Wo bist Du - Aldona Unterlechner - E-Book

Wo bist Du E-Book

Aldona Unterlechner

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Beschreibung

Roana lebt ein einsames Leben, hin- und hergerissen zwischen ihren furchtbaren Alpträumen und einer unglücklichen Liebesromanze mit einem verheirateten Mann. Immer wieder verliert sie sich in ihren Tagträumen und verzweifelt an ihrer zerrenden Machtlosigkeit ihr Leben zum Positiven zu verändern. Eines Tages begegnet sie einem mysteriösen Unbekannten, der sie auf offener Straße anspricht und ihr von einer großen Gefahr berichtet, in der sich Roana befindet. Nachdem er sich vor ihren Augen unsichtbar macht beginnt sie an ihrem Verstand zu zweifeln. Anfangs sehr skeptisch machen sie sich schließlich gemeinsam auf den Weg die unfassbare Wahrheit aus ihrer Vergangenheit aufzuklären. Das Schicksal nimmt seinen Lauf und Roana taucht in ihre erschütternde Geschichte ein, in der sie Aliens begegnet und sich in mehrere Dimensionen begibt.

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Seitenzahl: 373

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Kapitel 1

Roana schreckte inmitten der Nacht hoch, saß zitternd und schweißgebadet im Bett und konnte sich für eine lange Zeit nicht beruhigen. Wieder einer dieser fürchterlichen Alpträume! Und jetzt fühlte sie sich immer noch so, als wäre ein Teil von ihr noch mitten im Geschehen.

Lichter, überall waren grelle Lichter gewesen. Um sie herum standen bewaffnete Personen, um sie zu verhören, ihr Innerstes nach Außen zu kehren. Es war so bedrohlich und düster gewesen.

Sie lehnte sich langsam in das Kissen zurück. Die Augen weit geöffnet, starrte sie zur Decke hoch, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Wann würde sie endlich aufwachen? Immer noch schienen die Personen aus dem Traum näherzukommen. Sie trugen Waffen, und Roana wusste, dass diese Fremden vor nichts Halt machen würden. Sie erinnerte sich, dass sie gefesselt und vor Angst erstarrt stumm dagesessen hatte und weder sprechen noch fliehen konnte. Erst in der letzten Traumsequenz hatte die Panik sie aufgeweckt und jetzt fand sie nur mühsam zurück in die Realität.

Nun war alles vorbei. Es ist gut, musste sie für sich immer wieder still in Gedanken wiederholen. Langsam wurde ihr Kopf klarer, sie kam zu sich und trank ein Glas Wasser, welches sie inzwischen jeden Abend auf dem Nachtkästchen bereitgestellt hielt, um nicht zu dehydrieren. Sie träumte oft schlecht und bei dieser Art fürchterlicher Bilder in ihrem Kopf, schwitzte sie jedes Mal so stark, dass ihr Kreislauf zu versagen drohte. Ihr Nachthemd war von Schweiß durchnässt und ihr wurde kalt. Roana fühlte sich alleine und ungeschützt.

Die Beklemmung stand ihr noch ins Gesicht geschrieben, als sie aufstand und ins Badezimmer ging, das Gesicht mit eiskaltem Wasser abspülte, dass sie hernach über die Handgelenke laufen ließ. Dabei sah sie eine Weile nachdenklich in den Spiegel. Eine müde, blasse Gestalt blickte sie an. Wo war nur die schöne junge Frau geblieben, die sie eigentlich darstellen sollte? Sie war erst Mitte dreißig, doch durch den Stress und den Kummer, der ihren Alltag prägte, wirkte sie bestimmt zehn Jahre älter. Es war lange her, dass sie sich voller Vitalität und Energie gefühlt hatte. Jetzt lagen dunkle Ringe um ihre Augen und Falten um den Mund, ihre Wangen hatten die einstige Elastizität längst verloren, waren eingefallen und ließen ihr Gesicht müde und hager wirken. Ihre Haut war aschig und fahl und komplettierte den Eindruck eines abgehärmten Antlitzes.

Dabei war sie einmal von strahlender Schönheit gewesen. Vor dem Traum, der ihr alle Kräfte raubte. Den Träumen. Roana dachte an den Traum, den sie so oft geträumt hatte, der in so vielen Varianten auftrat und doch gleich schien. Jedes Mal hatte er etwas zutiefst Erschreckendes an sich, stets kamen bewaffnete, bedrohliche Menschen darin vor, die sie verhören wollten. Jedes Mal war ihre Lage ohne Ausweg. Sie erinnerte sich auch daran, dass eine Art Flugobjekte auf einer riesengroßen Wiese parkten. Es waren keine Flugzeuge, wie man sie sonst kannte, vielmehr waren es flache Scheiben und sie hatten ungewöhnliche Formen, wie aus einem Science-Fiction-Film.

Nachdem sie sich kurz frisch gemacht hatte, zog Roana ihre schon am Vortag getragene Jeans an, die am Hocker vor dem Bett lag, und den Pullover, der im Badezimmer neben der Heizung hing. Sie schlüpfte in ihre Sportschuhe, streifte sich die glänzende schwarze Lederjacke über und verließ die Wohnung.

Die Nacht war still. Nebel breitete sich überall in den Gassen aus, hing knapp über dem Boden. Die Straßen lagen im Finstern und die Stadt schien wie ausgestorben. Sie war allein. Wie so oft ging sie die leeren, dunklen Wege ab, um ihren Kopf klar zu bekommen. Nichts war jetzt besser, als rauszugehen und sich an der frischen Märzluft zu beruhigen, um den Traum, Traum sein zu lassen und wieder im realen Leben anzukommen.

Was hatte es mit diesen Bildern im Kopf nur auf sich? Weshalb immer die gleiche Art von Alptraum, der sich seit langer Zeit in ihrem Leben oft wiederholte? Nach solchen Erlebnissen hatte sie als kleines Mädchen laut schluchzend im Bett gelegen. Ihre Mutter kam jedes Mal zu ihr, streichelte ihr den Rücken, hielt ihre Hände, beruhigte sie sanft und wiederholte ein ums andere Mal, dass es nur ein schlimmer Traum gewesen war und nun alles wieder gut sei. Manchmal sang sie ihr ein Lied vor oder summte nur eine Melodie, damit sie beruhigt weiterschlafen konnte. Ihre Mutter war damals immer für sie dagewesen.

