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Wir leben in einem Zeitalter der Wissensexplosion. Es gab noch nie so viele Informationen für so viele Menschen frei verfügbar wie jetzt. Die Quantität der verfügbaren Daten verändert aber auch das Verständnis davon, was Wissen überhaupt bedeutet. Mit der Flut an Informationen und der generativen Künstlichen Intelligenz ergeben sich neue Herausforderungen, aber auch neue Chancen. Unumstritten ist die Wissensexplosion ein Treiber des Fortschritts in Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch in der Gesundheitsversorgung. Daten haben das Potenzial, die Lebensqualität und die Lebenserwartung zu verbessern – doch zu welchem Preis, für den Einzelnen und für die Gesellschaft? Das Buch lädt zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen ein:
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Seitenzahl: 435
Veröffentlichungsjahr: 2024
Jens Baas (Hrsg.)
Wissensexplosion
KI & Co. für mehr Gesundheit
Mit Beiträgen von
U. Arning | J. Asma | J. Baas | A. Bader | T. Ballast | A. Birken | H. Brandner | D. Chytrek | D. Dettling | C. Dierks | T. Dunkel | S. Ebener | T. Eichenberg | M. Grahammer | T. Hecke | R. Hecker | E. Hilus | C. von Kalle | C. Kaspar | F. Kramer | L. Kulik | A. Lanfer | S. Lewandowski | G.L. Lindinger | R.-Y. Lo | D. Lüttel | A. Meusch | C. Mükusch | H. Müller | M. Mundhenke | E. Nagel | T. Nebling | A.T. Nemat | M. Schlobohm | J. Schmitz | D. Schroer | U. Seeland | K. Seibert | A. Seitz | S. Spiekermann | K. Storms | A. Treszl | M. Tschiedel | A. Vik | T. Weber | K. Wolf-Ostermann | P. Zyumbileva
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Der Herausgeber
Dr. med. Jens Baas
Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK)
Bramfelder Str. 140
22305 Hamburg
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Unterbaumstr. 4
10117 Berlin
www.mwv-berlin.de
ISBN PDF 978-3-95466-926-4
ISBN ePub 978-3-95466-927-1
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© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2024
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Projektmanagement: Anja Faulenbach, Berlin
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Cover: © istock: metamorworks
Zuschriften und Kritik an:
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Und dann kam ChatGPT. Als OpenAI sein Modell GPT-3 im November 2022 der Öffentlichkeit zugänglich machte, haben wir schon an der Konzeption des hier vorliegenden Bandes gearbeitet. Den Arbeitstitel „Wissensexplosion“ gab es auch schon. Wenn der schon vor dem nun angebrochenen „Hype“ um KI angemessen war, wie sollten wir dann die neue Realität beschreiben?
Vor allem aber: Wie würde die neue Realität aussehen? Wie lassen sich die exponentiell wachsenden Möglichkeiten der neuen Technologie einsetzen? Allein die Flut der Beiträge zur neuen Technologie generativer KI als Teilbereich der Künstlichen Intelligenz (KI) war schnell unüberschaubar und widersprüchlich. Es war auch sofort klar, dass alle Verantwortlichen im Gesundheitssystem sich mit der neuen Realität auseinandersetzen müssten. Das gilt auch für „Die Techniker“. Auch wenn mir als Digital-Enthusiast das Herz blutete: Der erste Schritt war ein Verbot, das neue Tool auf den digitalen Geräten des Unternehmens zu nutzen. Dort, wo persönliche Daten von Versicherten verarbeitet werden, ist ChatGPT noch nicht zu verantworten. Die Gründe sind Datenschutz, „Halluzinationen“ und Wahrheitstreue des Systems. Genauso wichtig ist es aber, dass wir unmittelbar Arbeitsgruppen gebildet haben, die sich damit beschäftigen, wie solche Systeme in Zukunft in der Breite nutzenbringend und gleichzeitig datensicher eingesetzt werden können.
So wie wir mit der neuen Technologie im Unternehmen umgehen, so wollten wir auch das Konzept des Buches weiterentwickeln: mit professioneller Vorsicht und offen für das Neue. Das Ergebnis liegt hier vor und ich hoffe, dass wir mit den Beiträgen in all ihrer Unterschiedlichkeit ein Stück Orientierung in unübersichtlichen Zeiten geben. Drei Dinge sind mir bei dem Blick auf die Beiträge des Buches aufgefallen:
ChatGPT hat vieles, aber natürlich nicht alles verändert. Deshalb gibt es im vorliegenden Band auch zahlreiche Beiträge, bei denen die Revolution durch generative KI noch keine Rolle spielt. Vielleicht ist das sogar eine wichtige Botschaft in der überhitzten Debatte um die neue Technologie: Offenheit für das Neue bedeutet nicht, alles Bisherige über Bord zu werfen. Gerade, wenn es um die Gesundheit, vielleicht das Leben von Menschen geht, ist verantwortungsvolles Handeln unerlässlich.
In der öffentlichen Debatte wird zu wenig zwischen generativer KI und anderen KI-Formen unterschieden. Allein wegen eines Unterschiedes ist das gerade im Gesundheitssystem wichtig: Generative KI halluziniert. Wenn die KI in den Daten, mit denen sie trainiert wurde, keine Informationen zur Beantwortung der gestellten Frage hat, dann halluziniert sie vielleicht eine Impfung gegen eine Krankheit, für die es (noch) keine Impfung gibt 1. Deshalb haben wir alle Autorinnen und Autoren gebeten, in ihren Beiträgen klarzustellen, wenn sie von generativer KI sprechen, um hier für alle Leserinnen und Leser deutlich zu machen, worum es geht. Wie leicht es hier Verwirrung geben kann, macht ein Zitat von Microsoft Chef Nadella deutlich: „Wir sind vom Reden über Künstliche Intelligenz zur Anwendung der Künstlichen Intelligenz in großem Maßstab übergegangen“ 2. Dass Microsoft bislang über KI nur geredet hat, ist natürlich Unsinn. Ohne KI würde ihr Geschäftsmodell nicht funktionieren, und es spricht nichts dafür, dass sie es bislang nur in kleinem Maßstab getan haben.
Es gibt im vorliegenden Buch Lücken für Sichtweisen, die eigentlich in so einem Band ihren Platz finden sollten. Ich nenne die US-amerikanischen Tech-Unternehmen, die nach unserer Ansicht hier durchaus etwas zu sagen hätten. Zu dem Band beitragen wollten sie trotz mehrfacher Nachfrage aber nicht.
Deshalb gelten mein Dank und mein Respekt all denjenigen, die sich im vorliegenden Band in einer unübersichtlichen Situation äußern und zur Versachlichung der Debatte beitragen. KI wird vieles verändern, was wir heute noch nicht erahnen. Ein Satz von Isaac Newton hat aber weiter Bestand: „Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean.“ In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende und nachdenkliche Lektüre.
