You Die Next – Du kannst dich nicht verstecken - Stephanie Marland - E-Book
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You Die Next – Du kannst dich nicht verstecken E-Book

Stephanie Marland

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Beschreibung

Du liebst den Nervenkitzel. Doch du ahnst nicht, welchen Preis du bezahlen musst. Eine vierköpfige Gruppe ›Urban Explorer‹, immer auf der Suche nach dem nächsten Thrill, dringt in ein verlassenes Londoner Filmstudio ein und teilt den Trip in Echtzeit im Netz. Schon nach wenigen Minuten stoßen die Explorer auf einen Kill Room, in dem eine Leiche liegt – und fliehen in namenlosem Entsetzen aus dem Gebäude. Auf ihrem Video Channel erscheint kurz darauf die Message: »Wer will als Nächster sterben?«. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis ein Mitglied der Gruppe tot aufgefunden wird. Und die Opferzahl steigt rasant. Ein hochbrisanter Fall für Detective Dominic Bell, den er nur mit Unterstützung von Clementine Starke, Expertin für Internet-Forschung, lösen kann.

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Seitenzahl: 474

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Über das Buch

Eine Gruppe von Urban Explorers, immer auf der Suche nach dem nächsten Thrill, dringt in ein verlassenes Londoner Filmstudio ein – und stößt auf einen Kill Room. Einen ganz mit Plastikfolie ausgekleideten Raum voller Blutspritzer, in dem eine Leiche liegt. Sie fliehen in namenlosem Entsetzen. Wenig später erscheint eine Nachricht auf ihrem Video Channel: »Wer will als Nächster sterben?« Kurz darauf wird DI Dominic Bell zu einem Toten gerufen. Der Mann hielt sich in einem für die Öffentlichkeit unzugänglichen Teil der Londoner U-Bahn auf, bevor er grausam ermordet wurde. Und er gehörte zu der Urban-Explorer-Gruppe. Noch ahnt Bell nicht, dass er Clementine Starke, die Expertin für Internet-Forschung, um Hilfe bitten muss. Denn die Opferzahl steigt schnell. Doch Clementine verfolgt ihre eigenen Ziele …

 

 

 

 

Alle Figuren in diesem Buch sind erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit wirklichen Personen,

ob lebend oder tot, wäre rein zufällig.

 

 

 

 

Für meine Mutter Jill Jones –

inspirierende Frau, großartige Freundin und wunderbare Mutter.

In Liebe und Dankbarkeit für alles.

PROLOG

Der Stream läuft. Gute Qualität, kein HD, aber anständig scharf. Oben links auf dem Schirm steht: JedUrbXTMLIVE. Vielleicht ist das der Typ mit der Sturmhaube.

Im Bild ist hauptsächlich er zu sehen; er streckt die Kamera vor sich aus, als wollte er ein Selfie schießen. Durch den seltsamen Winkel wirkt sein Gesicht übergroß. Die eng anliegende Wollmaske verbirgt seine Gesichtszüge, reduziert ihn auf zwei unregelmäßig geformte Augenlöcher und einen Mundschlitz. Das Licht kommt von irgendwo unten und leuchtet seine Lippen an. Verleiht ihm etwas Gruseliges.

Er redet. Die Sturmhaube verzieht sich, der Mundschlitz wird etwas weiter und lässt um die Lippen herum Bartstoppeln erahnen, dann zieht er sich wieder zusammen. Der Ton kommt minimal verzögert, die Mundbewegungen wirken wie schlecht synchronisiert. Seine Aussprache ist nordenglisch, vielleicht aus der Gegend um Manchester.

»Ich bin Jedx, und für mich geht’s hier um den Adrenalinschub – diesen Mordskick. No risk, no fun …«

Während er redet, strömen am unteren Bildrand Herzchen- und Daumen-hoch-Emojis vorbei – die Zuschauer zeigen ihre Anerkennung.

Er grinst und hebt den Daumen. Dann schwenkt die Kamera von seinem Gesicht weg in die Dunkelheit hinein, der Autofokus hat Mühe nachzukommen. Jetzt ist das Bild körnig; unmöglich, etwas zu erkennen, nur der Ton ist nach wie vor gut. Man hört etwas wie das Glucksen von Wasser und lautes Rascheln, Gemurmel mit unterdrückten Flüchen, dann rasche Schritte auf knirschendem Untergrund.

Das Bild wird klarer. Drei Gestalten schälen sich heraus, schwarze Silhouetten im Licht von Taschenlampen, die Jedx vorausgehen. Er folgt ihnen; bei jedem seiner Schritte schwankt die Kamera. Tiefhängende Äste recken sich über den Pfad, krallen sich in seine Jacke wie verkrümmte, knochige Finger. Zu beiden Seiten wuchert dichtes Unterholz.

Jedx’ Stimme, nun körperlos, sagt: »Da reinzukommen ist nicht einfach. Kein Wunder. Hier war noch keiner von uns – alles total unberührt. Wir müssen ganz vorsichtig sein. Beim Kundschaften ist uns nie so was wie Security begegnet, aber natürlich steht überall ›Zutritt verboten‹. Falls es doch einen Wachposten gibt, wollen wir den ja nicht unbedingt auf uns aufmerksam machen.«

Unter dem Stream erscheinen Kommentare:

DavidSees: Wo seid ihr denn?

Optxxxx: Hammer.

UrbexFan984: Cooler Channel.

FunLeapExp: Bravo.

VulcanD86: Was steht an?

Die Kamera wackelt, holt die drei Gestalten näher heran. Schwenkt zu der, die rechts geht.

»Hey, Sass, sag unseren Zuschauern mal, wo wir sind.«

Sie dreht sich halb zur Kamera um, aber alles, was man sieht, ist, dass sie roten Lippenstift trägt und um die Augenlöcher ihrer Sturmhaube winzige Strasssteine funkeln. »Hendleton Studios«, sagt sie leise, hauchig. »Hatten ihre Glanzzeit von der Schwarz-Weiß-Film-Ära bis Ende der Sechzigerjahre … Hier wurden Kinohits wie Viel Spaß beim Sterben, Ein Mann – ein Jawort, Lolas Reise und Der vierte Weg ins Nichts gedreht. Nicht zu vergessen der Kult-Horrorklassiker Tod durch tausend Dolche. Das Studio wurde geschlossen, nachdem der Eigentümer Joey Oakenridge überraschend starb …«

»Auf total dubiose Weise«, schaltet sich eine neue Männerstimme ein, höher und dem Klang nach jünger, mit Londoner Sprachfärbung. »Höchst verdächtig, um genau zu sein …«

»Stimmt, Beaker.« Jedx richtet die Linse auf sich, wieder in diesem schiefen Winkel. Man sieht nur seinen Mund. »Laut Wikipedia spukt’s dort.«

»Himmel, jetzt lasst mich doch mal die Fakten durchgeben.« Finger mit orange lackierten Nägeln in fingerlosen Handschuhen ergreifen die Kamera und reißen sie herum, bis wieder die Frau, Sass, ins Bild kommt. »Das Ergebnis der Untersuchung lautete Tod durch Unfall.«

Eine andere Stimme ruft dazwischen, man solle sich gefälligst beeilen. Männlich, älter klingend. Die Kamera schwenkt nach vorn und beginnt stark zu wackeln, als das Trio in Trab fällt, um zu dem Vierten im Bunde aufzuschließen. Er steht vor einem hohen Drahtzaun. Obwohl er einen halben Kopf größer ist als die anderen, überragt ihn der Zaun immer noch um einen guten halben Meter.

Die Kamera erfasst ein Schild. Es ist verwittert, verblichen. BETRETENBEISTRAFEVERBOTEN. Der Lange wirft einen Rucksack über den Zaun, dann eine Brechstange. Sie bleibt einen Augenblick lang oben hängen, der Maschendraht rasselt.

Sass richtet die Kamera wieder auf sich. »Am 24. Januar 1972 schloss das mit mehreren Hypotheken belastete Studio zum letzten Mal seine Pforten. Seither hat sich nie wieder jemand dafür interessiert.«

»Bis jetzt«, sagt Jedx. Das Bild erfasst wieder ihn. Unter seiner Sturmhaube grinst er und sagt mit aufgesetztem amerikanischem Akzent, als würde er aus dem Off erzählen: »Denn heute Nacht gehen wir da rein, Freunde.«

Die Zeitangabe neben dem Wort LIVE zeigt 28:03 Minuten an. Die Einschaltquote darunter steht bei über vierhundert. Ein mit Sperrholz vernageltes Eingangsportal kommt in Sicht, über und über mit zerfetzten ZUTRITT-VERBOTEN-Schildern beklebt wie mit schlecht angebrachter Tapete. Der gemauerte Rundbogen ist grün von Flechten, doch noch immer beeindruckend. Über der Tür ist eine Inschrift in den Stein gehauen: HENDLETONSTUDIOS: TONBÜHNEEINS.

Jedx schwenkt mit der Kamera auf sich. »Okay, bereit zum Entern. Ihr wisst ja, das ist latent illegal.« Er grinst in die Linse. »Aber ihr sagt’s nicht weiter, oder?«

Pinnyhip078: Macht schon!!!

DavidSees: Legendär. Ich will sehen, was da drin ist!

Upyeah99: Mhmmmmm.

