"Wir werden immer vier sein" - Monika Vogeler - E-Book

"Wir werden immer vier sein" E-Book

Monika Vogeler

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Beschreibung

In authentischer, teils drastischer Sprache, oft voller Poesie und Zartheit beschreibt Monika Vogeler, wie der frühe Krebstod ihres Mannes ihr Leben völlig auf den Kopf stellte und sie nach und nach wieder die Kraft für einen Neubeginn fand. Äußerlich läuft der Alltag, das Leben muss "weitergehen": Die beiden heranwachsenden Töchter brauchen die Mutter mehr denn je, der Lebensunterhalt will gesichert, der Alltag gestemmt werden. Scheinbar funktionieren wichtige Lebensstationen wie Abitur, Auslandsaufenthalt oder Führerscheinprüfung der Töchter, ihre innere Zerrissenheit und die nur mühsam überdeckte unendliche Trauer brechen sich dennoch in vielen Momenten des Lebens Bahn. Moni Vogeler schafft das alles und schildert in ihrem kraftvollen und mitreißenden Buch, wie es ihr gelingt, sich und ihrer Familie ein neues Leben aufzubauen.

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Monika Vogeler

„Wir werdenimmer viersein“

Wie ich mir ein neues Lebenaufbaute, als der Krebs mirmeinen Mann nahm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Klimaneutrale Produktion.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2022 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, www.werkstattmuenchen.com

Umschlagabbildung: © shutterstock/beerkoff

Satz: Bonifatius GmbH, Paderborn

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

eISBN 978-3-89710-973-5

Weitere Informationen zum Verlag:

www.bonifatius-verlag.de

Für Marie, Emilie und Tommi Lieben meines Lebens

Inhalt

Krebs

Prolog

1Erschütterung

2Ereignisse

3Feste

4Stärkungsmittel

Kraft

Glaube

Freunde

5Haltepunkte

6Durchs Jahr

Müdigkeit

Urlaub

Herbst

7Liebe

8Marie und Emilie

9Trauer

10Entspannung

11Hoffnung

12Apfelbäume im Garten

13Möwen über dem Meer

14Glitzer unter der Sandbank bei Nacht

Epilog

Vergeht Schmerz?

Vergeht Angst?

Vergeht Liebe?

Ich habe keine Ahnung.

Noch nicht.

Aber ich habe Zeit, es herauszufinden.

Frage: Was ist Krebs?

Antwort: ein Arschloch.

Wenn Krebs ein Mitschüler wäre, dann garantiert der, der in keine Mannschaft gewählt würde. Der niemals die Hausaufgaben zugesteckt bekommen würde, der in keiner Arbeit abschreiben dürfte und niemals zu einer Party eingeladen würde.

Weil ihn alle zum Kotzen finden.

Weil er einfach scheiße ist.

Wenn Krebs eine Person wäre, dann wäre das der Typ, der mit fettigen Haaren, üblem Mundgeruch, nach Schweiß stinkend, in rotzdreckigen Klamotten auf jeder Party erscheint. Sich an die schönsten, liebevollsten Gäste ranwirft, um ihnen dann ins Gesicht zu spucken.

Den jeder in hohem Bogen zur Tür rauswerfen will.

Und der einfach nicht geht.

Wir können ihn nicht leiden, weil er unangenehm ist.

Schmarotzer. Er biedert sich an.

Belügt.

Betrügt.

Stiehlt.

Und trotzdem umgarnen und umschmeicheln wir, versuchen zu besänftigen, sind freundlich, höflich, liebevoll und zeigen, dass wir bereit sind, alles zu geben.

Und dann verhält sich Krebs wie ein narzisstischer Diktator. Zuerst macht er glaubhaft, wir würden Freunde und zusammen an einem Strang ziehen, und kurz darauf schießt er wie wild um sich, um alles zu zerstören.

Prolog

Tommi starb im Herbst 2017.

Er wurde 48 Jahre alt.

So alt bin ich heute.

Unsere Töchter Marie und Emilie waren damals 17 und 16 Jahre alt.