Dr. med. Jens Baas
Im Juli 2024
1 Kühl E (2022) Gut erfunden ist halb geglaubt. URL: https://www.zeit.de/digital/internet/2022-12/chatgpt-kuenstliche-intelligenz-openai-chatbot/komplettansicht (abgerufen am 05.07.2024)
2 Microsoft-Chef Satya Nadella am 30. Januar 2024 bei der Bekanntgabe seiner Geschäftszahlen, zitiert nach Newsletter Frankfurter Allgemeine pro d:economy vom 31.01.2024
Cover
Titel
Impressum
IHerausforderung Wissensexplosion
1Die nächste Revolution in der MedizinJens Baas und Dennis Chytrek
2Der Megatrend Wissenskultur und seine Auswirkungen auf Medizin und GesundheitDaniel Dettling
3Wissen: Stabilitätsanker in Zeiten der DigitalisierungAndreas Meusch
4Ethische Aspekte bei der Nutzung von GesundheitsdatenAndré T. Nemat
INTERVIEW:Der Einsatz von KI aus juristischer SichtChristian Dierks und Andreas Meusch
5Teilhabe am medizinischen Fortschritt durch Datenspende und Datennutzung – eine AbwägungEckhard Nagel, Alisa Bader und Georg Ludwig Lindinger
INTERVIEW:Wie kann die digitale Transformation zum Erfolgsprojekt im Gesundheitsbereich werden?Jens Baas und Sarah Spiekermann
IINeue Technik für neue Chancen
1Von Daten zu Wissen: Die Auswirkungen der Wissensexplosion auf E-Commerce und GesundheitssystemAlexander Birken und Manuel Grahammer
2„Richtige“ Daten für das GesundheitswesenRen-Yi Lo
3Open Access und Preprints: Vorteile und Herausforderungen im wissenschaftlichen PublizierenUrsula Arning und Jasmin Schmitz
4KI First: Google im Zeitalter der DatenmedizinStefan Ebener
5Wird Doktor KI bald Wirklichkeit? Wie Robotik und Künstliche Intelligenz das Gesundheitswesen revolutionierenChristian Kaspar, Jörg Asma, Thorsten Weber, Caroline Mükusch und Michael Tschiedel
6Wissensmanagement: Wie IT das Wissen bewältigtAude Vik
7Beyond ChatGPT: Wie geht es weiter?Markus Schlobohm
8Die Brücke zwischen Forschung und Praxis: Wie KI hilft, Forschungsergebnisse in die klinische Praxis zu übertragenChristof von Kalle und Petya Zyumbileva
9Tech-Giganten im Gesundheitswesen und ihr Wirken auf die WissensexplosionEva Hilus und Anke Seitz
IIIAuswirkungen auf Versorgung und Gesundheitssystem
1Potenziale der Digitalisierung aus Sicht der Gesundheitsfachkräfte: Beispiel PflegeKarin Wolf-Ostermann und Kathrin Seibert
2Wissen für alle, aber nicht über alle Geschlechter: Data Bias in der medizinischen Forschung und Einfluss auf die GesundheitsversorgungTatjana Dunkel und Ute Seeland
3Patientensicherheit in Zeiten der WissensexplosionHardy Müller und Dagmar Lüttel
4Praxisbeispiel chronische Niereninsuffizienz: Wie hybride Versorgungsmodelle die Medizin revolutionieren könnenDaniel Schroer, Konstantin Storms und Leonie Kulik
5Wie KI die Pharmaforschung (r)evolutioniertFrank Kramer, Sarah Lewandowski und Markus Mundhenke
6Wissensexplosion: Chancen und Risiken für die Gesundheitskompetenz und die Bedeutung für die PatientensicherheitRuth Hecker
7Synthetisierung von Daten im Gesundheitswesen am Beispiel der Techniker KrankenkasseThilo Eichenberg, Anne Lanfer, Hubertus Brandner, András Treszl und Torsten Hecke
8Die Krankenkasse als Wissenspartner für eine bessere VersorgungThomas Ballast und Thomas Nebling
Sachwortverzeichnis
Jens Baas und Dennis Chytrek
Eine Revolution ist eine radikale Veränderung oder ein grundlegender struktureller Wandel. Mit dem Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntnis hat es in der Medizin mehrere revolutionäre „Meilensteine“ gegeben. Erfindungen wie das Stethoskop, die Einführung der Hygiene, die Entdeckung des Penicillins, Impfungen, Narkosen, die moderne Gerätemedizin und Pharmakologie haben unsere Lebensqualität und Lebenserwartung kontinuierlich verbessert.
Wie schnell sich die Medizin verändert und der Fortschritt vorankommt, lässt sich gut anhand des Humangenomprojekts veranschaulichen, mit dem erstmals das Genom eines Menschen vollständig entschlüsselt werden sollte. Das Projekt wurde 1990 begonnen und hat mehrere Millionen Dollar gekostet, bis es 2003 beendet wurde beziehungsweise in Nachfolgeprojekte aufging. Die letzten Lücken wurden 2018 geschlossen. Heute gelingt die Sequenzierung eines menschlichen Genoms in wenigen Tagen und kostet nur einige hundert Dollar, und dieser Preis wird absehbar noch deutlich weiter sinken (Rendtorff 2013, S. 16).
Am Horizont zeichnet sich nun jedoch eine Veränderung ab, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen könnte: die Nutzung und Auswertung großer Mengen von Daten mittels Künstlicher Intelligenz (KI). Überträgt man die Möglichkeiten, die KI bereits heute oder in naher Zukunft in anderen Bereichen leistet, auf die Medizin, so kann man fast sicher sein, dass die nächste medizinische Revolution KI-basiert sein wird oder auf Ergebnissen beruht, die mit der Hilfe von KI generiert wurden.
Wie sie es in anderen Bereichen getan hat, wird KI auch die Medizin revolutionieren.
KI wird in der Medizin beziehungsweise im Gesundheitswesen bereits in vielen Feldern angewendet. Vor allem im Bereich der bildgebenden Diagnostik hat KI schon früh zeigen können, dass sie Bilder gleich gut – oder sogar besser – analysieren kann wie ein Mensch (Seebach et al. 2021, S. 277). Nachfolgend werden in diesem Kapitel anhand eines groben Versorgungspfades exemplarisch fünf Felder beleuchtet und untersucht, wie KI bereits heute oder in naher Zukunft eingesetzt werden kann und welche radikalen, grundlegenderen, also revolutionären Veränderungen sich daraus ergeben können. Anschließend wird die Rolle der Krankenkassen betrachtet, die neben den Leistungserbringern, auch durch die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA), eine zentrale Rolle im deutschen Gesundheitswesen einnehmen werden.
Häufig wird das Gesundheitssystem dafür kritisiert, dass die Menschen erst behandelt werden, wenn sie krank sind. Eigentlich müsste bereits vor dem Entstehen einer Krankheit mittels Prävention eben dieser vorgebeugt werden. Was aus individueller Sicht absolut logisch klingt, ist gesellschaftlich jedoch ein Minusgeschäft.
Damit Präventionsangebote Wirkung erzeugen, müssen sie sehr breit angelegt und beworben werden. Es werden also viele Ressourcen allein dafür benötigt, dass die Menschen die für sie passenden Angebote wahrnehmen und dafür motiviert werden, sie zu nutzen. Bislang ist es zudem so, dass Angebote häufig von jenen genutzt werden, die sich bereits risikobewusst verhalten: Diejenigen, die bereits auf ihre Ernährung achten, sind also empfänglicher für Präventionsangebote im Bereich Ernährung als jene, die aus gesundheitlichen Gründen dringend ihr Essverhalten ändern müssten (Cohen et al. 2008; Franzkowiak 2022).
Bewegungsmuster, Blutdruck oder Herzfrequenz können schon heute automatisch ausgewertet werden. Wenn noch Diagnosen hinzukommen, wie in heutigen Disease-Management-Programmen, und gar Laborwerte, ist im nächsten Schritt die Auswertung durch eine KI möglich. Diese kann dann individuell konkrete Maßnahmen vorschlagen.
Wenn, mit Erlaubnis der Versicherten, anhand von Daten das individuelle Risiko bestimmt werden könnte und daraufhin ganz gezielt Präventionsangebote unterbreitet werden, würde das die oben beschriebene Problematik grundlegend ändern. Dann wäre es erstmals möglich, auch sehr teurere Präventionsmaßnahmen anzubieten und durchzuführen, ohne dass die Kosten aus dem Ruder laufen bzw. nicht mehr im Verhältnis zum Ergebnis stehen.
Und noch eine weitere mögliche Revolution steht im Bereich der Prävention an. Mit Blick auf das oben beschriebene Humangenomprojekt und die immer weiter sinkenden Kosten ist es nicht unwahrscheinlich, dass viele Menschen in Zukunft ihr Genom ausgewertet und die Informationen in einer Datenbank gespeichert haben werden. Dabei liegt die eigentliche Revolution nicht in der Sequenzierung des Genoms selbst, sondern in der Auswertung der Daten. Bislang macht ein Großteil der Arbeit nicht etwa das eigentliche Entschlüsseln der DNS aus, sondern vor allem der Abgleich mit den Datenbanken, also die halb-analoge Auswertung. Es braucht keine große Vorstellungskraft, um sich auszumalen, dass auch diese Arbeit in Zukunft maschinell unterstützt und zu einem Großteil von einer KI erledigt werden kann, und das in einem Bruchteil der bisherigen Zeit.
Durch Genomanalysen lassen sich Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten bestimmter Erkrankungen bis zu 100% errechnen. Ärztinnen und Ärzte können die Betroffenen vorwarnen, dass ein bestimmtes medizinisches Ereignis mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreffen wird, und Maßnahmen einleiten, lange bevor die ersten Symptome auftreten – zum Beispiel eine enge Überwachung oder besondere Präventionsmaßnahmen. Durch Abgleiche von großen Datenmengen können zudem wertvolle Erkenntnisse über seltene Erkrankungen oder zukünftige Therapien erlangt werden.
