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»Witz« - das heißt nicht nur Scherz, sondern auch Sohn. Benjamin ist der einzige Sohn und das dreizehnte Kind von Hausfrau Hanna und Rechtsanwalt Israel Israelien, die von Überlebenden der Shoa abstammen. Er kommt am letzten Weihnachten des letzten Jahrtausends vollständig ausgewachsen und mit Bart und Brille in New Jersey auf die Welt, als eine mysteriöse Seuche die gesamte jüdische Bevölkerung der USA dahinrafft. Benjamin überlebt als Einziger und wird zunächst zur Kultfigur, als das aufs Neue ausgerottete Judentum auf einmal schick wird. Doch in diesem Roman der Umkehrungen und Rollenspiele, in dem nun die Nichtjuden verfolgt werden, wird auch Benjamin wieder zum Ausgestoßenen und Gejagten und wiederholt das Leben in der Diaspora. Gegen die Verkitschung des Holocaust zieht Joshua Cohen, der vielbeachtete Autor von »Buch der Zahlen«, alle Register der Komik und Parodie, mischt Biblisches mit Stand-up-Comedy, Hochkultur mit Trash, Familiengeschichte mit Slapstick. So gelingt ihm ein fulminantes Opus magnum: mit »Witz«.
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Seitenzahl: 1914
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
I
Da Drüben, damals
Eine erste Portion
II
III
2
IV
V
Vorbereitungen
Der Tisch
Der Bogen
6
Willkommen in Wasimmerwitz
Auf dem Friedhof
Auf dem Platz
In der Kirche
Danke für Ihren Besuch
Der Markt in der Spinozastraße
Das Letzte Abendmahl
Das Museum der Museen
Pointen
Glossar des Übersetzers
Danksagung des Übersetzers
Dank des Autors
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
In einem unserer vielen frommen Bücher heißt es:
Bücher von minderer Heiligkeit soll man nicht auf Bücher höherer Heiligkeit legen.
Bezeichnenderweise wird dieses Diktum in einem anderen unserer frommen Bücher in Form einer Geschichte auf den Kopf gestellt:
Ein Rabbi legte einen Talmud auf eine Thora. Ein anderer fragte ihn: Warum tust du das? Und der Rabbi antwortete ihm: Um die Thora zu erhalten, denn indem ich sie damit bedecke, bewahre ich sie vor dem Staub und der Asche, die sich auf ihr absetzen könnten.
Ungeachtet der Frage, welcher dieser Versionen man folgt, sollte das Buch, das Sie in der Hand halten, in einem Stapel immer in der Mitte liegen.
Das Buch, das Sie gleich lesen werden, birgt keine heiligen Wörter oder Buchstaben, keine Wörter oder Buchstaben in der Loschen kaudesch, und nirgends wird darin einer der vielen Namen GOttes genannt. Dieses Buch darf daher zerrissen, zerfetzt, verbrannt oder auf andere Art zerstört werden, und etwaige Reste müssen nicht bestattet werden.
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(GOtt)
GEWIDMORDmeinen Feinden, ohne die dies alles nicht möglich gewesen wäreund hilfst mir mit DEiner Rechten Hand …
Witz
bedeutet im Jiddischen ebenso wie im Deutschen »Scherz«
und steht als Endung bestimmter Namen für »Sohn von«:
Abramowitz
heißt etwa »Sohn-von-Abram«
(alternative Schreibungen lauten -wic, -wich, -wics, -wicz, -witch, -wits, -wyc, -wych, -wycz, -vic, -vich, -vics, -vicz, -witsch, -witz, -vitz, -vyc, -vych und -vycz).
I
Da Drüben, damals
AM ANFANG KOMMEN SIE ZU SPÄT.
Jetzt steht sie wüst und leer.
Und die Finsternis verstärkt das ferne Feuer um sie herum.
Eine Synagoge, noch unzerstört. Eine Überlebende. Wer ist das nicht?
Jetzt ist sie leer. Ein Magen, ein Gehäuse, ein letzter Bahnhof, nachdem der letzte Zug zur letzten Grenze des letzten Landes am letzten Abend der letzten Welt abgefahren ist; eine Schote, eine Schale – eine Synagoge, eine Schul.
Minche wird bei Sonnenuntergang gebetet, Maariw in der Dunkelheit.
Warum diese Verspätung?
Er nennt Gründe, und sie nennt Ausflüchte.
Lasset Gründe und Ausflüchte sein.
Und so ward es.
Ein letztes Schiff hinaus, warum waren sie da nicht mitgefahren? Sie hatten ihre Papiere nicht dabei? ihre Papiere waren nicht in Ordnung?
Er nennt Ausflüchte, und sie nennt Gründe.
Lasset Ausflüchte und Gründe sein.
Und so ward es, wenn auch erst im Nachhinein.
Mrs. Singer streicht über die Narbe ihres Mannes, als wolle sie ihn ruhig stimmen. Aber er weiß, was sie eine Narbe nennt, ist sein Mund.
Zu spät, weil sie im Traum vom einen oder anderen Exil feststecken; zu spät, weil das Abenteuer der Einsammlung der Verstreuten nicht ganz vertrauenswürdig zu sein scheint; zu spät, weil man ihnen Gelder schuldet, und davon kannst du verdammt noch mal ausgehen, dass sie die eintreiben … und wie viel ist es bei dir? Ich warte bloß darauf, dass dieses einmalige Geschäft durchkommt, und wenn es so weit ist, GOtt!, wenn es erst so weit ist, das kannst du mir aber glauben, dann bin ich hier weg …
Singer schweigt, bückt sich und hebt einen Schuh auf, der ihm zu groß ist, beim letzten Schritt vom Hutzelfuß gefallen.
Nu, so ist es seit seiner Geburt immer gewesen, und all die langen, harten Jahre zollten gleichsam vergangenen Tagen Tribut: der Brückenüberquerung, dem unverschämten Preis für ein löchriges Schiff mit Durchzug, einem vom Himmel herabgeworfenen Aeroplan, seiner Flügel beraubt. Dabei hat er sich ein Bein ausgerissen, um seinen Teil der Vereinbarung einzuhalten: sich immer weitergeschlängelt vom Garten Eden zum Grab, er gibt sich Mühe, kannst ihn ja fragen; hätte er nicht so vorteilhaft geheiratet, hätte er sich einen Ast zum Gehstock zurechtnagen müssen. Und dann wieder betest du um einen Splitter und bekommst stattdessen einen Baum, aus dessen Fleisch Papier gemacht und aus dessen Früchten Tinte gesaugt wird, und zusammen wirken sie an GOttes Verfassen der Gebote mit, deren Wörter und sogar Buchstaben dem HErrn sei Dank auf Sinn verpflichtet sind; und so empfangen wir Erkenntnisse wie die folgenden und die vorangegangenen und dies: Willst du nur stehen bleiben, so stürzt du, wirst verbannt, dann verflucht und geschmäht, verurteilt, über einen Kontinent zu ziehen, ohne zu wissen wohin, nur wann du erwartet wirst, nämlich jeden Freitag bei Sonnenuntergang, indes sind eure Kalender nie in Einklang gebracht worden, und was du immer für Westen gehalten hast, war in Wahrheit ein Linksabbiegen mit dem Rücken gen Norden, eilends und nach wenig Schlaf, und dann mit einem zunehmend beunruhigenden Mal auf der Stirn.
Ein Mahl nach dem Schacharit, dem Morgengebet, das GOtt preist, Der das Licht schuf, indem Er bloß sagte, es werde, und das scheint, während wir Ihm danken, dass wir nicht sind wie jene – die Tiere, Frauen oder Kranken; dass Er uns noch nicht dem Dunkel des Todes übergeben hat – Schatten ohne Seelen, für die zu beten wäre, was sie auch nicht könnten, da es ihnen an Stimmen und Herzen mangelt, und so schlurfen sie aufgedunsen und überfressen in die Schul: Uneingegliedert, schlüsselklirrend – das kann doch nicht sein! so viele Türen … namenlose, gesichtslose, fast gestaltlose Gojim, stille Riesengestalten, aus feuchtem Dämmer aufgetaucht, um ein Leben zu bestreiten, das eher ein Sterben ist. Es ist seltsam, niemand versteht’s: Sie wollen helfen, nicht zerstören. Ruhe bewahren. Der eine fegt sauber; ein zweiter säubert die Sitze abends von vergessenem Hab und Gut. Ein dritter stapelt Bücher auf dem Almemor, schiebt sie zusammen, durcheinander, zerknittert, feucht, stellt sie auf Bankablagen, legt sie auf nach hinten gerückte Plätze, die Rasierlogen, aus denen der Schammes herbeiächzt mit einem riesigen Eisenschlüssel an einer Kordel um den Bauch, tief unter seiner Wampe baumelnd, mit den Schritten mitschwingend, die weit ausgreifen wie die letzte Nacht, die er hier frei und unbekümmert verbringen wird.