Teenager, die bereit sind, das Leben in die Hand zu nehmen.

Die Welt zu erobern.

Und dann kam dieses Arschloch vorbei, zündete die Bombe, um alles in Schutt und Asche zu legen.

Niemals.

Nicht mit mir.

Nicht mit uns.

Das hatte ich Tommi versprochen.

Und dafür würde ich kämpfen.

Zusammen mit unseren Töchtern.

Und wir begannen. Aber nicht sofort.

Im November 2014 wurde bei ihm ein Adenokarzinom der Parotis diagnostiziert. Auf deutsch: ein bösartiger Tumor der Ohrspeicheldrüse.

Ziemlich selten. Ziemlich bösartig. Ziemlich klein. Gerade einmal zwei Zentimeter im Durchmesser.

Also, ein Arschloch, das sich auch noch feige versteckt. Dieses Miststück hat dann seine Brigaden an elenden Helferlein über einen Zeitraum von drei Jahren in die Lunge, den Kopf und die Wirbelsäule entsandt. Es folgten drei Operationen, nein vier, wenn ich das Einsetzen des Ports (venöser Zugang, um Chemotherapien, Kochsalzlösungen oder künstliche Ernährung durch den Körper zu jagen oder um Blut abzunehmen) mitzähle.

1.OP

Entdeckung des Tumors

2.OP

vollständige Entfernung des Tumors inklusive 25 Lymphknoten, davon 11 metastasiert, gleichzeitige Rekonstruktion des Nervus Faszialis

3.OP

Port

4.OP

Lymphknoten linksseitig, um Kreuzmetastasierung auszuschließen, Lymphknoten ohne Befund

Danach Bestrahlungen.

1.Zyklus

33 Bestrahlungen Kopf-/Halsbereich

2.Zyklus

15 Bestrahlungen Kopf

3.Zyklus

10 Bestrahlungen Kopf

4.Zyklus

10 Bestrahlungen Kopf

5.Zyklus

10 Bestrahlungen Wirbelsäule, palliativ

Zwischendurch Chemotherapien/Antikörpertherapien

1.Chemo

5 Tage unterstützend zur Bestrahlung

2.Antikörper

20 Tage Lunge

3.Chemo

20 Tage Lunge

Tommi konnte wochenlang nichts essen, weil die Bestrahlung den kompletten Mund- und Rachenraum verbrannt hatte, über viele Monate nichts schmecken, weil die Chemo die Geschmacksnerven beschädigte.

In den letzten Monaten trank er am liebsten einen Brei aus warmer Milch, Schmelzflocken, Leinöl, Banane und braunem Zucker. Alles gut püriert. Mittags aß er gerne ein Leberkäs-Brötchen und dazu Rote-Beete-Salat. Und total gerne Schokolade. Und er trank so gerne Kaffee. Am liebsten mit uns inklusive Kuchen.

Süßes ging eigentlich immer gut.

Tommi gab nie auf.

Niemals.

Das stand gar nicht zur Diskussion.

Und wir gaben auch nicht auf.

Keine Frage.

Wir reisten viel. Schon immer. Wir wollten Marie und Emilie so viel von Deutschland und der Welt wie nur möglich zeigen. Tommi verdiente gut als Manager einer großen deutschen Autovermietung. Und sein Motto lautete: Geld ist da, um es auszugeben. Wir lebten dabei nie über unsere Verhältnisse, aber wir machten uns das Leben schön: New York, Edinburgh, Hamburg, Glasgow, Dublin, Paris, Barcelona, Salzburg, Palma, Berlin, Boston, Philadelphia, München.

Im August, bevor er starb, reiste er mit Emilie nach Australien zu Mucks, einem Aborigine, den er über Freunde von uns kennen gelernt hatte. Marie flog zu ihren Gasteltern nach Seattle, Ken und Angelika. Unfassbar tolle Menschen. Und so hielt ich Kontakt von daheim, zwischen zwei Kontinenten, und wir waren alle zusammen.