Nur exemplarisch sei hier angeführt, welche Probleme einer solchen Nutzung derzeit noch entgegenstehen. Nahezu jeder Arztbesuch wird heute digital erfasst und dokumentiert, die Diagnosedaten zur Abrechnung werden an die Kassenärztlichen Vereinigungen weitergeleitet. Den Krankenkassen liegen diese Daten dann jedoch erst mit einer Verzögerung von mehreren Wochen oder gar Monaten vor. Eine quartalsweise Abrechnung hatte im Zeitalter der Bundespost seine Berechtigung, im Informationszeitalter der Gegenwart kann das nur als Anachronismus angesehen werden und ist längst nicht mehr zu rechtfertigen. Richtige Prävention muss schon früher ansetzen. Wenn Daten vorliegen (Diagnosen, Medikamente), die zum Beispiel auf ein Rückenleiden hindeuten, kann mit Präventionsmaßnahmen eventuell eine Operation vermieden werden. Liegen die Daten jedoch erst ein halbes Jahr später vor, ist es gegebenenfalls zu spät.
Selbst die beste Prävention wird nicht verhindern können, dass auch in Zukunft Menschen in Praxen und Krankenhäusern behandelt werden müssen. In den vergangenen Jahren wurden die Möglichkeiten der modernen Medizin kontinuierlich ausgebaut und verbessert. Weiterhin werden auf diesem Gebiet, analog zu anderen technischen Entwicklungsfeldern, bessere Geräte entwickelt werden, die zum Beispiel eine höhere Auflösung haben, mehr Funktionen erhalten oder weniger invasiv sind.
Vor allem werden diese Geräte aber mehr Daten erheben, auswerten und miteinander vernetzen. Wie bereits beschrieben, ist die maschinelle Auswertung von bildgebender Diagnostik heute durch Einsatz von KI genauer und schneller als die menschliche. Mittlerweile beschränkt sich diese Auswertung auch nicht nur auf die reinen Bilddaten, sondern umfasst auch weitere Informationen aus der Anamnese. Was früher der Arzt oder die Ärztin in den Kontext bringen musste, wird also ebenfalls von einer KI übernommen. Zum Beispiel ist eine Lungenläsion bei einem Menschen, der in der Stadt lebt und 20 Jahre Raucher ist, anders zu bewerten als bei einem Nichtraucher, der an der Nordseeküste beheimatet ist. An dieser Stelle ist die KI dem Menschen also bereits mindestens ebenbürtig (Formica-Schiller 2021, S. 53).
In der bildgebenden Diagnostik ist KI bereits schneller und genauer als ein Mensch.
Ob sich auf diesem Gebiet eine neue medizinische Revolution abzeichnet, lässt sich aus heutiger Sicht nicht abschätzen. Interessant sind Forschungsansätze mit molekularen Biomarkern, die es in Zukunft vielleicht ermöglichen, Krankheiten in einem sehr frühen Stadium zu erkennen und entsprechend früh mit einer Therapie zu beginnen (Wiltfang et al. 2024).
Je nach Fall und Fachgebiet können Therapien heute wesentlich komplexer und individueller sein, als das noch vor ein paar Jahren der Fall war. Tagtäglich gibt es weltweit so viele wissenschaftliche Veröffentlichungen auf dem Fachgebiet der Medizin, dass es für Ärztinnen und Ärzte unmöglich ist, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben – unabhängig davon, wieviel Zeit sie in ihre Fortbildung investieren und unabhängig davon, wie eng ihr Fachgebiet ist. Sowohl im Krankenhaus als auch in der Praxis kann ein KI-basiertes Wissensmanagement die Ärztinnen und Ärzte dabei unterstützen, Diagnosen zu stellen und Therapien durchzuführen, die auf dem aktuellen Stand sind und den Leitlinien entsprechen.
Als revolutionär kann man die Fortschritte bezeichnen, die in der Pharmaindustrie dank Daten und KI möglich werden. Die Möglichkeiten der Simulation von Proteinfaltungen ist revolutionär für die Entwicklung neuer Medikamente. Gelingt es, die Mechanismen der Fehlfaltung von Proteinen zu verstehen, können neue gezielte Therapieverfahren, z.B. bei Alzheimer-Demenz, Morbus Parkinson oder Mukoviszidose, entwickelt werden. Bisher stützte sich die Forschung vor allem auf konfokale Mikroskopie und andere aufwändige Verfahren. „Trial-and-Error“-Strategien sind jedoch mit hohem Zeit-, Kosten-, und Ressourcenaufwand verbunden. KI ist bereits heute in der Lage, die 3D-Struktur eines Proteins allein auf der Grundlage seiner genetischen Sequenz vorherzusagen, was die Forschung dramatisch beschleunigt. Die erzeugten 3D-Modelle sind bei Weitem präziser als alle bisherigen Simulationen (Wolfangel 2022, S. 127ff.).
Auch in der Herstellung von Implantaten wird sich durch ein immer größeres Verständnis von Bioschnittstellen sowie Miniaturisierung in den nächsten Jahren einiges tun. Dass einige Gehörlose mithilfe eines Cochlea-Implantats wieder hören können, ist fraglos eine medizinische Revolution (Carlson 2020). Ebenfalls lösen die Möglichkeiten, die die Pharmaindustrie seit Kurzem durch das gezielte Schneiden von Genen mit CRISPR-Cas9 hat, einen Quantensprung in der Pharmakologie aus. Die Bedeutsamkeit des Verfahrens erkannte das Nobelpreis-Komitee und ehrte die beiden Erfinderinnen 2020 mit einer Auszeichnung (The Nobel Prize 2020).
Medizin ist komplex. Das Resultat ist oft, dass es zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten zu Kommunikationsproblemen kommt. Auf der einen Seite studiertes Fachpersonal unter Zeitdruck und auf der anderen Seite medizinische Laien, die oftmals in einer Ausnahmesituation sind und unter psychischem Stress stehen.
Im November 2022 hat ChatGPT weiten Teilen der Bevölkerung eindrucksvoll gezeigt, wie weit die KI mittlerweile ist und was mit dem Einsatz von großen Sprachmodellen (Large Language Models, LLM) möglich ist. Natürlich ist diese Technik dafür prädestiniert, auch medizinisch komplexe Sachverhalte in eine einfachere, nicht-wissenschaftliche/-fachliche Sprache umzuformulieren. Zudem arbeiten Übersetzungsprogramme heute schon so zuverlässig, dass auch die Sprachbarrieren in absehbarer Zukunft keine Hindernisse mehr darstellen werden. Es wird kein Problem sein, die Informationen statt in einfacher deutscher Sprache auch auf Englisch, Chinesisch oder fast jeder anderen Sprache zu erstellen.
Software zur Spracherkennung ist heute in nahezu allen Mobiltelefonen verbaut und für viele Menschen aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Kommen Siri, Cortana, Alexa und Co bei unseren Alltagsfragen jedoch manchmal an ihre Grenzen und nicht über das Befolgen von einfachen Befehlen hinaus, so sieht das im medizinischen Bereich anders aus. Kurz vor der Markteinführung befindet sich eine Software, die während des Arzt-Patienten-Gesprächs „zuhört“ und im Anschluss Anamnese, Diagnosen und den weiteren Behandlungsplan strukturiert dokumentiert. Die (nahe) Zukunft wird daher so aussehen, dass Ärztinnen und Ärzte ganz normale Gespräche mit ihren Patientinnen oder Patienten führen, sich dabei ganz individuell auf ihn einstellen, Untersuchungen durchführen und sogar thematisch abschweifen können. Am Ende erstellt die KI ein strukturiertes Dokument und gleicht die Handlungsempfehlungen mit den aktuellen Leitlinien ab. Bis auf einen kurzen Check des fertigen Dokuments entfällt die Dokumentation bzw. das Erstellen von Arztbriefen somit (Adams 2023).
Ärztliches Personal wird durch den Einsatz von KI wieder mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten haben.
Solche Effizienzgewinne werden im Gesundheitssystem angesichts des demografischen Wandels und Fachkräftemangels dringend benötigt. Die vorhandenen (Fach-)Kräfte könnten mehr Kapazitäten für die Behandlung von Patientinnen und Patienten einsetzen, statt dass sie mit bürokratischen und administrativen Prozessen blockiert werden. Neben den Arzt-Patienten-Gesprächen kann durch eine einheitliche Plattform vor allem die intersektorale Kommunikation wesentlich effizienter werden.
Beim Thema Nachsorge sind viele Effizienzgewinne möglich, und so gibt es auch in diesem Bereich interessante Entwicklungen, die zumindest die Zeit nach einer Operation oder einem Krankenhausaufenthalt revolutionieren können. Im Zentrum stehen hier vor allem die Fernüberwachung und Nachuntersuchungen via Telemedizin, wodurch vor allem Wege für Patientinnen und Patienten eingespart, aber auch Krankenhausaufenthalte verkürzt, Infektionsrisiken verringert und Arztbesuche vermieden werden können.