Weshalb hatte sie so früh sterben müssen? Aus welchem Grund hatte sie ihre kleine Tochter schon so jung verlassen? Sie hätte sie doch so sehr gebraucht. Warum meinte es das Schicksal nicht gut mit ihr? Sie war doch ihre Mama, die Beschützerin, die ihr Kind in ihren Mittelpunkt stellte. Auch wenn es schon lange her war, seit ihre Mutter verstarb, und Roana inzwischen längst erwachsen und schon lange Zeit allein auf sich gestellt war, vermisste sie ihre Mutter dennoch jeden Tag und wünschte sich, sie hätten einander noch. Dass sie regelmäßig sprechen, sich immer wieder treffen und miteinander über alles reden könnten, so wie es Mütter mit ihren Kindern lebten. Sie als eine wunderbare Freundin im Leben zu haben, der sie sich wie keiner sonst anzuvertrauen vermochte, all das vermisste Roana sehr. Damals war sie dankbar und glücklich darüber gewesen, ihre Mutter bei sich zu haben, denn es war alles gut, sobald die Mama kam, um zu trösten und sie zu beruhigen.

Eines Tages, erinnerte sie sich, kam sie von der Schule nach Hause, doch anstatt der Mutter, wartete ihre Oma bei ihnen zu Hause auf sie. Sie saß weinend am Tisch und schaute ihre Enkelin mit einem von Entsetzen erfüllten Blick an, während Tränen ihr die Wangen hinunterliefen. Als sie das kleine verunsicherte Mädchen in die Arme nahm, musste sie ihr erklären, dass ihre Mutter nie wieder nach Hause kommen würde, weil sie ganz plötzlich an einem Schlaganfall verstorben sei. Die Erinnerung an diesen Moment riss ihr seitdem immer wieder den Boden unter den Füßen weg.

Immer wenn Roana auf das Foto blickte, das sie zusammen mit ihrer Mutter zeigte, klang bis heute die Hiobsbotschaft der Großmutter in ihr nach. Der Bilderrahmen stand auf ihrem Nachtkästchen und oft saß sie auf der Bettkante und schaute das Foto lange Zeit nachdenklich an. Die Worte hatten sich ihr eingebrannt, unlöschbar, nicht zu unterdrücken, waren sie für immer in ihren Gedanken und stets präsent.

Seit diesem Moment war ihre Oma Livia für sie dagewesen. Sie waren Freundinnen geworden und stützen einander gegenseitig im Leben, halfen einander, wo sie nur konnten, und gaben sich Halt. Ihre Oma, mit den strahlend braunen Augen und dem roten, hoch auftoupierten Haar war eine Freundin fürs Leben, ohne die nichts in Roanas Leben mehr funktioniert hätte, ohne die sie versunken wäre, in einem Meer aus Trauer, die kein anderer Freund zu trösten gewusst hätte.

Inzwischen war sie, vollkommen in Gedanken vertieft, am Flussufer entlangspaziert. Ein eiskalter Wind blies ihr so stark ins Gesicht, dass ihre Wangen schmerzten.

Doch sie ging trotzdem noch ein Stückchen näher zum Wasser hinunter, da sie den Platz dort unten sehr mochte. Auch in der Nacht. Hier am Flussufer war es noch um einige Grad kälter als in der Stadt oben und der Wind fühlte sich regelrecht frostig an. Sie steckte ihre Hände tief in die Jackentasche und spannte ihren ganzen Körper an, um die Kälte vielleicht doch ein wenig zu verdrängen. Dennoch mochte sie es, hier zu sein. Eine kleine Brücke lag zwischen der Altstadt und dem anliegenden Park als Verbindung, und die war auch in der Dunkelheit zu erkennen. An diesem Ort konnte Roana schon seit vielen Jahren ihre Gedanken am besten ordnen. Er war wunderschön und romantisch zugleich, egal, zu welcher Tages- oder Jahreszeit sie hierher spazierte. Der Anblick übte auf seine besondere Weise eine magische Kraft aus.

Keine einzige Menschenseele war um diese Uhrzeit unterwegs, die Stille der Nacht gehörte allein Roana. Wieder einmal. Eigentlich wäre sogar alles gut gewesen, wenn da nicht erneut der Gedanke an die Angst aufgekommen wäre, die ihr ganzes Dasein kontrollierte. Wieder musste sie daran denken, dass ihr manche Menschen in dem Traum vage vertraut vorkamen; so als wüsste sie, wer sie da bedrängte und bedrohte, als wären es Bekannte, die ihr diese fürchterliche Angst einjagten. Aber es wollte ihr nicht einfallen, wo sie diese Personen schon einmal gesehen haben sollte, wer sie genau waren und was sie überhaupt von ihr wollten. Sie hatte für das alles bisher keine Erklärung gefunden.

Auch als sie sich vor vielen Jahren mit einem Psychotherapeuten darüber unterhalten hatte, war nicht klargeworden, woher diese Träume kamen und er hatte ihr im Endeffekt auch nicht weiterhelfen können. Er hatte sich wirklich sehr bemüht, doch kamen sie auch nach langer Therapiedauer zu keinem eindeutigen Ergebnis einer erfolgreichen Klärung der Bedeutung ihrer Träume. Manchmal waren die Träume monatelang nicht aufgetaucht, und dann kamen die Bilder plötzlich wieder; so wie in letzter Zeit, regelmäßig und beinahe jede Nacht. Sie konnte sich tagsüber kaum noch konzentrieren. Müde und erschöpft, wie sie war, zehrten die nicht durchschlafenen Nächte an ihrer Gesundheit. Es war wirklich schwer für sie, am Tag bei der Arbeit nicht einzuschlafen.

Und wo zum Teufel steckte eigentlich ihr Vater? Roana hatte Simon schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen, von sehen konnte eh keine Rede sein. Auf das Wasser blickend, dachte sie daran, dass er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, zu verschwinden. Manchmal war er irgendwo in Europa unterwegs auf Seminaren, dann flog er zu Forschungspräsentationen in ferne Länder. Als Wissenschaftler und Forscher führte er ein abenteuerliches Leben, ganz wie er sich schon immer gewünscht hatte. Er war auf der ganzen Welt zu Hause. So etwas, wie an einem Ort zu bleiben, war ihm fremd.

Er war anscheinend nicht für ein ruhiges Familienleben gemacht. Ihr war schon als junges Mädchen bewusst gewesen, dass ihr Vater nie regelmäßig zu Hause war. Doch seit dem Tod ihrer Mutter war er nur noch weg und schickte ihr manchmal nicht einmal mehr Postkarten auch wenn sie es noch so sehr erwartete.

Anstatt sich mit Roana zu befassen und auf sie einzugehen, um mit ihr gemeinsam das Leben zu meistern, war er nach der Tragödie plötzlich abgetaucht und ließ sich nicht mehr blicken. Er ließ über Livia regelmäßig Grüße ausrichten und versprach immer wieder, irgendwann - und möglichst bald - zurückzukommen. Doch die Hoffnung erfüllte sich nicht. Er konnte, wie es aussah, den Schmerz selber nur schwer verkraften. Denn Martha fehlte auch ihm unfassbar schrecklich. Er schaffte es nicht, darüber sprechen und konnte mit Roana nicht offen über seine Gefühle reden.