Nach der Landung in Deutschland an einem Samstag klagte Tommi über Rückenschmerzen, die ihn schon seit Wochen belästigten. Und er wollte, dass Michael kommt. Unser Nachbar. Fachärztlicher Leiter der Orthopädie an einem Düsseldorfer Krankenhaus.

„Sieht nach einem Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich aus. Schmerzmittel und am Montag zu mir zum Abklären ins MRT.“

Metastasen an der Wirbelsäule.

Wie Perlen an einer geraden Schnur.

Tommis Onkologin, unser Anker seit mehr als zwei Jahren, zeichnete sich nicht nur dadurch aus, dass sie eine Koryphäe auf ihrem Gebiet ist, sondern auch dadurch, dass wir stets das Gefühl hatten, das Leben stehe immer vor der Krankheit. Und so sprachen wir mehr über Tommis neue Aufgaben in der Firma, ihre und unsere Urlaube, unsere Familien und nebendran über Therapien: Gray (Strahlenintensität), Cisplatin, Carboplatin, Erbitux, Dauer, Dosierung, Nebenwirkung, Ernährung.

Wir verabschiedeten Emilie nach einem intensiven Sommer voller Reisen und Eindrücke nach Kanada. Trimester als Austauschschülerin. Sie flog am 30.08.2017.

90 Tage.

Am 2. September hatten wir einen weiteren Termin bei „unserer“ Onkologin. Wir sprachen über ihre Reise nach Schweden. Tommi erzählte von Australien. Soweit er konnte. Er war so müde. Ob er sich einen Moment hinlegen dürfte.

Die Ärztin nahm meine Hand. Sie hatte mich in all den Monaten nie berührt. Zu viel Nähe war nicht immer produktiv. Gerade in solchen Prozessen.

„Schauen Sie mit Ihrem Mann alte Filme. Nehmen Sie sich Zeit.“

„Warum? – Emilie ist nicht hier.“

„Wo ist sie?“

„In Kanada. Für 90 Tage. Nein, 87.“

„Wie schnell könnte sie wieder in Deutschland sein?“

„Warum?“

„Klären Sie das mit der Austauschgesellschaft ab.“

„Warum?“

„Frau Vogeler, irgendwann werden Sie auf diese Zeit mit viel Dankbarkeit zurückblicken.“

Ich hatte meine Faust geballt. Bereit zuzuschlagen. Jetzt. Sofort.

Wir fuhren nach Hause. Und würden es ihr beweisen.

Ich kreuzte in unserem Familienplaner in der Küche alle Tage bis zu Emilies Rückkehr an. Nach jedem Tag, der vorüber war, machte ich einen Kringel um das Kreuz. Tag rund gemacht.

Die Bestrahlung der Wirbelsäule begann.

Um die Schmerzen zu nehmen.

Nicht um zu heilen.

Palliativ.

Ich hörte nicht zu.

Marie hörte für mich zu.

Und unterstützte mich beim Weghören.

Wir berichteten Emilie, wie es ging.

Es ging.

Irgendwie.

Doch es wurde mühevoller.

Für Tommi.

Für Marie und mich.

Für Emilie in Kanada.

Wir versuchten, gelassen zu bleiben. Hielten Kontakt zum Alltag. Alltag schafft Normalität. Normalität beruhigt. Und sie gibt Hoffnung. Denn wenn alles normal läuft, dann leben wir. Und dann bleibt das Leben.

5 Bestrahlungen.

Halbzeit.

Ich saß vor der Strahlenklinik im Wagen. Hatte die Tür geöffnet. Mia lag vor meinen Füßen in der Sonne. Und ich wartete auf Tommi. Jemand klopfte an das Fenster der Beifahrertür. Dr. Wierlemann.

„Was für ein schöner Tag“, sagte er.

Mia lief zu ihm und versuchte, an ihm hochzuspringen. Er streichelte sie.

„Ich habe gleich Dienstschluss, da kann sie ruhig springen.“

Ich folgte Mia und wir standen uns gegenüber.

Er fragte, wie es mir ginge.

„Ganz gut.“ Ich lächelte.