Geräte zur Überwachung von Vitalwerten werden immer kleiner und sind teilweise schon heute, nach kurzer Einweisung, von Laien handhabbar. Dies könnte in vielen Fällen dazu beitragen, dass Patientinnen und Patienten mehrere Tage früher aus der Klinik in das gewohnte Umfeld entlassen werden, wenn sie mit solchen Geräten ausgestattet werden. Medizinisches Fachpersonal kann somit einen Live-Zugang zu den Werten bekommen und das Gerät meldet sich selbstständig, wenn bestimmte Parameter nicht mehr eingehalten werden. Nachbesprechungen, Verlaufs- oder Wundkontrollen werden zukünftig häufiger mittels Telemedizin erfolgen.
Mithilfe kleiner Sensoren wird es möglich sein, Patientinnen und Patienten zuhause zu überwachen.
Fitnesstracker und Smartwatches werden auch in Zukunft günstiger, kleiner und mit mehr Sensorik zur Datenauswertung ausgestattet werden. Dies wird dazu beitragen, dass sich diese Geräte in unserer Gesellschaft noch weiter verbreiten. Während dieser Text verfasst wird, sind beispielsweise bereits mehrere „smarte“ Ringe verfügbar, die ähnliche Sensoren haben wie gängige Smartwatches. Wenn die Markteinführung smarter Ringe durch große Player wie Samsung (angekündigt) und Apple (Gerüchte) erfolgt, geht damit häufig ein weiterer Technologiesprung und eine größere Marktdurchdringung einher. Je nach medizinischer Indikation ist es denkbar, dass solche kleinen Devices als Medizinprodukt zertifiziert werden und mittels KI hochwertige Daten erheben und auswerten können.
Auf den ersten Blick haben Krankenkassen mit medizinischen Revolutionen und KI nicht viel gemein. Grundlagenforschung wird in den Laboren der Universitäten gemacht, Produktentwicklungen und Pharmaforschung in denen der Industrie. Dennoch hat die Bedeutung von gesetzlichen Krankenkassen, mit deren Eigenschaft als Körperschaft öffentlichen Rechts und durch die zentrale Schnittstelle zu den fast 75 Millionen Versicherten, stark zugenommen.
Ein erster wichtiger Schritt für die Verbesserung der Versorgung war, dass seit September 2020 in Deutschland digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden können. Damit leisten die GKV einen wichtigen Beitrag, wenn es darum geht, moderne Formen der Versorgung auf den Markt zu bringen. Dass sich unter den bisherigen DiGA eine medizinische Revolution im oben beschriebenen Sinne befindet, ist derzeit allerdings nicht absehbar.
Der oben beschriebene Patientenpfad, von der Prävention bis zu Nachsorge, und die dabei aufgezeigten möglichen nächsten medizinischen Revolutionen haben alle gemein, dass sie auf der Auswertung und Verarbeitung von Daten beruhen. Viele Daten liegen den Krankenkassen bereits heute vor, doch die Hürden sind hoch, sie auch außerhalb der Leistungsgewährung und Abrechnung zu verwenden. Schon heute ist es möglich, anhand von Abrechnungsdaten zu erkennen, dass ein Patient oder eine Patientin Arzneimittel bekommt (etwa von zwei unterschiedlichen Ärztinnen bzw. Ärzten verschrieben), die miteinander eine gefährliche Wechselwirkung haben. Beim E-Rezept wird nicht nur das abgegebene Arzneimittel erfasst, sondern es wird auch die Chargennummer an die Krankenkassen übermittelt. Damit ist genau nachvollziehbar welche Packung in der Apotheke an welchen Versicherten bzw. welche Versicherte abgegeben wurde. Bei Produktrückrufen, die sich auf einzelne Chargen beziehen, kann diese Information Leben retten.
Generell profitiert die Forschung davon, dass immer größere Datensätze angelegt und mit KI ausgewertet werden können, aber noch fehlen an vielen Stellen Regelungen zur Nutzung und vor allem zur Verknüpfung dieser Daten. Deutschland hat mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz einen wichtigen Schritt gemacht und ermöglicht zu Forschungszwecken, Gesundheitsdaten aus verschiedenen Quellen miteinander zu verknüpfen. Zentral werden dafür sicherlich die Daten der ePA werden, für die die Versicherten direkt aus der Akte eine Freigabe erteilen können.
Ein Bereich, der immer wieder für Diskussionen sorgt, ist die Terminbuchung. Sei es nun, dass Patientinnen und Patienten zu lange Wartezeiten für einen Facharzt-Termin hinnehmen müssen oder privat Versicherte bevorzugt werden. Eine Möglichkeit, Schwierigkeiten bei der Terminfindung zu verringern, ist, dass Krankenkassen Online-Termine bei bestimmten Ärztinnen und Ärzten vergeben können. Sind sie doch häufig Ansprechpartner, wenn es mit der Terminvergabe nicht klappt. Denkbar ist, dass Kassenärztinnen und -ärzte ein bestimmtes Terminkontingent über ihre Praxissoftware freigeben, in welches sich dann Kassen einbuchen können. Selbstverständlich sollte dies nicht (nur) am Telefon oder in der Geschäftsstelle möglich sein, sondern über die Kassen-App, über die auch die ePA erreicht wird.
Durch die verpflichtende Einführung der ePA für alle gesetzlich Versicherten werden die Krankenkassen in Zukunft eine größere Rolle bei der Digitalisierung einnehmen. In der Akte müssen alle relevanten Daten der Leistungserbringer gespeichert werden – vor allem die in Kapitel 1.5 bezeichneten. Ihr Erfolg hängt davon ab, wie einfach es den Krankenhäusern und Arztpraxen gemacht wird, die Befüllung in ihren Praxisalltag zu integrieren, und wie schnell sich der kurze „Blick in die Akte“ etabliert, mit denen Behandlerinnen und Behandler vorherige Befunde lesen, statt ihnen hinterherzutelefonieren.
Dabei kann die ePA sehr viel mehr werden als ein bloßer digitaler Datenspeicher. Auch wenn die Akte und die Daten darin den Versicherten gehören, werden die Krankenkassen wichtige Schnittstellen bereitstellen können, über die weitere Versorgungsangebote angebunden werden. Diese werden dann entweder durch die Krankenkassen selbst bereitgestellt oder stammen von Drittanbietern.
Mit der ePA entsteht nicht nur ein immer verfügbarer, lebenslanger, zentraler Datenspeicher mit allen wichtigen medizinischen Informationen. Die Akte kann zu einer Kommunikations-Plattform werden, mit der Perspektive, alle Akteure miteinander zu vernetzen und auf die Daten des Patienten oder der Patientin, mit deren Einverständnis, zuzugreifen. Im Grunde genommen hat die ePA das Potenzial, eine sichere und persönliche Cloud der Versicherten im Gesundheitswesen zu werden.
Krankenkassen spielen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens eine zentrale Rolle.
Die Rolle einer Krankenkasse in einem digitaleren Gesundheitssystem wird also nicht sein, selbst zum Behandler zu werden. Der Arzt wird immer der bessere Arzt sein. Die Rolle der Krankenkasse ist es aber, die Möglichkeiten der Digitalisierung den Versicherten, und damit auch den Patientinnen und Patienten, zur Verfügung zu stellen. Kein Arzt und keine Ärztin kann für seine Patientinnen und Patienten eine ePA programmieren lassen, keine Pharmafirma sollte den Patienten bzw. die Patientin durch das Gesundheitssystem steuern. Individuelle Risikoprofile und Präventionsangebote sollten zudem bei einer nicht gewinnorientierten, sicheren und staatlichen Regularien unterliegenden Körperschaft öffentlichen Rechts angesiedelt sein, statt in kommerziellen Unternehmen. Die Krankenkasse wird also zunehmend die Institution sein, die den Versicherten digitale Infrastruktur zur Verfügung stellt und datenbasiert dafür sorgt, dass medizinische Behandlung durch Leistungserbringer ergänzt (etwa durch zielgenaue Präventionsangebote oder Datenanalysen) oder unterstützt (etwa durch die „Navigation durch den Dschungel der Leistungserbringung“) wird.
