menschen, anhand derer ich meine Hypothese prüfen wollte: dass es, egal was im Internet spekuliert wurde, niemals möglich sein würde, Verbrechen durch Crowdsourcing aufzuklären.
Durch True Crime London geriet meine Überzeugung ins Wanken. Oder genauer: durch Death Stalker. Er weiß Dinge, die der Öffentlichkeit eigentlich unbekannt sein sollten, hat durch ermittlungsnahe Kontakte Zugriff auf geschützte Daten. Er verfügt über polizeiliche Kenntnisse zu den Fällen, steckt aber nicht in deren bürokratischen und ethischen Fesseln. Das eröffnet ihm und jedem, der sich ihm anschließt, die Chance, einen Fall schneller zu lösen als die Polizei.
Seither hat sich eine neue Frage in meinen Geist eingenistet: Könnte diese lose Gemeinschaft von True-Crime-Fans einen laufenden Mordfall lösen?
Ich glaube, das Potenzial hat sie – und einige von ihnen scheinen das ebenfalls zu glauben. Während der Zeit, in der ich sie beobachte, haben schon mehrere Mitglieder durchblicken lassen, dass sie sich gern mal ein aktuelles Verbrechen vornehmen würden. Jedes Mal, wenn in den Medien ein Vorfall von Inkompetenz oder Korruption bei der Polizei bekannt wird, kocht diese Debatte wieder hoch. Mit jedem Mord des Lovers wurde sie ernsthafter.
Death Stalkers Nachricht bekommt mehr und mehr Likes. Das Interesse steigt. Ich kopiere das Geotag in Google Maps. Es zeigt mir eine Seitenstraße im hinteren Bereich der Islington High Street. Der Lover wird kühner – hier ist es gewagt zu morden, zu jeder Tages- und Nachtzeit herrscht reger Fußgänger- und Autoverkehr.
In den vergangenen vier Wochen gab es schon zwei solcher Morde, einen in Camden, einen in Crouch End. Zwei Frauen, beide wurden in ihren Betten gefunden, bei gedämpftem Licht und brennenden Kerzen, um ihre nackten Leichen verstreute Rosenblätter. Jetzt, sechs Tage nach dem letzten Mord, scheint sich ein dritter ereignet zu haben. Die Mordfrequenz steigt.
Oben auf dem Bildschirm erscheint mit einem Ping eine Benachrichtigung:
Nachricht von Death Stalker in True Crime London
Frage: Können wir den Mörder finden, bevor es ein weiteres Opfer gibt? Bei den Behörden wird heftiger gespart denn je. Das Polizeibudget geht gegen Null. Die Met kann diesen Lover-Serienkiller nicht kriegen, denen fehlen einfach die Ressourcen. Wird Zeit, dass wir auf den Plan treten. Wer macht mit?
Unter der Frage schießen die Kommentare auf.
Bloodhound Einverstanden! Die Regierung hat doch keinen Plan, wie sie das mit der Polizei regeln soll. Liegt m.E. am Brexit. Da muss was getan werden. Vielleicht kann unsere Aktion den Typen in Whitehall ja klar machen, wie schlimm es steht. Ich bin dabei.
CrimeQueen Geile Idee @DeathStalker – von mir aus sofort! @Witness_Zero will vllt auch mitmachen, ich weiß, dass er den Fall verfolgt.
Justice League Ist das schon ein Serienkiller? Müssen es dafür nicht vier Morde sein?
Robert »chainsaw« Jameson @JusticeLeague Nein, von Serienkillern redet man ab 3 Morden mit einem zeitlichem Abstand dazwischen, ergo ist der Lover einer.
Justice League @Robert»chainsaw«Jameson Ich nehme alles zurück. @DeathStalker Sieht für mich auch so aus, als würde die Met nicht genug Ressourcen in den Fall stecken. Der Kerl muss gestoppt werden, das wird ja immer verheerender. Ich bin bereit zu helfen.
Robert »chainsaw« Jameson Scheißgeschichte. Ich bin natürlich dabei, @DeathStalker
Witness_ZeroOK, bin dabei
Ghost Avenger Echt bitter, dass die Met nicht mehr Leute auf den Fall ansetzen kann. Die Morde sind so charakteristisch! Warum finden sie keine Spur? So ganz passt mir’s nicht, voll auf Herr der Fliegen zu machen, aber ich seh auch keinen anderen Weg. Der Kerl darf nicht noch einen Mord begehen. Ich schließe mich an.
DeathStalker Nach meiner Zählung sind wir jetzt sieben, die bereit sind, selbst zu ermitteln. Ich würde das Team gern auf acht begrenzen. Einen Platz gibt’s also noch – hier ist der letzte Aufruf zum Mitmachen. Jemand Interesse?
Ich werfe einen Blick aus meinem verdreckten Fenster, sehe die Sonne über die Dächer der Häuserzeile gegenüber blitzen. Bald wird der Rest von London aufwachen. Zum Frühstück wird die Story bei allen Mainstreammedien in den Schlagzeilen sein. Wenn ich mitmachen will, muss ich mich jetzt entscheiden.
DeathStalker hat dich in eine private Gruppe eingeladen: Fallakte: Der Lover
Um die Einladung anzunehmen, klicke hier
Das ist Wahnsinn. Ich forsche nur über diese Dinge, ich gehöre nicht dazu. Ich studiere Psychologie und Mensch-Computer-Interaktion. In meiner Doktorarbeit ergründe ich das Verhältnis zwischen theoretischen Konzepten von Eigenidentität und wie Individuen ihre Identität online gestalten, aufrechterhalten und anpassen.
Ehrlich ist im Netz niemand. Sei es, dass sie nur ihr Avatarfoto aufhübschen oder künstlich verschlanken, oder dass sie sich witzig und sorglos geben, um über ihre innere Traurigkeit hinwegzutäuschen. Oder sie verstecken ihre Schwäche hinter Hass und Verachtung, sprühen Gift, um von ihren Unzulänglichkeiten abzulenken. Mich fasziniert, warum und wie da geschummelt wird und wie das ihre Beziehungen untereinander beeinflusst. Aber die Mitglieder von True Crime London faszinieren mich aus einem weiteren Grund: weil sie sich mit den Lügen und Verfehlungen der Polizei beschäftigen, mit dem von Korruption durchsetzten System, dem es zu verdanken ist, dass Mörder frei herumlaufen. An diesen Lügen habe ich berechtigtes Interesse.