Stunden später, als Stunden noch Stunden waren, erholsam und erleuchtet wie der ganze Schabbattag, nicht überirdische Ordnungen aus Zahlen und Aufzählungen, nicht die schmale Spurweite einer Kometenbahn, Sternenstichtag, verpasst, verfallen, die Uhren von Ankunft und Abflug und Ankunft, täglich aufs Neue – die Uhr als Tischschmuck unserer Zeittafeln, die uns nicht nur an den Zeitpunkt unseres Mahls gemahnen, sondern auch die letzte verbliebene Nahrung sind – die Eingegliederten kongregieren draußen, sammeln sich … bald hat sich dort eine Gemeinde gebildet: konfessionslos, denn was hat die Observanz schon zu bedeuten, vielleicht sogar religionslos, oder alle zusammengelegt, oben auf den brennenden Haufen geworfen, wer weiß, wer kann das angesichts der Sprachen sagen? Ihr Blut ist die Fahrkarte, zu gepfefferten Preisen erworben oder weit im Voraus für ’n Appel und ’n Ei. Eimerweise vorhanden. Sie sind paarweise aufgestellt, zwei von jeder Art, je ein Männchen und Weibchen. Sie sind ausgeruht, ausgewaschen, ausgekleidet; sie sind zum Duschen angetreten und zum Scheren. In der Luft hängt die Essenz der letzten Sommerrosen, flaues Parfum – oder ist es Rauch, sonderbar süß …
Mentschn bücken sich am Rinnstein, beugen die Knie, werfen die Finger aus und angeln in den Rosten des vormaligen Regimes und den Spätnachmittagspfützen nach allem noch nicht Verwehten: lappigen Seiten, blotiken Blättern, Daf-Jomi-Flecken, vergilbten Zeitungen, deren Druckerschwärze morgen mit der Gattin von gestern weggelaufen sein wird, Schnipselfetzen, Pergament oder ist das einfach Haut, GOtt, das ist Haut. Wenn die ganz alten Mentschn beim Bücken stürzen, helfen unwesentlich jüngere Mentschn ihnen wieder auf und diesen wiederum um ein Blinzeln, eine Runzel Jüngere, alle erfahren Wiedergutmachung, und nun ist die Zehnerzahl erreicht, der Minjan. Gossenwasser wird aus den Jarmulka gewrungen, Dreck mit Spucke weggerubbelt. Die Mentschn klauben die Fetzen auf, breiten sie gegen die Windstöße an der Tür mit Daumenmessern auf glasig kahlen Schädeln aus, als ob ihre Köpfe ohne diese alles verkorkenden Fitzel und Zettel gen Himmel stieben würden. Und seinem Gewölbe. Das Himmelsgewölbe nie zu vergessen. Windgezaust küssen sie den markierten Türpfosten. Ein Uneingegliederter an der Tür verteilt Bücher mit eingelegtem Ablauf, beides wird ebenfalls auf die Jarmulka gedrückt.
Von Gelb über Rot bis zu Braun über Schwarz, wenn ich’s recht erblinzle, ich hab meine Brille grad nicht auf, fällt es im Westen durch die Fenster. Also, es werde Licht, und es ward Licht, und das war gut, wenn auch nicht perfekt – naja, oder ist dir pah vielleicht lieber. Es gehört ihnen aber nicht: Einsicht ist den Versammelten verwehrt, hier zumindest, und wonach sie bei sich zu Hause trachten, wo gleich hinter dem Horizont das Verderben aufwartet, in ihrer freien Zeit, die fast abgelaufen ist, geht uns absolut nichts an. Zwei Lichter werden eines wird zwei: Der Schammes hat Kerzen angezündet, Flammen, aber das Feuer brennt draußen. Das Buntglas bleibt dunkel. Der Boden ist ein Schuttplatz: Überreste geborstenen Flechtwerks, Scherben der bleiverglasten Lanzett- und Rosettenfenster, aus Heizkostengründen längst ersetzt oder vermauert; Banktrümmer beiseite gehäuft, Sitzflächensplitter, ausrangierte verkümmerte Glieder – nützlich fürs Anfachen der Heizkessel.
Sie kommen immer noch zu spät – es ist ein langer Weg, und in diesen Schuhen …
Wer sich noch nicht verspätet hat, geht jetzt teils nach links, teils nach rechts und die Treppe hoch auf die Empore: die billigen Plätze, die Frauen, Vergebung; einige haben vergessen, ihnen wird aber vergeben, sie werden erinnert. Beim Eintreten schüttelt das Publikum Hände; man umarmt und küsst sich und zieht mit den nicht schüttelnden Händen Erkundigungen ein. Der Hall von Schuhen auf Stein. Man streicht über Anzüge, rafft Röcke, zupft Hosen, setzt sich, puh. Die Alten sollten sich zuerst setzen, aber die Kinder von heute werfen den Respekt den Hunden zum Fraß vor, in der Ferne die ganze Nacht Gebell. Kissen, wo es vorne in den ersten Reihen Kissen gibt, schnaufen Staub auf. Husten und Niesen ergibt sich, Allergien. Die einen sitzen auf Bänken, die anderen auf Sitzen an der Wand, auf Ständern, ein Gruß an die alten Traditionalisten: Ein Griff an die Hutkrempe, eine leichte Verbeugung, die Aufrechten verneigen sich und werden grüßend zu Gefallenen, der Worte beraubt, wo über den Dialekt noch beraten wird. Alle sind erledigt, der Tag ist erledigt … Aj-aj-aj und der ganze Kitsch, das war mal. Ein paar sitzen in Bänken, sie wirken beschämt, abgeschieden, ganz hinten gibt es Klappstühle. Der Raum füllt sich, es gibt nicht genug Plätze, gibt es nie, keinen Platz, keinen Raum, keine Luft: Einige wiegen sich zum Aufwärmen im Stehen, als wären sie ihre eigenen Mütter, andere sitzen auf Grabsteinen, die auf dem Friedhof nebenan entweiht und hergeschleppt worden sind; draußen stehen vereinzelt auch noch Restbestände von Möbeln, heiliges Geraffel, die gibt’s als Sonderangebot zu mieten, auf Stoffresten von Musterteppichen sitzen sie, wo’s nur geht, auf ausgefransten Kissen aus lockerem Geld, das unter ihrem Gewicht nachgibt, auf einem Sofa mit Hornhautschonbezug, das im Akkord Flatulenzen produziert, wenn man seinen Sitzplatz für jemanden mit mehr Hoffnung räumt, oder eher mit weniger Glück, ich weiß nicht – um anderen Platz zu machen; Menschen stehen auf Menschen strömen herein durch die eingeschlagenen ausgescherbten Fenster, schneiden sich an den scharfen Splittern die Bäuche auf und purzeln dann herein, verstrickleitert in der eigenen Därme Ordnungen, und nein, keine Sichtungen von Engeln, heute Abend nicht … obwohl wenn nicht jetzt, wenn du hier den Hillel geben willst, wann dann – dann nie: Witwen und Waisen tauchen aus Böen reinen Nichts und der Abwesenheit reinen Nichts auf, die gerade der Beweis des reinen Nichts ist, blablabla, sie lehnen an den Mauern, kauern in den Nachbargassen – die Tür bleibt einen Spalt offen.
Weibsvolk oben, Mentschn unten – die Frauen können sich nicht beschweren: Gehört alles zum Ritual, ist keiner schuld dran, lediglich eine Reverenz vor wem, weiß keiner mehr; die Frauen verschwinden hinter der Mechiza, spähen heraus, verschwinden wieder. Vorhänge verkörpern Anwesende – ist das die, die ich liebe? ihre Schwester? vielleicht ihre Mutter?
Wie kann der Raum so viele fassen, ihr Licht – so frisch, so rein, so errötend? Keusch, die Äpfelchen unberührt, doch zum Verzweifeln reif. Um sie zu schlucken, scheint sich die Schul zu weiten, ein Schlangenmaul sekretiert ein tintiges Gift, das die Verdauung eines Jahrtausends dekretiert, verlangsamt. Der Brandinspektor, Der da ist im Himmel, hat ihnen Seinen Segen numinoser Kapazität und maximaler Belegung zuteilwerden lassen, unermesslich, das heißt niemals zur Erneuerung anstehend … ein großer Ofen, der heizt.
Autoritäten ganz oben haben all das angeordnet.
Eine Gruppe drängt am Fluss der drei Namen und ohne Namen vorbei, hat die Wasser gespeist, hat sie gewässert, und schafft es gerade noch ins Licht der ersten Bestuhlung: Tropfnass stürzen sie herein und die Stufen herab, um sich zu erniedrigen, Bittgebete spielen keine Rolle, wenn sie ernst gemeint sind, so die Auflage von oben – dieses Ducken durchs Portal, damit ihre Gebete aus der Tiefe aufsteigen können; und auch damit sie sich nicht die Köpfe stoßen, so niedrig ist es.
Psalm 130, falls du den kennst. Ein Bogengewölbe.
Sie betreten das Haus ihres Vaters – aber ist ihr Vater zu Hause? Huhu, jemand da?
Was hast du eigentlich erwartet außer mickrigem Zierrat, dürftig, nichts Menschliches, nur gesichtslose Löwen und einflügelige Vögel, mitten im Brüllen erstarrt und mit halbem Zwitschern. Über dem Bogen, wo die Schriftrollen aufbewahrt werden, wo künftig keine Schriftrollen mehr aufbewahrt werden – ein Tympanon, vorkragendes Gebälk mit abschilfernder Farbe und blauem Schimmel; tief verwurzeltes Preisen, verhärtete milde Gaben unter geschnitzten Faltenwürfen, irdene Ranken strangulieren die Ewigkeit, darüber dann nur noch Verrippungen. Mentschn auf der unteren Ebene, ihre Frauen und Töchter weiter oben auf der Empore, dann mit Steinblumen und -juwelen verzierte Emporen, wer weiß wie viele davon oben auf dem Steinthron des Mondes, gleichsam eine Hälfte des Dekalogs, die abgespaltenen fünf Gebote, und wer würde da nicht gern einen Blick riskieren? oder aber sie werden auf die Seite geschickt, oder mehr nach hinten, die Frauen, der Westwand am nächsten, das trennende Gitterwerk ein Metallgespinst, ein Harnischgeflecht … unablässig drehen sich die Mentschn um, finden gebetslose Anlässe, die Augen nach oben und hinten zu richten. Unaufmerksam sind wir jede Woche; nachtragend jeden Tag; unvorbereitet sind unsere Seelen zu jeder Zeit – und es beginnt da an der Decke, unter dem Dachfirst, einer verzierenden Rippe, die ein Kreuzgewölbe bewusst nur andeutet. Eine Zugabe, ob von der Schöpfung oder einem früheren Gebäude übrig geblieben. Ein Almemor teilt den Raum, obwohl sich die Choreografie im weiteren Verlauf der Show zu Ostmauer und Kanzel hin verlagert: die nächste Wanderung, die nächste Neuausrichtung, und wohin sich also wenden, auch wenn die Bewegungen vertraut sind, instinktiv gespürt werden – auf und ab und vor und zurück, rein und raus und dies und das und was wo, nur jetzt.