Koso: Geht lieber nicht rein.

LiveWildRock: Euer Geheimnis ist bei uns sicher!

UrbexUncovered: Bin gerade am Googeln nach Hendleton!!

Wieder strömen erhobene Daumen und Herzen über den unteren Bildschirmrand.

Jedx lacht. »Ihr seid anscheinend genauso scharf darauf wie wir, zu sehen, wie’s da drinnen aussieht.«

Die Kamera schwenkt zu dem Langen, der sich jetzt daranmacht, die Tür mit der Brechstange zu bearbeiten. Das halb verrottete Sperrholz splittert beim Weghebeln, Stücke brechen ab. Er wirft die Bruchstücke beiseite und tritt durch die Öffnung.

»Okay, los«, sagt er, ohne sich umzudrehen. Noch zwei Schritte, und er wird von Finsternis verschluckt.

Der schlaksige Junge – Beaker – folgt ihm. Während er über die Schwelle tritt, rückt er seine Nachtsichtbrille zurecht.

»Wir betreten jetzt das Aufnahmestudio, in dem die größten Hits gedreht wurden«, flüstert Sass aufgeregt und steigt über die Bretterreste hinweg.

»Na, dann wollen wir mal«, sagt Jedx. Die Kamera schwenkt von links nach rechts, während er sich durch die Türöffnung drängt. »Mann, bin ich aufgedreht. Mein Puls spielt total verrückt. Macht euch auf alles gefasst, Leute. Und los!«

Drinnen kommt das einzige Licht von ihren Taschenlampen. Der Flur ist schmal. Von einer uralten Pinnwand hängen zerfetzte Filmplakate. Die Decke ist eingebrochen, auf dem Boden darunter liegen Drähte und Schutt.

Eilig steigen sie darüber hinweg.

»Hier stinkt’s«, beschreibt Jedx. »Echt eklig.«

Beaker in seiner Tarnjacke dreht sich zur Kamera. »Wie nach ’ner Leiche.«

»Red keinen Scheiß.« In Sass’ Stimme ist mehr Anspannung als zuvor. »Da kriegt man ja das Grausen.«

Es klappert; jemand ist gegen etwas gestoßen.

»Fuck.« Beaker bleibt stehen, flucht unterdrückt weiter.

Von vorn ruft der Lange: »Alles okay?«

»Ja, Cap. Nur …« Beaker leuchtet auf den Boden. »Oh Mann.«

Die Kamera zoomt auf die angeleuchtete Stelle. Vor Beaker steht eine Holzkiste. Sie ist voller Clownsköpfe.

Jedx lacht, doch als er auf sich schwenkt und die Zuschauer anspricht, klingt er nervös. »Gruselig, was?«

Unten im Bild strömen lachende Smileys vorüber; die Zuschauer amüsieren sich prächtig. Munter wird weiter kommentiert.

DavidSees: Und, wie fühlt man sich da drin?

LiveWildRock: Ihr seid so verrückt.

Upyeah99: Man sieht gar nichts. Ihr müsst mehr Licht machen.

Pinnyhip078: Hammerhammerhammer.

UrbexUncovered: Ihr habt echt nen tollen Channel.

FunLeapExp: Geiler Lost Place. Kann ich bei euch mitmachen? Schreibt mir doch ne PN.

Jedx überfliegt nickend die Kommentare auf seinem Handy. Dann schaut er in die Kamera. »David, es fühlt sich einfach wahnsinnig an. Nervenkitzel pur. Upyeah99, wir haben nur unsere Taschenlampen, mehr Licht ist nicht drin. FunLeapExp – tut mir leid, wir sind ein eingeschworenes Team, wir nehmen niemanden auf.«

»Komm schon«, ruft Cap aus dem Off. »Lass uns weitergehen.«

Jedx salutiert scherzhaft und schwenkt wieder nach vorn. Hinter Sass geht er den Gang entlang, immer wieder um Trümmerhaufen von der eingebrochenen Decke und vergammelte Holzkisten herum. Die Bodendielen quietschen unter den Füßen der vier.

Sie gehen immer schneller.

Vor einer Tür am Ende des Gangs halten sie an. An die Wand ist eine große Signalleuchte montiert, überzogen mit dem Staub von Jahrzehnten. Auf dem Schild daneben steht: BEIROTKEINZUTRITT – AUFNAHME!

Cap wendet sich der Kamera zu. Gegen die Sturmhaube und in dem düsteren Licht wirkt das Weiß seiner Augen unnatürlich grell. Er spricht schnell, überschlägt sich fast vor Erregung. »Da sind wir – vor dem absoluten Nirwana. Seit über vierzig Jahren verlassen, und jetzt gehen wir rein. Alle bereit?«

Sass hält ihre SLR-Kamera in die Höhe. Grinst.

Beaker zieht sein Handy. »Bereit, Cap.«

»Jeder Schritt wird live gestreamt«, sagt Jedx. Schaut in die Kamera. »Seid ihr alle dabei?«

Über die Bildzeile strömen Hunderte Daumen-hoch-Emojis.

DavidSees: Geht schon!

LiveWildRock: Macht endlich!

UrbGold300: Voll faszinierend.

Upyeah99: Zeigt schon, ich kann’s kaum erwarten.

Koso: Nein! Kehrt um, geht nach Hause!

Pinnyhip078: Los, Leute!

Optxxxx: Whooohooo!

Wieder liest Jedx die Kommentare, nickt und grinst in die Kamera. »Das nehme ich als Ja.« Er steckt das Handy ein und nickt Cap zu. »Wir können.«

Während Cap die Türklinke herunterdrückt, scharen die drei anderen sich um ihn. Die Kamera schwankt; einen Augenblick lang scheint die rote Signalleuchte zu blinken. Dann schieben sich Beakers Tarnjacke und Sass’ schwarzes Fleece davor.

»Klemmt«, sagt Cap. »Das Holz hat sich verzogen.«

Ein Krachen; die Kamera wird hochgerissen. Man sieht, wie Cap versucht, die Tür mit der Schulter aufzustemmen. Sie quietscht in den Angeln. Cap atmet geräuschvoll aus. Dann, endlich, öffnet sich die Tür Zentimeter um Zentimeter.

Sass schaut in die Kamera, nur eins ihrer glitzerumrandeten Augen ist zu sehen. Flüstert: »Wir sind drin.«

Man sieht einen engen Vorraum. Er ist durch bodenlange Sichtschutzvorhänge vom eigentlichen Studio abgetrennt. Im Licht der Taschenlampen sind eine Reihe staubbedeckter Stühle und ein niedriger Tisch mit einem Stapel halb vermoderter Zeitschriften darauf zu sehen. An der Wand hängt ein Drehplan von vor vierzig Jahren – die Tagesdisposition für einen Film namens Finstere Gelüste.

Sass grinst in die Kamera. »Das war wohl der Wartebereich – die Grauzone zwischen der Realität und der Traumwelt des Films, der gerade gedreht wurde.« Sie macht einen Schritt auf die schwarzen Vorhänge zu. »Ich hätte ja gedacht, die wären aus Samt wie in einem Theater, aber …«

»Das sind Plastikplanen.« Beaker klingt nervös. »Die Samtvorhänge liegen da in der Ecke.«

Die Kamera zeigt einen Haufen Stoff an der Wand, dann schwenkt Jedx auf sich. »Die Planen sind überhaupt nicht staubig. Die können hier noch nicht lange hängen.« Er nähert sich ihnen mit der Kamera. »Ja, ganz sauber und kein bisschen verblichen. Und es ist dickes, strapazierfähiges Plastik.«

Im Bild erscheint Sass. Sie streicht mit dem Finger über eine Plane. Ihre Stimme klingt verwirrt. »Die sind perfekt zugeschnitten und total professionell aufgehängt, da kommt kein Licht durch.« An der Kamera vorbei schaut sie Jedx an. »Wir sind nicht die Ersten hier.«

Im Livestream erscheinen verblüffte Emojis, die Kommentarzeile füllt sich mit Fragen.

DavidSees: Warum sollte jemand die Vorhänge ersetzen?

UrbGold300: Wer war das? Wenn doch seit vierzig Jahren niemand drin war …

Upyeah99: Plastikplanen? Voll unheimlich!

ExpoDisW: Ich hab da kein gutes Gefühl. Haut lieber ab!

Einen Moment lang herrscht vollkommene Stille. Dann tritt Cap neben Sass und schiebt die Hand zwischen zwei der Planen.

Durch den Spalt fällt Licht.

Sass atmet scharf ein. »Wo kommt das Licht her? Hier gibt’s doch seit Jahren keinen Strom mehr.« Sie greift nach Cap. »Halt, lass uns lieber …«

Zu spät. Er schiebt die Plane bereits zur Seite.

Das Licht ist blendend hell.

»Scheiße … das kann doch …« Jedx’ Stimme zittert. »Das … das …«

Die Kamera bricht zur Seite aus, der Autofokus kommt nicht mit. In dem verpixelten Bild scheinen Silhouetten miteinander zu verschwimmen. Dann wird es scharf, man erhascht einen Blick auf einen Holzrahmen, dann auf eine uralte, völlig verstaubte Arriflex-Filmkamera mit ebenso verstaubten Filmspulen darauf. Ein Ruck, und dahinter wird eine zweite Filmkamera auf einem Stativ sichtbar – staubfrei und modern. Und auf etwas in der Mitte eines Bereiches gerichtet, der von weiteren Plastikplanen bedeckt ist.