Als ich den Klick ausführe, um die Einladung anzunehmen, überläuft mich ein Kribbeln. Ich werde auf eine neue Seite weitergeleitet. Anders als die True-Crime-Hauptseiten steht diese nur Death Stalker, Crime Queen, Ghost Avenger, Bloodhound, Justice League, Robert »chainsaw« Jameson, Witness Zero und mir offen.
Nachrichtvon Death Stalker im privaten Chat Fallakte: Der Lover
Einführung: Unser Ziel ist es, den Lover zu entlarven, bevor das der Polizei gelingt. Also, hier sind die Regeln fürs Mitmachen. Ich bin der Teamkapitän. Um teilzunehmen, müsst ihr (a) in London leben (b) aktiv zur Ermittlung beitragen (c) alles, was ihr herausfindet, mit uns teilen (d) erst meine Einwilligung abwarten, bevor ihr Informationen oder einen Verdacht an die Öffentlichkeit bringt – sei es online, der Polizei oder den Medien gegenüber.
Ich lese die Regeln zweimal durch. Sie sind denkbar einfach, aber etwas vermisse ich: Woher wollen sie wissen, dass sie den Killer wirklich identifiziert haben? Endet diese Ermittlung, wenn sie sich einig sind, dass sie zu wissen glauben, wer er ist? Aber das hat keinen Sinn; so ist der Fall noch lange nicht aufgeklärt. Ich will wissen, wie genau ihre Zielsetzung lautet.
Ich klicke das Antwortkästchen an und beginne zu tippen. Neben meinem Online-Namen – The Watcher – erscheint mein Avatar. Es ist eine Nahaufnahme meines linken Auges, das Aquamarin meiner Iris grell gegen die schwarzen Wimpern. Ich klicke auf Senden. Unter Death Stalkers Nachricht erscheint mein Kommentar.
The Watcher @DeathStalker Und was machen wir, wenn wir den Killer identifiziert haben? Informieren wir die Polizei?
Dann warte ich. Eine ganze Weile passiert gar nichts. Schließlich kommen erste Antworten, aber nicht von Death Stalker.
Ghost Avenger Guter Punkt @TheWatcher! Ja, schnellstens informieren, damit der Kerl geschnappt werden kann, oder?
Robert »chainsaw« Jameson Würde ich auch sagen. Wir wollen ihn ja aus dem Verkehr ziehen.
Sie wollen eine Wolfsjagd. Den Mörder in die Enge treiben, um ihren Gerechtigkeitsdrang zu befriedigen. Wenn ich, die Wölfin im Menschenpelz, an ihrem Blutrausch teilnehme, bringe ich mich selbst in Gefahr.
Noch eine Nachricht kommt herein:
DeathStalker @TheWatcher Skeptisch? Sehr gut. Sobald wir den Killer haben, können wir entscheiden, wie genau wir ihn demaskieren. Wenn wir Whitehall zeigen wollen, was für Defizite sie haben, müssen wir die Medien maximal beteiligen. Denkt daran: Es geht hier nicht nur um einen Mörder, sondern darum, dass wieder Ordnung in die Gesellschaft kommt.
Zunächst bin ich verunsichert, weil das meine Frage auch nicht beantwortet. Dann verärgert über seinen herablassenden Ton. Der Ärger gewinnt die Oberhand. Auch wenn Death Stalker von »wir« redet, bisher lässt er keinen Zweifel daran, dass das hier seine Ermittlung ist. Ich könnte wetten, dass er schon genaue Pläne hat, was passieren soll, falls und wenn wir den Killer aufspüren. Aber fürs Erste werde ich mitspielen. Überall steht geschrieben, dass Vertrauen eine der wichtigsten Grundlagen der Gruppenbildung ist. Wenn ich mich füge, hilft das hoffentlich, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Dann kann ich die Richtung der Jagd immer noch beeinflussen.
The Watcher @DeathStalker Natürlich. Danke fürs Klären.
Nachricht von Death Stalker in Fallakte: Der Lover
Damit die Ermittlung Erfolg hat, müssen wir organisiert, konzentriert und schnell vorgehen. Zum Einstieg habe ich ein paar Aufgaben gesammelt. Jeder von uns bekommt eine davon zugeteilt und muss sie innerhalb von 24 Stunden erfüllen und die Ergebnisse hier einstellen, um zu zeigen, dass er es ernst meint. Für die Zuteilung der Aufgaben wäre es hilfreich, wenn ihr die Standortfunktion in eurem Profil aktiviert, damit ich sehen kann, wo ihr euch ungefähr aufhaltet. Bitte tut das jetzt.
Ich stimme ihm zu, dass wir organsiert und schnell vorgehen müssen, aber wenn ich meinen Standort preisgebe, exponiere ich mich. Alle in der Gruppe werden sehen, wo ich wohne.
Nacheinander erscheinen neben den Namen der Mitglieder ihre Standorte. Ich schlinge die Arme um mich, ziehe meinen schäbigen Wollpulli straff. Ich bin allein, aber es fühlt sich an, als starrten alle mich an.
Ich blicke zur Tür. Vier Riegel, ein Bolzenschloss und eine Sicherheitskette trennen mich von der Außenwelt. Das ist überlebenswichtig. Ich habe Angst, die Leute da draußen könnten mir in die Augen sehen und erkennen, wer ich bin – was ich bin.
Seit zwölf Jahren bin ich für die Welt fast unsichtbar. Selbst der Uni habe ich meine richtige Adresse nicht genannt – die kennt nur Professor Wade, mein Doktorvater. In meiner Cyberblase bin ich sicher, hier kann ich andere beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Kann mich hinter meinen eigenen sorgfältigen Lügen verstecken. Und versuchen, die der anderen zu durchschauen.
Aber jetzt verändert sich etwas. Diese kleine Gruppe im True-Crime-London-Forum verführt mich dazu, meine Deckung zu verlassen. Weil sie – genau wie ich – denkt, dass die Polizei bestenfalls ineffektiv und schlimmstenfalls zutiefst korrupt ist. Ihr Vorhaben, den Lover zu finden, passt zu dem, wovon ich seit Langem träume: zu enthüllen, wie es in Wahrheit um die Polizei steht, zu beweisen, dass das System im Innersten zerrüttet ist. Der Welt zu zeigen, dass niemand sich sicher ist.