Alles hat bessere Tage gesehen. Die ausgetretenen Stufen zum Bühnenportal hoch, das sich auf Höhe der Straße noch einmal wölbt: Ihre Kelche mit liederlichen Kissen bedeckt, ausgestopft mit da denkt man lieber nicht drüber nach. Am Eingang vom Vestibül ein Lavabo zum Händewaschen vor der zu erduldenden Dürre des Gebets. Hat man kein Gebetbuch, muss man die Gebete lesen, die in einer verwaschenen Handschrift an der Mauer stehen. Von einer unreinen Hand, die sich dem Blick entzieht.
Bogenwärts am Bühnenportal raucht der Concierge, der hiesige Schmonzesmeister der Extraklasse, ein beleibter Mentsch, der trotz der Eiseskälte nervös schwitzt und sich einen lose zusammengerollten Palmwedel in einen Halter aus seinem Musikantenknochen gesteckt hat; er ascht auf den Boden, Aschelinien folgen der Choreografie. Alles ist seit Ewigkeiten blockiert. Der Orchestergraben liegt unter ihm; die Glatze des Dirigenten blendet die Empore: Er beugt sich über seine Partitur, sein Stab führt ins eine Nasenloch und kommt aus dem anderen heraus, er kritzelt seine Einsätze mit fanatischer Zeichenkohle, kreist Pausen und nur die Pausen ein. Tacet. Sein Smoking ist mottenzerfressen, sein Kummerbund eine enorme zweckentfremdete Armbinde. Eine Klarinette spielt aus dem Chalumeau Tonleitern hoch, die Embouchure rissig, das Rohrblatt ein Schädelsplitter; ein Geiger, ein gertengroßer Mentsch neben dem kugelkleinen Klarinettisten, dreht den Feinstimmer am Saitenhalter: Erhöht er, erhöht er, erniedrigt er, erniedrigt er; der gute Wille zählt und setzt sich durch; ein Organist zieht alle Register, lässt die mit Spinnweben überzogenen Orgelpfeifen vorglühen; der Kopist stürzt herbei, hechtet über das Geländer, stolpert über Notenpulte, schlittert durch Wasserklappenaustritte, verteilt kaum getrocknete Instrumentalsätze, gerade beendet, denn alles Werk – nicht nur der Schöpfung, sondern auch des Kopierens – muss vor Sonnenuntergang abgeschlossen sein: Der Abenddämmerung rote Tinte verschmiert, eigentlich gestern schon ausgelaufene Tinte, die jetzt nur noch mit Speichel gemischtes Blut ist; der Souffleur wischt sich mit der Rotzfahne vom Concierge die Stirn ab und nummeriert dann Karteikarten mit einem so spitzen Federkiel, dass sein Cousin damit moralisch undenkbare Augenoperationen durchführen könnte – ein Verfahren, das prophetische Rückschau ermöglichen würde, wäre hilfreich. Der Concierge, Aufschläge bis zu den Ohrläppchen, legt den Schalter zum Applaus-Zeichen um, AN und AUS und wieder AN, und auf der Bühne ploppt der MC, der Rabbi, Polins Ps ins heute Abend ausnahmsweise eingeschmuggelte Mikrofon.
Test …
Test …
Eins – zwei – drei …
Ist das hier an?
…
Guten Abend, meine Damen und Herren … und das
Feedback gesellt sich hinzu
Probieren Sie das Kalbfleisch!
…
Die Show um halb sechs bringt genau dasselbe wie die um halb vier – und danke, Leute, ich bin die ganze Woche hier …
Nu, das glaubt aber auch nur er.
Ein Feedback-Echo futtert den wiedergekäuten Schall, schwillt im Mund zu Luftangriffsausmaßen, aber vielleicht ist es eine Übung, hoffen wir’s, oder ein enger Verwandter schreit irgendwo in der Nähe NAME – die Menge schreckt hoch, kriegt Hummeln im Hintern … ein Summen, das sein eigener Stich ist und den Schock beflügelt, das instinktive Amen, das so überrascht: Man flüstert, predigt, endlich sei es, werde ja auch Zeit – unangekündigt tritt auf dem linken Flügel der Bühnenrechten der Kantor vor, der einen schlecht sitzenden weißen Kitel trägt.
Das Saallicht der Welt verlischt; die Kerzen flackern heller.
Sie wissen nicht, ob sie sitzen oder stehen sollen; lautes Knarren ertönt, Bücher werden aufgeschlagen, Einbände knacken massenhaft, Seiten werden mit Zeigefingernägeln geritzt, auf den Eselsohren Honig zur Ermunterung, und der Rabbi intoniert ohne Skript, stellt sich noch einmal vor; eine Fremdsprache, schon wieder Zungenzores: ein Responsorium, bei dem keiner respondiert und es nichts gibt, worauf zu respondieren wäre … Wie geht es Ihnen heute Abend? Wir sind Ihnen allen so dankbar, dass Sie gekommen sind.
Gesegnet Seist.
Ein Summen in der Höhe, als baumelte ein Bienenkorb am Dach der Nacht: Man flüstert, ruft, schreit letzte Warnungen, Ratschläge; Adressen in Übersee zum Einprägen, 36000 12-Millionth Street, Apartment 3B und zweimal klingeln; Zeiten und Termine … Ecke Broadway und Keine Ahnung, 1952, 18.00; Loschen hore … hier sind, scheint’s, die Seiten anders als zu Hause: Manche haben Bücher mit ungeradzahligen Seiten, andere nur mit geradzahligen; manche Bücher haben nur Zahlen: Ziffern – und Striche; andere Bücher enthalten Fotografien, bestehen nur aus Fotos, Schwarzweißbilder ohne Überschriften, oder egal was sie enthalten, sagen oder zeigen, die Seiten entsprechen nicht dem, was der Rabbi oder der Kantor, der Chasn, weiß nicht mehr, er auch nicht, zweisprachig ankündigt, in jeder diesseits des Ozeans vertrauten Übersetzung: Seite 296, zwo-neun-sechs, Seite Nummer zweihundert-und-sechsundneunzig, im weißen Buch, die Umrechnung aufs blaue bleibt Ihnen überlassen.
Vorne blättern alte Mentschn in ihren Büchern, schütteln die Köpfe, nuscheln Substanz auf all die leeren Seiten: Was sein sollte, was gewesen sein sollte – sie füllen es mit Lippentropfen auf, mit Zungentinte. Dem Gewölbe am nächsten, stehen und schwanken die ältesten Mentschn durchweg, als wären sie selbst Buchstaben, allerdings Buchstaben im Wandel, noch im Entwicklungsstadium, noch ohne feste Form. Oh, wie sich das Aleph streckt, das Beth krümmt, das Gimel den Fuß ausstellt, Symbolen mit schlechten Gelenken gleich, mit steifen Aufschlägen, ein Bein kürzer als die gebrochenen Fersen da unten; da oben dagegen Bedachung: die Hälse bis zum Verkrüppeln verrenkt, wenngleich so schön wie damals gerade noch statthaft oder koscher. Die Bücher vorgezeigt, quasi als Ornamente ihrer selbst wie all die Kronen, Häkchen und Tüttelchen, dabei sind sie nur noch schwarze Einbände, haben gar keine Seiten mehr. Und was die Aussprache angeht, wirken sie gestelzt, sind nicht ungeschickt, aber ungeübt, Schlemiele mit rostigen Scharnieren, als bräuchten sie Wunderöl, um sich der Aufgabe ureigensten Wissens neu widmen zu können … als fragten sie sich, wer kennt den eigenen Namen? wie ergründet man das Geheimnis des Selbsts, nur aussprechbar, falls bekannt? Streitlustig verfallen sie dem Grummeln, gelehrtem Grummeln, nicken mit sinistrer Insistenz, als verliehen ihre eigenen verschriftlichten Körper in ihren Regungen und Formen auch ihren Geräuschen Regung und Form; fließende Arme münden in fingerige Vokale. Hinten, wo Stimmen noch tragen, spielen Kinder in den Seitenchören seltsame Losspiele, sabbert der heilige Narr in den Mund des Säufers.
Sie treffen verspätet ein, erweisen uns endlich die Ehre aufzukreuzen, wird auch Zeit. Überlebende wir alle – Sie sind herzlich eingeladen mitzumachen zusammen mit der Gemeinde, die sie im Schiff jetzt anstarrt und murmelt, im Tohuwabohu zu ihren Plätzen. Reserviert. Sie treffen ein, kann man’s ihnen verdenken, als ob die Show ohne sie nicht anfangen könnte; wir warten, während sie die letzten freien Plätze einnehmen, bis auf einen. Der reserviert bleibt. Ein Platz wird immer freigelassen, reserviert, bleibt: Der leere Platz und die offene Tür, die Zugluft, sind nicht direkt Zufall, sondern Gesten.
Und so könnten wir auf eine Entschuldigung warten, aber wer hört schon zu, keiner: Alle informieren sich, keuchen, erkundigen sich nach Bräuten, Cousinen, weißt du eigentlich, was aus der geworden ist; draußen Geschütze, oder bild ich mir die nur ein; Explosionen, die die Schul bis in ihre Grundfesten erschüttern: Jedes Haus wird auf seinem eigenen Grab erbaut, gleichsam eine Grube für einen Bruder, zu Hause in einem sieben Jahre tief abgesteckten Loch: Wenigstens ist es Erde und als solche lebbar, erkennbar – wer kann am Himmel schon schlafen, wer kann sich in der Luft niederlegen und einkuscheln? Der Klarinettenspieler beugt einen Ton, und der Himmel beugt sich, die Blechbläser, der Regenbogen der Nacht einer erweiterten Kapelle: Dunkelheit, die Leere, O der Bund, Der vergaß.