Man hört jemanden würgen.

Sass schreit auf.

Beaker dreht sich zur Kamera um. Seine Augen sind geweitet. »Raus hier. Los!«

Zugleich Caps Stimme, aus der jedes Draufgängertum gewichen ist. »Raus, bevor der – «

In diesem Moment ertönt eine Art wütendes Aufbrüllen. Fast mehr tierisch als menschlich.

Cap stößt Beaker und Sass auf Jedx zu, etwas verdunkelt das Kameraobjektiv. Panisches Schieben und Drängen, Jedx dreht sich um; das Bild wird hell, bleibt aber unscharf. Er schiebt die anderen weiter, und einen flüchtigen Moment lang setzt sich ein deutlicheres Bild zusammen: ein graues Seil, braunes Holz, ein breiter Fluss von Scharlachrot. Dann ist es wieder verschwunden.

»Los, schnell!«

»Macht schon!«

»Scheiße.«

Sie durchbrechen den Plastikvorhang, stürzen durch die Tür in den Gang. Die Kamera schwankt hin und her, nach unten gerichtet. Erfasst drei Paar Füße: schwarze Nikes, rotbraune Converses und eine Art lederner Wanderstiefel. Sie rennen jetzt. Springen über eingebrochene Bodendielen hinweg, weichen Schutthaufen aus. Etwas fällt Cap aus der Tasche; niemand scheint es zu bemerken.

»Schneller!«

Heftiges Keuchen. Panische Schreie.

Dann ein Krachen. Fluchen. Die Kamera fällt hart zu Boden, die Linse bekommt einen Sprung.

Man sieht Jedx auf den Knien; überall um ihn herum liegen Clownsköpfe verstreut. Er versucht aufzustehen, die Köpfe kollern wild umher, er rutscht wieder aus, sein Gesicht Zentimeter von der Kamera entfernt.

Unten im Bild strömen massenweise entgeisterte Emojis und Herzen entlang.

Jedx’ Blick geht an der Kamera vorbei. Langsam schüttelt er den Kopf. Seine Pupillen sind geweitet, sein Mund steht offen. Eine Grimasse der Angst.

Bedächtige Schritte nähern sich. Selbstsicher. Zielstrebig.

»Shit.« Auf allen vieren wirft sich Jedx vorwärts, krabbelt wild davon. Verzweifelt. Die Kamera wird von seinem Fuß erfasst, wirbelt herum, rutscht über den Boden außer Reichweite. Krachend pflügt Jedx über die Clownsköpfe hinweg, zerquetscht die zerbrechlichen Schädel mit den Füßen. Verschwindet.

Die Kamera bleibt liegen.

Das Bild ist körnig und wegen der gesprungenen Linse dreigeteilt. Verfaulte Bodendielen. Ein lächelnder Clownskopf mit eingedrücktem Gesicht.

Die Schritte kommen immer näher. Auf dem Schirm erscheinen schwarze Doc Martens, bleiben stehen. Ein Seufzer, kaum hörbar. Eine behandschuhte Hand greift nach der Kamera.

Der Bildschirm wird schwarz.

JedUrbXTMLIVESTREAM wurde beendet.

SONNTAG

1CLEMENTINE

An jedem beliebigen Ort wäre ich lieber als hier. Unter den Kopfhörern fühle ich mich eingeengt, ich muss mich beherrschen, sie nicht abzureißen. Aber ich tue es nicht. Nach über zwei Monaten im Fokus der Medien weiß ich, was von mir erwartet wird: meine wahren Gefühle zu verbergen und zu lächeln.

Der Mann mit der Stirnglatze, der mir gegenüber am Tisch sitzt, sagt in dem übertrieben munteren Ton aller Radiomoderatoren: »Guten Abend und herzlich willkommen hier bei Crime World in Radio W5X. Bei mir im Studio ist heute Clementine Starke, die junge Frau, der es gelang, eine Mordserie vor der Polizei zu lösen.«

Ich drehe schneller an dem Schmetterlingsring an meinem Zeigefinger. Beuge mich über das Mikrofon und lüge: »Schön, dass ich heute Abend hier sein darf, John.«

Er wirft einen Blick auf das Blatt Papier auf dem Tisch vor ihm, dann schaut er wieder mich an. »Also, Clementine, Sie sind ja inzwischen zu einer Kultfigur für Hobbydetektive geworden …«

Ich weiß schon, was jetzt kommt. Das fragen sie alle.

»… wie war es denn für Sie, den Lover zu entlarven?«

Ich sage mein auswendig gelerntes Sprüchlein auf. Bemühe mich, dabei still zu sitzen. Bekämpfe den Drang, an meinen Kopfhörern herumzurücken. »Wie ich schon mehrmals sagte, das war eine Gemeinschaftsleistung. Ich war Mitglied eines Onlineforums, True Crime London. Anfangs interessierte ich mich nur aus wissenschaftlichen Gründen dafür, ich forsche über das Onlineverhalten von Menschen und beschäftigte mich – «

John winkt ungeduldig ab. »Es war ja schon vielfach vorhergesagt worden, dass so was eines Tages passieren würde, mit all den True-Crime-Shows und Podcasts und so weiter. Es hieß, irgendwann würde es den Amateurdetektiven zu langweilig werden, nur an Cold Cases herumzuforschen, und sie würden sich an laufenden Fällen versuchen.«

»Damit sollte sich ja meine Dissertation – «

»Genau, aber dann gingen Sie einen Schritt weiter und entlarvten tatsächlich einen Killer, der in London wütete.«

Die Medientypen übertreiben immer alles. Wütete, wie hochdramatisch das klingt. Der Lover ermordete innerhalb mehrerer Wochen vier Frauen und einen Mann; das war ein Exzess, ein Rausch, vielleicht eine Orgie, aber kein Wüten. Aber ich weiß, wie das hier funktioniert, und die Uni hat mich verpflichtet, das Medienspiel mitzuspielen – und daraus möglichst Nutzen für sie zu schlagen –, wenn ich meine Stelle behalten will. Und das will ich, wenigstens momentan noch. Also achte ich darauf, keine Miene zu verziehen, und warte auf die nächste Frage dieses aufgekratzten Hampelmanns.

John beugt sich über den Tisch. »Erzählen Sie uns doch genauer, wie Sie dem Lover auf die Spur kamen.«

Jetzt halte ich mich an die Fakten – in der Kurzversion. »Wir nutzten eine Menge sozialer Medien. Und sprachen mit Leuten, die die Opfer kannten.«

»War nicht eines der Opfer ein Freund von Ihnen?«

Ich runzle die Stirn. »Ja.«

John nickt mir auffordernd zu.

Ich wickle mir das Kabel der Kopfhörer um die Finger. John weiß, dass ich das nicht genauer ausführen will. Ich sage knapp: »Er wurde in seiner Wohnung erstochen.«

»Das muss hart für Sie gewesen sein. Und natürlich wurden ja auch Sie selbst fast umgebracht, als der Lover bei Ihnen einbrach.« So mitfühlend die Worte sind, John starrt mich mit geweiteten Augen an, fast manisch, als gäbe ihm das hier einen Riesenkick. Wieder beugt er sich vor. »Gleich schalte ich das Telefon frei, damit unsere Hörer Ihnen persönlich Fragen stellen können, aber sagen Sie mir doch zuerst – was ging Ihnen durch den Kopf, als es Ihnen gelang, freizukommen und den Lover zu überwältigen? Wie fühlten Sie sich da?«

Die Wahrheit kann ich ihm nicht sagen: dass jene Nacht war wie eine zweite Geburt. Dass in einer überwältigenden, atemberaubenden, herrlichen Flut von Gefühlen meine Fähigkeit zurückkehrte, etwas zu empfinden, nachdem in mir zwölf Jahre lang – seit dem Tod meines Vaters; nein, seit dem Mord an ihm – völlige Taubheit geherrscht hatte. Also lüge ich wieder. »Ich hatte Todesangst, ich kämpfte ja um mein Leben. Tatsächlich glaube ich, wenn nicht in diesem Moment Detective Inspector Dominic Bell hereingekommen wäre und mir die Ablenkung verschafft hätte, dank derer ich die Spritze packen konnte, hätte ich nicht überlebt.«

John leckt sich die Lippen, nickt schneller. »So ein Glück, dass der Detective noch zur rechten Zeit kam und mit Ihnen alles in bester Ordnung ist.«

Ich starre ihn an. Er grinst, ahnungslos, wie es in mir aussieht. Nichts ist in bester Ordnung. Es ist jetzt zwei Monate und sechs Tage her, seit ich zusah, wie das Leben aus dem Lover wich. Statt gegen die Taubheit kämpfe ich seither gegen widerstreitende Gefühle an, die sich ständig verändern. Das überwältigt mich, laugt mich aus. Und egal wie viel Mühe ich mir gebe, ich kann diese Gefühle noch immer nicht kontrollieren. Ich bin fast schon so weit, zu glauben, dass mir das nie gelingen wird. »Ich war zwar vielleicht diejenige, die den Lover entlarvte. Aber mein Leben verdanke ich Dominic Bell.«