Ich habe keine Lust mehr, mich zu verstecken. Zwölf Jahre Exil reichen; ich will keine dreizehn daraus machen. Ich wünsche mir, mich wieder im realen Leben unter die Leute mischen zu können, ohne erkannt zu werden. Mich lebendig zu fühlen, zu beweisen, dass ich mehr bin als geschriebene Worte. Ein Leben jenseits meiner Recherchen zu führen, wie Professor Wade es mir so sehr nahelegt.
Wenn ich das hier tue – wenn ich diesem Team helfe, den Lover zu erwischen und der Polizei zuvorzukommen – und es mir gelingt, dabei meine wahre Natur verborgen zu halten, vielleicht werde ich dann endlich mehr fühlen als die Leere, die mich jede Sekunde der letzten zwölf Jahre begleitet hat.
Ein Risiko ist natürlich dabei. Was, wenn sie die Wahrheit herausfinden?
Schließlich jagen sie Wölfe, oder?
Kaum erreicht er den Tatort, fängt es an zu regnen. Das Haus steht an einer Seitenstraße kurz vor Ende der High Street. Die Einsatzleute haben schnelle Arbeit geleistet: schon ist ein großes Stück Straße mit Polizeiband abgesperrt. Innerhalb dieser Absperrung steht eine zweite, die nur einen Chicken Takeaway und die Eingangstür zu den Wohnungen umfasst.
Im Bereich zwischen den Absperrungen erspäht er Abbott, dessen schlaksige Figur in einem übergroßen marineblauen Parka untergeht. Als er Dom bemerkt, hebt er die Hand zu einem etwas ungeschickten Winken.
Den Kopf gegen den Regen gesenkt, eilt Dom über die Straße auf seinen Detective Sergeant zu. Zu beiden Seiten der Absperrung haben sich Gaffer versammelt. Die Presse hat die Seite in Beschlag genommen, die näher am Hauseingang liegt. Dom erkennt den leicht verlottert wirkenden Typen von der Daily Mail und die Kettenraucherin von Sky. Daneben ein Grüppchen älterer Typen, nur einer deutlich jünger, mit Topfschnitt und einer Spiegelreflexkamera in einer wasserdichten Hülle. Bald werden es noch mehr werden. Schon fangen sie an, um Einzelheiten zu betteln. Er hasst das Pack.
Dom duckt sich unter der Absperrung hindurch und tritt zu Abbott. »Ich sehe, wir haben Gesellschaft.«
»Die sind vor etwa zehn Minuten aufgetaucht.«
»Wir sollten’s Jackson sagen.«
»Schon erledigt.«
Dom wirft einen Blick auf die etwa zwanzig Leute, die sich auf der gegenüberliegenden Seite versammelt haben. »Und die da?«
»Keine Presse. Nur Gaffer.«
Dom blickt flüchtig über die Gesichter und beschließt, dass Abbott recht hat. Manche erkennt er: die üblichen Sensationshascher, die mal wieder Blut wittern und hoffen, ein Foto von der Leiche auf Instagram posten zu können. Eine Frau ganz hinten umklammert einen Pappbecher. Er hätte sich auch einen Kaffee holen sollen. Aber dazu ist es jetzt zu spät. »Wo kommen die denn schon her?«
Abbott zuckt mit den Schultern. »Heutzutage spricht sich so was in Nullkommanichts rum, Chef.«
Dom richtet den Blick auf das Haus. Vor der schwarzen Eingangstür steht eine Uniformierte. »Waren Sie schon drin?«
Abbott verzieht das Gesicht. »Yep.«
Dom mustert seinen DS. Abbott lässt sich normalerweise nicht aus der Ruhe bringen, aber dieser Fall macht ihn zunehmend reizbar. »Und, ist es unser Mann?«
»Ich denke ja. Kein Anzeichen von gewaltsamem Eindringen.«
»Sie hat ihn reingelassen?«
»Sieht so aus, genau wie bei den anderen. Das Haus besteht aus vier Mietwohnungen; unsere ist im ersten Stock. Der Name ist Kate Adams.«
Dom nickt, dankbar, dass Abbott sich kurz fasst. Er schätzt es, dass sein DS seine Eigenheiten respektiert. Ihm ist am liebsten, so wenig wie möglich über das Opfer zu wissen, bis er den Tatort gesehen hat. Die Einzelheiten kann er später noch hören; zuerst will er sich selbst ein Bild von der Sache machen, das Opfer ganz unvoreingenommen studieren.
Dom späht zu den Reportern hinüber. Schon in den wenigen Minuten, seit er hier ist, sind mehr hinzugekommen. Er weiß, was sie sich denken: dass das hier seine Schuld ist. Wieder eine tote Frau, die noch leben könnte, wenn er den Mistkerl schon erwischt hätte.
Ein älterer Bursche mit Schiebermütze bemerkt seinen Blick. Er winkt. »DI Bell, können Sie bestätigen, dass das hier ein weiterer Mord des Lovers ist?«
Eine Blondine in cremefarbenem Regenmantel eilt an die Absperrung und hält ein Diktiergerät in seine Richtung. »Das dritte Opfer in vier Wochen – haben Sie schon einen Verdächtigen?«
Verdammt. Die Presse wird kein gutes Haar an ihm lassen, und sosehr er sie verabscheut, ein Teil von ihm weiß: Er hat es verdient.
Ohne die Fragen zu beachten, wendet er sich an Abbott. »Kommen Sie, bringen wir’s hinter uns.«
Abbott eilt ihm voraus zur inneren Absperrung, zeigt der Uniformierten seinen Dienstausweis, nennt ihr fürs Tatortprotokoll ihre Namen und geht nach drinnen.
Dom folgt ihm. In seinem Blut pocht der vertraute Adrenalincocktail – Spannung und Unbehagen zu gleichen Teilen. Doch diesmal mischt sich noch etwas anderes hinein, legt sich schwer wie Ballast auf seinen Magen.
Schuldgefühle.
Mit einem letzten Blick auf den anwachsenden Haufen Schaulustiger steigt er die Stufen hinauf und betritt das Haus.