Der Typhus der Luft, vom griechischen typhos, ein unreines Wort, mit dem wir uns angesteckt haben, todkrank: in der Bedeutung Qualm, aber auch Blendwerk. Ringsum Grüppchen von Landratten, die darauf warten, ihre Plätze einzunehmen, ihre Plätze, unsere, als Hirnnebel, undurchdringliche Wolken, deren Aufsichtsgottheiten auch des Skalpierens und des illegalen Mitschnitts beschuldigt werden. Der erste drinnen und der letzte drinnen sitzen nebeneinander, übereinander, schauen gemeinsam ins Buch, aber die Bücher reichen nicht, reichen nie. Ben Sowieso wird zum Almemor zitiert, zur Bimah, einer Insel in der Mitte, zu der er im Rücken seiner Väter eine Brücke schlägt; er legt sich den Tallit um, wird umarmt und geküsst, kommt zurück, wird umarmt und geküsst und setzt sich wieder, mit Tefillin an seinem Sitz verdrahtet. Draußen quetschen sich Gesichter an die Scheiben, werden an die Fensterkreuze geschlagen, ziehen sich über die Scherben, zerbrechen einander und sich selbst; versilbertes Fensterglas, warum nicht, umso besser richtet man sich für das Bevorstehende auf – also Spiegel, in denen die Wartenden sich die Haare richten, unter Kragen gestopfte Krawatten, behauchen die Scheiben, um sich ihrer Lebendigkeit zu versichern.
Eine Sphäre rollt um eine Sphäre, wird gemacht.
Bald wird es eines Morgens kein Osten mehr geben, es wird keinen Aufgang geben – ein ungesäuerter Morgen für das falsche Neujahr.
Daher setzen sich die Versammelten.
Nacht. Von den verbliebenen Farben wurde die Hälfte zu Mond und Sternen gebleicht, bis zur Weiße entlaust, eine Anpassung an die Luft, hoch und selten über dem Rauch; aber die andere Hälfte … der Nachmittagshimmel: Nur ein von einem vielfarbigen Mantel geretteter Ärmel kommt durch die Brühe draußen hereingeblutet; den Sonnenstrahlen entwundene Farbtöne, Stränge eines Regenbogens wie gerissene Harfensaiten – vergessen. Jetzt das Dunkel, durch das der Nächte Alles hindurchmuss, und nichts bleibt makellos: ein Schwarz, schwärzer als Schwarz, umnachtend, weniger die Farbe des Todes als schon dessen Nachspiel, ein Überleben, das den Traum überlebt; Schwarz, die letzte Farbe: das Haar schlafender Mädchen, fortgesandt, um sich Brüste und Hüften abzuarbeiten, zur Auslandsarbeit verpflichtet, um ihr eigenes Los auszulaugen; die Auswirkungen eines unendlichen Vergilbens: Passbilder, die sich durch nie gelöschte Feuer an den Ecken wellen, Nie Vergessen! – eine Nacht der neunten Plage, noch nicht; eine Nacht wie große Schwarzbrotstücke im Mund, bald … eine Nacht für die Nacht: ihre Schwärze den Sternen ohne Zahl und Namen verpflichtet, eine Mauer, dann um sie her der Fluss ihrer trockengelegten Ausstrahlungen: Die weitergehende Morgendämmerung müht sich, die eigenen Stiche und Kratzer, die in Wahrheit die verdunkelten Sterne sind, zu überstehen.
Während unser Rabbi, ein Erstgeborener, auch wenn er ungern damit prahlt, über die Holzdielen vor der Kanzel büttelt, bereitet sich die zehnte Plage vor, wartet betriebsklar in den Kulissen: Die neunte Plage bereitet der zehnten den Weg, das Bogengewölbe dem Auftritt; wobei die neunte Plage auch das Gebot der zehnten Plage ist, dann der elften, der zwölften; letztlich ist die neunte Plage nicht per se eine Plage, sondern die Voraussetzung aller Plagen: Ihre Schwärze ist angemessen, die konspirierende, kaschierende Dunkelheit ohne einen Morgen, der Zeugnis ablegen und reinen Tisch machen könnte. Und da dies der Anbeginn dieser letzten Nacht ist, um zu plagen und endlos geplagt zu werden, ist es auch der Anbeginn des letzten Schabbats aller Zeiten, wenn schon nicht ihrer Leben; aber sag mal, warum sind die zwei nicht dieselben, wo sie sich so ähnlich sind? Einen ewigen Schabbes würden wir ewig begrüßen – wie jede Sonne, die je wieder untergeht, nur einen Ruhetag gewährleisten würde, einen Ruhetag, dessen Heiligkeit im Vergleich mit dem Opfer dieses unseres Feiertags erbleichen müsste, ihn im Rückblick entweihen würde, eine Besudelung, die durch die eigene Posthumität nur umso gravierender würde. Daher jetzt eine Ruhezeit, jetzt diesen Ruhetag, eine rationierte Ruhe, die dauern wird, solange man sich an das Licht erinnert. Eine müßige Verehrung, die zu Abgöttereien neigt. Denn im Hinblick auf die Erinnerung ist davon nicht mehr viel übrig – aber die Hoffnung stirbt zuletzt … hoffen wir.
Über dem Weltsims ist ein Paar Diamanten aufgehängt. Der Mond und seine Sterne und auch die Diamanten sind die Unreinheiten der Nacht, in der Nacht, verunreinigend, da diese Diamanten nur Lyrik sind, Kunst; weißmelierte Fensterflügel, Gipsschutt, Stuckreste … diese Lichter – keine Kerzen oder Kerzenhalter, die dem Schutt geopfert worden sind, eingeschmolzen und die Dochte abgedochtet, wie alle Flammen, die nach Höherem streben, in Rauchfähnchen aufgegangen – so schweben sie; geblieben ist nur ihr Ziel: eine Frage … schwebt das Licht in der Dunkelheit? oder die Dunkelheit ums Licht?
Kein Wetter, und das Dach ist, ähmen, vielleicht abwesend, Käppchen wehen weg, werden umhergeweht; es gibt keine Zuflucht. Ob das Dach durchbombt worden ist, oder ob dort vielleicht Klapperstörche auf der Ab- oder Rückreise einmal zu oft Zwischenlandung gemacht haben … oder in einer anderen Deutung: es gibt ein Dach, und von dort regnet oder schneit es.
Himmelsseiten wehen aus Büchern, die Seiten haben, lose Seiten wehen, feuchtes Papier wird Pamps und Brei, flattert umher und wird erhascht, gestohlen, darfst du aber keinem sagen, versprochen?, dafür wird gemordet; vom Regen zum Schnee, Schneebatzen wie tot geborene Monde, Graupel und Hagel, dieser glühende Hagel, vergeltende Niederschläge, ein testamentarisches Wetter, eine Schöpfung, die ihre Leistung auf den Prüfstand stellt: Was schafft mein Himmel?, sollte GOttes Frage lauten … aber sie überhören die Stimme, springen aus den eigenen Stimmen, bücken sich nach der Haut, stückeln durch die Seiten, vergebens ergriffenes Pergament, binden sich ohne Ordnungssinn wieder zusammen, Spucke tropft von den Säumen eines wiedererschaffenen Biests, ein Wetter von der Form eines aufgelösten Wölkchens: Man bückt sich und drückt sich vor dem Mauscheln, das eine Reaktion auf das Mauscheln des Rabbis wäre, der jetzt nicht betend, sondern bestürzt mit seinem angefangen hat – ob ihrer Bereitschaft, sich dem Fatum zu fügen statt seiner berufenen Befehlsgewalt. Welch ungelehrter Schoß gab solchem Wirrwarr Leben? Dies Lesen von Gebeten, die sie gelesen haben oder hätten lesen sollen oder vor Lebzeiten vorgelesen bekommen haben, und doch Gebete, die sie nie, kein einziges Mal, verstanden haben; das Unwissen einer erlösten Zunge … da sie nie lauschten, horchten, still und stumm beiwohnten. Wenn wir uns beim Lesen auf Erinnerung beschränken – tägliche Wiederholung als Anleitung zu den verblüffenden Pilpul-Gedankenspielen, unternommen mithilfe jedes beliebigen Akronyms und unter Aufbietung aller möglichen mnemonischen Zeichen und Wunder –, dann wäre die folgende Mystik zu umgehen oder gerade zuzulassen: Im Anfang war das Wort, und das Wort war alle Worte, das Buch, jedes Buch, in dem jeder seiner Mutter in die Arme fallende Buchstabe selbst als Wort ganz war – das Schibboleth, das Passwort, der Name GOttes, niemand weiß das. Der Vortrag mit einem Extragebiss. Beim Beten weiß niemand, was er sagt, nicht weil er die Sprache des Gebets nicht kennt, sondern weil niemand sich selbst kennt, und darum betet man: Man zieht sich an, rasiert sich, bückt und verneigt sich, nur um aufs Neue zu hoffen – um ein Morgen zu erbitten, für das man gekleidet, geschoren, gebückt und geneigt sein – und an dem man wieder beten könnte.
Um ein Ende von all dem, ein Ende aller Zeiten zu erbitten.
Aber heute Nacht werden sie alle verschwinden, nur ihr Unrat bleibt, nur ihre verlorenen und nie wiederzufindenden Dinge bescheinigen ihre Existenz, schon in Schreinen verwahrte Reliquien des Vergessens, katalogisiert mit der Barmherzigkeit eines unter Glas ausgestellten Buchs, nicht zum Gebrauch (ein Bestandsbuch, die Liste) – das nächste Woche zur selben Mondzeit gegen eine neue Lieferung ausgetauscht werden wird, eine in eine Schachtel gesperrte Gemeinde. Die Schul wird von gewaltigen Tefillin gebildet; die Schul ist geschwollen wie ein voller und verhungerter Magen. Kein Oneg soll folgen, keine Kiddusch-Mittagsrunde wird an ihrem Sponsor sparen.