Ohne meine Worte zu beachten, wirft John einen Blick durch die Glaswand in den Kontrollraum hinter dem Aufnahmestudio. Eine Frau im roten Pulli hebt den ausgestreckten Zeigefinger. Er nickt. »Gehen wir doch mal ans Telefon. Hallo in Leitung eins, was möchten Sie Clementine Starke fragen?«

»Hi, John. Ich bin Mary aus Biggleswade und ein Riesenfan von Crime World. Ich wollte fragen, ob Clementine momentan wieder an einem echten Fall arbeitet.«

»Ich bin weiterhin Mitglied von True Crime London, und es gibt durchaus ein paar Fälle, die uns interessieren.« Ich denke an meinen ältesten Fall – den meines Vaters. »Also ja, ich habe weiterhin Interesse an laufenden Fällen.«

Die Frau in Rot hält drei Finger hoch. John nickt. »Hallo Leitung drei, wie lautet Ihre Frage an Clementine?«

»Hier ist Mark aus Watford. Clementine, hast du am Freitag schon was vor? Lust, mit mir essen zu gehen?«

Ich schüttle den Kopf. Was für ein Arsch. Von denen gibt es bei jedem Auftritt, jeder Liveschalte mindestens einen. »Nette Einladung, Mark, freut mich, aber nein danke.«

John hebt die Augenbraue. Mit einem amüsierten Grinsen auf den Lippen sagt er hastig: »Gehen wir doch mal in Leitung zwei.«

»Hier Jody aus Brentwood. Ich hab gesehen, dass Sie Ihre Dissertation erfolgreich abgeschlossen haben – meinen Glückwunsch! –, und wollte wissen, woran Sie momentan forschen.«

Ich lächle. Endlich etwas Spannendes, worüber ich bedenkenlos reden kann. »Hi Jody. Gute Frage, vielen Dank. Ich habe gerade mit einem neuen Projekt angefangen, das sich um Risikosucht und Voyeurismus dreht. Warum stellen manche Leute ihr Leben zur Schau, und andere schauen ihnen dabei zu? Das ist ein Phänomen, das mit YouTube und Handykameras aufkam; die heutige Technik ermöglicht es jedem von uns, seine narzisstischen Tendenzen auszuleben. Was ich mich frage, ist, welchen Gefahren manche Leute sich auszusetzen bereit sind, um die meisten Follower und Likes zu bekommen, und wie extrem es werden muss, damit die Voyeure ausschalten.«

Jody will antworten, aber die Verbindung wird getrennt. Die Frau in Rot hebt die linke Hand und dreht die Rechte in einer schraubenden Bewegung hin und her. John nickt. »Wir haben noch Zeit für eine letzte Frage. Hoffen wir, dass sie gut ist! Leitung fünf, Sie sind jetzt auf Sendung mit Clementine Starke.«

»Clementine, hier ist David Ender.«

Shit. Ich fühle mich in die Enge getrieben, als wären alle Scheinwerfer auf mich gerichtet.

»Ich hab Sie schon mehrmals an der Uni angerufen, aber Sie haben nicht zurückgerufen.«

John hebt die Augenbrauen. Ich zucke mit den Schultern, tue so, als wäre mir das ziemlich egal, trinke einen Schluck Wasser. Ich weiß, dass David Ender mich angerufen hat. In den letzten zwei Wochen hat er mir zwanzigmal auf den AB gesprochen.

»Seit ich das Interview mit Ihnen in der Metro gelesen habe, will ich mit Ihnen reden. Ich bin ein absoluter Fan von Urban Explorern – Urbexern – , und die wären die perfekten Studienobjekte für Sie. Sie erkunden sogenannte Lost Places und dokumentieren ihre Abenteuer auf YouTube oder per Livestream auf eigenen Urbex-Websites. Die suchen wirklich den totalen Nervenkitzel.«

»Klingt interessant, David«, sage ich freundlich, aber betont unenthusiastisch. »Ich schaue sie mir mal näher an, ob sie als Probanden in Frage kommen.«

»Und sie haben eine immense Fangemeinde«, sagt David, schneller, drängend. »Ich kenn mich da super aus, ich könnte Sie in Kontakt mit den besten – «

»Tut mir leid, ich fürchte, mehr Zeit haben wir heute Abend nicht mehr«, fällt John ihm ins Wort, und die Produzentin blendet ihn aus. »Sie hörten Crime World in Radio W5X mit mir, John Webly, und meinem heutigen Stargast, der unübertroffenen Hobbydetektivin Clementine Starke.«

Die Frau im roten Pulli gibt uns mit dem Daumen ein Zeichen, und wir sind nicht mehr auf Sendung. Ich reiße mir die Kopfhörer ab und reibe mir die Ohren. Dass David Ender mich hier in der Sendung angerufen hat, beunruhigt mich. Ich weiß, dass er seit Wochen versucht, mich zu kontaktieren, aber mir live im Radio aufzulauern ist ein kühner Schritt. Warum liegt ihm so viel daran, mich mit diesen Urbexern in Kontakt zu bringen?

Auch John nimmt die Kopfhörer ab und sammelt seine Blätter ein. Dann grinst er mich anzüglich an. »Ich glaube, das war das erste Mal, dass ein Zuhörer einen Gast zum Essen einladen wollte.«

»Wirklich? Mir passiert das ständig.«

»Schön für Sie.« Sein Gesichtsausdruck ist seltsam. Mich überkommt die schreckliche Ahnung, dass er womöglich selbst sein Glück probieren will.

Schnell schüttle ich den Kopf, um klarzumachen, dass er sich das sparen kann. »Nein, definitiv nicht schön.«

Es gibt nur einen Menschen, der mit dieser Frage Glück bei mir hätte, aber der weigert sich momentan, auch nur ein Wort mit mir zu wechseln.

MONTAG

2CAP

Cap hat beschlossen, ihnen nichts von der verlorenen Geldbörse zu erzählen. Was würde das auch bringen? Er muss sie im Studio verloren haben; wenn er es ihnen sagt, werden sie erst recht ausflippen. Überhaupt kennen sie seine echte Identität ja nicht. So lauten die Regeln ihrer Gruppe: keine Klarnamen, keine persönlichen Details außer den Nummern der unregistrierten Prepaidhandys, mit denen sie sich zu ihren Erkundungen verabreden. Was sie tun, ist hochgradig illegal, besser also, es gibt so wenig nachweisbare Verbindungen zwischen ihnen wie möglich.

Er sieht auf die Uhr. Zehn vor zwölf. Wenn sie die heutige Erkundung durchziehen wollen, dann jetzt. Die Überwachungskameras hier werden alle sechs Monate aktualisiert – das nächste Update beginnt in genau zehn Minuten. Wenn sie nicht innerhalb der folgenden Stunde rein- und wieder rauskommen, ist ihre Chance für diesmal dahin.

Cap späht die Straße entlang zur Kreuzung. Der Verkehr auf der Hauptstraße hat abgenommen, doch noch immer sind jede Menge Taxis und gelegentlich ein Bus unterwegs. Jenseits der Fahrbahn spiegeln sich die Lichter glitzernd in der Themse. Hübscher Anblick, aber verdammt kalt. Er ist froh, dass die Surrey Street unbelebt ist; niemand bemerkt sie, wie sie mit halb ums Gesicht gewickelten Schals und zu Mützen hochgerollten Sturmhauben hier im Schutz der Türnische an der Ecke stehen. Als Alibi dafür, bei diesem Wetter und zu dieser Tageszeit draußen herumzuhängen, haben sie sich Zigaretten angezündet. Zu rauchen macht wunderbar unverdächtig.

Er nickt in Richtung der roten Backsteinfassade, in der sich der Nebeneingang der alten U-Bahn-Station befindet. »Und, sollen wir losgehen?«

»Ich schaffe das nicht.« Sass’ Stimme bebt leicht. Ihre Augen sind rotgeweint. Ihr üblicherweise seidig blondes Haar schaut fettig und wirr unter dem Saum der Sturmhaube hervor. Zum ersten Mal sieht Cap sie ohne Lippenstift. »Die Sache gestern Nacht, was wir gesehen haben …«

»Na ja, was haben wir denn überhaupt gesehen?«, fragt Beaker, der von einem Fuß auf den anderen tritt. »Es war dunkel, wir waren total auf Adrenalin. Als ich unseren Stream noch mal angeschaut hab, konnte ich rein gar nichts erkennen, nur ein Paar Stiefel und eine Hand in einem Handschuh, bevor die Kamera ausging.«

Jedx, gewöhnlich der Witzbold der Gruppe, ist heute sehr still. Die dunklen Schatten unter seinen Augen verraten deutlich, dass auch von ihm das Gesehene seinen Zoll gefordert hat. »Wir sollten zur Polizei gehen.«

Cap schüttelt den Kopf. »Nein.«

Sass runzelt die Stirn. »Aber die Frau …«

Das Bild, das er den ganzen Tag zu verdrängen versucht hat, blitzt in ihm auf: weißblondes Haar, rot bespritzte bleiche Haut, die größer werdende Blutlache. Er kneift die Augen zu, um es zu vertreiben. Sagt in härterem Ton: »Weil wir dann verhaftet werden. Wir sind widerrechtlich dort eingedrungen. Seid ihr so scharf auf ’ne Vorstrafe?«