Er hatte ihre Mutter wirklich geliebt und war ab dem Moment, da sie starb, nur noch stiller und introvertierter geworden.

Egal, wann Simon seinen Dienst begann, seine Kollegen waren meist schon im Labor und arbeiteten eifrig, anscheinend Tag und Nacht, an ihren Projekten. Simon sagte immer wieder, sein Team sei genauso fasziniert von der Biologie wie er, und sie alle wären in Wirklichkeit nur hier im Kollegenkreis unter Gleichgesinnten richtig zu Hause. Er lachte stets, nachdem er betont hatte, dass er das nur als Scherz meine.

Doch nun erkannte Roana, dass ein großes Stück Wahrheit in seiner damaligen Aussage lag. Simon war eigentlich in seinem Labor zu Hause und wollte ausnahmslos die großen Fragen, die das Leben stellte, beantworten. Wobei er später sicher gerne auch als derjenige in den Büchern stehen wollte, der sie beantwortet oder Entdeckungen gemacht hatte, die die Welt revolutionierten.

Die einzig wichtige Aufgabe seiner Existenz schien das Ziel zu sein, darauf zu kommen, was es mit dem Leben und dem Dasein auf sich hatte. Wie es konkret begann und wohin es sich entwickelte. Er war den Geheimnissen des Seins auf der Spur.

Nun war Simon schon lange weg, und in Momenten wie diesen musste sie oft an ihn denken. Er konnte doch zumindest mal anrufen, vorbeischauen oder einfach irgendwie Laut geben, wo er gerade war und was sich Neues in seinem Leben ereignet hatte. Doch er war für sie nicht erreichbar, ihre Wünsche nach Gesprächen und Treffen blieben unerfüllt, unbeachtet. Nach Marthas Tod, hatte sie nicht nur ihre Mutter, sondern in gewisser Weise auch ihren Vater verloren. Sie war traurig, fühlte sich ungeliebt und abgelehnt. Dieses einschlägige, traumatisierende Ereignis führte dazu, dass sie zu einer nachdenklichen Einzelgängerin wurde, die mit niemanden offen darüber sprechen wollte.

Die Nacht wich dem neuen Tag, während eine weitere Farbe im ersten zarten Orange am Horizont auftauchte. Der Himmel war zwar immer noch dunkel, doch kamen bereits hellere Farbtöne dazu und mischten sich unter das dominierende Schwarz-Grau.

Vögel begannen zu zwitschern, da und dort erschienen Lichter in den Wohnungen. Autobusse fuhren in kürzeren Intervallen an ihr vorbei. Wie lange war sie unterwegs gewesen?

Ein Blick auf die Uhr und Roana konnte selbst nicht glauben, dass sie zwei Stunden umherspaziert war, während ihre Gedanken sich im Kreis drehten. Sie sinnierte erneut über nicht änderbare Situationen.

Für den Moment wich die Angst aus ihrem Kopf. Nun war sie aufnahmefähig für die Umwelt und das Leben. Sie hatte Hunger bekommen, spazierte in die obere Stadt zurück und setzte sich in ein kleines Café, das in einer leicht bergab fallenden Gasse lag. Beim Eintreten erklang ein sanftes Glöckchen und sie sah, dass niemand außer ihr im Lokal war. So nahm sie an einem Tisch direkt am Auslagenfenster Platz. Die Kellnerin kam bald und Roana bestellte einen starken Espresso und dazu ein Kipferl.

Die Bedienung war sehr freundlich, denn inzwischen kannten sie sich ein wenig. Marlene, so hieß die Kellnerin, dachte, Roana arbeite so, dass sie regelmäßig um diese Zeit als erste Kundin zu ihr zum Frühstücken kam.

Der Kaffee war stark und das Porzellan des Bechers ein ganz klein wenig beschädigt, doch das störte sie nicht im Geringsten. Sie hatte schon oft beobachtet, dass das Essgeschirr in diesem Lokal ausgeschlagene Stellen hatte. Sie brauchte jetzt aber vor allem das warme, stark koffeinhaltige Getränk in ihrem Körper.

Das frischgebackene Kipferl war wie erwartet himmlisch warm und weich und zerging sogleich in ihrem Mund.

Die Kellnerin kam wieder an Roanas Tisch und wirkte dabei sehr vertraulich, aber tatsächlich kannte Marlene sie überhaupt nicht. Niemand kannte die wahren Umstände von Roanas Leben, denn sie hatte keinen Menschen, mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte.

Keiner wusste, dass sie unter schrecklichen Schlafstörungen und Ängsten litt, dass Alpträume sie regelmäßig einholten und ihr damit nach und nach die Kraft zum Leben raubten.

Einen Psychologen hatte sie nur kurz aufgesucht. Er hatte keinen Erfolg bringenden Rat gewusst, auch wenn er ihr aufrichtig zu helfen versucht hatte. Doch das setzte sie nur noch mehr unter Druck und ihre Situation schien sich eher zu verschlimmern.

Die letzten Termine waren zur Qual für sie geworden und sie zwang sich jedes Mal, hinzugehen, obwohl sie längst wusste, dass sie beide weiter im Dunklen tappen würden. Es war einfach niemand mehr da, der ihr helfen konnte.

Livia nahm zwar Anteil an ihrem Leben, aber sie erreichte sie nicht wirklich an den Punkten, die ihr wichtig waren. Bei jedem Gespräch, das sie beide bei Roanas wöchentlichen Besuchen führten, wenn sie auf einen Tee und Kuchen vorbeischaute, bemühte Livia sich um sie. Sie gab sich offen, war interessiert an Details aus dem Leben ihrer Enkelin und gab sich verständnisvoll. Das war einfach die Art ihrer Großmutter.

Roana erzählte ihr jedoch nichts von den sie belastenden Ängsten, denn sie wollte sie nicht betrüben. Ihr war es wichtiger, dass sie sich gegenseitig hatten. Roana wusste, dass sie ihre Großmutter eigentlich in alles einweihen konnte, was ihr Sorgen bereitete, doch verzichtete sie lieber darauf.

Sie konnte sie auch jederzeit um Rat bitten, doch sie brachte es nicht übers Herz. Was kann man einer alten Frau alles zumuten, nachdem was sie bereits durchgemacht hat, dachte sie sich stets und schob den Gedanken zur Seite. Eine Dame von über achtzig Jahren sollte nur noch Schönes hören und in ihrem Alltag leben dürfen, fand Roana.