Unter dem Druck der Entbehrung und des Wetters erinnern sie sich langsam, zur Abwehr oder aber zum Nachempfinden, Jacke wie Hose, zumal es im Hakennäseln des Vaters ihres Vatersvaters erfolgt; was Variationen angeht, gibt es so viele zu so wenigen – wie viele Buchstaben verträgt ein Alphabet, bevor es eine Sprache eigenen Rangs wird und eine eigene Mystik entfaltet, Tamei heißt das Codewort, das als Pilpul verboten ist, als Unsinn, der nicht verpönt, aber wertlos ist, Verschwendung, außer dass er die Seelen und Leben jener bewahrt, die wir anderenfalls an einen GOtt verlören, Den wir uns als Wir vorstellen können – in Schatten, Scham und Scheitern; derlei Intimitäten werden Parabeln, sind absehbar Parabeln geworden; alles ist im Voraus bekannt und wird im Nachhinein in die Liturgie aufgenommen, mit Feuer einem Drehbuch eingeschrieben, das von diesem Feuer dann zerstört wird, Asche zu Asche, eine Prophezeiung, die die Toten erhalten. All das ist geschehen und bekam dann erst das Einsatzzeichen – in diesem Haus, unter dem Himmel, diese ausgebreitete Armbinde überwölbt unsere Welt, als beschämte ein Banner die Schriftrolle, die als Darstellung des einst uns verheißenen Nachlebens entrollt wurde, oder darauf erheben wir jedenfalls Anspruch, wenn wir die einzige Macht anflehen, die uns solchen Beistand gewähren könnte: unsere Kinder, die inzwischen alle emigriert oder verbrannt sind. Am Almemor befingern die bejahrten Gaboim, die Alten, die Geistlichen und die Stützen der Gemeinde noch die was, die Kantillationen, sie rudern mit den Armen voller Zustimmung, Ablehnung, gehupft wie gesprungen, erst hier lang, dann da lang, die funzligen Formen des Nussachs am Morgen – dann der Trommelwirbel, Hände, die einen Hügel hinabpurzeln; Geschäfte ergeben sich; viel Segen!
Am Ende der Show, des Gottesdiensts, wie das heute heißt, des Maariws, wie es üblicherweise transkribiert wird, geht der Rabbi rechts von der Bühne ab, der Kantor, der Chasn, links, Amen, sie kommen mit sämtlichen Nebendarstellern zurück, um unter dem Bühnenportal Blumen zu empfangen, halten die Blüten beiseite und den blutroten Vorhang auf, beten noch, segnen sogar, und alles ist total intensiv und aus der Hüfte, sie verteilen Luftküsse und winken; der Samtvorhang fällt und hebt sich, noch eine Runde Applaus, der Samt fällt und hebt sich erneut, eine dritte und letzte Runde, der Applaus verebbt, zur Diaspora zerstreut steht man nur noch herum, winkt zum Abschied, dann fällt der Samt ein jetzt wirklich allerletztes Mal, das Saallicht geht an, der Kehrausgesang schwillt von ihren Mündern, das Smirot: die Mitwirkenden gehen nach allen Seiten von der Bühne ab, waschen sich, ziehen sich um, rasieren sich, zuckeln durch den Bühneneingang auf die Straße und mischen sich unter die zupackenden Horden und ihre treuen Jagdhunde … Platz, Prinz, sitz.
Die Familien Rosenkrantz und Singer erheben sich, und Mrs. Rosenkrantz schaut sich noch einmal um, ob sie auch nichts verloren oder vergessen hat, hat sie aber nicht, also watschelt sie aus der Reihe auf den Gang und läuft ihrem Mann nach, der schon halb am bogenglänzenden Ausgang ist, schnell, ihr Fett wabbelt; als sie Rosenkrantz erreicht, donnert und blitzt es, und das Saallicht erlischt. Ein Sohn, Ben Irgendwer, der morgen Bar Mizwa hat, wenn es dazu kommt, er taucht mit einem langen, dicken, dreidochtigen Leuchter in der Hand auf, dreifach geflochten und die Flechten abermals geflochten, und dessen vereinte Flamme erhellt einen Knoten, der nur durch Schmelzen zu lösen ist; Wachs tropft und versengt ihm die Hand. Alle stolpern auf den Torbogen zu, treten sich gegenseitig auf die Füße, trampeln sich praktisch nieder, aber auf diese höfliche, ausgesprochen perfide Weise – ein Freundschaftsgetümmel, unwirklich, fast gestellt; wie die Schul geschrumpft ist, jetzt liegt sie hinter ihnen, und von weiter weg wirkt der Bogen größer – die Synagogenkulisse versinkt in den größeren Seitenflügeln; ein irdenes Dekor vielleicht oder eine verlassene Bühne, ohne imaginäre Ornamente oder Teile, karg wie schon zum Zündeln abgerissen – ein ganz tiefes Loch findet sich unter einer verborgenen Falltür … und die Gruppe findet sich auf einem leeren Feld – im Nichts. Eine plötzliche Aussetzung, aber mit dem Bogen noch vor ihnen, und ihm stehen sie zugewandt.
Ein einsamer, freistehender Torbogen, beidseits und über ihnen nichts; ein Tor, das Eingang und Ausgang von Nichts ist, im unerfüllten Niemandsland. Obwohl es ihnen nur fern und groß vorkommt, riesig von hier aus, ist es ein niedriges Tor, seine Öffnung ist klein: Um hindurchzugehen, müssen sie sich hineinziehen lassen und bücken, sie müssen gedemütigt, wieder zur Bescheidenheit gezwungen werden; sie folgen einander immer noch gemäß der Sitzordnung, schubsen, drängeln, stoßen, reiner Wahnsinn, weitergehen. Plötzlich ist es heiß (eben war’s noch Winter): Falls sie an die Hölle glauben, müsste die so heiß sein, so heiß ist das, aber an die Hölle glauben sie nicht, in der leben sie schon hier und jetzt, an Schenkeln, Schultern, verärgert freundlich – und eigentlich nicht heiß, eher fiebrig, ein Fieberwahn, den sie durchwandern, erschöpft, die Köpfe schwitzen, und die Achselhöhlen … saugen unter ihren Zungen: Stoffzitze eines Fläschchens; eine Bahnfahrkarte, benutzt, aber nicht gelocht; die Ecke eines mit einer Temperaturangabe beschrifteten Exlibris.
Ein Bogen, hochgedrückt, steht auf einem Erdwall, einem Hügel, einem Berg – der Druck des Bogens, Zug und Druck geben ihm Halt, und auch sie zieht und drückt eine Kraft: Singer kämpft sich gegen sein attackierendes Herz hoch, eine sogenannte Veranlagung; die Feigenbaums, die Rosenkrantz’, Singers und Tannenbaums schieben sich an Intrados, Extrados und anderen heidnischen Dingen vorbei, Parolen von Idolen: der Archivolte mit der Inschrift, für deren Entzifferung wir zu weit weg sind, auch die Laibung ist unlesbar … das Gewölbe über ihnen mit dem Spitzbogen, messerspitz, mörderisch, dann zur Bogenmitte hin das Loch, die Gussöffnung, Maschikuli ist der Fachbegriff, durch den Pech oder siedendes Wasser auf die vorrückenden Belagerer geschüttet wurde; der Fortschritt auf seinem Todesmarsch, verlangsamt, weil Verwaltungsakte aus Schwielen, Leder und Kruppstahl ihre Füße selbst zu Schuhen machen – und wie sich die Wunde weitet: sich der Neigung des Monds öffnet, der nur der Schwung einer Scheinwerferflucht ist, und alles wandert: Sie katzbuckeln vor den hinaufführenden Stufen, den gewundenen Gängen und Stützsteinen; machen Spreizschritte über diese Hindernisse hinweg, da manche Schieferplatten sind, andere aber Fallstricke und Widerhaken, Bomben und Minen, und was genau, weiß man nie – oder erst, wenn man drauftritt. Eins ist aber gewiss: Beim Durchgang durch den Bogen gibt es keine Mesusa, die man ohne Kuss vergessen könnte – falls wir je ankommen und unsere Münder überlebt haben.
Ein Bogen: Steine gehen hoch und Steine gehen runter. Ohne Mörtel ist es nur der Druck, der das Ding aufrecht hält.
Es war einmal ein Morgen, da hatte jemand die Sonne hochgezogen: Ein alter, in all dem Zurren und Zerren längst gewerkschaftlich organisierter Helfer hatte sie mit einer zerfasernden Stange ins Schlepptau genommen, auf dass sie durch den Bogen scheine, ans Tageslicht komme, selbst wenn sie nur erschiene, um den Ruhm vom Sieg Heil des Horizonts zu empfangen; aus dem eigenen Schwung heraus dann höher gestiegen bis in die Mitte des Himmels ohne Mitte, Millionen wenn nicht mehr archaische Maßeinheiten darüber – sie hält an, steht still, die Sonne Josuas, ohne Schatten, der Tag wartet …
Ein Bogen, himmelhoch, und doch müssen sie sich bücken, um hindurchzugehen, ihn hinter sich zu lassen – ein Bogen mit Eingang und Ausgang und Nichts auf beiden Seiten …
Und derselbe Jemand zog nun die Sonne herab, senkte sie zum Horizont gegenüber; holte alle Bestandteile zur unterbelichteten Lagerung ein. Die Sonne sinkt gleichmäßig, und im Innenlicht werfen die Tischgäste – denn sie sind Tischgäste, verspätet, hungrig, gieren nach Garem – jetzt Schatten, als sie sich im Kreis aufstellen; sie kommen aus dem Osten, vorrückende Belagerer, ein Schwarm, frisch herabgeschüttete Heuschrecken, mit ihren geschorenen Frauen … schleppten Sie, was die schleppen, wären Sie auch langsam, aber sie versuchen’s.