Sass blickt unsicher. »Aber was wir gesehen haben, war – «

»Schon passiert. Daran ändert sich nichts, wenn wir’s der Polizei sagen. Auf dieser Welt überleben nur die Starken. Wir haben’s geschafft, da heil rauszukommen, aber ihr können wir ohnehin nicht mehr helfen.«

Jedx blickt ernst. »Hm. So betrachtet hat Cap irgendwie recht. Ich kann’s mir nicht leisten, aufzufliegen. Wenn die uns nun einbuchten? So oft, wie wir schon eingebrochen sind? Das wollen wir doch alle nicht?«

»Aber …« Trotz der Kälte steigt Röte in Sass’ Wangen. »Was, wenn sie noch gar nicht tot war …«

Ein Schweigen entsteht. Dann sagt Beaker, leise, kaum hörbar: »Bei all dem Blut? Das überlebt keiner.«

Cap fröstelt. Er wünschte, die anderen würden endlich still sein. »Wenn wir zur Polizei gehen, gelten wir automatisch auch als verdächtig. Womöglich werden wir des Mordes beschuldigt. Überlegt mal, wir wären in allen Medien. Unsere Leben wären ruiniert. Willst du das, Sass? Willst du uns allen das Leben ruinieren?«

»Aber wenn wir nichts unternehmen, passiert so etwas vielleicht wieder«, sagt Sass. »Und was, wenn der Mörder jetzt uns im Visier hat?«

»Wie denn? Es gibt doch nichts, um uns zu identifizieren«, versucht Jedx sie zu beruhigen. »Die Kamera oder der Livestream bringen da auch nichts. Wir sind in Sicherheit.«

»Ich kann das heute nicht. Ich … Geht ohne mich.« Mit bebenden Schultern wendet Sass sich ab. Als sie erst Cap und dann Jedx wieder anblickt, sind ihre Wangen tränenüberströmt. »Mir reicht’s für heute. Mir reicht’s einfach. Wenn ihr so eiskalt sein könnt, dass euch diese Frau einfach egal ist, dann …« Sie schüttelt den Kopf. »Dann könntet ihr sie genauso gut selber umgebracht haben.«

Cap blickt ihr nach, bis sie um die Ecke der Hauptstraße gebogen ist. Die Geldbörse erwähnt er nicht. Versucht nicht genauer darüber nachzudenken, was sie gesagt hat. Sagt sich, dass sie sich schon wieder einkriegen wird, dass die Sache keine Folgen haben wird, dass es ja nicht seine Schuld ist. Er hat diese Frau nicht umgebracht, er hat keine Ahnung, wer sie war; sie haben nicht einmal ihr Gesicht gesehen. Aber da war noch jemand anders gewesen, höchstwahrscheinlich der Mörder … Er erschauert, dann sieht er Jedx und Beaker an. »Was ist mit euch?«

Jedx ist der Erste, der etwas sagt. Er klingt wieder entschlossener; über Sass’ Weggang verliert er kein Wort. »Ich bin dabei. Unser Markenzeichen ist, dass wir fast täglich eine neue Erkundung posten. Wir haben inzwischen über zehntausend Abonnenten, damit haben wir UrbGold meilenweit überholt und sind fast schon an ExpoJunkieUK dran. Und die Sache gestern hat das Publikum total mitgerissen, und die Leute wussten ja gar nicht, was sie da sehen. Wir dürfen jetzt nicht von unserem Muster abweichen, geschweige denn aussetzen, sonst kommen noch Fragen auf. Und wenn wir heute Nacht nicht senden, gelten wir als unzuverlässig, dann springen uns womöglich Zuschauer ab, und wir können uns jede Aussicht auf Sponsorenverträge abschminken.«

Beaker nickt. »Wir haben uns das so mühsam aufgebaut. Die Sache gestern Nacht war gut für unsere Statistik – allein der Stream hat uns zweihundert neue Follower gebracht. Und die wollen mehr sehen.«

Zweihundert Follower, denkt Cap, und einen Mord auf dem Gewissen.

Um acht Minuten nach zwölf haben sie das Vorhängeschloss der geheimen Seitentür geknackt und hebeln sie mit der Brechstange auf. Die Überwachungskameras sollten jetzt abgeschaltet sein, und Security gibt es keine. Sie schlüpfen durch das Metallgitter und die Tür dahinter. Die Straße ist nach wie vor menschenleer.

»Bodycams einschalten«, sagt Jedx. »Schade, dass da unten kein Netz zum Streamen ist, aber wenigstens übertragen eure Kameras eure Daten sofort auf meine Master-Cam, und wenn ich zu Hause bin, schneide ich gleich alles zusammen und stelle es ins Netz.«

Cap nickt. Er fragt sich, was mit der Kamera ist, die sie gestern verloren haben. Wer sie jetzt wohl hat. Er weiß, wie heilig sie Jedx war. Dann schiebt er den Gedanken beiseite, konzentriert sich auf das Anstehende. Zuerst knipst er seine Stirnlampe an, dann drückt er die Aufnahmetaste an dem kleinen schwarzen Kästchen an seiner Jacke. Ein rotes Licht zeigt an, dass es funktioniert. Er schaut Jedx und Beaker an. »Seid ihr so weit?«

Sie nicken. Das Licht ihrer Stirnlampen wippt durch den Gang.

»Dann los.« Cap setzt sich in Trab, die beiden anderen folgen ihm durch die Passage. Er hat sich die Pläne der Station genau angesehen. In die Eingangshalle, von der aus es in die Tunnel hinuntergeht, sollten sie durch die alten Aufzüge gelangen können. An der linken Wand fängt der Strahl seiner Stirnlampe einen uralten, speckigen U-Bahn-Plan ein, darüber ein Hinweisschild: »Ausgang«. Rechts sind die Aufzüge. Erleichtert sieht er, dass die Türen offen stehen. Über die Schulter wirft er Beaker und Jedx einen Blick zu und zeigt auf Aufzug eins. »Hier durch.«

Der alte Aufzug mit dem dunkelgrün gestrichenen Holzpaneel bietet fast fünfzig Menschen Platz und ist noch immer in gutem Zustand. Die Türen öffnen nach zwei Seiten, und sie rennen hindurch, ihre Schritte laut auf dem Holzgitterboden. In der Halle wenden Sie sich nach rechts, vorbei am Fahrkartenschalter und dem Haupteingang, der auf The Strand führt. Auch hier gibt es keinerlei Lichtquelle außer ihren Stirnlampen, in deren Licht Cap altmodische Schilder aufscheinen sieht – Ausgang, Fahrkarten, Telefone –, dunkel verschimmelten Putz, der von den Wänden bröckelt, ein Stück Decke über ihnen, das mit gelber Plastikfolie geflickt ist.

Hinter ihm moderiert Jedx ihre Entdeckungstour für die Kamera. »… hoffe, ihr seht das bei euch zu Hause. Sass konnte heute leider nicht dabei sein, aber dafür haben wir was ganz Neues für euch: drei verschiedene Ansichten von drei Bodycams. Live können wir so tief unter der Erde leider nicht senden, aber dafür könnt ihr euch jetzt aus drei Perspektiven anschauen, wie diese alte Station aussieht. Sollte eigentlich ziemlich cool sein …«

Sie sind an der Treppe angekommen. Bis zu den Bahnsteigen sind es hundertvierzig Stufen, hat Cap gelesen. Die Treppe ist steil, gewunden, und der untere Teil der Wand scheint zu leuchten.

»Sieht gespenstisch aus«, sagte Beaker. »Was ist das?«

»Hier hat Transport for London versuchsweise Leuchtfarbe eingesetzt, um herauszubekommen, ob das die Sicherheit für die Fahrgäste erhöht«, sagt Jedx. »Schließlich hat man die Idee dann doch nicht in anderen Stationen umgesetzt, aber für uns ist es praktisch. Die Stufen sind viel besser zu sehen.«

»Sind auch verdammt viele«, sagt Beaker.

»Ja«, stimmt Jedx zu. »Abgefahren, wie die Wendeltreppe in diesem Licht auf die Augen wirkt. Ich hab das Gefühl, ich fange an zu schielen.«

Er hat recht. Cap ist froh, als sie unten ankommen. Er ist nervös. Hendleton geht ihm einfach nicht aus dem Kopf. Vor ihnen ist ein baufälliger Teil der Station durch Metallgitter abgetrennt. Er späht hindurch und erblickt einen finsteren Abgrund, eine riesige Grube, in der ein paar Maschinen vor sich hin rosten. Erschauert.

»Welches Gleis?«, fragt Jedx.

Cap dreht sich zu ihm um. »Gehen wir zuerst auf Gleis zwei, das ist am längsten außer Betrieb.«

Sie hasten durch den Gang auf den Bahnsteig. Hier riecht es modriger. Beaker bekommt einen Hustenanfall. In jedem Atemzug schmeckt Cap Staub. Er lässt den Strahl seiner Stirnlampe über den Bahnsteig gleiten. Auf ihrer Seite der Gleise hängen alte Werbeplakate für Madame Tussauds und das Planetarium an der Wand, und die aus kleinen Fliesen bestehenden original Stationsbezeichnungen verkünden Strand statt Aldwych. Die Wand jenseits der Gleise ist nicht so gut erhalten: Fliesen sind abgefallen und ein guter Teil der Holztäfelung ist entfernt worden. Die Bahntunnel sind in beide Richtungen zugemauert.