Natürlich kann aus heutiger Sicht niemand vorhersagen, was genau die nächste medizinische Revolution ist. Aber schon dieser grobe, nicht vollständige Überblick über aktuelle Entwicklungen zeigt, dass die nächste radikale Veränderung oder der nächste grundlegende strukturelle Wandel in der Medizin datengetrieben und KI-basiert sein wird. Die oben genannten Beispiele sind wichtige Schritte hin zu einer längeren, gesünderen Lebensdauer bei einer besseren Lebensqualität. Es fällt bei vielen dieser Ansätze aber auf, dass es häufig noch an der Vernetzung und Interoperabilität fehlt. Die meisten Lösungen nutzen zwar Digitalisierung und oft auch eine KI, fokussieren sich aber häufig auf einen einzelnen Aspekt wie eine bestimmte Krankheit. So stehen viele der oben beschriebenen Ansätze für sich allein und sind nicht untereinander vernetzt.
Ebenso agiert auch die Politik. In den letzten Jahren sind einige Gesetze in Kraft getreten, die das Gesundheitssystem umorganisiert und digitaler gemacht haben. Das ist zunächst positiv zu bewerten, jedoch wurde meist nur an einzelnen Stellschrauben gedreht und dabei das System oft komplexer und bürokratischer gemacht. Dieses Schema muss durchbrochen werden.
Dass Einzellösungen allein nicht funktionieren, zeigte zuletzt das E-Rezept. Es basierte zunächst auf Freiwilligkeit der Ärztinnen und Ärzte und einer App der gematik. Wenige Menschen nutzten es, weil in vielen Fällen die Hürden (Download, Anmeldung und Authentifizierung bei der gematik) zu hoch und der Nutzen zu niedrig waren. Sitzt ein Patient oder eine Patientin erst mal im Wartezimmer, ist es für den oben beschriebenen Prozess zu spät.
Der Autorisierungsprozess für das E-Rezept stellte selbst Digitalenthusiasten vor Herausforderungen.
Zur Revolution wird die Digitalisierung im Gesundheitswesen erst, wenn die Fäden der vielen digitalen Einzellösungen in einem Punkt zusammenlaufen und verknüpft werden können. Mit der ePA kann uns das gelingen. Sie könnte zum Mittelpunkt der Versorgung ausgebaut werden, in die neben allen medizinischen Daten und Befunden auch weitere gesundheitlich relevante Daten, die wir ohnehin zunehmend täglich erfassen (zum Beispiel Bewegungsdaten), einfließen und auf deren Basis die Versicherten automatisch Empfehlungen und Angebote erhalten. Medizinische Geräte können ihre Daten (EKG, EEG, Röntgen, Ultraschall) in einem auslesbaren Format direkt in die Akte legen. Therapieentscheidungen werden automatisch dokumentiert und abgelegt. An vielen Stellen kann eine KI bei Bedarf auf die Akte zugreifen und die Behandlungspfade mit Leitlinien oder dem Vorgehen anderer Ärztinnen und Ärzte bei ähnlichen Fällen abgleichen. Liegt das Genom in der Akte, kann medizinisches Personal abgleichen, ob bestimmte Risiken vorliegen oder ob Therapien wirksam sein könnten. Zu den klaren therapeutischen Vorteilen kämen enorme Effizienzgewinne, indem Prozesse völlig neu aufgesetzt und Daten sofort oder sehr schnell verfügbar wären. Und das alles unter der Datenhoheit der Versicherten.
Angesichts eines vernetzten „digitalen Zwillings“ wird der Datenschutz eine wichtige Rolle spielen. Ebenso wird die Frage zu klären sein, wie eine KI reguliert werden muss und wie man Fehler durch falsches Lernen (Stichwort Gender Bias, s. Kap. III.2) vermeiden kann. Dies sind jedoch keine Hindernisse, die den Einsatz dieser modernen Technologien unmöglich machen würden. Wie in allen Gebieten muss auch hier eine Chancen-Risiken-Abwägung stattfinden, auf deren Basis dann über Einsatzfelder oder Beschränkungen entschieden werden kann.
Vielen Kritikerinnen und Kritikern geht die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu schnell. Angesichts der Potenziale in Bezug auf die individuelle Gesundheit der Versicherten, den demografischen Wandel, die damit einhergehenden Herausforderungen, was Kosten und Effizienz des Solidarsystems angeht, kann das derzeitige Tempo jedoch gar nicht zu schnell sein.
Das System muss sich ändern, und das so zeitnah wie möglich. Tut es das nicht, werden die Kosten weiter ungebremst steigen und gleichzeitig die Behandlungsqualität abnehmen.
Um die Geschwindigkeit zu erhöhen, müssen die Herangehensweisen verändert werden. Viele Jahre wurde über die Einführung des E-Rezepts diskutiert, aber erst, als konkrete Modellprojekte von Krankenkassen gezeigt haben, dass es nicht nur theoretisch denkbar, sondern auch praktisch umsetzbar ist, hat die Bundesregierung es, in abgewandelter Form, eingeführt. Hart kritisiert wurden anfängliche Schwierigkeiten und schnell wurde das gesamte System infrage gestellt. Wäre das E-Rezept erst eingeführt worden, wenn es perfekt gewesen wäre, wären wahrscheinlich noch einmal zehn Jahre ins Land gegangen. Solche Projekte müssen umgesetzt werden, wenn sie einen Entwicklungsstand erreicht haben, der einen sinnvollen Einsatz ermöglicht. Nicht erst, wenn sie scheinbar perfekt sind und jeden nur denkbaren Sonderfall abdecken. Dies gilt auch für die elektronische Patientenakte, die, wenn sie zu Ende gedacht wird, zu einer wirklichen Revolution werden kann.
Adams H (2023) Oracle’s generative AI prioritises patient healthcare. URL: https://healthcare-digital.com/technology-and-ai/oracles-generative-ai-prioritises-patient-healthcare (abgerufen am 23.05.2024)
Carlson M (2020) Cochlear Implantation in Adults. The New England Journal of Medicine 382(16), 1531–1542
Cohen J et al. (2008) Does Preventive Care Save Money? Health Economics and the Presidential Candidates. The New England Journal of Medicine 358(7). URL: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp0708558 (abgerufen am 23.05.2024)
Formica-Schiller N (2021) Künstliche Intelligenz und Blockchain im Gesundheitswesen. Elsevier München
Franzkowiak P (2022) Präventionsparadox. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. DOI: 10.17623/BZGA:Q4-i094-3.0 (abgerufen am 23.05.2024)
Rendtorff T (2013) Zukunft der biomedizinischen Wissenschaften. Nomos Baden-Baden
Seebach N, Wasilewski L (2021) Digitaler Puls. Hogrefe Verlag Berlin
The Nobel Prize (2020) Genetic scissors: a tool for rewriting the code of life. Press release. URL: https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/2020/press-release/ (abgerufen am 23.05.2024)
Wiltfang J et al. (2024) Molekulare Biomarker für die prädiktive Diagnostik neurodegenerativer Erkrankungen. Universitätsmedizin Göttingen. URL: https://psychiatrie.umg.eu/forschung/forschungsgruppen/molekulare-biomarker-fuer-die-praediktive-diagnostik-neurodegenerativer-erkrankungen/ (abgerufen am 23.05.2024)
Wolfangel E (2022) DeepMind will Problem der Proteinfaltung gelöst haben. In: Bischoff M (Hrsg.) Künstliche Intelligenz. Springer Berlin
Dr. med. Jens Baas
Jens Baas ist seit 2012 Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK). Vor seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender war er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group tätig, zuletzt als Partner und Geschäftsführer. Sein Studium der Humanmedizin absolvierte Jens Baas an der Universität Heidelberg und der University of Minnesota (USA). Er arbeitete anschließend als Arzt in den chirurgischen Universitätskliniken Heidelberg und Münster.
Dennis Chytrek
Dennis Chytrek ist seit 2019 persönlicher Referent des Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse (TK). Zuvor war er als stellvertretender Pressesprecher und Pressereferent in der Unternehmenskommunikation der TK. Er hat sein Studium der Politik und Rechtswissenschaften in Hamburg und Schweden absolviert. Bevor er zur TK ging, war er unter anderem als freier Journalist und Berater bei einer Unternehmensberatung für Gesundheitskommunikation tätig.
Daniel Dettling
Zwischen 1900 und 2020 stieg die menschliche Lebenserwartung von 31 Jahren auf 72 Jahre weltweit und hat sich damit mehr als verdoppelt. Für diesen enormen Sprung verantwortlich war die moderne Medizin mit ihren beispiellosen wissenschaftlichen Durchbrüchen. Heute stehen wir an der Schwelle zu einer weiteren Revolution im Gesundheitswesen. Die Rede ist von der „Künstlichen Intelligenz“ (KI).