Mir ist nicht mehr langweilig. Ich stehe am Rand einer Menschenmenge, ein paar Schritte abseits. In der abgesperrten Zone geht ein großer dünner farbiger Mann im dunkelblauen Parka einem Neuankömmling entgegen und begrüßt ihn. Ich trete etwas näher, um besser sehen zu können. Der Neuankömmling steht mit eingezogenem Kopf da, dem strömenden Regen den Rücken zugewandt. Seine Jeansjacke ist schon durchweicht, sein dunkles Haar klebt ihm am Schädel; er wirkt zerzaust, aber nicht unattraktiv für einen Typen in seinem Alter. Es könnte der Chefermittler im Lover-Fall sein, zumindest dem Foto zufolge, das ich gesehen habe. Er wirkt zutiefst schlecht gelaunt.
Als spürte er meinen Blick auf sich ruhen, schaut er in meine Richtung. Ich wende den Kopf ab und hoffe, dass meine Kapuze meine Gesichtszüge gut genug verbirgt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er und sein Kollege sich auf das Haus zubewegen, auf die schwarze Tür, die ich von Death Stalkers Foto kenne. Vor dem Eingang dreht sich der Chefermittler noch einmal um, wirft einen finsteren Blick zurück. Es kommt mir vor, als würde er mich geradewegs anstarren, auch wenn ich weiß, dass das lächerlich ist – so weit hinten, wie ich stehe, bin ich von seinem Standort aus vermutlich kaum zu sehen.
Ich löse den Deckel von dem Pappbecher mit grünem Tee, den ich mir in einem Café an der High Street besorgt habe, und hebe ihn an die Lippen. Die aufsteigende Hitze verbrennt mich beinahe. Ich puste darauf, statt zu trinken, und kann nicht widerstehen, noch einmal zu dem Detective hinüberzuschielen. Er dreht sich um und verschwindet im Haus. Die schwarze Tür fällt hinter ihm zu. Ich betrachte sie einen Moment lang und frage mich, was er jetzt tun wird. Dann lenke ich meine Gedanken wieder auf meine Aufgabe.
Noch einmal lese ich auf dem Handy Death Stalkers letzte Nachricht.
Erste Aufgabe: Die zugeteilten Aufgaben müssen innerhalb von 24 Stunden erledigt werden und zu nützlichen Informationen führen. Wem dies nicht gelingt, der wird aus der Gruppe entfernt. Die erhaltenen Informationen bitte hier teilen. Eure jeweiligen Aufgaben bekommt ihr privat von mir.
Ich tippe das Messenger-Icon an. Meine Aufgabe erscheint. Es ist die bisher erste und einzige persönliche Nachricht, die ich erhalten habe.
Death Stalker an @TheWatcher Schau dich am Tatort um (du wohnst am nächsten dran). Dokumentiere, was dort passiert, fotografiere, versuch aufzuschnappen, was für Informationen zwischen Polizei und Medien ausgetauscht werden. Finde was Nützliches. Du hast Zeit bis morgen früh, 6:23 Uhr.
Die Deadline macht mich nervös. In mir flattert Panik. Es ist knapp 7:30; theoretisch bleiben mir noch dreiundzwanzig Stunden. Aber was am Tatort von Interesse ist, passiert genau jetzt.
Durch die Absperrung komme ich nie im Leben. Klar, ich kann Fotos machen, aber das ist zu wenig. Ich muss etwas Nützliches finden, oder ich fliege aus der Gruppe. Das darf nicht passieren.
Hinter mir wird Motorengeräusch laut. An der Absperrung hält ein Polizeiwagen; die Reifen spritzen Regenwasser über das Plastikband und das Häuflein Schaulustiger. Eine uniformierte Polizistin marschiert auf die Leute zu und winkt – sie will, dass diejenigen vor ihr beiseitetreten. Das ruft zwar einiges Kopfschütteln und Gemurmel hervor, aber die meisten gehorchen und bewegen sich nach rechts oder links. Ein Paar, das sich einen pinken Maxi-Regenschirm teilt, kommt in meine Nähe. Sie stecken die Köpfe zusammen, unterhalten sich. Er spricht leise, sie hat weniger Hemmungen. Ich kann nicht umhin, zuzuhören.
»… hab ihm gesagt, ich hätte gleich frühmorgens eine Besprechung … Gott weiß, wie lange die Straße noch gesperrt ist …« Ihr Lippenstift hat genau denselben Pinkton wie der Regenschirm. »… kleine Dreckskerl will mich nicht decken … sag dir doch, das ist zu riskant …«
Wenn die zwei eine Affäre haben, sollte sie sich mal lieber Gedanken um die Fernsehteams machen, die gegenüber gerade ihre Kameras aufstellen.
Ich schieße ein paar Fotos von dem Polizeiauto, das jetzt durch die Absperrung ins Niemandsland rollt. Währenddessen fangen vor mir zwei junge Mädels an, sich über das Opfer zu unterhalten – Kate nennen sie es. Aus den Bemerkungen über Kates Freund und den schlechten Zustand der Beziehung ist herauszuhören, dass sie sie kennen, aber ihr Tod scheint sie nicht zu erschüttern. Seltsam. Durch meine Beobachtungen weiß ich, dass normale Leute traurig werden, wenn jemand stirbt: Sie weinen, blicken finster, oder ihre Stimmen klingen angespannt. Hier ist nichts davon zu bemerken.
Ich trete näher heran und versuche mehr aufzuschnappen. Die Blonde dreht sich um. Ihre dunkel umrandeten Augen und die grellroten Lippen sind zu dieser Tageszeit der totale Overkill. Sie schaut mich an, aber nicht freundlich. Dann gibt sie ihrer Freundin einen kleinen Stups, und die beiden entfernen sich.
Wieder verschluckt mich die Menge, ich fühle mich unsichtbar. Aber das bin ich nicht. Ein Mann schaut mir direkt ins Gesicht. Ich hole scharf Luft. Ich erkenne ihn – in leicht abgewandelter Form. Mit seinen Geheimratsecken und seiner Leibesfülle hat er nicht viel von Kettensäge, aber das ist unverkennbar Robert »chainsaw« Jameson. Er lächelt und beginnt sich zu mir durchzuschlängeln.
Ich kämpfe den Drang zu flüchten nieder. Rede mir zu, dass er mich unmöglich erkannt haben kann – auf meinem Profilbild ist nur mein Auge zu sehen. Trotzdem hämmert mein Herz mit Höchstgeschwindigkeit. Meine freie Hand ballt sich in der Tasche zur Faust. Ich blicke mich um, überlege mir einen Fluchtweg. Zwischen mir und der High Street ist freie Bahn. Ich könnte abhauen. In einer halben Stunde wäre ich zu Hause. Aber dann kann ich meine Aufgabe nicht erfüllen. Dann habe ich meinen Platz in der Ermittlung verwirkt.