»Wollt ihr die Gleise genauer sehen?«, fragt Jedx für die Zuschauer, die später das Video zu sehen bekommen werden. Er wartet einen Augenblick, wie auf eine Antwort, dann springt er mit einem Juchzer vom Bahnsteig aufs Gleis. Während er bis ganz ans Ende geht, erzählt er weiter: »Ist das cool. Ihr seht die beiden Schienen, ja? Wenn sie in Benutzung wären, bekäme ich eine Spannung von sechshundertdreißig Volt ab, wenn ich sie gleichzeitig berühren würde.«

Cap schaut auf die Uhr. Er ist unruhig; es ist fast halb eins. In einer halben Stunde werden die Sicherheitskameras wieder ans Netz gehen. »Kommt, wir müssen uns beeilen, gehen wir schnell rüber zu Gleis eins.«

Gleis eins sieht fast aus, als wäre es noch in Gebrauch. Das Aldwych-Schild hat das moderne Design der Verkehrsbehörde, und der Bahnsteig ist sauber und ordentlich. Anders als auf Gleis zwei liegt kein Staub in der Luft. Und der Bahntunnel ist noch befahrbar.

Jedx moderiert weiter. »So, hier wurden die U-Bahn-Szenen für Hunderte von Filmen gedreht. DieStundederPatrioten,VwieVendetta, Sherlock und was weiß ich noch alles.« Er zeigt auf die Plakate an der Wand – eine Werbung für das Imperial War Museum und eine Ankündigung der Verlängerung der Piccadilly Line bis Heathrow. »Die sind nicht original, wahrscheinlich stammen sie vom letzten Dreh.«

Cap geht den Bahnsteig entlang. Er ist angespannt, übernervös. Der Kick, den ihm eine Entdeckungstour normalerweise bereitet, scheint heute zu unterschwelliger Angst zu mutieren. Jedes Mal, wenn sie einen neuen Teil der Station betreten, macht er sich auf einen entsetzlichen Anblick gefasst – immer wieder steht ihm die blonde Frau in Hendleton vor Augen. Wieder sieht er auf die Uhr. 12:39. Er will das hier nur noch hinter sich bringen.

Plötzlich nähern sich von hinten schnelle Schritte – und eine Hand legt sich auf seiner Schulter. Er zuckt zusammen. »Was – ?«

»Ich hab mir gerade überlegt, ich könnte doch Ausschnitte der hier gedrehten Filme mit hochladen, wenn ich das Material ins Netz stelle«, sagt Jedx. »Was meinst du?«

Cap ist das völlig egal. Darüber können sie reden, wenn sie draußen sind. »Klar. Wie du meinst.«

»Cool.«

Er kommt ans Ende des Bahnsteigs. Reglos bleibt er stehen, schaltet die Bodycam aus und starrt in den Tunnel. Die Notleuchten an der Wand tauchen ihn in düsteres Licht. Aus seinen Nachforschungen weiß er, was das bedeutet: Solange diese Leuchten brennen, stehen die Gleise nicht unter Strom, sodass Wartungstechniker sie ungefährdet betreten können.

»Alles okay, Cap?«

Er dreht sich um. Beaker kommt auf ihn zu. Ist mit mir alles okay, fragt er sich, aber nein, verdammt, das ist es nicht. Beaker und Jedx scheint die vergangene Nacht kaum etwas auszumachen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Sass so verzweifelt fortgelaufen ist. Ihr Verhalten kommt ihm seltsam vor, unnatürlich. Doch er nickt nur stumm und senkt den Blick auf die schmierigen, lange unbenutzten Gleise. Eine rußverdreckte Maus huscht unter die Schienen und ist weg. Auch er hat sich oft gewünscht, einfach weg zu sein, den finanziellen Fesseln zu entkommen, die ihn so sehr einschnüren: die Häuser, die Autos, die teuren Schulen der Kinder, die Schönheits-OP-Sucht seiner Exfrau. Doch nach der vergangenen Nacht, nachdem er gesehen hat, was dieser Frau angetan wurde, weiß er, dass er leben will, um jeden Preis.

»Was wir letzte Nacht gesehen haben. Das war garantiert gestellt.« Beakers Stimme klingt künstlich forsch; Cap könnte nicht sagen, ob sich dahinter Furcht verbirgt oder etwas anderes. »Das muss einfach gestellt gewesen sein.«

»Meinst du?« Cap denkt an seine Töchter Poppy und Daisy, und schlagartig wird ihm die Brust eng. Er schluckt mühsam. Würde eine von ihnen so verbluten wie die Frau in den Hendleton Studios, ihm würde das Herz brechen. Trotzdem würde er wissen wollen, was mit ihr geschah. Würde sie ein letztes Mal sehen wollen.

Würde Abschied nehmen wollen.

Cap schüttelt den Kopf. Die Frau sollte aus dieser Holzapparatur befreit werden. Ihre Familie sollte erfahren, wo sie ist; sollte zumindest die Chance auf eine ordentliche Ermittlung bekommen. Sass hat recht. Sie dürfen das nicht verschweigen.

Er schaut Beaker an und verzieht das Gesicht. »Wir sollten zur Polizei gehen.«

3DOM

Ein Tod in der U-Bahn ist immer eine blutige Angelegenheit, aber der hier ist noch mal was anderes. Dom lässt das Telefon auf die Basis fallen und richtet den Blick über den Tisch hinweg auf sein Team: Detective Sergeant Abbott und Detective Constable Parekh. »Wir haben einen Toten in Holborn Station.«

Abbott blickt von seinem Computer auf. »Das ist doch eigentlich Sache der British Transport Police. Warum rufen die uns an?«

Dom sieht seinen Sergeant nicht an und gibt sich keine Mühe, den Ärger in seinem Ton zu unterdrücken. »Weil es kein Selbstmord war. Der Tote ist nicht auf den Gleisen gestorben.« Er winkt Parekh zu sich. »Holen Sie Ihren Mantel.«

»Gestorben, Chef? Nicht ermordet?« Parekh ist bereits aufgesprungen, wickelt sich ihren rostroten Schal um den Hals und schlüpft in ihre wollene Marinejacke. In ihrem Eifer fegt sie einen Aktenstapel vom Tisch. Schnell rafft sie ihn zusammen und deponiert ihn auf ihrem Stuhl. »Wo genau?«

»Auf der Straße vor dem Eingang, haben sie gesagt, aber es war auch kein gewöhnlicher Verkehrsunfall. In ihren Überwachungskameras waren ein paar seltsame Sachen zu sehen.« Flüchtig schaut er Abbott an. »Daher der Anruf.«

»Das macht Sinn.« Abbott nimmt sein Handy und will aufstehen, aber Dom fängt seinen Blick auf. »Sie können hierbleiben.«

Abbott runzelt die Stirn und macht Anstalten, etwas zu sagen, doch Dom wendet sich rasch ab. Er will keine Diskussion. Und er will Abbott nicht dabeihaben – eigentlich hätte er ihn am liebsten überhaupt nicht mehr dabei. Nicht nach dem, was er getan hat.

Dom zieht seinen Parka von der Stuhllehne und geht zur Tür. »Also los, Parekh. Sie fahren.«

In der morgendlichen Rushhour ist der Verkehr zum Erliegen gekommen, doch mit Hilfe des aufsetzbaren Blaulichts gelingt es Parekh, sich in ganz annehmbarer Zeit durchzudrängen. Um Viertel vor acht erreichen sie Holborn Station. Zu Doms Erleichterung ist der Tatort bereits gut gesichert. Die Straße ist abgesperrt, ein blau-weißes Polizeiband um ein gelbes Taxi herumgespannt, und über der Leiche ist schon ein Spurensicherungszelt aufgebaut, das diese von den neugierigen Blicken der verdammten Gaffer abschirmt, die sich natürlich schon wieder hinter der Absperrung drängen.

Dom schlüpft unter dem Band hindurch, Parekh immer neben sich. Vor dem Taxi hält er an, betrachtet die Delle auf der Motorhaube, die zersprungene Windschutzscheibe, das Blut, das die verbliebenen Splitter rot färbt. Folgt mit dem Blick der Blutspur von der Motorhaube auf den Asphalt.

Er holt tief Luft, wendet den Blick ab und nennt dem Uniformierten ihre Namen fürs Protokoll. Dann tritt er ins Zelt. Ihn überrascht nicht, dass Emily Renton, die Gerichtsmedizinerin, bereits vor Ort ist.

Er dreht sich zu Parekh um. »Können Sie herausfinden, was es schon gibt, während ich mit Dr. Renton rede?«

Parekh nickt so schwungvoll, dass ihr taillenlanger schwarzer Pferdeschwanz hüpft. »Mach ich, Chef.«

Normalerweise ist er gern ein paar Minuten mit dem Opfer allein, um ein Gefühl für den Ort des Geschehens zu bekommen, aber in einer solchen Situation ist das sinnlos. Das Zelt engt den Tatort künstlich ein. Und dank der Absperrung ist die übliche Dynamik der Straße völlig verändert.