Das eigene, noch sehr junge Kind damals so früh zu verlieren, war für ihre Großmutter einfach nur unerträglich gewesen. Es hatte Jahre gedauert, bis sie wieder geworden war, wie jetzt. Endlich hatte ihre Trauer nachgelassen und sie in ihrem eigenen Leben schließlich erneut Fuß gefasst. Eine instabile Sicherheit, wie Roana fand, und deshalb erzählte sie auch nichts von ihren persönlichen Sorgen,

wollte sie sie nicht noch mit ihrem eigenen Kummer belasten.

Das wäre zu viel gewesen.

Was hatten letztendlich in ihrer lebensbejahenden Verbindung zueinander Alpträume und Kummer der Enkelin verloren? Diese Last wollte sie selbst und nur für sich tragen.

„War dein Dienst heute Nacht wieder anstrengend? Du siehst müde und mitgenommen aus“, wollte Marlene wissen, als sie die leere Kaffeetasse wieder abräumte und ihr kurz darauf die Rechnung auf den Tisch legte.

„Du sagst es. Ist manchmal nicht leicht. Aber danke der Nachfrage, ich werde es schon schaffen, mich noch in diesem Leben auszuschlafen“, versuchte Roana das Gespräch zügig zu beenden. Dies war wirklich nicht der Ort oder die Person, weiter auf ihren Job und ihre persönliche Situation an diesem frühen Morgen einzugehen.

So schnell es ging, bezahlte sie und trat im Morgengrauen aus dem kleinen Café an der Ecke der Straße und atmete die frische Luft tief ein.

Plötzlich fühlte sie, dass sich ihr irgendetwas näherte. Sie hätte nicht sagen können, wie sie darauf kam, aber da war etwas wie ein Luftzug und doch zu nahe und zu warm, um es als solchen abzutun. Es war, als spürte sie eine körperliche Nähe. Dann berührte sie tatsächlich etwas an der linken Hand. Behutsam und zart nur, aber dennoch nahm sie es in dem Augenblick eindeutig wahr. Unruhig zog sie ihren Arm weg und drehte sich der bedrängenden Nähe zu. Da erkannte sie tatsächlich links von sich eine Gestalt, die kurz davor noch nicht dort gestanden hatte: ein Umriss nur, zart und schemenhaft.

Doch im nächsten Moment war die Präsenz klar als junger Mann zu erkennen. Er wandte sich ab, trat zwei drei Schritte von ihr fort, dann drehte er sich noch einmal zu ihr um, blickte in ihre Augen und lächelte ihr spöttisch zu.

Als sich ihre Blicke trafen, blieb Roana fassungslos stehen. Ihr Herz schlug fest gegen die Brust, sie konnte den Herzschlag förmlich in ihren Ohren hören, bekam einen Schweißausbruch am ganzen Körper und wusste nicht, was sie tun sollte. Doch da schritt der Mann schon fort, entfernte sich so schnell von ihr, dass selbst hinterherzulaufen nichts brachte. Vor lauter Entsetzen hätte sich Roana aber ohnehin nicht bewegen können, da sich ihre Beine wie Blei anfühlten und sie keinen einzigen Schritt zu setzen vermochte.

Angst engte ihr die Brust ein und ließ sie nicht mehr richtig atmen. Geschockt schaute sie dieser Vision noch einige Zeit nach und dachte einen Moment lang, sie sei nun gänzlich verrückt geworden.

War das ein Ausfall ihres Sehvermögens, hatte sie es vielleicht wirklich nur geträumt? Was war nur los mit ihr? Nach einigen Augenblicken des Stillstands, legte sie sich ein paar vernünftige Erklärungen zurecht. Nur um sich selbst zu beruhigen. Noch immer in die Richtung der seltsamen Erscheinung blickend, entschloss sie sich, das Geschehene als irre Vision, hervorgerufen durch intensiven Schlafmangel abzutun. Doch im Innersten wusste sie, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging.

Dennoch musste sie nun zur Arbeit fahren. Zu spät zu kommen, oder sich gar für den Tag frei zu nehmen, kam nicht infrage, denn sie war erst vor Kurzem bei ihrer aktuellen Firma angestellt worden. Und dieser Job war überlebenswichtig für sie. Sie hatte alles auf diese eine Stelle gesetzt, brauchte den Job zur Existenzsicherung. Also entfernte sie sich langsam vom Ort der merkwürdigen Erscheinung und ging wieder in Richtung ihrer Wohnung zurück, die sie beim Betreten finster und kühl vorfand.

Die Jalousien waren noch geschlossen, durch die schmalen Spalten drängte sich ein wenig Tageslicht und warf ein schönes schwarz-weißes Muster auf ihr Bett und den hellen Wohnzimmerschrank. Roana musste duschen, sich frisch machen, den ganzen Horror der letzten Nacht abwaschen, um das beklemmende Gefühl, das sie beherrschte, loszuwerden.

Sie wusste nicht, wie lange sie unter der Dusche gestanden hatte. Es hätten Minuten oder auch Stunden sein können, der Unterschied wäre ihr nicht einmal aufgefallen, angesichts all dessen, was sie nachzudenken und zu verarbeiten hatte. Die letzten Jahre waren für sie in vielen Fällen unerklärlich gewesen. Doch so etwas wie heute Morgen hatte sie noch nie erlebt. Sie hoffte, es wäre nur eine verrückte Illusion, vielleicht aus dem Schlafmangel heraus entstanden, an dem sie seit Wochen litt. Regelmäßige Albträume zerstörten ihre Nächte und füllten ihr ganzes Leben mit Angst. Die letzte Vision deutete darauf hin, dass es noch lange nicht vorbei war.

Roana beschloss abends nach einem langen Tag auf der Arbeit, ihre Oma anzurufen, obwohl noch nicht Sonntag war. Sie wollte fragen, ob sie sie schon am nächsten Tag besuchen könnte. Sie musste sich mit ihr treffen, denn Freunde würden ihr nie so zuhören, wie Livia es tat, selbst wenn sie manchmal Belangloses erzählte. Auch jetzt wollte sie nur auf andere Gedanken kommen und nichts von den Erlebnissen der letzten Zeit preisgeben. Das alles wäre für die alte Frau nur noch irritierender. Es ging einfach darum, sich mit jemandem zu treffen, der ihr gut tat und sie ablenkte von der schrecklichen Müdigkeit und der Angst, die sie immer intensiver zu spüren bekam.

Was wenn diese Träume doch real waren? Wenn sie wirklich jemand verfolgte? Wenn diese Personen tatsächlich hinter ihr her waren, um Dinge herauszubekommen, die sie nicht einmal selber wusste? Schon drängten sich unwillkommene Gedanken wieder in den Vordergrund.

Livia freute sich über den unerwarteten Besuch am nächsten Tag. Es war eine angenehme Überraschung, ihre Enkelin an einem gewöhnlichen Wochentag willkommen zu heißen, sie mit duftendem Tee und Keksen zu verköstigen und sie um sich zu haben.