Der Megatrend der Wissenskultur verändert das Gesundheitssystem fundamental. Patientinnen und Patienten werden, unterstützt durch digitale Tools und Technologien, zunehmend in die Lage versetzt, sich über Gesundheit und Krankheiten, ihre Therapien und Heilungschancen selbst ein Bild zu machen. Im Zentrum des Paradigmenwechsels steht nicht das Medium, sondern die Information. Damit verändert sich das Machtgefüge. Während es in den letzten Jahren eine klare Unterscheidung zwischen Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden und Patientinnen und Patienten gab, wird diese durch eine neue Wissenskultur und ein neues Zusammenspiel der Akteure abgelöst. In der Gesundheitswelt der Zukunft stehen allen die gleichen Daten zur Verfügung. Zum ersten Mal ist ein ganzheitlich gesundes und zukunftsfähiges Gesundheitssystem möglich. KI kann heute mit Röntgenbildern die Lebenserwartung eines Menschen voraussagen und die individuelle Lebenserwartung erhöhen – durch die Nutzung großer Datenmengen und individualisierter Daten zu Ernährung, Schlaf und Bewegung lassen sich personalisierte Therapiepläne aufstellen, welche uns bis zu 20 Jahre länger und gesund leben lassen.
Künstliche Intelligenz wird unser Gesundheitswesen revolutionieren.
KI arbeitet im Umgang mit Daten sorgfältiger als menschliche Ärztinnen und Ärzte, weil sie aus Milliarden von Fällen einschließlich der Behandlungsergebnisse lernt. Das Tracking von Herzschlag, Blutdruck, Blutzucker und vitalen Parametern, von denen Warnsignale an uns ausgehen, wird enorme Datenmengen generieren. Daten, die zum Zwecke einer besseren Überwachung, Früherkennung, medizinischen Behandlung und Versorgung miteinander verglichen werden können. KI wird das Gesundheitswesen vor allem in drei Bereichen revolutionieren:
bildgebende Verfahren,
Entscheidungsfindung und
Selbstüberwachung der Patientinnen und Patienten.
KI wird damit in Zukunft einen steigenden Mehrwert hin zu einer präventiven und personalisierten Gesundheitsversorgung leisten.
Zur entscheidenden Frage wird, wie sich aus den Daten, die über uns erhoben werden, echtes Wissen generieren und so nutzen lässt, dass wir länger gesund bleiben oder sogar gar nicht erst krank werden. Die Antwort liegt auch in einem veränderten Zusammenspiel der Leistungserbringer und Gesundheitsberufe. Hausärztinnen und Hausärzte werden zu echten Präventionsmediziner:innen, Apothekerinnen und Apotheker können ihre Servicekompetenz neu unter Beweis stellen; die vielen kompetenten Medizinberufe an der Grenze zwischen dem ersten und dem zweiten Gesundheitsmarkt (von der Physiotherapie bis zum Heilpraktiker bzw. der Heilpraktikerin) werden durch neue Zusatzqualifikationen zum unverzichtbaren Bestandteil der künftigen Gesundheitswelt.
Diese verwirklicht sich nicht nur in der Praxis oder im Krankenhaus, sondern in wissensbasierten KI-Systemen. Der Besuch beim Arzt bzw. der Ärztin wird zur Ausnahme, der Patient bzw. die Patientin kontaktiert ihn bzw. sie via App oder Bildschirm, Blutdruck oder Körpertemperatur werden elektronisch übermittelt. Die Daten von älteren und chronisch kranken Patientinnen und Patienten können rund um die Uhr von ärztlichem Fachpersonal sowie Krankenhäusern kontrolliert werden. Künstliche Intelligenz wird zunehmend zur Diagnose von seltenen und schweren Erkrankungen eingesetzt, da sie Krankheitsmuster schneller und präziser feststellen kann. Christoph Straub, Vorsitzender der Barmer, bringt es auf den Punkt:
„Neue Akteure betreten das Feld und führen dazu, dass Leistungen von traditionellen Anbietern entkoppelt werden. Beispiele dafür sind die klinische Administration, Telemonitoring, Bezahlungs- und Versicherungsroutinen, Patienteninformation, medizinisches Big Data, Ärztenetzwerke oder der Gesundheits- und Fitnessbereich im Internet.“ (Christoph Straub in: Roche Pharma 2020, S. 33)
Wissen verliert seinen elitären Charakter.
Das Zusammenspiel mit dem Megatrend Konnektivität verändert Wissen und Umgang mit Informationen. In dezentralen Strukturen werden enorme Mengen an Wissen generiert, es entstehen neue Formen der Innovation und des gemeinsamen Forschens – zum Wohle der globalen Patientengesundheit. Wissen verliert seinen elitären Charakter und wird zum Gemeingut.
Zum Gamechanger wird der volle Zugang zur digitalisierten Patientenakte. Mit ihr wird echte Aufklärung, Transparenz und Beteiligung möglich. Die langjährige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, schlägt „Digital Self Care“ als neuen Begriff vor, der Gesundheit mit dem Wissensmanagement des 21. Jahrhunderts vereinigt:
„Wir werden das Gesundheitssystem gemeinsam mit den Patienten […] gestalten. […] Je präventiver und digitaler wir arbeiten, desto besser werden Patienten mehr von dem übernehmen können, was heute die Experten im Gesundheitssystem machen.“ (Alena Buyx in: Roche Pharma 2020, S. 33)
Die Patientenakte ermöglicht echte Aufklärung, Transparenz und Beteiligung.
Es geht um „Digital Self Care“: mehr Management durch die Patientinnen und Patienten selbst – dort, wo diese das möchten. Der einzelne Patient bzw. die einzelne Patientin wird mithilfe smarter und damit nachhaltiger Netzwerktechnologien zur Fachfrau oder zum Fachmann ihres bzw. seines gesunden Lebens. Die Mitverantwortung für die eigene Gesundheit beginnt bereits in der Kindheit. Digital zugängliche Daten sind die Voraussetzung dafür, dass bereits Kinder und Jugendliche in die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit genommen werden können. Damit wächst der Anspruch an Gesundheit und Leistungserbringer. Das Verständnis für die gesundheitlichen Grundlagen nimmt weiter zu, angefangen von der schulischen Ausbildung bis hinein in alle Lebensbereiche wie Ernährung, Bewegung und Schlaf.
Personalisierte Medizin wird schon bald zur Realität. Diagnostik und Therapien werden datenbasiert erfolgen. Das hat erhebliche Folgen für die Organisation von Medizin. Ärztinnen und Ärzte werden sich immer mehr von der Datenlage steuern lassen. Das alte Modell der Arzt-Sprechstunde wird ersetzt durch eine Vielzahl niederschwelliger Interaktionen. Eine völlig neue Kontinuität in der Therapie ist so möglich: „Der Arzt kommt vermehrt zum Patienten, oder man trifft sich digital in der Mitte.“ (Jörg Debatin in: Roche Pharma 2020, S. 34) Individueller werde auch die Medikamentierung: „Für jeden Einzelnen wird es eine individualisierte, optimierte Medikationsmischung geben in einer Tablette.“ (ebd.).
Neben den ersten, öffentlich finanzierten, und den zweiten, zusätzlich privat finanzierten, Gesundheitsmarkt tritt ein dritter Gesundheitsmarkt, in dem die Patientinnen und Patienten selbst das Gesundheitssystem stärker mitgestalten. Nach den Prinzipien Sharing und Open Health unterstützen sich Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten gegenseitig. „Open Health“ bedeutet, dass alle Daten völlig transparent und für jeden frei zugänglich sind. Bessere Gesundheit durch bessere Daten ist das neue Ziel. Wo Patientinnen und Patienten und Ärztinnen und Ärzte umfassender informiert sind, können sie bessere Entscheidungen treffen.
Die Veränderungen führen zu einem Wandel und Wachstum der Gesundheitsberufe. Alena Buyx schlägt einen „Health Information Counselor“, einen Gesundheitsberater, vor: „Jemand, der Patienten begleitet und sie und Ärzte berät, mit neuen digitalen Formaten umzugehen“ (Roche Pharma 2020, S. 36) und fordert eine gemeinsame bzw. interdisziplinäre Ausbildung der Professionen: „Es gibt zu wenige Ärzte, die gleichzeitig Mediziner und Informatiker sind, oder Ingenieure, die gleichzeitig auch Ärzte sind. Es fehlen interdisziplinäre Qualifikationen.“ (ebd.).
KI und Maschinen werden Menschen unterstützen und sie nicht ersetzen.