Er lächelte zurück.

„Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Kraft? Das fragen wir uns mittlerweile alle.“

„Es ist noch so viel Kraft da, ich kann noch ziemlich weit.“

„Wollen Sie Emilie nicht nach Hause holen?“

„Nein.“

Er nahm mich in die Arme. Nahm die Brille ab und wischte sich über die Augen.

„Sie schaffen das. Ich weiß das. Wir wissen das alle. Das wollte ich Ihnen sagen. Ich geh jetzt.“

Als ich ihm nachsah, dachte ich, er ist Tommi ein bisschen ähnlich. Groß. Gutaussehend. Nur trägt mein Mann keine Brille. Und ist kein Arzt.

Tag 10 der Bestrahlung. Tommi hatte es geschafft. Abschlussgespräch mit Dr. Wierlemann.

Wir saßen in einem Konferenzraum mit großem Bildschirm für die MRT-Bilder. Der Fernseher blieb aus. Es gab keine Bilder in rascher Abfolge zu besprechen. So wie vor ein paar Monaten. Bilder der Lunge. Die Metastasen sahen aus wie leicht fallende Schneeflocken in einer Winternacht. Beständig. Leise. Nicht spürbar.

Die Plasmaoberfläche blieb dunkel. Kein Stern am Firmament. Tommi saß in einem Rollstuhl. Die Augen geschlossen.

Leise flüsterte er: „Mir ist ein bisschen übel.“

„Es dauert nur noch einen kurzen Moment.“

Wir fuhren nach Hause. Ich sagte Tommi, wie stolz ich auf ihn war. Er hatte es geschafft. Und jetzt durfte er sich erholen. Wieder zu Kräften kommen. Da hinein würden wir all unsere Energie stecken. Und in ein, zwei Wochen würden wir wieder kleine Spaziergänge mit Mia machen. In der Herbstsonne. Das war unser erstes Ziel.

Es war Dienstag, der 26. September 2017.

Am darauffolgenden Wochenende brach Tommi zusammen. Wir riefen Michael und seinen ältesten Sohn Julius zu Hilfe, um ihn von der Dusche zurück ins Bett zu bringen.

Marie aktivierte die alten Kontakte ihrer Austauschzeit in Amerika und begann, Emilie zurückzuholen.

„Warum? Es ist nur eine kurze, vorübergehende Krise.“

„Mama, wir wollten immer ehrlich zueinander sein. Wir holen Emilie.“

„Ja.“

Am Mittwoch saß Emilie im Flieger.

Marie saß abends neben Tommi auf unserem Bett und machte Hausaufgaben.

Er schlief.

Ich faltete Handtücher. Im Fernsehen liefen Bilder in schneller Abfolge.

Tommi sah mich an.

„Möchtest du kuscheln? Etwas trinken?“

„Ich gehe jetzt zu Gott.“

Ich sah Marie an. Marie sah mich an. Und dann schaute ich Tommi in die Augen.

„Papa, du kannst jetzt nicht gehen. Emilie ist nicht hier. Sie fliegt gerade aus Kanada nach Hause. Sie ist morgen hier.“

„Okay, dann warte ich.“

Tommi schlief wieder.

„Marie, habe ich mir das gerade eingebildet?“

„Nein.“

Marie hatte von Ken, ihrem Gastvater, zum Abschied ein Stethoskop und ein portables Gerät zur Messung der Sauerstoffsättigung geschenkt bekommen. Letzteres nicht viel größer als eine Streichholzschachtel. Sehr präzise.

Ken weiß, dass Marie irgendwann Ärztin wird. Wir anderen auch, aber er kennt sich aus, weil er als Überwachungsspezialist für Herzpatienten am Veteranenkrankenhaus in Seattle arbeitet. Dieses Gerät wurde ab dem Mittwochabend mein treuer Begleiter. Alle 30 Minuten maß ich Tommis Sättigung. Sie war knapp über 90.

Nicht gut, aber stabil.