Sie hätte zwar einen Termin bei ihrem Internisten gehabt, doch der ließ sich verschieben.

„Ich musste dich einfach sehen. Ich habe dich vermisst. Wie geht es dir?“, wollte Roana in der für sie üblichen Freundlichkeit alle ihre Ängste überspielen.

„Ich freue mich, dich zu sehen, Liebes. Du weißt, dass du jederzeit bei mir vorbeikommen kannst. Meine Tür steht dir immer offen“, betonte Livia und lächelte sanft. Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter: „

Ich werde so lange hier sein, wie es der Herrgott mir erlaubt. Nutz diese Zeit und sprich mit mir. Ich bin zwar alt, aber noch weiß ich, wer du bist, und ich kenne dich zu gut, als dass du mir etwas verheimlichen könntest. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, auch wenn du nichts sagst. Ich sehe in deinen Augen, dass etwas nicht stimmt. Dein ganzer Körper spricht mit mir und erzählt mir, dass es dir schon lange Zeit nicht gut geht. Wenn du etwas loswerden möchtest, dann erzähl’s mir doch einfach. Komm nicht nur vorbei und besuche mich, sondern vertraue mir ruhig deine Sorgen an.“

Das überzeugte Roana, aber nur fast. „Du hast Recht, ich habe Kummer, aber der ist seit Ewigkeiten ein großes Thema in meinem Leben. Es ist nichts, womit ich nicht umgehen kann. Ich werde schon damit fertig. Es ist nur jetzt gerade sehr schwer für mich, vieles zu verstehen. Deshalb komme ich dich besuchen, vor allem, um mir Gutes zu tun. Natürlich auch, um dich zu erfreuen. Ich hab dich so lieb“, beruhigte sie ihre Großmutter.

„Wenn es um Simon geht, dann musst du verstehen, dass er es nicht böse meint. Er ist so und man muss ihn eben nehmen, wie er ist. Er wird seine Art zu leben nicht mehr für uns ändern“, versuchte Livia zu erklären und griff dabei nach Roanas Hand.

„Um Simon geht es nicht, ich bin noch nicht soweit, um alles zu erzählen. Ich wollte dich nur sehen und leere Energien mit deiner Hilfe wieder aufladen. Mach dir keine Sorgen, ich werde zurechtkommen. Doch wenn es nicht so funktioniert, wie ich es mir vorstelle, dann werde ich bestimmt mit dir sprechen und deinen Rat suchen.“

Nach diesen Worten lächelte Livia zum Zeichen, dass sie jederzeit bereit war, sich alle Sorgen und Probleme anzuhören. Sie stand auf und stellte die Teller und Tassen in die Küche, kam ins Wohnzimmer zurück, baute sich vor Roana auf und flüsterte: „Du würdest staunen, wie gut ich dir helfen kann.“

Doch diese Worte überhörte Roana gänzlich, weil sie im Sitzen in ein kleines Nickerchen verfiel. Sanft schlossen sich ihre Augen, und für ein paar Minuten konnte sie sich entspannt in Sicherheit wiegen. Sie fühlte sich wohl und geborgen an diesem Ort. Nach kurzer Zeit erwachte sie ein bisschen erholt und recht zufrieden. Livia saß an ihrer Seite und strickte etwas langes Hellblaues; vielleicht war es wieder ein Rundschal, denn das konnte sie am besten und über solche Geschenke freute Roana sich jedes Mal.

Dann erzählten sie einander alte unvergessene Geschichten aus ihrem Leben, knabberten an den frischgebackenen Mohnnusskeksen und tranken anschließend noch ein Glas Prosecco.

Sie spielten Karten und spazierten später ein wenig in Livias Garten.

Der feine graue Kiesboden knirschte sanft unter ihren Schuhen. Inmitten des Grüns stand eine altmodische weiße Sitzbank unter einer uralten Ulme, auf der sie Platz nahmen und ihre Augen durch das wunderschöne Refugium schweifen ließen. Livia wollte ihr ihren gesamten Garten noch unbedingt zeigen, hatte sie sich doch erst letzte Woche noch neue Pflanzen setzen lassen. Beide genossen die schöne Farbenpracht und die Düfte, die das kleine Paradies verzauberten. Roana war begeistert und freute sich über die Feigenbäume und die zauberhaften Lorbeerbäume, vor allem auch über die prächtigen Kamelien-Sträucher, die zu dieser Jahreszeit den Garten in Farbe tauchten.

„Hast du denn etwas von Simon gehört?“, wollte Roana später doch noch wissen, als sie die Tasse mit dem heißen Tee aus den Händen ihrer Großmutter entgegennahm.

„Ja, er rief mich vor einiger Zeit an und meinte, es ginge ihm gut. Es täte ihm leid, dass er meistens in Zeitnot sei und für dich deshalb so schlecht erreichbar wäre. Er ruft daher lieber bei mir an, redet mit seiner alten Schwiegermutter und erzählt ein wenig von seinen Erlebnissen. Das soll mich beruhigen. Er lässt dich immer ganz lieb grüßen und wiederholt oft, dass er dich liebt und dich schrecklich vermisst“, antwortete Livia. Sie schien verlegen; es war ihr sichtlich unangenehm, dass Roana nichts persönlich von ihrem Vater hörte.

Es wäre schlimmer gewesen, wenn das erst seit kurzem so wäre. Da er aber immer schon diese Art gehabt hatte, konnte Roana es verkraften und fragte nicht mehr weiter nach, auch wenn sein Verhalten die Auskunft, dass er sie angeblich so liebte, nicht gerade glaubwürdig machte. Roana verstand trotzdem nicht, warum Simon nie bei ihr war. Da er sich aber wenigstens bei Livia meldete, waren ihre Sorgen aktuell gedämpft. Eigentlich ärgerte sie sich jetzt sogar eher über ihren Vater. Na, wenigstens war er am Leben und galt nicht als verschollen.

„Zumindest meldet er sich bei dir“, seufzte Roana. „Trotzdem bin ich der Meinung, dass er seine Vaterrolle nie wirklich ernstgenommen hat. Um eine gute Beziehung zu mir ist es ihm nie gegangen. Ich weiß, es wird noch eine Zeitlang dauern, denn er ist aus dem Kummer und dem Verlust noch nicht herausgewachsen. Und trotzdem … “, erklärte sich Roana.