Robert »chainsaw« Jameson kommt näher. Noch zehn Meter, und der Abstand schrumpft stetig.
Abhauen oder bleiben?
Kämpfen oder fliehen?
Ich balle die Faust noch fester. Das hier ist meine erste Prüfung. Ich werde mich ihr stellen. Ich werde herausfinden, ob er erkennt, wer ich bin. Was ich bin.
Also stelle ich mich der schwabbeligen, schütter werdenden Version des Mannes, dessen Gesicht mir von seinem zwanzig Jahre jüngeren Profilbild so vertraut ist. Online ist er das wandernde Lexikon des Forums – wer nach obskuren Fakten aus längst vergangenen Fällen oder nach ungewöhnlichen forensischen Details sucht, braucht nur ihn zu fragen. Aber wie man sich online verhält, stimmt nicht unbedingt damit überein, wie man im echten Leben ist. Gleich werde ich wohl herausfinden, wie es bei ihm damit steht.
Er deutet auf die Absperrung und das Haus dahinter. Hebt die fedrigen, überlangen Augenbrauen und sondiert erst einmal das Terrain: »Es heißt, da wurde eine Frau ermordet.«
So ernst er klingt, seine Augen verraten ihn: Sie funkeln aufgeregt, entzückt. Das hier ist das Tollste, was er seit Jahren erlebt. Ich nicke. »Hab ich auch gehört.«
Er rückt noch näher heran, und ich erhasche einen Hauch Old Spice. Er tippt sich mit dem Finger an die Nase. »Musst dich nicht verstellen. Ich hab dich erkannt.«
Bin ich so durchschaubar? Meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Ohne meine Angst zu bemerken, grinst Robert »chainsaw« Jameson. »Du gehörst zu True Crime London, ja?«
Ich starre ihn an. Er wartet auf meine Antwort. Abstreiten hat wenig Sinn; irgendwie hat er erraten, wer ich bin, und zum Fliehen ist es zu spät. »Woher hast du …«
Er grinst. »Deine Augen, Süße. Im echten Leben hab noch nie so grün-blaue Augen gesehen.«
»Beeindruckend«, sage ich. Dass er ein so kleines, subtiles Detail bemerkt, hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
Er wirkt geschmeichelt. Das merke ich mir. Zu schmeicheln ist einfach, und wer dafür empfänglich ist, den kann man gut manipulieren.
»War nicht so schwer. Death Stalker hat erwähnt, dass deine Aufgabe auch vor Ort ist.« Er nickt in Richtung meiner Augen. »Kontaktlinsen?«
Ich schüttle den Kopf. Death Stalker hat einem anderen Teammitglied meine Aufgabe verraten, obwohl er sonst alles einzeln besprochen hat? Daraus schließe ich, dass er und dieser kleine füllige Mann sich gut kennen, dass dieser zum inneren Kreis gehört.
Er streckt die Hand aus. »Robert ›chainsaw‹ Jameson.« Dann beugt er sich vor und zwinkert mir verschwörerisch zu. »Aber du kannst mich Bob nennen.«
Ich zögere einen Augenblick, dann nehme ich seine Hand. Mache weiter ein freundliches Gesicht, lasse mir nicht anmerken, wie sehr mich seine feuchtkalte Haut abstößt, und schüttle sie fest. »The Watcher«, sage ich. Es fühlt sich komisch an, das zu sagen, als wäre der Name nicht dazu gemacht, laut ausgesprochen zu werden. Aber er muss genügen. Ich will nicht, dass dieser Mann oder irgendjemand aus True Crime London meinen wirklichen Namen erfährt. Ich zwinge mich zu lächeln, tue erfreut, um mein Unbehagen zu verbergen. »Schön, dich kennenzulernen.«
Bob quasselt sofort weiter, erzählt mir bis ins Detail, wie seine U-Bahn-Fahrt hierher verlief. Mich interessiert es nicht, was da los war. Ich fahre nicht mit der Tube; ich kann nicht. Ich blende sein Geplapper aus. Bob scheint es nicht zu bemerken.
Verstohlen mustere ich ihn. Er ist etwa Anfang Sechzig, aber nicht gut in Form. Sein Gesicht ist fleckig, die Nase von lila Adern überzogen. Hoher Blutdruck, vermute ich, sehr wahrscheinlich in Kombination mit einem kleinen Alkoholproblem. Eine große physische Bedrohung stellt er für mich nicht dar.
Er grinst. Die Intensität des Grinsens lässt mich erraten, dass er Zustimmung von mir erwartet. Ich schweige. Warte ab.
»Schau, ich zeige sie dir«, sagt er und beginnt in seiner Hosentasche zu wühlen. Zieht ein Handy heraus und hält es so, dass ich den Bildschirm sehen kann. Beginnt durch Fotos zu wischen.
In Bobs überschwänglicher Freude darüber, ein würdiges Publikum in Form einer Mitverschwörerin aus dem TCL-Forum gefunden zu haben, bemerkt er meine Verärgerung nicht. Er hat schon ganze Arbeit geleistet. Foto für Foto wischt er weiter, begleitet von der völlig unnötigen Beschreibung dessen, was auf ihnen zu sehen ist: die Gaffer, die Polizei, die Medien, die Umgebung. Es sind um die siebzig Bilder. Er hat meine Aufgabe erledigt, bevor ich überhaupt damit angefangen habe.
»Die Tatortfotos waren meine Aufgabe.«
Er lächelt. »Ach, kein Problem, Süße. Ich bin gern dicht am Tatort dran. Hilft mir dabei, ein Gefühl für den Fall zu kriegen. Ich liebe Verbrechen, weißt du. Ich bin gern da, wo’s rund geht, am liebsten so nahe wie möglich an der Leiche. Geht doch nichts über einen guten mysteriösen Mord, oder? In meinem Alter kann man immer was gebrauchen, woran man seinen Verstand wetzen kann, sonst sterben die grauen Zellen so schnell ab.« Er wischt zum nächsten Foto. »Und da bist du.«
Es ist aus der Entfernung aufgenommen. Ein bisschen verpixelt, und die Kapuze verbirgt mein Haar und den größten Teil meines Gesichts. Wenn man ganz genau hinschaut, erkennt man ein paar feine abtrünnige Haarsträhnen. Nur wer mich gut kennt – und diesen Personenkreis kann ich an weniger als einer Hand, ja weniger als einem Finger abzählen – würde mich wiedererkennen. Trotzdem gefällt mir das nicht. »Bitte lösche es.«
Bob schaut völlig perplex drein. Ich erkenne meinen Fehler. Verschwörerisch beuge ich mich vor. »Schau, wenn wir auf eigene Faust ermitteln, sollten wir es doch vielleicht vermeiden, Beweisfotos von uns am Tatort zu machen, meinst du nicht?«
Bobs Augen weiten sich. »Hast recht, Süße. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Heutzutage sind überall Augen.«
Er löscht das Foto.