Das Palliativteam, das ich am Dienstag zur Unterstützung in einer konzentrierten Anstrengung herangezogen hatte, war zur kurzen Lagebesprechung da gewesen. Ärztin und Pfleger waren freundlich.

Unsere Hausärztin hatte uns auf schnellstem Weg, völlig unbürokratisch, ein portables Sauerstoffgerät ins Haus liefern lassen. Innerhalb von zwei Stunden. Diese Frau und ihr Team sind einfach unglaublich.

„Es dauert nicht mehr lang. Nehmen Sie ihm ab und zu den Sauerstoff weg, sonst trocknen die Schleimhäute so schnell aus.“

Michael, der spät an diesem Abend noch nach Tommi schaute, sagte nur: „Was für eine Scheiße. Gib ihm Sauerstoff.“

Ich blieb die Nacht wach. Maß alle halbe Stunde. Ich betete, dass er auf Emilie wartete …

Um 6 Uhr stand ich auf. Wie jeden Tag.

Und ging mit Mia spazieren. Wie jeden Tag.

Dann weckte ich Marie und trank mit ihr zusammen bei Tommi einen Kaffee. Wie jeden Tag.

Tommi schlief.

Ich rief in der Schule an und meldete Marie für diesen Tag krank. Dann rief ich Lucia an. Sie würde auf Tommi achten, solange ich mit Marie unterwegs wäre, um Emilie vom Flughafen abzuholen.

Lucia ist gelernte Kinderkrankenschwester. Mutter von vier Kindern. Ehefrau eines vielbeschäftigten Schulleiters und Diakons in Personalunion.

Sie konnte warten. Ausharren. Aushalten.

Marie und ich sagten Tommi, dass wir kurz auf dem Weg wären, um Emilie vom Flughafen zu holen. Er schlief.

Emilie kam um halb zwei durch den Ausgang. Wir nahmen uns alle drei in die Arme und freuten uns, dass wir uns wiederhatten.

Auf dem Weg nach Hause aßen wir das Pumpkin Bread, das Emilies Gastmama Tracey extra am Abend ihrer Abreise für sie gebacken hatte. Es schmeckte buttrig-weich und roch nach Herbst. Und schon ein bisschen nach Weihnachten.

Um halb drei schloss ich die Haustür auf. Alle Sachen blieben im Auto.

Wir rannten die Treppe hinauf.

Ich wusste, dass Tommi da war. Er hatte es gesagt. Ich hatte keine Angst.

Lucia stand von der kleinen Holzbank an Tommis Bettseite auf. Ich wollte sie nach unten begleiten. Sie drückte mir beide Hände und sagte: „Ich kenne den Weg.“

Emilie saß links neben Tommi. Marie auf der anderen Seite. Ich kniete vor Emilie an seiner Seite.

„Papa, ich bin da, ich bin zurück. Kannst du mich hören?

Weißt du, dass ich da bin?“

Tommi machte die Augen auf. Er sah sie an.

„Ja.“

Tommi schloss die Augen und atmete ganz ruhig. Ganz leicht. Ich maß die Sauerstoffsättigung. Knapp 80%. Fallend.

Emilie erzählte von Kanada. Von ihren Geschenken an uns: ein T-Shirt für Papa, das gleiche für sie, nur kleiner. Und ganz leckere Schokolade.

„Die kannst du doch so gut schmecken.“

Für uns Mädchen hatte sie drei gleiche, ganz kuschelige Schlafanzüge mitgebracht. Sie würde nachher alles holen.

Nun blieben wir zusammen.

So wie wir gemeinsam durch die Jahre gegangen sind. So wie wir gemeinsam alle schönen Dinge miteinander erlebt haben. So wie wir gemeinsam auch die traurigen Stunden geteilt haben.

Wir waren alle miteinander verbunden. Und eine tiefe Liebe, ein Gefühl der unendlichen Liebe legte sich über uns.

Er lässt uns seine Liebe zurück, seine Liebe bleibt bei uns.

Unsagbarer Frieden.

Wir vier sahen einander noch einmal an.

Wir sind vier.

Wir sind vier.