Sie kamen verspätet zur Show, und da die mit Verspätung endete, verspäten sie sich jetzt zum Essen, werden erwartet: mit einer noch brennenden Kerze, gehalten von einem nicht mehr ganz jungen Jungen, der durch sein Ausharren zum Greis geschmolzen ist, ein Paar bringt sogar Blumen, geschnippelt vom Welkenden am Wegesrand – im Grunde gestohlen, dann in Haut verpackt, die ihre ist, auch wenn geborgt, erfeilscht oder tropfend, und Wein, rotem, der verdächtig dünn hinter ihnen tröpfelt; mit leeren Händen reist man nicht an, so speist man keinen Gastgeber ab, der einem Speis und Trank reicht. Als sie übers Land heranziehen, sind letzte Explosionen zu hören, verursachende Klumpen, keine Warnung – Rauch im Osten, dem sie entfliehen, falls das Osten war: andere und jüngere Sonnen. Sie werden zum Bogen gefeuert, ist die vorherrschende Meinung: Oj wej, diese Hitze, die schlimmer wird, aber auch willkommen ist, denn das heißt, dass sie noch fühlen, dann auch der Geruch, der Brand, das Sieden der Soße: Backhuhn, und ist das Suppe, die da oben auf der Herdplatte abkühlt – sag mal, sollte ich wirklich so ein Schwein haben?
Sie schnuppern; ihre Nasenlöcher blähen sich in den Gesichtern, leeren die Köpfe in weitere versorgungsbedürftige Leere, die Wasser und Futter braucht; in der Ferne ist eine Tür, geht auf … Windstöße: Gerüche nach Zedern und Kiefern, Limonenaroma, die alle ebenso gut von Holzpolitur wie von draußen herrühren könnten, aus dem Wald, so dunkel wie tief, der verbirgt wie ein Mund, der schluckt und unten behält; weiter Gerüche nach Fett, Zwiebeln, Paprika; sie lechzen nach einem Schnauben, einem auffrischenden Schmek. Ihre Münder bauschen sich; Speichel tropft von den vor ihnen liegenden Lippen, andere können ihren Spuren folgen; ein unsteter Pfad goldender Nudeln, je gekochter, desto weicher, desto ungerader, und gelb wie Eidotter, vielleicht mit ein bisschen Zimt bestäubt oder Zucker und auch mit falschen Kirschen garniert, das ist nicht zu viel verlangt; mit jedem falschen Wischniaksack, weich in der Röte Farbton Nr. 40, wie du hineinbeißt, und es sickert dir einfach in die Zunge, weißt du, da deine Zunge selbst und das Ganze parwe wie die Sünde ist; diese Nudeln steigen ihnen entgegen, grüßen, als wellten sie, kräuseln sich in die Nasenlöcher, härten dann wieder aus wie abgestreifte Schlangenhaut, versteinern, verfestigen, ziehen sie hinein, weiter und nah und eng umschlossen. Räucherungen wie zu Tempeltagen, aber sie selbst sind die Opfer, und doch sind diese Gaben noch für sie gedacht, was ein Martyrium bedeutet. Dergestalt die Erwartung, dieses Gespür ohne Geschmack: durchwabert ihre Haken, gebacken im Schleim von sechs Millionen Infektionen; sie atmen tief ein, ein einst schuldiger Reflex: optimieren wie beabsichtigt den medizinischen Effekt: Sie kehren wieder ins Leben zurück, jetzt, da sie zur Rechenschaft aufgefordert sind … tief im Zwerchfell, eine Gegenüberstellung im Bauch, als machten sie Meldung; sie niesen sich zum Husten, melken ihren Lungen ein gelbes, empfänglich reines Gold ab; ihre Formen sind zerrüttet, sie bekommen unwillkürlich Krämpfe und Anfälle, vielleicht hetzen und drängeln sie jetzt auch nur, keine Zeit verlieren.
Es sind aber nicht nur Allergien oder Infektionen; es liegt mehr an der Verheißung des Essens als am Essen selbst, dann die Getränke, das siße L’Chaim, der Maschke, der Schnaps, nicht einmal das – es ist der alte Appetit auf das noch Unerfüllte. Ihre Schnupftücher in den Hosentaschen befinden sich seit weiß der Kuckuck wie vielen Generationen in den jeweiligen Familien, seit Adam erstmals Eva was anzog, nur damit sie eine Tasche hatte, wo sie den Apfel reinstecken konnte, damit sie die Hände frei hatte und Bäume putzen und in Eden kochen konnte: Servietten, gestohlen von den Tischen aller je beschlagnahmten Esszimmer, um mehr zu besudeln, als je mit einem Abzeichen aufgetunkt oder von einem Land absorbiert werden könnte, zu festen Bällchen verklumpt, zu gefurchten Globen, mit Rotz und Wasser zusammengeknüllt als Atemluftersatz für Regenbögen. Als sie sich dem Gipfel nähern, dem hohen Bogen dieses Berges Sinai, räuspern sie sich, beschwören den Auswurf, nur um zu grüßen, beisammen zu sein, Schalom zu sagen; nur um ihren Generationen künftiger Adams und Evas von ihrer eigenen Passage hierher erzählen zu können – wie es dazu kam, dass sie bei diesem Essen dabei waren, dass sie erst saßen und bedient wurden, nachdem sie wie Schlangen durch die Wüste gekrochen waren … der unfruchtbare Wüsteneiennichtsnutz folterte für die Torturen einen Ozean weg, die Arbeitseinsätze, die Aufstellungen, die Appelle, der Hunger und Durst ohne Essen und Wasser, O die Öfen!
Alles verlangsamt für die Kinder, die Töchter Israelien, alle zwölfe, von Rubina bis Batya, denen die Verspätung ihrer Gäste, der Gäste wie uns, um nur ein paar Minuten, vielleicht fünfzehn, wie eine Ewigkeit vorkommt. Gerieben vergeudete Zeit, was tun. Singt ein Lied, erzählt eine Geschichte. Was war an deinem Tag so los, ich höre zu, solange sie kommen. Oben. Unsere Verspäteten wandern vorsätzlich weiter, immer, bitte, also genügt es oder sollte genügen, dass sie niemanden warten lassen wollen. Habt Geduld und Schluss mit dem Herumzappeln. In einer Stunde mach ich die Runde und komm euch allen gute Nacht sagen. Obwohl dieser Laut so nicht exorziert werden kann, weil er nach niemands Bilde erschaffen ward, keinen Ursprung im Körper hat, der ihn abkühlen oder ersäufen wollen könnte: Der Laut des Blutkreislaufs ist zu leise, ein Herzschlag vielleicht zu vertraut, da denkt man eher an die Liebe des Todes und nicht das Leben, wie es mechanisch gemessen wird, nach einem Plan ausbezahlt, dem Kneifen einer Hand; es ist das Tick, des Küchenweckers Tack, jeder Zahn seinem Ahn gleich, nach alleinigem Ermessen der Ewigkeit, auf die Sekunde, die Minute; der Laut kommt vom Ofen, dem Ofen am Ende des Torbogens, dem Tor zum Ofen und auf der anderen Seite wieder hinaus.
Hier ist ihr Übergang aus der Welt des Vaters in die der Mutter, ihren Machtbereich, eine Zweitelternschaft: die Mentschn reduziert, weniger im Schrumpfen und Verdichten exemplifiziert, während das Weibsvolk nur gewinnt, ansteigt, von Stärke zu Stärke und immer weiter geht – über den Ozean, vielleicht ließ das Fließen, die Nässe ihn mütterlich wirken. Da Drüben war es der Vater gewesen, der herrische Abgott, der Geliebtgehasste, der von seinem hohen Beamtenstuhl herab geherrscht und massiv in seine dunkle Bürokleidung investiert hatte, seine Dreiteiler, seine Kammgarnanzüge, Krawatten und Hüte, seine Schach-, Kaffee- und Tabakgewohnheiten, seine in penibelster Handschrift geführten Wirtschaftsbücher: Die Söhne gaben sich müßigen Vatermordgedanken hin, während Töchter ignoriert wurden, dann auch die Mutter, die an den Rand gedrängt und gar ins Vergessen geschnipst wurde. Hier und jetzt ist es hingegen die Mutter, die sich im schwerbrüstigen Anmarsch behauptet hat – demonstrativ missbilligend, ihre Fragen in Sachen wie spät sie ohne Entschuldigung fortfahren, mit zunehmender Prüfung jedes gezapften Schnipsers vom Küchenwecker, der Seele ihres Gesichts, der ein anklagender Finger droht, Schuld wird allen außer ihr selbst in die Schuhe geschoben – und was den Vater angeht, der ist gefallen, degradiert, den hat man als schwächer abgetan, botmäßig gemacht, seines Geburtsrechts beraubt, abgestorben und sterblich gemacht; weniger Fleisch und mehr Suppe; wässrige Brühe mit Linsen, gehackt, damit Aba nicht würgen muss, ist doch ein Jammer. Man muss zugeben, dass alles sexualisiert wird durch die Psychologie, jene Wissenschaft, die wir erfunden haben, um unser Leiden als Familienangelegenheit auszugeben, und sei es nur, um den wahrhaft Verantwortlichen zu verzeihen und so hoffentlich künftigem Zorn zu entgehen; die verdoppelte Vergeltung jener, die uns das eine, wahre und unfassbare Leid antun, als wäre nichts natürlicher als die Art, wie sie sich aller Schuld entledigen … als hätten die überlebenden Söhne sich darauf geeinigt, auf die Mitte zu verzichten, das vermittelnde Elterliche – und stattdessen direkt zur Sache zu kommen; sich kopfüber hinabzustürzen, ins Schwarz zurück, aus dem sie in Warnungen hervorgebrochen waren, die lieber jahrhundertelang privat gehalten worden wären, Generationen krasser Sublimierung und Verleugnung: die Mutter, der Schoß … sie gehen in den Ofen und kommen auf der anderen Seite heraus – als andere, wiedergeboren: kein Muttermord, sondern ein erotischer Kampf – gegen den Tod.