Künstliche Intelligenz (KI) und Maschinen unterstützen Menschen und werden sie nicht ersetzen. Davon profitieren Angehörige der Gesundheitsberufe, die besser bezahlt und akademisch ausgebildet sein werden, ebenso wie ältere Patientinnen und Patienten, die länger zuhause bleiben können. Technische Entwicklungen wie Sensoren werden die Gesundheitsinformationen der Patientinnen und Patienten aus dem häuslichen Umfeld übermitteln. Durch Telemedizin werden die direkten Arzt-Patientenkontakte reduziert. Die sozialen und ethischen Implikationen der neuen Entwicklungen müssen daher stärker berücksichtigt werden. Zur Voraussetzung einer guten sektorenübergreifenden Versorgung wird die Interoperabilität der Systeme. Die neuen, datengestützten Technologien können den Arzt bzw. die Ärztin in Diagnostik und ärztlicher Entscheidungsfindung entlasten und damit zu einer erhöhten Patientensicherheit beitragen. KI-Anwendungen können jedoch menschliche Intelligenz, Verantwortung und Bewertung nicht ersetzen. Der Ethikrat fordert zurecht ausreichend gesetzliche Rahmenvorgaben zur Transparenz und Wahrhaftigkeit von KI (vgl. die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates vom 20. März 2023: Deutscher Ethikrat 2023).
Im Jahr 2050 werden intelligente Maschinen in allen Lebensbereichen zum Einsatz kommen. Die Basis dafür bildet das Konzept der Human Machine Interaction: der intuitiv designte Einsatz von Computertechnologie an der Schnittstelle zwischen Menschen und Computer (vgl. KAS und Zukunftsinstitut 2021). Ihr Ziel ist die produktive Ergänzung der komplementären „Superkompetenzen“ von Menschen und Maschinen.
Computer sind unschlagbar im Rechnen und in der Mustererkennung – doch nur Menschen können denken, fühlen, Kontexte erfassen und kreativ schöpferisch sein. Indem innovative Technologien unsere menschlichen Potenziale unterstützen, sind sie für alle beteiligten Akteure ein Gewinn. Aus dem „persönlichen Computer“ wird eine kulturelle Errungenschaft.
Die transhumanistische Vision der Verschmelzung von Mensch und Maschine sowie die Umsetzung einer algorithmisch berechneten Ethik bleibt Dystopie. Der Mensch wird nicht zum Homo obsoletus – überflüssig. Auch wenn der Transhumanismus längst Teile der Tech-Elite erobert hat: Seine Leitmotive sind unvereinbar mit dem Prinzip der Menschenwürde – weshalb er auch von der großen Mehrheit der Menschen abgelehnt wird. Die Ära der technoiden Supermenschen, die sich mithilfe von Gentechnik und Computern die Gehirne aufrüsten oder in Roboter verwandeln, werden wir nicht erleben.
KI sollte nicht eingesetzt werden, wo eine hohe emotionale Intelligenz erforderlich ist.
IT-Unternehmer Chris Boos warnt vor einer anderen Dystopie: der „Herrschaft der Gefühle statt der Fakten“ und einer „durchemotionalisierten Gesellschaft“ (KAS und Zukunftsinstitut 2021, S. 9). Denn je instinktgetriebener wir handeln, umso leichter sind wir auch zu manipulieren: „Aus dieser Dystopie müssen wir eine Utopie machen und die Konnektivität der Dinge und Menschen dafür nutzen, gemeinsame Ziele zu erreichen.“ (ebd.).
Auf absehbare Zeit können Maschinen ohne Menschen nichts tun. Eine Maschine hat kein Wissen, kein Ich und kein Ziel. Maschinen arbeiten nur mit menschlich generiertem Input. Trainer der Maschinen bleibt der Mensch. Die Singularität des Menschen wird mehr denn je in seiner Fähigkeit bestehen, Wissen in einem kritischen Prozess zu generieren – und andere an diesem Prozess teilhaben zu lassen. Technologien können diese Kompetenz fördern und erleichtern. Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis, dass nur Menschen eine emotionale, wertebasierte Intelligenz besitzen. Der Einsatz von KI sollte dort unterbleiben, wo eine hohe emotionale Intelligenz gefordert ist.
Eine konstruktive Fehlerkultur hilft, Komplexität zu meistern.
Die konnektive Gesellschaft erfordert von uns Adaption, Resilienz und Komplexitätskompetenz. Eine konstruktive Fehlerkultur hilft, Komplexität zu meistern und Risiken als normal zu betrachten. Ein reflektierter Umgang mit der zunehmenden Konnektivität und Komplexität ist das beste Rezept für die Meisterung künftiger Krisen. Die gesellschaftliche Komplexität wird weiter zunehmen. Für offene liberale Gesellschaften ist das eine gute Nachricht. Sie sind den Umgang mit Diversität und Pluralität gewohnt – im Gegensatz zu autoritären Systemen, die nur ein geringes Maß an Komplexität bewältigen können.
Die konnektive Gesellschaft bietet die Chance, die Zukunft humaner zu gestalten. Im Kern dieser neohumanistischen Vision stehen drei Aspekte:
Konnektivität als Problemlöser globaler Herausforderungen: Digital gestützte Innovationen erhöhen die Resilienz und erleichtern unseren Alltag. Mit ihrer Hilfe können wir die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit besser angehen – von Klimakrise und Energiewende über physische und psychische Sicherheit bis hin zum Wandel der Mobilität und der Pflege in einer alternden Gesellschaft.
Konnektivität als Treiber von Partizipation und Demokratie: Es entsteht eine demokratischere und offenere Gesellschaft, die den Menschen mehr Teilhabe an allen wesentlichen Entwicklungen und Entscheidungen ermöglicht. Dazu zählen etwa Diskursplattformen mit integriertem Faktencheck sowie Tools, die den Weg für neue Formen direkter und lokaler Entscheidungsfindung ebnen.
Konnektivität als Ermöglicher eines neuen Humanismus: Die konnektive Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der alle Mitglieder ein gesünderes, wohlhabenderes und glücklicheres Leben führen. In dieser Ära eines neuen Humanismus können wir unsere menschlichen Talente und Kompetenzen mithilfe von Technologien neu und besser entfalten. Historiker werden später von der „Zweiten Aufklärung“ sprechen: Die Maschinen haben uns nicht entmenschlicht, sondern uns bewusst gemacht, was uns eigentlich ausmacht und antreibt.
Eine erfolgreiche und nachhaltige Wissenskultur erlaubt Veränderung und belohnt Experimentierfreude. Erst eine konnektive Gesellschaft bietet umfassende Möglichkeiten für Inklusion und Teilhabe. Entscheidend sind vier Faktoren: Vertrauen, Partizipation, eine ausgeprägte Fehlerkultur und Sicherheit in einem umfassenden, ganzheitlichen Sinn.
Deutscher Ethikrat (2023) Ethikrat: Künstliche Intelligenz darf menschliche Entfaltung nicht vermindern. Pressemitteilung 02/2023. URL: https://www.ethikrat.org/mitteilungen/mitteilungen/2023/ethikrat-kuenstliche-intelligenz-darf-menschliche-entfaltung-nicht-vermindern/?cookieLevel=not-set (abgerufen am 23.05.2024)
Konrad Adenauer Stiftung (KAS) und Zukunftsinstitut (2021) Think Tank Report. URL: https://thinktankreport.kas.de/de/downloads/2021/2021_02_TTR_Studie.pdf (abgerufen am 23.05.2024)
Roche Pharma AG (2020) Gesundheitswelt 2049. Ein Navigator für die Zukunft. URL: https://25114941.fs1.hubspotusercontent-eu1.net/hubfs/25114941/Zukunftsinstitut_Roche_Gesundheitswelt_2049.pdf (abgerufen am 23.05.2024)
Dr. Daniel Dettling
Daniel Dettling ist seit Oktober 2022 Geschäftsführer von Gesundheitsstadt Berlin e.V. Der Jurist und Politikwissenschaftler studierte nach seinem Zivildienst in Israel Rechts-, Verwaltungs- und Politikwissenschaften sowie Politische Ökonomie an den Universitäten Freiburg, Fribourg (CH), Berlin (2. Staatsexamen) und Potsdam (Promotion). Er ist Herausgeber der Edition Zukunftspolitik und Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung (degepol) und gehört zu den renommiertesten Politikexperten in Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Demokratie, Demografie, Digitalisierung, Sozial- und Wirtschaftspolitik, Bürgergesellschaft und politischen Kommunikation u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung, Süddeutschen Zeitung, WELT und Welt am Sonntag. Seit vielen Jahren ist Daniel Dettling auch gefragter Keynote Speaker bei Unternehmen, NGOs, Ministerien, Verbänden, politischen Parteien und Stiftungen. Aktuelles Buch: „Eine bessere Zukunft ist möglich. Ideen für die Welt von morgen“ (Kösel 2021).