Wir werden immer vier sein.

Ich schloss seine Augen. Und küsste meinen wunderbaren Mann. Ich konnte nicht weinen.

Dieser Schmerz in mir konnte durch kein Gefühl, durch keine Regung sichtbar gemacht werden.

Ich sah Tommi an und wusste, dass sein Tod auch einen Teil meiner Seele mit sich genommen hatte.

Es war, als hätte jemand die Blutzufuhr an dieser Stelle unterbrochen, und ich fühlte wie das Leben, unser gemeinsames Leben, das gerade noch dort wohnte, ganz langsam und ganz leise entwich.

Unwiederbringlich.

Unwiderruflich.

Für immer.

Marie, Emilie und ich öffneten gemeinsam das Fenster.

Tommis Seele verließ die Enge des Raumes und nahm meinen Teil mit.

Um halb zwei nachts lagen wir alle im Bett. Ich schlief bei Emilie, Marie hatte Mia zu sich ins Zimmer geholt. Die Bettwäsche drehte ihre Runden in unserer Waschmaschine. Wir hatten sie abgezogen, nachdem der Bestatter Tommi abgeholt hatte. Weit nach Mitternacht.

Ich hätte gerne noch eine Nacht neben Tommi gelegen, ihm von uns erzählt, von unserem schönen Leben, das wir miteinander leben durften.

Doch als Marie und ich von unserer Abendrunde mit Mia wieder nach Hause gekommen waren, hatte Emilie gesagt, dass Papa jetzt ganz anders aussehen würde.

Seine Seele hatte seinen Körper verlassen. Sie hatte recht. Und ich hatte gespürt, dass Marie und Emilie es nicht ertragen würden, dass ich neben Tommi lag, und Tommi doch eigentlich gar nicht mehr da war.

Lucia und Johannes waren gekommen. Wir hatten alle zusammen an seiner Seite gesessen. Johannes hatte von ihm erzählt, wir hatten alle zusammen noch einmal Eucharistie an seiner Seite gefeiert, mit ihm, und gebetet.

Der Arzt war gekommen, um den Tod festzustellen.

„Was soll ich machen? Soll ich den Bestatter anrufen? Ich will ihn noch bei mir behalten.“

Lucia hatte meine Hand genommen. Dann hatte sie losgelassen und mit ihren Händen eine imaginäre Kugel umschlossen. „Es ist gut, Moni. Es ist rund. Du kannst seinen Körper jetzt gehen lassen.“

Der Bestatter, Herr Perlick, war so einfühlsam gewesen.

„Nehmen Sie sich alle Zeit. Notfalls warten wir hier die ganze Nacht.“

Marie, Emilie und ich hatten Tommi geküsst.

Meine Tante Josefine hatte bei ihrer Wallfahrt nach Lourdes Wasser von der Quelle in eine Flasche für uns abgefüllt.

Wenn unsere Töchter auf eine längere Reise gehen oder eine Klausur schreiben, oder Tommi länger auf Reisen ging, dann segne ich sie vorher damit.

So hatte ich ich es jetzt auch bei Tommi gemacht.

Ich hatte ihn ein letztes Mal gestreichelt und geküsst.

Dann hatten wir das Zimmer verlassen. Ich hatte Herrn Perlick Tommis Lieblingssachen mitgegeben, die er ihm anziehen würde.

Lucia hatte die Küchentür verschlossen. Wir hatten im Esszimmer gestanden und gewartet.

Herr Perlick war mit seinem Mitarbeiter gekommen und hatte sich von uns verabschiedet.

„Ich werde gut auf ihn Acht geben und ihm eine Decke überlegen.“

„Danke.“

Dann hatten wir alle am Fenster gestanden.

Wenn Tommi morgens losfuhr, stand ich genau an dieser Stelle und winkte ihm noch einmal zu, formte mit meinen Händen ein Herz. Er stoppte dann noch einmal kurz und warf mir eine Kusshand zu.

So ähnlich war es auch jetzt gewesen. Herr Perlick hatte uns zugewunken.