Sie ist jetzt der Familienvorstand, sie hat hier die Röcke an.
Und auf ihr Ticken hin fangen sogar die Kinder zu speicheln an – Josephine versteckt sich unter den Bezügen und lutscht an Knien, die vielleicht ihre sind. Der Küchenwecker ihrer Mutter, unserer Gastgeberin, hat einmal seinen Kreis durchsaust, hat ihr volles, rundes Gesicht abgeschritten und ihr die Krümel von den Kinnen geleckt … und doch – trotz der überwältigend regelmäßigen, ja attraktiven Gesichtszüge, den herzigen Augen und dem Mund, den langen Wimpern und kleinen Ohren, hinter denen sich die kurzen Haare verstecken, als hätten selbst sie Angst vor ihr, vor ihren geblafften Verdikten, ihren ungeduldigen Einmischungen – und doch, trotz allem, was man im Spiegel so anstellt, ist es eine beklagenswert beliebige Rundheit, ohne relative Ordnung, weniger ein Fehler, den man ausbügeln könnte, als ein Gegenstand, mit dessen Unvollkommenheiten immer gerechnet werden muss, tut mir furchtbar traurig: Ihre Leberflecken und Falten markieren eine dergestalt mit Ausdruck versehene und doch bedeutungslose Fläche … ihre Haut, am Morgen in einem falschen, dem Urzustand aufgezwungenen Zyklus feuchtbecremt und geschminkt, wurmt, stößt ab, das Übermaß ohne Creme fleckig und schlaff – ding, ding, Ding. Und in all dem mit seiner eigenen Geschichte Beladenen, seinen eigenen Verheißungen und Verhängnissen, die vielleicht geringer sind als diejenigen, die sie hinter sich gelassen haben, aber in ihrer eigenen Umgebung nicht weniger fatal: Arbeitsflächen, eine Spülmaschine, ein Waschbecken wie eine Grube ohne Boden, ein Abfluss, der ganze Länder trockenlegt – in all dem erscheinen unsere Gäste: Sie kommen durch den Torbogen, den Heimesherd, Herd sagt er dazu, Ofen sagt sie, und sie hat schließlich immer recht, ist ja ihre Küche – sie kommen herein, in eine geflieste und rostfreie Welt ein Meer weit weg, auf der anderen Seite, im Wind, im Rauch; der runde, weiße Rauchmelder macht ein Geräusch, macht Angst, ein falsch verstandener Alarm, und so erstarren alle einen Augenblick lang, bis ein Fenster geöffnet wird, unbeweglich, nur ein schwaches Herz schlägt zwischendurch … ein Prozess, der weniger eine Transsubstantiation ist als ein Vergessen: eine Erfahrung, die man vielleicht besser mit Medikamenten steuert, rezeptpflichtigen: zwei Tabletten – eine fürs Herz und eine für den Kopf –, und sie sind Raus, kommen dann wieder Rein … in diese Küche, in der ihre Gastgeberin seit Ewigkeiten drauflos gekocht hat und jetzt zum Nebeneingang läuft, Absätze passend zu den Topflappen, um den Rauch in die Nacht hinaus zu wedeln.
Die heutigen Gäste haben die Unterdrückung durch dieses so kultivierende, zivilisierende Gebilde ertragen: jenen Torbogen, der demütigt, zur Bescheidenheit zwingt, sie haben seine zu stürzen drohenden Steine überstanden, die Warnung fallender Felsen, die Garden der Gruft, die Wachen am Grab; dieser Bogen dient seit unvordenklichen Nächten als Tor durch den Elektrozaun, um sie zu bewahren, für Schleifen um die Widerhaken zu sorgen, dem Feuer, das ihre Pläne über den Haufen werfen würde, eine Mündung gegeben, mit der es seine eigenen Flammen nährt – o welch ein tiefkehliger, demütigender Durchgang, diese Passage des Exils, die keine Lexien hat, aber von nackten Trauervokalen interpunktiert wird; die Liedlosigkeit der Unterworfenen, die sich unter den Schattenwölbungen der Weiden an den Flüssen Babylons ducken; das römische Schlurfen, schüchtern wie ein Hausmeister, durch die Ritzen zwischen den Steinen des Tempels gepresst, um als Öl oder Europa neu erschaffen zu werden: wie sie, wenn auch mit hängenden Köpfen, den seiner Form zugrunde liegenden Terror überlebt haben – die maßgebliche Zerstörung des Torbogens, seine Erniedrigung: In seinen größten Manifestationen erzwingt er Gehorsam, stellt beinahe alles Anwesende in den Schatten; in seinen geringsten Variationen steht er so winzig und eng da, dass den hindurchgezwängten Seelen die Federkiele mitsamt dem Pergament abgebalgt werden – wodurch sie wiederum überlebt haben und wundersamerweise sogar noch Appetit mitbringen … nur um einem Ofen zu entkommen, über einen Ozean und seinen Rand treten sie aufrecht und langsam, als wären sie selbst Geflügel, um über der Tür nichts zu zerbrechen oder hängen zu bleiben, der Tür, die ihre Gastgeberin geöffnet hat, um den Fortgang des Backens zu prüfen, ihres oder dem eines Stellvertreteropfers – die Hühner kommen heraus und können serviert werden; übrig gebliebene Haare werden abgesengt, ihre schlaffen, schäbigen Kleider weggeschnappt, die zerschlissenen und gerissenen Röcke, auch die lockeren Tausendmarkanzüge an Drahtgittern, deren Roste Streifen auf den zerrissenen Uniformen hinterlassen, zu Krawatten zerschnetzelt, zu Bändern zerschnitten, mit denen sie ihre Hüte in den Händen festbinden. Ihre Brillen beschlagen, also nehmen sie sie ab; alle haben Brillen; ein Schmock mit Kneifer, der Rest mit normalen Brillen; sie nehmen sie von den Sätteln, den Nasen-, den Ohren- und tasten dann nach Kleidersäumen, um sie zu putzen. Als die Sterne auftauchen, verlieren sie ihren Glanz und fallen ihnen von den Brüsten, kühlen zu Boden, als wären sie Kekse oder Kuchen mit sechs Geschmacksspitzen, Süßigkeiten für die Kinder: Überbleibsel gewissermaßen, die ihnen ins Bett helfen; wenn sie eindösen, dämmern die Desserts. Singer hilft seiner Frau aus dem Mantel; die Rosenkrantz’, von denen die Frau inzwischen auf die Knochen geworfelt ist, beide so trocken, dass sie nicht mal mehr für den Topf taugen, der oben beschlägt, die Suppe, die mit einer Prise zu viel Mitleid umgerührt wird – beide drängen im selben Moment durch die Tür, aber gesittet, im Gleichschritt, Händchen haltend. Inzwischen sind sie so nachhaltig konditioniert, trainiert, aufs Parieren dressiert, als wären sie ein Rezept ihrer selbst: eine vollkommene Selbstvergiftung, dessen einzige und geheime Zutat die Angst ist (alle neigen die Köpfe bis auf den letzten, Feigenbaum, der sich seinen stößt); die einen jung, die anderen alt, mal gesund, mal krank, mal so lala – sie könnten verwandt sein. Als Hausfrau, Hausmännin, wie ihr Gatte witzelt, ist sie stolz darauf, sich mit allen Ersatzstoffen auszukennen und auch bei fehlenden Zutaten Essbares aufzugabeln, das einen nicht ans Messer liefert oder den Löffel abgeben lässt: Sie macht Stapel, erstellt Listen, lauscht bei Testgruppen und -personen; und sie unterscheidet nicht, wer erwartet wird, für wen schon ein Stuhl eingerechnet ist, hat Gedecke und Portionen zugewiesen, und wer das Glück gehabt hat, ihre Milde mit einem spontanen Hinweis oder einer aus zweiter Hand abgestaubten Einladung gewonnen zu haben – da gibt’s kein Problem, da bin ich sicher … jetzt kommt sie von der Tür zurück, wo sie Wache gehalten und sich eine kalte Nase geholt hat und jeden mit Namen anspricht oder seine Kniffe zu goutieren weiß: Die einen umarmt sie mit ihren Topflappen, andere bekommen Küsschen, mal eins pro Person, mal eins pro Wange, kommt ganz drauf an.
Sie, die zu spät Gekommenen, fragen im Chor, sind wir zu früh dran? oder nur eine oder zwei von ihnen, von den Frauen, fragen, und es klingt einfach so, als würden sie auch für ihre Männer sprechen – es wird an Stirnen geschlagen … auch die des Monds, ein gestischer Klaps ans Glas, in die Nacht. Wenn wir nicht wissen, was wir tun oder sagen sollen, oder wenn wir uns stattdessen – wenn Ihnen das unbehaglich ist, dann lassen Sie es doch einfach und wechseln Sie das Thema – sogar nach dem Wetter erkundigen: Für diese Jahreszeit war es heute ungewöhnlich warm, aber uns steht ein Kälteeinbruch bevor, hab ich gehört … und ein paar sammeln sich vor den Kücheninseln, an den Arbeitsflächen, die mit ihren Vorderfronten selber Küchenzeilen bilden, eine Masse aus Grau- und Schwarztönen, sie diskutieren schon und haben geplatzte Äderchen in den Augen, die nicht besagen, dass sie gleich Zustände kriegen, nur dass sie müde sind; andere naschen schon mal an den herumstehenden Speisen, trinken Wasser direkt aus der hohlen Hand unter dem Hahn; einige bleiben in der Küche und bieten Mithilfe an, einfach um ihre Männer oder ihre Frauen loszuwerden; andere gehen zur Hutablage im Flur und legen ihre Homburgs oder die ihrer Männer ab; meiner ist der dritte von links, komm bloß nicht auf dumme Gedanken; andere nehmen schon im Esszimmer Platz, was unbescheiden genug ist, aber ein ablehnender Bescheid käme ihnen ungelegen: sich in der Reihenfolge ihres Alters und ihrer Gebrechlichkeit zu setzen, das hätte Sinn, wenn auch nicht in puncto Stuhlverteilung rechts und links von ihren Gastgebern an der Stirnseite, sondern nur hinsichtlich der Frage, wer sich als Erstes setzen darf, denn eine große Hilfe ist keiner von ihnen denjenigen, für die das eine Herausforderung ist: die Servietten schon in die Kragen mit offenen obersten Knöpfen gestopft oder schwächlich über die reizbaren Schöße gebreitet; in den Startlöchern, Messer und Gabeln im Anschlag.