»Danke.«
»Kein Ding.« Er drückt mir den Arm. »Ich hab noch mehr Bilder. Diese Verbrechensgeschichte macht total süchtig, wenn man erst mal sozusagen Blut geleckt hat.« Er schließt das Album. Es gibt Hunderte weitere. »In einem hab ich eine tolle Aufnahme von der Leiche.«
Ehe ich antworten kann, rollt Donner über uns hinweg, und der Regen setzt wieder mit voller Wucht ein. Bob zieht sein Doppelkinn in den Kragen und dreht sich mit dem Rücken gegen den Wind.
»Vielleicht später«, sage ich und deute auf das Niemandsland. »Und, was passiert jetzt normalerweise?«
Seine Hamsterbacken röten sich. »Das ist der spannendste Teil. Jetzt sind hier alle wichtigen Leute versammelt – Bullen, Spurensicherung, Gerichtsmediziner. Die machen ihr Ding innerhalb der inneren Absperrung. Echt schade, dass wir nicht ins Haus schauen können. Wenn man bei Morden im Freien schnell genug ist, hat man manchmal noch freien Blick, bevor sie die Sichtschutzwände hochziehen. Wenn’s wie hier in einem Gebäude passiert ist, sehen wir höchstens noch, wie die Bahre rausgebracht wird – natürlich abgedeckt.«
Ich ignoriere seine kindliche Freude darüber, Leichen zu Gesicht zu bekommen. Selbst auf mich wirkt es etwas geschmacklos, wie begeistert er von Morden ist. »Bis die Straße wieder zugänglich ist, wird’s noch eine Weile dauern?«
»Na, die können ja erst wieder Leute durchlassen, wenn sie sicher sind, dass sie alle Spuren haben. Wenn sie zu früh aufmachen, werden womöglich Beweise zerstört, und sie übersehen was Essenzielles. Das geht ja nicht, verstehst du?« Er deutet auf den Polizeiwagen innerhalb der Absperrung, in den mehrere Beamte Plastikboxen laden. »Sieht aber aus, als würd’s nicht mehr allzu lange dauern.«
Die Feuchtigkeit ist durch die Nähte meiner Jacke gedrungen. Zitternd sehne ich mich nach meiner warmen, trockenen Wohnung, aber noch kann ich hier nicht weg. »Ich sollte weitermachen«, sage ich. »Ich brauche noch mehr Fotos, bevor sie wegfahren.«
»Mach dir keine Gedanken, Süße. Ich kann meine hochladen.«
»Aber das ist meine Aufgabe.«
Er schaut mich finster an. »Wir können ja beide welche hochladen.«
Das bringt mir nichts. »Oder könntest du …«
»Nein, kann und will ich nicht. Ich lade immer Fotos auf meine Profilseite. Und diesmal mache ich keine Ausnahme. Ich muss schließlich meinen Ruf wahren.«
Mist. »Wenn ich nichts Sinnvolles beitrage, wirft Death Stalker mich aus der Gruppe.«
Er zuckt mit den Schultern. Verlagert sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Dann winkt er jemandem auf der Presseseite. »Hab grade einen alten Kumpel entdeckt«, sagt er, ohne mir in die Augen zu sehen. »Ich sollte mal gehen und hören, ob er was Spannendes erfahren hat.«
Während Bob davonwieselt wie eine fette Kakerlake, frage ich mich, ob er hauptsächlich deshalb hierhergekommen ist, um meine Aufgabe zu sabotieren. Ob sich hinter seinem liebenswürdigen Auftreten ein skrupelloser Platzhirsch verbirgt, der das Team so exklusiv wie möglich halten will.
Dazu darf ich es nicht kommen lassen. Ich schaue mich in der Menge um. Auch Death Stalker muss ganz zu Anfang hier gewesen sein, als er die Fotos machte. Ich frage mich, ob er immer noch hier rumhängt.
Ich öffne die CrimeStop-App auf meinem Handy und tippe mich in Death Stalkers Profil. Seine Standortfunktion ist nicht aktiv. Fluchend schicke ich ihm eine private Nachricht:
The Watcher an @DeathStalker Bist du noch am Tatort?
Ich warte. Zehn Sekunden vergehen. Zwanzig. Dann erscheint neben seinem Namen ein grünes Licht – er ist wieder online. Sekunden später kommt eine Antwort.
Death Stalker an @TheWatcher Nein.
Ich frage mich, wo er ist. Warum er trotz all seiner Bitten um Transparenz seinen Standort nicht verrät.
The Watcher an @DeathStalker Ich bin nicht die einzige von TCL hier. Jemand anderes hat Fotos gemacht. Hat es Sinn, wenn ich weitermache? Hast du eine andere Aufgabe für mich?
Von der High Street her ertönt die Sirene eines Polizei- oder Rettungswagens. Während ich warte, entfernt sie sich allmählich und verklingt.
Hinter Death Stalkers Namen erscheinen drei Punkte. Er tippt.
Death Stalker an @TheWatcher Egal. Der Tatort ist deine Aufgabe. Wenn es schon Fotos gibt, dann finde was Interessanteres.
Ich schiele zu den Journalisten hinüber. Bob steht jetzt dort drüben, in eifriger Unterhaltung mit einem Mann mit Tweedmütze.
Spannung baut sich in mir auf wie in einem überlasteten Ventil. Ich muss weiter im Team bleiben. Ich muss herausfinden, ob ich mich in voller Sicht verstecken kann. Ich muss die Polizei auf ihrem eigenen Sektor schlagen und so der Welt zeigen, dass sie ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Und beweisen, dass meine These stimmt: dass die Zukunft der Verbrechensaufklärung im Crowdsourcing liegen könnte.
The Watcher an @DeathStalker Und wenn ich nichts finde?