Ich hatte Lucia nach Hause gefahren. Marie und Emilie waren mit Mia eine späte Runde gegangen.

Irgendwann drehte die Waschmaschine ihre Runden, in meinem Kopf beendete das Schleuderprogramm seine Arbeit.

Programmende.

Ein leeres Feld und ein riesiger Berg aus Steinen

Die Abrissbirne hatte ganze Arbeit geleistet. Von dem Gebäude, das dort gestanden hatte, war nichts mehr übrig. Alle Möbel waren schon vor einiger Zeit an einen anderen Ort gebracht worden. Dann waren die Räume ohne Seele in dem Haus, das ihr Körper war, einfach umgeschubst worden. Sie hatten keinen Widerstand geleistet. Und dann hatte jemand die kleinen Teile des Hauses zu einem Berg aus Steinen zusammengekehrt. Davor war eine leere Fläche, bedeckt vom grauen Staub der Steine.

1Erschütterung

Als ich am ersten Morgen aufwachte, hatte ich zwei Gedanken: Das ist also von nun an mein Leben, und das kann doch gar nicht passiert sein. Die Erschütterung unserer Welt, wie wir sie uns niemals gedacht hatten.

Alles falsch.

Ich lag zwar bei Emilie im Bett, aber Mia lag auf dem Boden neben mir. Und als ich aufstand, ging sie hinter mir her ins Bad und legte sich dort auf unseren Teppich. Ich putzte mir die Zähne, duschte, machte ein wenig Gesichtsrestauration. Feudelte anschließend kurz über die Spiegel, die Waschbecken. Ging ins Schlafzimmer. Ließ dort wie überall im Haus die Rollos hoch, zog mir die Jacke an, ging mit Mia raus. Zwischen die Felder.

Ich weiß noch, es war ein schöner Morgen, die Sonne schien. Ein wirklich schöner Herbsttag. Mehr dachte ich nicht.

Ich holte Brötchen. Fütterte Mia, deckte den Frühstückstisch. Machte mir einen Kaffee und setzte mich an den Tisch.

Auf Tommis Seite lag der Totenschein, den der Arzt in der Nacht ausgestellt hatte.

Was hatte er noch gesagt? Ich erinnerte mich nicht mehr genau. Sollte ich diesen dem Bestatter geben? War es eine Kopie und hatte Herr Perlick bereits das Original?

Wen musste ich informieren?

Marie, Emilie und ich hatten am Abend noch meine Eltern angerufen. Zum Glück war mein jüngerer Bruder zufällig bei ihnen.

Unsere Familien leben in Dortmund.

Manchmal ist Entfernung auch schwierig.

Christian tröstete meine Eltern. Sie waren alle unglaublich traurig, auch wenn sie gewusst hatten, dass wir auf einer Einbahnstraße unterwegs waren.

Tommis Eltern hatte Marie angerufen. Emilie und ich saßen dabei. Sein Vater kam nicht ans Telefon. Marie sprach mit ihrer Oma. Emilie hielt die Hand ihrer Schwester.

Ich sprach nicht mit ihnen.

Kaputt ist kaputt.

Sein Bruder weinte.

Zwei Wochen zuvor hatte er Tommi besucht und ihn gebeten, sein Trauzeuge zu werden. Als Mirko die Nachricht erreichte, war er auf Island und hatte gerade seiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht.

Das Leben ist, wie es ist.

Unsere Töchter kamen in die Küche. Kaffee für alle.

Was jetzt?

Wir entschieden, dass ich zuerst den Arbeitgeber von Tommi informierte. Die Telefonnummern holte ich mir alle aus seinem Handy.

Marion, Kollegin und Freundin, war zu keinem Wort fähig. Als wir einige Wochen später noch einmal miteinander telefonierten, nachdem sie Tommis Dienstwagen abgeholt hatte, entschuldigte sie sich im Nachhinein bei mir für ihre Sprachlosigkeit und auch dafür, dass sie beim Davonfahren nicht mehr hatte winken können. Sie konnte es nur schwer ertragen, uns drei so allein zu sehen.