„Du weißt genau, dass du ihn nicht ändern kannst. Er will ja so sein, wie er ist. Vielleicht wird er irgendwann selber drauf kommen, ich hoffe nur, dass es dann nicht zu spät sein wird. Bitte hab immer einen Platz für ihn in deinem Herzen und verschließe dich ihm nicht, denn er liebt dich für und er wäre ohne dich sehr unglücklich. Gewähr ihm bitte die Zeit, die er braucht“, sorgte sich Livia und führte ihren Kummer weiter aus: „Ich hoffe nur, er wird es noch schaffen, solange ich lebe. Ich meine, die Jüngste bin ich wirklich nicht mehr. Ich hoffe sehr, dass ich es noch erleben werde, dass er endlich verstanden hat, dass es irgendwann zu spät sein kann.“

„Wir werden sehen, ich bin ja hier und an mir soll es nicht scheitern“, schloss Roana das Thema ab, um sich wieder schöneren Erzählungen zuwenden zu können. Es war wichtig, für ein paar Stunden in der Woche einfach alles vergessen zu dürfen, was ihren Alltag sonst so beschwerte.

An diesem Abend ging es ihr so gut wie schon lange nicht mehr. Zudem hatte Ben, ihr ach so schwer beschäftigter Liebhaber, sich nach längerer Zeit mal wieder bei ihr angekündigt und so freute sie sich auf ein romantisches Treffen in ihrer Wohnung. Er hatte nur sporadisch an dem einen oder anderen Tag Zeit für sie, doch wenn er da war, dann erlebte sie den Himmel auf Erden und hatte das kurzzeitig zufriedenstellende Gefühl, eine richtige Beziehung zu führen.

Es stimmte zwar so einiges nicht, denn vor allem hätte sie ihn gerne für sich allein gehabt. Doch er war noch nicht dazu bereit, seine Frau zu verlassen. Er versprach ihr zwar immer wieder, es zu tun, sobald es passte, und erklärte ihr tausendmal, sie wäre die einzig Richtige für ihn, die allein er liebte.

Aus diesen Versprechungen war ein Kommen und Gehen entstanden, das nun immerhin schon vier Jahre anhielt. Vier lange Jahre, in denen sie gewartet und gehofft hatte. Einmal war es der Job, dann das Haus, dann wieder der Hund und letztendlich führte er vor allem das gemeinsame Kind ins Feld, welches ihn im alten Leben zurückhalte, unfähig, sich von Margit zu trennen.

Roana verstand das alles irgendwie, fühlte sich aber nach jeder Begegnung mit Ben schrecklich leer und schuldig in allen möglichen Belangen. Trotzdem konnte sie sich nicht überwinden, ihn zu verlassen. Zu sehr war er dann doch das Traumbild ihrer schönsten und wildesten Phantasien.

Er alleine war der Mann, für den sie alles tun würde. Er brauchte nur mit den Fingern zu schnipsen, und schon hatte er sie in seinen Fängen, da er ihr die einzig wahre Liebe, die es in diesem Universum nur geben konnte, versprach.

So war es auch an diesem Abend. Es gab ein romantisches Dinner, verliebte Blicke, Versprechen für ihren kommenden gemeinsamen Urlaub auf den Malediven, auf den sie sich doch schon freuen solle: ganze zwei Wochen nur für sie alleine.

In der Firma sei alles schon geregelt und sie bräuchte sich keine Sorgen zu machen.

Ben hatte die Kraft, alles, was in ihr vernünftig war, zu löschen. Er hatte die Stärke, sie in einen emotionalen Sog zu ziehen und dadurch war sie ihm hilflos ausgeliefert.

Sie verlangte nach ihm und er erfüllte alle ihre Träume, wenn er denn da war. Ihr Verstand konnte diese Situation nicht mehr steuern oder gar ablehnen, dazu war sie schon zu weit gegangen und deshalb machtlos, ihm zu widerstehen. Oft wünschte sie sich, den Mut zu haben und seine Frau anzurufen, damit diese endlich erfuhr, in welcher aussichtslosen Situation sie sich tatsächlich befand. Doch wenn es zu Ende gehen sollte, so müsste er schon alles selber in die Wege leiten. Das konnte sie ihm nicht abnehmen, denn wenn sie das täte, dann wäre er bestimmt nur sauer auf sie. Und dazu war Roana dieses auch noch so knappe Glück zu wichtig.

Also überließ sie ihm die Entscheidung, wann er sich soweit fühlte, um endlich nur noch bei ihr zu bleiben. Dass sie die einzig Richtige für ihn war, wusste sie ohnehin.

„Ah, wie sehr ich dich vermisst habe“, hauchte er leise in ihr Ohr, während er sich sanft auf ihren Körper legte. Sie spürte sein Verlangen und seine Hitze. Er atmete zart an ihrem Hals, und der Hauch ließ ihre Haut erglühen. Bens dunkle Haare fielen ihr ins Gesicht, er roch nach seinem Lieblingsparfüm. Seine Hände streichelten ihre Brüste, ihren Bauch, er hielt ihre Oberschenkel fest, küsste ihren Hals, wanderte hinunter zu ihren Brüsten, zog sie dabei noch wilder und fester an sich heran. Seine starken Hände hatten sie fest im Griff. Er wollte sie und drückte sein Verlangen darin aus, sich jedem Zentimeter ihres Körpers liebevoll zu widmen. Roana und Ben bewegten sich schon bald in einem wilden, heißen Rhythmus.

Das letzte Glas Wein war vielleicht etwas zu viel für ihren Geschmack gewesen. Sie verlor jegliche Hemmung und holte sich alles, was sie von ihm forderte. Und Ben gab ihrem Begehren nur zu gerne und mit aller Intensität nach. Wilde Hitze durchfuhr ihren gesamten Körper und seine Küsse trafen sie, als könnte er ihre Wünsche von den Augen ablesen. Ein Spiel ohne Ende, wenn es nach ihr ginge.

Wie fortgeblasen waren alle belastenden Gedanken aus der von beider Körper geschaffenen Traumblase. Hier zeigte er ihr seine Welt. Wenn sie einsam war, hatte sie nichts, doch wenn sie bei ihm war, besaß sie das ganze Universum.

Wann wird er nur endlich mir gehören?, dachte sie, während er ihr ganz nahe war. So etwas Schönes, darf man doch nicht aufs Spiel setzen, waren ihre nächsten Gedanken. Margit würde es doch irgendwann sowieso verkraften. Sie schliefen schon lange nicht mehr miteinander, die Beziehung war doch eigentlich sowieso kaputt. Wozu also an dem festhalten, was längst erloschen und verloren war.

Sie hoffte so sehr, er würde es bald wahr werden lassen. Aber es lag in seinen Händen. Ihr Leben gehörte nur ihm alleine.

„Du warst lange nicht mehr bei mir, ich dachte schon, du hättest mich vergessen“, sagte Roana, als sie einander zugedreht im Bett lagen und sich eine Zigarette teilten.

„Ich weiß, der Stress der letzten Tage hat mich vollkommen eingenommen. Aber ich muss immer an dich denken. Du weißt, dass ich nur an dich denke und sonst an niemanden. Wie könnte ich das auch nicht tun, Liebste“, schmeichelte Ben.