Death Stalker an @TheWatcher Dann bist du raus.
Das Treppenhaus ist in einem leuchtenden Kirschrot gestrichen. Von dem Anblick bekäme man selbst unter den besten Umständen Migräne, und sein Kopf pocht jetzt schon vor Schlaf- und Flüssigkeitsmangel. Dom späht die Treppe hinauf. Sie ist steil, typisch viktorianisch, mit diesen schmalen Stufen, auf die kaum sein halber Fuß passt. Er wirft einen Blick auf Abbott, der sich viel Zeit damit lässt, den Reißverschluss seines sterilen Overalls zuzuziehen. »Gehen wir rauf.«
Abbott nickt. Wartet, bis Dom vorausgeht.
Dom weiß warum. Wenn man so viele Jahre dabei ist, kommt jedes Mal eine Flut von Erinnerungen an Tatorte hoch: so viele Leichen. Zu viele. Als ob das Gehirn schon mal zu erraten versucht, was einen erwartet. Oder einen als Desensibilisierungsmaßnahme mit alten Bildern überschwemmt, bevor man das neue zu Gesicht bekommt. Was auch immer, es klappt nie. Kann es gar nicht. Keine Leiche ist jemals ein guter Anblick.
Er steigt immer zwei Stufen auf einmal hinauf. Abbott bleibt dicht hinter ihm. Die Treppe knarrt.
Nachdem er die Wohnung betreten hat, bleibt er kurz stehen, um ein Gefühl für sie zu bekommen. Für eine Zweizimmerwohnung in dieser Lage ist sie anständig groß. Die Möbel im offenen Wohnbereich sind relativ neu, viel Glas und Leder – modern, etwas prätenziös. Die Bodendielen sind gelaugt, die Wände bordeauxfarben gestrichen. Um sich das leisten zu können, müssen Kate Adams und ihr Freund ganz ordentlich verdienen. Es hat fast etwas vom Versuch, eine Promi-Wohnung nachzubilden. Leute, denen Äußerlichkeiten wichtig sind.
Auf dem gläsernen Couchtisch stehen zwei Weingläser. Das eine sieht halb ausgetrunken aus, das andere unberührt. Ein Anzeichen, dass Kate vor ihrem Tod nicht allein war. Dom nickt in Richtung der Gläser. »Genau wie bei den beiden anderen.«
»Ja. Die Spurensicherung ist dran«, sagt Abbott. »Ist aber unwahrscheinlich, dass sie was finden.«
»Klar.« Auch in den Wohnungen der letzten beiden Opfer hat der Mörder keine Fingerabdrücke hinterlassen. »Kam der Wein von ihr oder hat ihn der Mörder mitgebracht?«
»Das muss mit dem Freund geklärt werden.«
Dom nickt.
»Fotos sind übrigens schon gemacht.«
»Gut«, sagt Dom, ohne es zu meinen. Er ist als Letzter gekommen, und seine Leute sind Profis; es hätte keinen Grund gegeben, auf ihn zu warten, das weiß er.
Einen Finger nach dem anderen öffnet er die geballten Fäuste. Lockert die Schultern, einmal, noch einmal. Für das, was jetzt kommt, braucht er einen klaren Kopf.
»Alles scheint am gewohnten Platz zu sein, keine Kampfspuren …« Sein DS spricht es nicht aus, aber Dom hört, was gemeint ist: Trotz aller Gründlichkeit haben die Spurensicherer noch nichts Verwertbares gefunden. »Ist registriert. Das Schlafzimmer?«
Abbott zeigt auf die Tür hinten rechts. »Da drüben.«
Während er hinübergeht, schauen die Spurensicherer auf. Eine von ihnen wechselt einen vielsagenden Blick mit einem anderen. Dom versucht es nicht zu beachten. Vor der Schlafzimmertür begrüßt ihn Emily Renton, die Gerichtsmedizinerin. Der weiße Papieroverall schmeichelt ihrer matronenhaften Figur nicht gerade.
Sie hebt eine Augenbraue. »Nett, dass Sie auch da sind, Dom.«
»Ich hätte eigentlich frei gehabt, ja?«
Sie lacht. Ihre Brille rutscht ein Stück herunter, sie schiebt sie mit dem behandschuhten Finger zurück. »Hab ich gehört. Und, haben Sie sich schön ausgeruht?«
Wie immer bei Emily kann er nicht anders und muss lächeln. »Etwa zwei Minuten lang.«
»Und jetzt brummt der Laden schon wieder.« Sie weist mit dem Kinn ins Schlafzimmer und wird ernster. »Scheint, als hätten wir wieder eine. Gleicher MO, nur …«
»Könnten Sie damit noch eine Minute warten? Ich will es mir anschauen, bevor wir ins Detail gehen.«
»Kein Problem.« Emily tritt ins Schlafzimmer und sagt zu jemandem außerhalb seines Sichtfelds: »Können wir kurz rausgehen, Leute? Zehn Minuten Pause.«
Zwei CSIler kommen heraus. Emily folgt ihnen. »Sie haben freie Bahn.«
Er nickt ihr dankend zu. Ignoriert das Gemurmel der Spurensicherer, die sich in den Wohnbereich zurückziehen. Er kann sich denken, was das Thema ist. Dass die IPCC ihn auf dem Kieker hat und er den Job hier nicht mehr lange machen wird. Mit gesenktem Blick betritt er das Zimmer. Ein Hauch Vanille weht ihn an. Aus den Augenwinkeln sieht er die fast schon niedergebrannten Kerzen rund um das Bett. Auf dem Creme der Bettwäsche erhascht er das Rot der Rosenblätter.
Noch schaut er nicht auf. Ihm ist bewusst, dass er es hinauszögert. Und auch, dass sie, wenn dieser Mord wirklich so ist wie die beiden anderen, auf dem Bett liegen wird. Ein Teil von ihm will es gar nicht sehen. So steht er da, reglos. Jedes Geräusch scheint verstärkt: sein Atem, sein Herzschlag, das stete Tropfen eines Wasserhahns, wohl im Bad nebenan. Der Kopfschmerz ist noch da; er ist schlimmer geworden und sticht ihm in den Schläfen.
Er wendet sich dem Bett zu und hebt den Blick.
Déjà vu.