Er betrachtet das Opfer. Es ist männlich, viel mehr ist nicht zu erkennen, weil die Leiche auf dem Bauch liegt. Armer Kerl, denkt Dom. Die Arme des Mannes sind ausgestreckt, die blutbefleckten Hände scheinen sich in die Luft zu krallen. Das Zifferblatt seiner silbernen Breitling-Armbanduhr ist zersplittert. Die Uhr zeigt 6:41.

Dr. Renton kniet neben der Leiche und untersucht den Oberkörper. Ihre widerspenstigen braunen Locken sind zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt. Ihr weißer Spurensicherungsanzug ist eine Nummer zu groß und wirft an Hüfte, Taille und Ellbogen Falten, was ihr das Aussehen eines leicht eingeschrumpelten Marshmallow-Mannes verleiht; es sieht fast komisch aus. Fast. Aber Tod und Komik vertragen sich nicht, jedenfalls nicht für Dom. Er ist froh, dass Emily heute hier ist. Er hat großen Respekt vor ihrer Meinung, und sie haben schon immer gut zusammengearbeitet, auch wenn sie gelegentlich zu mütterlichen Anwandlungen ihm gegenüber neigt. »Und, was können Sie mir sagen?«

Emily blickt auf. Verzieht das Gesicht. »Was die letztendliche Todesursache angeht, so brauche ich Ihnen die wohl nicht zu erklären.«

»Tun Sie mir den Gefallen.«

»Na gut.« Sie steht auf. Ihr Schutzanzug ist an den Knien schwarz, und ihre linke Wange und der linke Ärmel sind dreckverschmiert. Nüchtern und klar sagt sie: »Das Opfer ist männlich, etwa einen Meter neunzig groß und in mittlerem Alter. Die Todesursache sehen Sie vor sich, aber der Verkehrsunfall ist nicht das Einzige, was ihm heute Nacht zugestoßen ist.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dazu muss ich ihn umdrehen.« Sie vergewissert sich, dass alle nötigen Fotos von der Leiche in situ gemacht worden sind, dann winkt sie einen Spurensicherer heran, und zu zweit drehen sie den Mann auf den Rücken.

»Shit.« Jetzt wird Dom klar, warum man ihn gerufen hat.

»Genau.« Emily kniet sich wieder neben die Leiche. »Neben den Wunden, die das Opfer durch den Aufprall auf das Auto erlitten hat, sind ihm in den vergangenen Stunden mehrere Stichwunden zugefügt worden. Sie wissen ja, dass ich nicht gern spekuliere, aber ich wage zu behaupten, dass er schon viel Blut verloren hatte, bevor das Taxi ihn erwischte.«

»Die Stichwunden waren also nicht die Todesursache?«

»Nein, aber angesichts der Anzahl und Tiefe der Stiche glaube ich, dass sie zum Tode hätten führen können, wenn er nicht vorher von dem Taxi erfasst worden wäre. Das kann ich aber noch nicht sicher sagen. Da müssen Sie warten, bis ich ihn im Institut gründlich untersucht habe.«

Dom nickt. »Gern.«

»Ist mir wie immer ein Vergnügen.« Emilys Ton ist sarkastisch, doch sie lächelt. »Also, kann ich weitermachen?«

Trotz der grausigen Situation muss auch Dom lächeln. Emily gehört nun einmal zu den Guten. »Klar.«

»Chef?«

Während Emily wieder an die Arbeit geht, kommt Parekh herein, hinter sich einen stämmigen Kerl mit runder Brille und in einer neonfarbenen Sicherheitsweste. »Das ist Jeff Timber, der Gebietsleiter der BTP.«

Dom erkennt den Namen wieder; das war der Anrufer vorhin. »Wo ist der Taxifahrer?«

»Der wurde bei dem Unfall auch ziemlich zugerichtet und hatte Atemprobleme, deshalb wurde er in die Klinik gebracht.«

Dom nickt und sagt zu Parekh: »Setzen Sie Abbott dran. Er soll herausfinden, wo der Mann liegt und wann wir mit ihm reden können.« Dann wendet er sich wieder Timber zu. »Ich habe das Opfer gerade gesehen. Es hatte offenbar schon vor dem Unfall Stichwunden erlitten. Am Telefon sagten Sie, Ihre Kameraaufnahmen gäben Anlass dazu, den Tod als verdächtig einzuschätzen. Sieht man da etwa, wie auf ihn eingestochen wurde?«

Timber schüttelt den Kopf. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Man sieht nur, wie er vom Bahnsteig nach oben kommt, und wir haben auf dem ganzen Weg eine Blutspur.«

»Also wurde er in einer U-Bahn angegriffen, bevor er ausgestiegen ist?«

»Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Der Bahnsteig, von dem er kam, wurde heute Morgen erst später freigegeben, weil in dem Tunnel noch Wartungsarbeiten liefen. Zu der Zeit, als er auftauchte, war dort noch kein Zug eingefahren.«

»Auftauchte?«

Timber reibt sich die gerunzelte Stirn. »Besser kann ich’s nicht beschreiben. Der Typ erschien plötzlich einfach in dem Tunnel, der zu Bahnsteig vier führt. Vorher ist er nirgends in der Station zu sehen. Als wäre er aus dem Nichts gekommen.«

4CLEMENTINE

Manchmal träume ich davon, meine Kollegen umzubringen. Montagmorgens zum Beispiel. Professor Wade besteht darauf, dass wir jede Woche unsere Arbeit präsentieren und uns über unsere Projekte austauschen. Für mich ist das verschwendete Zeit. Ich handle lieber, als zu reden, aber da bin ich in der Minderheit.

Wir sitzen eng gedrängt in der verglasten Besprechungszelle, die eigentlich nur für zwei Leute gedacht ist. Jenseits der Glasscheibe liegt der Großraum-Arbeitsbereich unserer Fakultät. Die Arbeitsplätze gleich vor der Zelle sind die meiner Forschungsgruppe, zwei Reihen à drei Plätze, sechs insgesamt. Ich wünschte, ich säße an meinem Platz. Stattdessen muss ich Wade zuliebe so tun, als gäbe ich mir Mühe, mich in das kollegiale Miteinander einzugliedern, mich den Regeln der Hochschule zu beugen, meine Daseinsberechtigung an der Fakultät nachzuweisen. Wenn ich nicht mitmache, werde er dafür sorgen, dass ich meine Forschungen nicht weiterführen dürfe, hat er gedroht.

Also bin nun ich an der Reihe, mich ans Whiteboard zu stellen und über meine Arbeit zu referieren. Ich stehe auf und zwänge mich an Wade vorbei nach vorn. Ich höre ihn tief einatmen. Seine Hand berührt meinen Po, zu fest für eine zufällige Berührung. Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Er trägt eine gespielt unschuldige Miene zur Schau.

Er muss vorsichtiger sein.

Mit einem blutroten Marker schreibe ich in zwanzig Zentimeter hohen Großbuchstaben das Wort OBSESSION ganz oben ans Whiteboard. Dann drehe ich mich zu den anderen um. Es sind weniger als üblich, nur Wade und zwei meiner Forscherkollegen: Jan mit ihrem schlechten Atem und den unvermeidlich pinken Klamotten und Otto, hochintelligent und mit so farblosen Wimpern, dass sie fast durchsichtig scheinen und ihm das Aussehen eines Außerirdischen geben. Ich tippe mit dem Stift gegen das Wort und lege los. »Eine Obsession ist eine Idee oder ein Gedanke oder, in diesem Fall, eine Tätigkeit, um die sich das Denken einer Person ständig dreht. Meine Arbeit beschäftigt sich in erster Linie mit der Entstehung der untersuchten Obsession: was für Faktoren – welche Persönlichkeitszüge, Antriebe und Erfahrungen – jemanden dazu bringen, Risiken zu suchen oder anderen dabei zuzusehen. Was geht in diesen Menschen vor, wenn sie sich ihrer Obsession überlassen, was schürt diese weiter und führt dazu, dass sie sich ihr immer wieder hingeben?« Ich zwinge mich, Jan und Otto anzulächeln. »Kurz gesagt: Was macht diese Leute abhängig?«

Ganz hinten in der Zelle hört Wade jedem meiner Worte genau zu. Wie immer sieht er tadellos aus: grauer Anzug, kariertes Hemd, keine Krawatte. Sein schwarzes Haar – viel zu schwarz für einen Mann seines Alters – ist zur charakteristischen Tolle frisiert. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Finger unter dem Kinn zu einem Dreieck aufgestellt, beobachtet er mich. Unsere Blicke treffen sich. Er schürzt die Lippen. »Wie kommst du mit den Fallstudien voran?«

Ich halte seinen Blick fest. »Mit der Durchsicht der Literatur bin ich fertig. Jetzt habe ich den Stichprobenrahmen festgelegt und bin dabei, erste Personen zu kontaktieren.«

Wade nickt, doch in seinem Blick ist etwas, was mir das Gefühl gibt, dass ihn meine Antwort nicht zufriedenstellt.