Andreas Meusch
Was bedeuten die Digitalisierung, die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) und speziell der generativen Künstliche Intelligenz (g-KI) für unsere Gesellschaft 1? Dazu wird inzwischen so viel publiziert, dass es ohne KI nicht mehr möglich ist, dies zu überschauen. Dennoch will dieser Beitrag versuchen, einige Argumentationsfiguren der Debatte nachzuzeichnen und zur Diskussion zu stellen. Ziel ist es, die Diskussionen über Digitalisierung gesellschaftspolitisch einzuordnen, um die notwendigen Debatten über Potenziale, Gefahren, Regulierung und Gestaltung dieser Technologien in ihrem gesellschaftlichen Kontext besser einordnen zu können.
„Man kann sich gesellschaftliche Praxis und Ordnung gar nicht ohne geteiltes Wissen vorstellen“, schreibt der Soziologe Armin Nassehi (Nassehi 2023, S. 343). Für ihn ist Wissen „ein stabilisierender Faktor für die soziale Praxis“ (S. 345) und beugt Haltlosigkeit vor, „wenn sich die Welt zu schnell verändert“ (S. 346). Führt damit die Wissensexplosion zur Haltlosigkeit, verursacht also eine Krise vergleichbar mit der Klimakrise, gerade in unserer Gesellschaft, die sich selbst gern als Wissensgesellschaft beschreibt?
„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Das Zitat stammt nicht von Miriam Meckel, als ChatGPT am 23. November 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (sie sprach nur von einem Wow-Effekt; siehe Meckel u. Steinacker 2024), sondern von Goethe, der die peinliche Performance der preußischen Armee am 20. September 1792 bei der Kanonade von Valmy beobachtet hatte. Sind Valmy oder ChatGPT wirklich die sicheren Anzeichen für Epochenwechsel, vergleichbar mit dem Buchdruck oder der Industriellen Revolution? Zeitgenossen sind selten in der Lage, dies zu beurteilen. Eine gewisse Vorsicht bei solchen Vergleichen ist deshalb anzuraten. Nicht wegzudiskutieren ist aber der Eindruck, dass wir Zeitgenossen den Eindruck haben, dass mit der g-KI etwas qualitativ Neues entsteht. Die im zweiten Abschnitt beschriebenen Narrative und die realen Folgerungen daraus zeigen das. Abgesehen von den enormen technischen Möglichkeiten: Was können wir heute schon als wahrscheinliche Veränderungen beobachten?
Das betrifft zunächst die Veränderungen in der Frage, welche Rolle Wahrheit und Wahrscheinlichkeit im gesellschaftlichen Diskurs spielen. Darauf, dass Wahrscheinlichkeit im Diskurs die Wahrheit als Maßstab ablöst, verweist Sarah Spiekermann im Gespräch mit Jens Baas in diesem Band (s. Kap. I). Die neue Technik ist zwar nicht die Ursache, aber ein Treiber solcher Veränderungen.
„The revolutionary idea that defines the boundary between modern times and the past is the mastery of risk“. (Bernstein 1998)
Das Buch von Peter L. Bernstein, in dem sich dieser Satz findet, heißt deshalb „Against the gods“. Darin wird die Wahrscheinlichkeitstheorie als die Grundlage der Moderne dargestellt, zu deren Selbstverständnis es gehört, die Zukunft mit Fortschritt und Chancen zu assoziieren. Das Wissen der Welt war strukturell auf der guten Seite der Macht. Auch wenn Machtmissbrauch und Wissensmissbrauch häufig Hand in Hand gehen: Die Überzeugung, dass mit mehr Wissen die Welt eine bessere wird, war in der Moderne unerschütterlich. Und die Medizin war und ist Teil dieses Zukunftsoptimismus. KI wird die Fähigkeit zugeschrieben, dieses Potenzial noch zu steigern: „Nichts bleibt, wie es ist – Wie KI unsere Gesundheit rasant verbessert“ ist ein Motto des Buches der beiden Mediziner Erwin Böttinger und Jasper zu Putlitz „Die Zukunft der Medizin“ (Böttinger u. zu Putlitz 2019).
Von den Anfängen des Risk Managements an der Schwelle zur Neuzeit bis zur Euphorie von Böttinger und Putlitz über die Chancen von KI für die Gesundheit war die Wahrscheinlichkeit also die kleine Schwester der Wahrheit und Teil des Fortschrittsoptimismus der Moderne. Ändert sich das jetzt durch die g-KI? Inzwischen gibt es Anzeichen, dass der Blick auf die gesellschaftliche Dimension von Wissen einen Turn vom Teil des Fortschrittsoptimismus, über die Realisierung der Ambivalenz von Wissen auf ein pessimistisches Verständnis von Wissen macht. Filme verdichten solche Bewusstseinslagen. Als „streng wissenschaftsgläubig“, so beschreibt Wikipedia die Frankenstein-Figur Baxter aus dem mit vier Oscars preisgekrönten Film „Poor Things“. Das Wissen, dessen Vermehrung nach den Vorstellungen der Aufklärung der Besserung der Menschheit diene, hat eine dunkle Seite. Diese dunkle Seite spielt nicht nur seit „Dr. Strangelove“ und jetzt mit Dr. Baxter in Filmen eine Rolle.
Es lässt sich mit guten Gründen argumentieren, dass das Wissen um die Ambivalenz von Wissen keine durch die g-KI hervorgebrachte Argumentationsfigur ist. Dennoch kann hier von einer neuen Dimension gesprochen werden, weil über das Thema Gesundheit die Frage alle Menschen betrifft.
Wird die Autonomie des Menschen durch das Diktat der Algorithmen ersetzt?
Prädiktion: Krankheiten durch mehr Wissen und damit frühzeitiges Erkennen und Gegensteuern zu verhindern, ist eines der großen Versprechen von KI. Ob es um das Wissen über das Verhalten oder das Genom geht: Das Potenzial der Prädiktion ist enorm. Die Frage nach den Konsequenzen des Wissens ist aber nicht neu.
Hervorragende Ergebnisse liefert KI bei Mustererkennung. Gutartige von bösartigen Tumoren zu unterscheiden, ist bei Mensch und Maschine eine Frage des Trainings. Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit bei KI hier geringer sein kann als bei Menschen. Schon das Thema Wetter zeigt aber Grenzen auf. Obwohl es sich hier um rein physikalische Größen handelt, die zu berücksichtigen sind, erleben wir täglich die Grenzen der KI.
Wie sieht es aber bei sozialen Daten aus? Die Zuteilung von Krediten war ein Einstieg, weil ein Konnex von Wohngegend und ökonomischem Status auch ohne KI behauptet werden kann. Schon das Thema Predictive Policing muss kritisch gesehen werden (Sankin u. Mattu 2023). Die Nutzung von sozialen Daten für die Prädiktion von Krankheiten muss also wissenschaftlich und regulativ begleitet werden.
Die Nutzung von sozialen Daten für die Prädiktion von Krankheiten muss wissenschaftlich und regulativ begleitet werden.
Seit die Gefahren des Rauchens bekannt sind, gibt es eine Diskussion über die Abbildung solch schädlichen Verhaltens in Versicherungen. Auch wenn KI das Wissen über die Entstehung und Vermeidung von Krankheiten massiv verbessern wird – die damit verbundenen Grundfragen für den Einzelnen und die Gesellschaft ändern sich nicht grundsätzlich: Was will ich überhaupt über meine gesundheitliche Zukunft wissen? Was folgt für mich und meine Familie aus einem Wissen, das nicht zu Handlungen führt? Was bedeutet mehr Wissen für Krankenversicherungen? Bei allen Chancen, die die prädiktive Medizin bietet: Auf das Individuum und seine Familien kommen immer häufiger fundamentale und auch erschütternde Fragen zu. Viele Fragen werden zu Recht auch zu gesellschaftlichen Debatten führen. Bei all den existenziellen Fragen, um die es da geht, ist es gut zu wissen, dass wir in Deutschland schon eine Sicherung haben, die für die Zukunft immer wichtiger wird: den Kontrahierungszwang in der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Egal was wir über die Krankheitsrisiken von Menschen wissen werden: Die gesetzliche Absicherung gegen Krankheit steht dadurch nicht in Frage.