Es ist sie – auch wenn das natürlich nicht sein kann. Die Frau auf dem Bett ist eine exakte Kopie der beiden letzten Opfer: Jenna Malik in ihrem muffigen möblierten Zimmer in Crouch End und Zara Bretton in ihrer Wohnung mit Blick über den Kanal in Camden. Er tritt näher. Schaut beharrlich hin. Sie hat das gleiche sanft gewellte schulterlange Haar, im selben Mittelbraun, und aus dieser Entfernung wirkt auch ihr Gesicht identisch: frische, zarte Haut, Wangen und Lippen rosig angehaucht, hübsch. Das Make-up ist ebenfalls gleich: schwarzer Eyeliner, pfauenblauer Lidschatten, violetter Lippenstift. Achtziger pur.
Und sie ist nackt.
Vor der Linie aus Kerzen hält er an. Aus der Nähe ist ihr Gesicht klarer zu erkennen. Die Ähnlichkeit ist gruselig, aber jetzt sieht man, dass ihre blühenden Wangen dem Make-up zu verdanken sind und sie nicht etwa noch lebt. Ihre Lippen sind voll und leicht aufgeworfen. Und wie bei den anderen stehen ihre Augen weit offen.
Er lässt ihren blicklosen Blick auf sich wirken. Das erste Wort, das ihm in den Sinn kommt, ist: friedvoll. Kein Blut, keine offensichtliche Todesursache. Aber er lässt sich nicht täuschen. So haben auch die beiden anderen ausgesehen, und was ihnen angetan wurde, war alles andere als friedvoll. Er blickt sie weiter an. Er braucht diese Zeit allein mit ihr, um ein Gefühl für die Szene zu bekommen, nachzufühlen, was sie fühlte, den Mörder verstehen zu lernen. Die Stille gibt ihm die Chance, Dinge zu finden, die anderen entgehen würden.
Ein Detail unterscheidet sich.
Etwas fehlt. Das Mädchen gleicht den beiden anderen wie eine exakte Kopie, aber der Modus operandi unterscheidet sich minimal. Es ist keine Rose da.
Was bedeutet das?
Noch einmal blickt er sich kontrollierend um, langsamer. Rings um das Mädchen sind Rosenblätter auf der Bettdecke verstreut, aber eine ganze Rose gibt es nicht. Dom dreht sich um sich selbst, sucht das Zimmer ab, ob die Rose woanders abgelegt wurde.
Wie im Wohnbereich wirkt auch hier alles normal, wenn man das je so nennen kann. Kein Anzeichen eines Handgemenges, nichts scheint hinuntergestoßen oder zerbrochen zu sein. Doms Blick bleibt an der Frisierkommode hängen. Daran, wie die Oberfläche glänzt, wie frisch poliert. Es ist das einzige Möbelstück, das so glänzt. Auf der Oberkante des Spiegels liegt eine Staubschicht, auf dem Nachttisch auch.
Und noch etwas erregt seine Aufmerksamkeit. Neben der Kommode liegt ein unordentlicher Haufen aus Schminkzeug und Parfümflaschen. Das ist auffällig; ansonsten ist die Wohnung sauber und ordentlich.
Er nickt Emily zu, dass ihre Leute wieder hereinkommen können. Winkt eine Spurentechnikerin zur Kommode herüber. Sie war schon an einem anderen Tatort dabei, klein und zierlich mit Sommersprossen. Er überlegt, wie sie hieß, Penny, Paula, irgendwas in der Art. Es fällt ihm nicht ein. »Hey, äh, hey …« Er zeigt auf die Fläschchen und Döschen neben der Kommode. »Die nehmen Sie mit, oder?«
Sie nickt, ohne zu lächeln.
»Danke.« Er kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass nicht nur die Medien den Glauben an ihn verloren haben.
Wieder wendet er sich dem Mädchen auf dem Bett zu.
Was ist passiert, Kate? Warum hat er dir das angetan? Warum dir?
Hinter ihm räuspert sich Abbott. »Sie ist sechsundzwanzig. Einzelkind, die Eltern wohnen in Twickenham. Sie arbeitet beim National Health Service in der Notrufzentrale. Hier wohnt sie gemeinsam mit ihrem Freund Mart Stax. Er hat sie gefunden.«
»Wohnte«, sagt Dom, ohne sich umzudrehen.
»Wie bitte?«
Er weiß, er ist pingelig, kann aber nicht anders. Die Schminksachen neben der Kommode gehen ihm nicht aus dem Kopf. Und dass keine Rose da war. Die beiden vorigen Male lag zwischen den Brüsten der Opfer eine einzelne Rose, genau entlang des Brustbeins. Warum ist das diesmal anders? Er braucht Zeit, um das zu durchdenken. Er will Abbotts Informationen noch nicht. »Wohnte hier mit ihrem Freund. Vergangenheitsform.«
Abbott gibt keine Antwort.
Dom starrt das Mädchen an. Versucht nachzudenken, aber seine Konzentration ist hin. In seinem Gehirn hallen Abbotts Worte nach. Sechsundzwanzig Jahre alt. Gerade mal sechsundzwanzig. Was ist das für ein Alter? Gar keines. Welch eine Verschwendung. »Was wissen wir?«
»Wie gesagt, ihr Freund hat sie gefunden und uns alarmiert.« Abbott reicht ihm ein gerahmtes Foto von einer hübschen Blondine in pink-weiß gestreiftem Bikini auf einem Liegestuhl am Strand, die der Kamera mit einem Cocktail zuprostet.
Dom schaut zu der nackten Brünetten auf dem Bett hinüber. Man erkennt sie kaum wieder. Er gibt das Foto Abbott zurück. »Noch was?«
Emily räuspert sich. »Wie in den vorigen Fällen sind ihre Lippen zusammengeklebt und ihre Augenlider fixiert. Vor allem bei den Augenlidern wurde extrem sorgfältig gearbeitet. Der Klebstoff wurde auf die Spitzen der Wimpern aufgetragen, damit sie am oberen Augenlid haften. Es sieht bemerkenswert natürlich aus.« An Abbott vorbei tritt sie ans Bett und zeigt auf die Handgelenke des Mädchens. »Hier und an den Fußknöcheln hat sie lokal begrenzte Blutergüsse. Sie war gefesselt, bevor sie aufs Bett gelegt wurde. Vom Winkel und der Tiefe der Eindrücke her würde ich sagen, mit Kabelbinder.«
Dom wirft einen Blick auf den Stuhl neben dem Frisiertisch: massiv mit soliden Armlehnen. Gefesselt und unfähig,