Roana nahm ihm die Zigarette aus den Fingern, setzte sie an ihre Lippen und zog langsam daran, sodass die Glut orange aufglimmte. Während sie kurz darauf den Rauch ausatmete, glitt ihr leidenschaftlicher Blick über Bens schlanken Körper.

Diesem Blick konnte er nicht widerstehen und presste sich wieder an sie.

„Ich mag die Art, wie du mich ansiehst. In deinen Blicken kann ich mich verlieren“, gab er leise zu und küsste ihren Hals und die Kuhle am Schlüsselbein.

„Bleib heute Nacht bei mir“, lockte sie, während sie ihm tief in die Augen blickte.

„Das lässt sich einrichten. Ich rufe gleich Margit an und sage ihr, dass die Besprechung länger dauern wird und ich wahrscheinlich im Büro bleiben werde. Sie wird keinen Verdacht schöpfen, immerhin kommt es öfter vor, dass ich über Nacht wegbleibe.“ Er lächelte ihr zu, beugte sich aus dem Bett und griff nach dem Mobiltelefon in der Tasche seiner achtlos auf dem Boden hinterlassenen Hose.

„Wir könnten es so schön haben! Komm doch endlich für immer zu mir. Ich möchte jeden Abend neben dir einschlafen“, gab Roana sanft von sich und streichelte dabei seinen Arm.

„Ich kann jetzt noch nicht, bitte fang nicht wieder damit an. Du weißt, dass ich es will, also lass mir auch die dafür notwendige Zeit. Ich kann nur das tun, was möglich ist und im Augenblick wäre es mehr als ungünstig, mit Margit Klartext zu sprechen. Sie würde es nicht verstehen, sie hat im Moment keine gute Zeit, weißt du. Ich muss auch ein wenig Rücksicht auf sie nehmen und kann nicht wild drauflos alles zerstören, was einst mein Leben war. Bitte versteh das doch, Schatz“, sagte Ben mit flehendem Blick.

Viel mehr war in diesem Augenblick nicht zu sagen. Beide schwiegen einen Moment, dann umarmten sie sich und sanken hoffnungslos verliebt in das wild zerwühlte Bett.

Ben schlief bereits, als Roana spät in der Nacht noch einmal ins Badezimmer gehen musste. Der Durst machte ihr zu schaffen. Sie trank einen ordentlichen Schluck Wasser und wollte sich ein weiteres Glas mitnehmen, ehe sie von seinen starken Armen umschlungen Bens ganzen Körper spürte und seinen Duft in sich aufnahm, bevor sie weiterschlief.

Sie schaute in den Spiegel. Sie war nackt, ihre Augen strahlten Zufriedenheit aus, die Haare waren vom Liebesspiel wild zerzaust. Sie fühlte sich belebt, glaubte zu spüren, wie all ihre müden Körperzellen wieder in Schwung kamen, gleichsam erwachten. Ein sanfter Strich mit dem Daumen an der Unterlippe, und sie erinnerte sich wohlig an die Hitze in ihrem Körper, die Ben kurz zuvor ausgelöst hatte. Dann fuhr sie langsam durch ihre wild zerzauste Haarpracht und lächelte zufrieden ihr Spiegelbild an.

Das jedoch verharrte in derselben Stellung und berührte weiterhin mit der Hand die Lippen. Ihr Spiegelbild bewegte sich nicht! Roana schrak zusammen und plötzlich wurde es dunkel im Badezimmer.

Das einzige, was noch zu sehen war, war der Spiegel mit seiner unheimlichen Vision darin. Wie festgefroren sah Roana dem zu, was nun geschah.

Sekundenlang blieb ihr Spiegelbild in derselben Position, dann plötzlich hob ihr Gegenüber den Arm, um nach ihr zu greifen. Die Frau im Spiegel - das war nicht mehr Roana! Sie blickte sie voller Wut aus leuchtenden schwarzen Augen an und lehnte sich noch ein Stück weiter nach vorne, als würde sie jetzt aus dem Wandspiegel heraussteigen und sprach plötzlich in einem zischenden, bestimmenden Ton:

„Suche ihn! Wir brauchen ihn!“ Dabei glänzten, ja leuchteten ihre Augen geradezu in einem tiefen Schwarz. Rasch zog sich die Gestalt wieder zurück, drehte sich zur Seite und verschwand letztendlich aus dem an der Wand hängenden Spiegel.

Vor Schreck schrie Roana auf, wich mehrere kleine Schritte zurück, bis sie mit der linken Hand die kühle Fliesenwand hinter sich spürte, während sie die rechte Hand auf den Mund gepresst hielt. Ihre Augen starrten in den Spiegel, dorthin wo keine Person mehr zu sehen war. Niemand war dort mehr zu sehen, als sei sie selbst ebenfalls nicht mehr hier in diesem Raum, als sei sie nicht länger existent. Der Rest des Badezimmers spiegelte sich ganz normal wider. Da ging das Licht auf einmal völlig aus und alles wurde schwarz um sie. Roana kreischte, so laut sie nur konnte.

Ben kam zu ihr hereingestürzt, ergriff ihren Arm und versuchte, sie zu beruhigen. Er wollte wissen, was ihr zugestoßen war oder ob sie sich womöglich verletzt hätte. Roana schluchzte an seiner Schulter, hielt ihn ganz fest und konnte nur noch weinen. Sie brachte kein einziges Wort heraus, konnte ihm nicht von ihrem furchterregenden Erlebnis berichten.

Das würde er gewiss nicht verstehen. Niemand konnte ihr mehr helfen, und alles schien immer schlimmer zu werden. Wen habe ich da im Spiegel gesehen? Und wen hat diese Frau gemeint? Wen soll ich finden und wann ergibt das alles endlich einen Sinn?, fragte sie sich, während Ben sie streichelte und tröstete.

Beide sanken auf den Boden. Sie konnte nicht mehr stehen, alles an ihr gab der Schwerkraft nach und sie sackte zusammen und er konnte sie nicht halten und ließ sich mitziehen. Jetzt wo er da war, blickte sie noch einmal hoch zu dem großen beleuchteten Spiegel und sah sich wieder ganz normal darin, am Boden in seinen Armen liegend, so als wäre nie etwas geschehen. Das Licht leuchtete in seiner gewohnten Helligkeit und alles schien vollkommen in Ordnung.

Was war los mit mir, was hatte das alles zu bedeuten?, dachte sie erfüllt von schrecklicher Angst. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren, und konnte nicht mehr aufhören, zu weinen. Ben trug sie vorsichtig ins Bett, legte sie sanft ab, streichelte ihr Gesicht und wischte ihre Tränen mit einem Taschentuch weg.