Sie haben eine Alija erlebt, sei’s auch die einer schwächeren Spezies, eine gegenläufige Wallfahrt, bei der sie in einer ausweglosen Ferne umkehrten und in einem Teufelskreis stecken blieben – bis sie als Fremde in einer fremden Küche in einem fremden Haus in einer Siedlung verweilten, die so entworfen wurde, dass nichts an ihr fremd erscheine, ein Programm, das von der göttlichen Fügung einer günstigen Lage inspiriert schien, in einer Siedlung, die – auch wenn die verwirrende Materialität dieser Welt mit ihren einsperrenden Platten samt Fugenkitt vielen, die lieber freier gelebt hätten, befremdlich vorkam – auch fix und fertig mit einem ausgezeichneten Schulsystem erschaffen wurde; wie wir doch für unsere Kinder leben: Bei diesen Immobilienwerten gibt es daran nichts auszusetzen, abgesehen von den Steuern, denn von jedem Dollar werden zehn Cent auf die Bildung unserer Kleinsten mit den diversen historischen Methoden verwendet, dank denen unsere Gäste hier und heute überlebt haben, wenn auch bös verbrannt; eine Entstehung, die von auch im unlöschbaren Feuer unvergessen verbesserten Kapitalflüssen erfasst, genehmigt und sogar finanziert wurde.
Ihr Leben ist neu gemacht, wie ein kritisch überarbeitetes Rezept, zweite Chancen für die noch nicht Überseehenen; eine nicht bereute Beute, der der Schimmel mit dem Challamesser der Frau abgekratzt wurde, die das Vergnügen hat, sie, die überlebenden Überlebenden, heute zu bewirten – allerdings nur, weil sie sich dazu herablässt, für sie zu knechten, auch wenn sie nicht durchblicken lässt, wie erschöpft sie zumal diese Woche ist und trotz der Tatsache, dass man mit solchem Kwetschn Gefahr läuft, Missverständnissen in den Fettnapf zu treten, machen sie doch alle, und alle Jubeljahr mal auch sie selbst: Aber wenn’s ihnen nur schmeckt, und von Knechtschaft muss sie ihnen ja nichts erzählen.
Also das Lächeln aufgesetzt, mit Elan die Speisekammer neu geordnet, und dann heißt es: Wir sind so froh, dass ihr am Leben seid, es ist ein Wunder, dass ihr es schließlich geschafft habt!
Sagt doch Hanna, bittet sie, als Feigenbaum sie Mrs. Israelien nennt und fragt, ob sie was dagegen hat, wenn er sich da hinsetzt, wo er schon sitzt, und dabei keinerlei Anstalten macht aufzustehen, und wie sie ihn freundlich darum bittet … Hanna hat genug: Nicht nur hat sie gerade das Gefühl vermittelt bekommen, alt zu sein, schlimmer noch: eine von ihnen. Bitte, nur keine Umstände – bleiben Sie ruhig sitzen.
Und dann sagt Feigenbaum, ich hatte eine Großmutter namens Hanna, glaube ich – erinnere ich mich dunkel.
Ich weiß nicht, muss an meinem Kopf liegen. Hätten Sie vielleicht ein Aspirin?
Oh, die Königin dieser Küche, die Braut, die dieses Haus zum Heim geheiratet hat, die Mutter der Siedlung, Matriarchin von Joysey nur eine Pendelstunde von New York – sie ist aufgescheucht und schwitzt; aber sorgt euch nur um euch, daran ist sie inzwischen gewöhnt, als wäre dieser Zustand selbst eine Tochter geworden: ein Mond, der immer voll ist und in dessen Schein man vernarrt sein kann, in die Wiege eines Körbchens gelegt, das sie an einen fernen Fluss zu verlieren hofft, der monatlich dick und dunkel strömt …
Feigenbaum fragt, Es bringt ja Pech zu fragen, irgendwann wenn wir es nicht erwarten, können Sie dann einfach Junge oder Mädchen sagen, damit wir Bescheid wissen. Ich hoffe, ich lebe lange genug, um es kennenzulernen, wen noch mal … hab ich vergessen.
Nu, er gebe dir, was dein Herz begehrt, wenn Sie das kennen, und nu, ja und nein: Sie kennt’s, weil sie wieder schwanger ist, angeschwollen, schnippisch und mit Haarausfall, obwohl ihre anderen Töchter die Vorfreude nie und schon gar nicht so lange überstrapaziert haben, der Termin ist jetzt, was, um eine Woche überschritten, jeden Augenblick kann eine Tür aufspringen, der Rauch ist dann aber der vom Arzt, der dann die Handschuhe trägt … oben an der Krankenhauswand, der Kreißsaal wie ein Ferienhaus, so viel Zeit hat sie da schon verbracht, erinnert sie sich: Sie ist so rund und blass wie eine Uhr, und beim dreizehnten Durchlauf, dem letzten, wie sie da verlangsamt, wie schnell sie verstummt, das Ticken eines ablaufenden Küchenweckers, nicht nur bei einer Platte oder einem aufzuwärmenden Gericht, sondern beim Mechanismus selbst, dem ganzen Körper, mit dem sie ausgestattet war, der Ofen ihrer Gebärmutter ohne Garantie, da zu nah an der Seele installiert und zu privat – und dann erwidert sie gleichzeitig Feigenbaums Psalm noch mit ihrem Schweigen (Siehe, erinnert sie sich: Die Hüterin Israels schläft und schlummert nicht), kennt’s nicht so gut … ein Gefühl, das, wie sie sich zu erläutern bemüßigt fühlt, selbst beinahe schwanger ist, von sich selbst quasi, es erzeugt sich darin, dass es mich zirkumlunar ständig mir selbst entfremdet, ich hab mich verlaufen, aber sie sagt dann doch nichts; noch zu keiner Zeit hat sie sich damit ausgekannt, nicht nur weil – und das verschweigt sie, indem sie einen Griff befingert, den Nabel einer Schublade – es ein Junge ist, Masel tow, aber warum fühlt es sich auch noch verfrüht an?
Die Teller stehen auf dem Tisch wie die Sonne tief im Westen. In der Küche sind sowieso die Jalousien herabgezogen. Ihr Tisch hat vier Beine, ein Tisch mit drei Beinen ist fragwürdig, mit zweien unrein, und ein einbeiniger Tisch ist ein Greuel den Augen GOttes, die unendlich und weniger Augen als Beine sind, auf denen wir am Ende des Schabbat, unseres Ruhetags, vor dem Blick Seines Urteils fliehen. Die Platte ruht auf den Tischbeinen, die Beine ruhen auf dem Boden. Ort und Stelle sind nie verkehrt, nichts rührt sich, nichts eilt jetzt mehr, jetzt gerade nicht; nichts verkehrt mehr. Am Boden wissen wir, was von uns erwartet wird und was wir von anderen zu erwarten haben – wir winseln um Luft. Fliesen fliesen – Schimmel schummelt – Laminat lückt – Resopal ohne Palmen – Linoleum Rasensode Parkett aus Holz, echtem Holz, Teppiche teppichen von Wand zu Wand zu Wand zu Himmel; geläufert, gebrückt, wir sind einfach am Boden. Lass frische Luft dich wieder atmen, Bruderfreund. Wir sind wieder zum Bleiben hier. Das Haus gestillt bis zum Himmel. Draußen, wer weiß. Und wer will das schon. Wolke. Alles wird langsam dunkel – ein Getrippel. Diese Nacht ist eine für streunende Hunde. Da die Dunkelheit unbeweglich ist, können ihre Schatten nach Belieben schweifen. Es eilt von den Gehwegen in ihren Garten. Ohne Verkehr kann es aber keine Straßen geben, nur Gehwege, und so werden alle Pfade auf Erden sicher. Endlich sind wir zu Hause. Es ist feucht und nieselt hässlich, regnet oder schneit aber noch nicht richtig. Das Wasser unter der Feste ist noch nicht geschieden vom Wasser über der Feste. Wir werden jeder eine Lüge über den anderen erzählen, und sie werden einander hassen und nie wieder zusammenkommen außer in einem Sturm. Die Lüge wird lauten Die Meere sind schöner denn der Himmel und der Himmel ist schöner denn die Ozeane, und obwohl beides Lügen sind, sind sie gleichermaßen wahr. Aus einer Wolke dräuen Wolken. Ohne Kragen und winzig. Ohne Namen und Geräusch. Es scharrt am Aufgang und hebt den Kopf. Mentsch spricht, Frau spricht. Keiner horcht. Dieses bellt. Es bellt streunend. Rawuff. Arfgr. Und bei diesem Geräusch geben die Lampen ihm einen neuen Namen, die Lampen gehen an – und nennen es Hund.
Hoffentlich der eines Nachbarn – und drinnen geht Hanna, die wie die Lampen auf jede Bewegung im Haus reagiert und wie die draußen, um nachzusehen oder Wanda hinzuschicken, und denkt, kann kein Gast sein, ist noch zu früh.
Denkt gar nicht an ihren Mann, der spät dran, immer der Letzte ist.
Fragt sich, welche Tür.