Wir hatten einen heftigen Streit darüber, wie und wo ich arbeiten soll. Er findet, nachdem er mich zur wissenschaftlichen Mitarbeiterin gemacht hat, sollte ich mich besser ins Team einfügen, aber da bin ich anderer Meinung. Aus Prinzip besteht er darauf, dass ich wöchentlich mindestens fünfzehn Stunden am Institut verbringe. Um ihm diskret den Stinkefinger zu zeigen, habe ich mir zum Ziel gesetzt, möglichst viele dieser Stunden dann im Institut zu verbringen, wenn andere Akademiker normalerweise nicht dort sind. Doch seit ich extrem früh zur Arbeit komme, tut er das auch. Und er setzt immer mehr Arbeitstreffen an, zu denen ich verpflichtet bin zu erscheinen. Er versucht mich ständig unter Beobachtung zu halten, und das gefällt mir nicht. Als glaubte er, er könnte Besitzansprüche stellen, nur weil ich als Doktorandin ein paarmal mit ihm im Bett war. Er hat noch nicht kapiert, dass man mich nicht kontrollieren kann. Das widerspricht meinem Naturell.

»An meinen ersten voyeuristischen Probanden konnte ich feststellen, dass ihr Antrieb zwar gelegentlich sexueller Art ist, oft gepaart mit Impotenz oder dem Gefühl, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen. Aber meistens treibt sie das Bedürfnis an, eine innere Leere zu füllen. Sie suchen nach einer Bedeutung ihrer Existenz oder wollen Teil eines größeren Ganzen sein.«

Jan winkt mir zu; so kündigt sie immer eine Frage an. »Und wie bekommen sie das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein?«

»Durch das Internet. In den sozialen Medien können sie die Erlebnisse anderer Leute mitverfolgen und in Chats darüber diskutieren.« Ich schreibe die Worte impotent, unzulänglich und Bedeutung ans Whiteboard. »Und sie bekommen sofort Bestätigung. Diesen Punkt werde ich genauer ausloten, indem ich unter Laborbedingungen ihre geistigen und physiologischen Reaktionen messe. Nach meinen Erwartungen sollten zunächst Adrenalin ausgeschüttet und dann Endorphine frei werden. Also, kurz gesagt sollte Voyeurismus zu Selbstbestätigung und Glücksgefühlen führen.«

Wade reibt sich den Unterkiefer. Leckt sich die Lippen. »Und die Risikosüchtigen?«

»Dazu stelle ich gerade noch den Stichprobenrahmen zusammen. Mein Schwerpunkt wird auf Personen liegen, die in Gruppen riskante Expeditionen unternehmen und dabei eine signifikante Anzahl von Followern haben. Wichtig ist, dass ihre Aktivitäten mit Gefahren verbunden sind.«

Wade schließt kurz die Augen. Schüttelt den Kopf. »Du arbeitest seit Monaten hieran. Ich hatte erwartet, dass du inzwischen all deine Probanden interviewt hättest.«

Das ist völlig unrealistisch. Seine Beschwerde hat nichts mit meiner Arbeit zu tun. Ich komme schneller voran als all seine anderen Mitarbeiter, das weiß er genau. Ich habe seine Körpersprache beobachtet. Die tiefen Atemzüge, das kurze Augenschließen, die Bewegungen, mit denen er sich über das Gesicht streicht, als müsse er irgendeine Emotion abwischen – all das sind Anzeichen von Frustration. Und dann die ständigen »zufälligen« Berührungen. Wir haben seit zwei Monaten nicht mehr miteinander geschlafen, und er kann nicht verstehen, warum ich daran kein Interesse mehr habe. Er hat nicht begriffen, wie sehr ich mich verändert habe.

»Die erste Phase werde ich im Lauf dieses Monats abschließen.«

Er hält meinen Blick fest. »Nein, das ist zu lang. Ich möchte, dass du deine ersten Ergebnisse in einem Paper für die Psych2019 zusammenfasst. Beschleunige dein Verfahren, sodass du die erste Phase in den nächsten zwei Wochen verschriftlichen kannst.«

Ich balle die Fäuste. Meine Nägel bohren sich in die Handflächen. »Ich bin noch auf der Suche nach risikosüchtigen Probanden.«

»Dann finde welche, und zwar schnell.«

Zwei Wochen. Das reicht kaum aus, um potenzielle Teilnehmer zu suchen und auszuwählen, geschweige denn, um sie zu befragen und einen vorläufigen Bericht zu verfassen. Das weiß Wade. Ich will ihm schon sagen, er soll sich zum Teufel scheren, da sagt Otto, dem die Spannung zwischen uns offenbar völlig entgeht: »Ich hätte da eine Frage.« Er blinzelt langsam, in Gedanken offenbar noch ganz bei dem, was ich soeben vorgestellt habe. »Was war eigentlich dein Auslöser dafür, dich mit Obsessionen zu beschäftigen?«

Ich atme scharf ein, weil mir, ehe ich es verhindern kann, das Objekt meiner eigenen Obsession in den Sinn kommt. Wildes Gefühlschaos durchflutet mich: Verlangen kämpft gegen Ärger an, Beschützerinstinkt gegen Reue. Ich schiebe das Bild weg, ehe die Erinnerung an unsere letzte Begegnung in mir ablaufen kann, aber meine körperlichen Reaktionen sind nicht abzustellen: das glühende Prickeln auf der Haut, der pochende Puls, dieses maßlose Sehnen tief in mir. Doch davon sage ich nichts. Stattdessen zähle ich bis vier, atme aus und setze ein falsches Lächeln auf. »Ich fand das Konzept einfach intellektuell stimulierend.«

Jan und Otto nicken, zufrieden mit meiner Antwort. Doch Wade kneift die Augen zusammen und starrt mich weiter an. Er kennt mich besser und weiß, dass ich lüge, aber ich werde ihm niemals die Wahrheit sagen.

Mein Auslöser ist Detective Inspector Dominic Bell, und ich bin Probandin Nummer null. In mir herrschen wilde Gedanken und Leidenschaften und werden immer stärker. Oft sind sie nahe daran, meinen Verstand zu überwältigen und dem Wolf in mir freie Bahn zu geben.

Und ich befürchte, so ein Kontrollverlust wäre fatal.

5DOM

Holborn Station sieht aus wie die Kulisse für einen Film über einen postapokalyptischen Geisterzug. Dom lässt den Blick durch die Eingangshalle schweifen, über die weggeworfenen Metro-Exemplare neben den Drehkreuzen, die Fast-Food-Verpackungen, die in der Zugluft in Richtung Aufzüge kullern wie Laub. Es ist seltsam, die Rückstände der Rushhour ohne die dazugehörigen Menschen zu sehen. Der Ort wirkt trostlos.

Parekh scheint davon unbeeindruckt. Mit gewohnter Effizienz schlägt sie ihren Notizblock auf und fährt mit dem magentafarben lackierten Nagel die Zeilen entlang. »Eine vorläufige Identität haben wir schon. Das Opfer hatte eine Oyster Card und eine Kreditkarte auf den Namen Thomas Lee bei sich. Abbott wird die Bank um die Daten bitten. Und der Taxifahrer wurde ins University College Hospital gebracht; Abbott wird dort nachfragen, wie es ihm geht.«

»Gut gemacht.« Da er nicht über Abbott nachdenken will, sieht Dom den BTP-Typen an, Jeff Timber. »Dann zeigen Sie mir, was Sie alles haben. Erst die Sachbeweise, dann die Kameraaufnahmen, ja?«

Timber räuspert sich. »Übrigens gibt es auch eine Zeugin. Sie – «

Dom wendet sich ihm voll zu. »Und das sagen Sie mir erst jetzt?«

»Ich dachte, zuerst sollten wir den Tunnel erledigen. Dass die Station gesperrt ist, hält den gesamten Betrieb auf …«

Mist, denkt Dom. Ja, natürlich. Während der morgendlichen Rushhour eine Station zu sperren, muss ein Albtraum für die Regulierung des öffentlichen Verkehrs sein. Durch das heruntergelassene Metallgitter der Eingangshalle sieht er zu dem Spurensicherungszelt hinüber. Wie der arme Kerl da auf dem Asphalt zerschreddert wurde, muss auch ein Albtraum gewesen sein.

»Die Zentrale will, dass wir das so schnell wie möglich erledigen«, fährt Timber fort. »Und als Gebietsleiter liegt die Entscheidung, wann die Station gesäubert und wieder freigegeben wird, bei mir.«

»Aha?« Dom mustert ihn finster. Er will keine Kompetenzstreitigkeiten lostreten, aber er kann nicht verbergen, wie frustriert er ist. »Hier ist heute Morgen ein Mensch gestorben. Wir müssen herausfinden, warum. Und da er dort draußen mitten auf der Straße gestorben ist, liegt es an mir, diese Ermittlung zu leiten.«

Über Timbers rechtem Auge zuckt ein Muskel. Er wendet den Blick ab.

»Chef?«, ruft Parekh vom letzten Drehkreuz der Barriere herüber. Sie steht vorgebeugt, deutet auf den Boden und ist schon dabei, sich die Latexhandschuhe überzuziehen. »Hier ist er durchgekommen. Die Spur führt dahinten zur Rolltreppe.«

Dom eilt zu ihr. Die rotbraunen Tropfen auf den Fußbodenfliesen sind schon getrocknet, aber es besteht kein Zweifel, woraus sie bestehen. Er sieht zu Timber hinüber. »Sie sollten Ihren Leuten sagen, dass die Station noch eine ganze Weile geschlossen bleiben muss. Sie wissen genau, dass unsere Spurensicherer jeden Punkt seines Weges genau untersuchen müssen.«

Timber wird bleich, gibt sich aber kooperativ. »Ich rufe an.«