Irgendwann beruhigte Roana sich. Sie sagte nicht viel, sondern bat ihn nur, sie die ganze Nacht lang festzuhalten. Denn sollte er sie verlassen, das spürte sie, würde sie vor Beklemmung und Angst sterben. Dann wurde es ruhig im Schlafzimmer und sie konnte sich der Müdigkeit hingeben, die sie schließlich übermannte.

Kapitel 2

Übermüdet stand Roana am folgenden Morgen auf. Ihr Kopf tat fürchterlich weh. Bei jedem Schritt hämmerte es unter ihrer Schädeldecke und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Schädel jeden Moment platzen.

Es war kaum zu ertragen. Ben setzte einen herrlich duftenden Kaffee auf, aber das half auch nicht viel. Er versprach, sich auf jeden Fall am Abend zu melden, weil er sich große Sorgen mache. Für sich erklärte er sich ihr Weinen und die Verwirrtheit als Ausdruck der Verlustangst, ihn vielleicht endgültig aufgeben zu müssen; eine Furcht, die sie in den vergangenen Jahren immer wieder geäußert hatte.

Roana selbst sagte nichts zu dem Vorfall im Badezimmer. Sie wollte nur nicht länger alleine sein, das betonte sie auch an diesem Morgen nochmals, als sie sich beim Abschied küssten. Ben wiederholte ein weiteres Mal, dass es dafür zu früh sei. Doch nicht mehr lange, so sein Versprechen am Schluss, dann würde er sein ganzes Leben für sie ändern.

Auf dem Weg zur Arbeit drehten sich ihre Gedanken immer wieder um die Ängste ihrer Nächte, besonders das fürchterliche Erlebnis mit dem Spiegel sowie den merkwürdigen Fremden vom gestrigen Tag.

Roana konnte die Geschehnisse der letzten Tage überhaupt nicht mehr einordnen oder gar logisch erklären. Es waren verrückte Dinge passiert.

Es konnte doch nicht alles nur durch den Stress entstanden sein. Vielleicht war sie schwer krank? Einen Moment lang dachte sie daran, zum Arzt zu gehen und sich auf Herz und Nieren untersuchen zu lassen. Vor allem aber ihren Kopf! Das mit dem Spiegel konnte doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Entweder wurde sie langsam, aber sicher verrückt oder es geschah tatsächlich etwas Übernatürliches direkt vor ihren Augen, griff in ihr Leben hinein und entwand es ihrer Kontrolle.

Das erschreckte sie zutiefst und sie traute sich nichts mehr zu machen oder gar zu denken. Ganz geschweige davon, dass sie es satthatte, weiterhin einsam und alleine zu leben. Sie ersehnte sich so sehr eine Zweisamkeit voller Vertrauen und Geborgenheit mit Ben! Was sollte sie mit schrecklichen Tagträumen anfangen, die drohten, sie krank zu machen.

Panik stieg in ihr hoch und drückte ihre Kehle zu, als sie sich nur vorstellte, am Abend wieder allein sein zu müssen. Was war das mit dem unsichtbaren Mann vor dem Lokal? Was mit der Illusion einer Frau in ihrem Badezimmer? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wurde sie von jemandem unter Drogen gesetzt? Wer sollte das tun? Hatte sich womöglich irgendwer einen Streich überlegt, oder waren es richtige Feinde, die sie an den Rand des Wahnsinns treiben wollten?

Alles Fragen, auf die es im Augenblick keine Antwort gab.

In diesem Moment wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie nicht nur ihre eigenen Gedanken wahrnahm, sondern ebenso die der Menschen, die an ihr vorbeigingen. Und das weiter im Hintergrund? Waren das nicht sogar die Gedanken von Menschen in der weiteren Umgebung? Menschen, die an der Kreuzung standen, die in dem Bus saßen, der gerade vorbeifuhr.

Sie nahm wahr, was die Leute dachten, die sich mit ihr hier auf der Straße aufhielten. All das war plötzlich schrecklich laut und klar, so als würden sie direkt mit ihr sprechen. Gedanken der Kinder, ob sie heute fernsehen dürften, der Jungen und Alten wie ihr Tag wohl ablaufen würde. Das war, als ob all die Menschen ihre Gedanken laut aussprachen. Sie vernahm Romantisches, Verhasstes, Hoffnungsvolles, Verliebtes und ebenso Unbefriedigtes von allen Seiten in klaren Sätzen wie auch in Form undeutlicher Stimmungen. In allen Stimmlagen dröhnte es, als ob die Leute ihr damit unmittelbar in den Ohren lägen.

Doch kein einziger Mensch blickte sie an, niemand sprach direkt zu ihr. Sie ‚hörte‘ die Menschen denken! Und in all der Kakophonie erklang immer wieder die bekannte Stimme aus dem Badezimmer: “Suche ihn! Wir brauchen ihn!“

Roana versuchte diese Worte von sich wegzuschieben und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, um bei sich zu bleiben und nicht in Panik zu geraten. Doch es gelang ihr nicht. Gegenwärtig war es unerträglich laut in ihrem Kopf, sie glaubte schon, er würde jeden Augenblick explodieren. Sie war entsetzt und fassungslos über die klare, unerklärliche Wahrnehmungsfähigkeit, die sich da plötzlich auftat. Sie dachte, ihr Körper verlöre jegliche Kontrolle über sich und sie würde einen Nervenzusammenbruch erleiden. Kalter Schweiß stand ihr auf der Haut, im Kopf hämmerte es und ihr Herz raste.

So viel Angst hatte sie noch nie am helllichten Tag gespürt; mit Hunderten Menschen um sich herum waren und doch vollkommen verloren. Letztendlich war sie doch ganz alleine und verlassen, der Angst ausgeliefert, die sie überwältigte.

Sie konnte nur noch beobachten, nichts mehr sagen. Sie war innerlich erstarrt und verstummt.

Die Menschen rempelten sie an, bemerkten anscheinend nicht, dass sie überhaupt da war und es ihr schlecht ging. Einmal sah sie sich in der großen Scheibe des Autobusses widergespiegelt, dann war sie plötzlich nicht mehr zu sehen. Als sie kurz darauf ausstieg und langsam an einem Auslagenfenster vorbeiging, war ihr Spiegelbild gänzlich verschwunden.

Und wieder erklang die zischende Stimme „Suche ihn! Wir brauchen ihn! Hörst du mir überhaupt zu, Roana? Mach dich endlich auf den Weg!“ Roana schaute erneut in das Auslagenfester und erkannte zu ihrem Entsetzen die Frau von letzter Nacht in der großen Scheibe.

Die Menschen, die ihr entgegenkamen, schienen sie nicht wahrzunehmen, nicht zu hören. Als sie eine Passantin ansprechen wollte, kam kein Laut aus ihrem Mund.