Tommis Chef war völlig erschlagen. Er versprach mir jede erdenkliche Unterstützung und hielt Wort. Alle Formalitäten wurden auf dem kleinen Dienstweg geregelt, ich konnte alles per E-Mail beantworten und versenden.

Er ließ einen Nachruf verfassen, in dem er unserem Wunsch Ausdruck verlieh, dass wir Tommi allein auf seinem letzten Weg begleiten werden.

Ich sprach später noch einmal mit ihm und er sagte, dass eine solche Anteilnahme innerhalb des Unternehmens ganz außergewöhnlich sei. Aus ganz Deutschland erhielt er Anfragen und verwies jedes Mal auf das offizielle Statement.

Ich rief in der Personalabteilung meines Arbeitgebers an. Ich wollte niemanden aus meiner Abteilung sprechen. Wollte am Telefon nicht weinen.

Es war eigenartig. Ich war total konzentriert, bis zu dem Moment, an dem ich sagen musste: „Mein Mann ist verstorben.“

Das brachte ich nicht heraus. Ich fing sofort an zu weinen. Ich konnte das nicht sagen. Kann ich bis heute nicht.

Meine Gesprächspartnerin war super. Ganz liebevoll. Sie versprach, alle zu informieren. Ich brauchte mich um nichts zu kümmern. Auch hier: alles per Mail.

Mittags kamen Blumen. Tracey, Emilies Gastmama aus Kanada, hatte es irgendwie geschafft, trotz Zeitzonen und Sprachbarrieren einen Blumenstrauß zu uns bringen zu lassen.

Meine wunderbare Freundin Birgit legte Blumen vor unserer Haustür ab. Sie und ihre Familie hielten sich im Hintergrund für uns bereit. Tag und Nacht.

Später kamen wieder so herrliche Blumen. Dieses Mal von der Abteilung, in der ich arbeite.

Emilie meinte, es sähe bei uns aus wie an einem tollen Geburtstag.

Herr Perlick kam gegen Mittag, um das Familienbuch abzuholen und zu erklären, dass es ein paar Tage dauern würde, bis wir die Sterbeurkunde inklusive Kopien erhielten, um diese den Versicherungen und Ämtern zur Verfügung stellen zu können. Dann besprachen wir die Einzelheiten und Wünsche für Tommis Beisetzung. Johannes kam dazu, blieb noch für einen Moment, um mit uns einen Tee zu trinken.

Ob wir irgendetwas benötigten?

Wir hätten gerne Tommi zurück.

Es klingelte. An der Tür war niemand, aber auf unserer Fußmatte stand ein Korb mit Nudeln und Pesto in einem kleinen Einweckglas. Susan, Nachbarin und Freundin, hatte gekocht. Hartmut gab das männliche Rotkäppchen.

Und wir hatten Hunger. Es schmeckte uns richtig gut. Susan kann einfach richtig gut kochen. Und sie weiß, dass Nudeln gut sind für die Seele. Auch wenn diese gerade gar nichts fühlte. Nichts.

Unsere Seelen lagen unter einer Schneedecke. Der Schnee war über Nacht gefallen. In dicken weichen Flocken. Unaufhörlich. Bis zum Morgen. Es war alles weiß. Soweit das Auge reichte. Und alles war gedämpft. Unter dieser Decke waren unsere Seelen geschützt. Manchmal brach die Schneeschicht in den ersten Tagen ein kleines bisschen ein. Worte, Gesten, Musik, ein Foto, eine Uhrzeit. Es tat weh, ungefähr wie der Moment, wenn wir uns kurz die Finger verbrennen. Wir zucken unwillkürlich zusammen und nehmen sofort die Hand weg. Doch es war genug Schnee gefallen, um Schutz zu bieten.

Während des Essens einigten wir uns darauf, dass jeder von uns acht Menschen anrief, denen wir persönlich erzählen wollten, dass Tommi für immer eingeschlafen war. Ich rief Simone, Wiebke, Sandra, Manuela, Aldona, Gaby, Marco und Lars an.