Wo die Hoffnung blüht - Kristy Cambron - E-Book

Wo die Hoffnung blüht E-Book

Kristy Cambron

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Beschreibung

Als Ellie Carver ihre an Alzheimer erkrankte Großmutter besucht, ahnt sie nicht, dass diese ein Geheimnis hütet - eines, das Ellies Leben für immer verändern wird. Obwohl Violas Erinnerungen zunehmend schwinden, beginnt die alte Dame plötzlich zu erzählen: von einer geheimnisvollen Schlossruine in Frankreich, von einer kleinen Kapelle, die einer französischen Widerstandsgruppe im Zweiten Weltkrieg als Versteck diente, und von ihrer Trauer über eine verlorene Liebe. Während Ellie versucht, der Lebensgeschichte ihrer Großmutter auf die Spur zu kommen, entfaltet sich gleichzeitig mehr und mehr von ihrer eigenen. Sie macht sich auf die Reise ins französische Loiretal, um die Wahrheit über ihre Familie heraus zufinden ... Eine auf drei Zeitebenen (Französische Revolution, Zweiter Weltkrieg, Gegenwart) spielende Geschichte über Liebe, Vertrauen und den Mut, das Richtige zu tun - egal, wie schwierig die Umstände auch sind.

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Über die Autorin

Kristy Cambrons Herz schlägt für Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Die studierte Historikerin wurde in Amerika bereits mehrfach für ihre Romane ausgezeichnet. Mit ihrem Ehemann und den drei gemeinsamen Söhnen lebt sie in Indiana, wo sie sich u. a. in der Frauenarbeit ihrer Gemeinde engagiert.

Für Margaret und Janita Maxine, die Märchen lieben und die mir die Augen dafür geöffnet haben, welch ein Vermächtnis die Geschichten aus meiner Kindheit sind.„Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich immer noch Märchen lese und sie über alles liebe.“

Audrey Hepburn

PROLOG

Euer Volk wird wieder aufbauen, was seit Langem in Trümmern liegt, und wird die alten Mauern neu errichten. Man nennt euch dann „das Volk, das die Lücken in den Mauern schließt“ und „Volk, das die Straßen wieder bewohnbar macht“.

Jesaja 58,12

HeuteLes Trois-MoutiersLoiretal, Frankreich

Bröckelnde Mauern waren etwas Seltenes und Schönes.

Sie konnten sich verwundbar zeigen, ohne sich zu schämen, denn sie hatten ihren Wert längst unter Beweis gestellt. Sie hatten generationentiefe Verletzungen und eine Vielzahl von Katastrophen überlebt.

Ellie hielt den Atem an, während Quinn das kleine Boot durch den Wassergraben ruderte, der die Schlossruine umgab. Endlich konnte sie die verwitterten Steine zum ersten Mal betrachten!

Abgesehen von den fernen Rufen eines Vogels und dem leisen Geräusch der Ruder, die durchs Wasser schnitten, schien selbst der Wald die Luft anzuhalten. Fast so, als wollte er ihren Plan unterstützen.

Dass sie so fasziniert sein würde, hatte Ellie nicht erwartet. Selbst jetzt, da sie das Ziel ihrer Suche vor Augen hatte, konnte sie es kaum fassen. Sie erhob sich von ihrem Sitz und kniete sich in den Bug.

Bei dieser Bewegung begann das Boot allerdings, bedenklich zu schaukeln. Ellie konnte sich nur festhalten, indem sie ihre Fingernägel in die Bootskante bohrte, während sie die vor sich liegende Märchenkulisse bestaunte.

Der Mond beleuchtete die Schlossmauern. Vor ihren Augen schien die Ruine lebendig zu werden. Ihre Umrisse tauchten aus dem schwachen Nebel auf und erhoben sich vor dem Hintergrund der Bäume.

Ellie schauderte, als der kühle Nachtwind über ihre Haut strich und eine Strähne ihres gewellten schwarzen Haars auf ihrer Wange tanzen ließ. Sie wischte sie geistesabwesend aus dem Gesicht.

Quinn hielt die Ruder ins Wasser, damit sie nicht weitergetrieben wurden. So verharrten sie eine Weile im Schatten des Schlosses, das die Einheimischen Dornröschenschlossnannten. Das Château des Doux-Rêves, das Schloss der süßen Träume.

„Da ist es“, sagte er leise. Sogar aus diesen wenigen Worten konnte man heraushören, dass er in Dublin aufgewachsen war. „Kein Wunder, dass es Dornröschenschloss heißt. Es könnte sowohl als Sinnbild für Schönheit als auch für einen langen Schlaf stehen, findest du nicht auch?“

Geschichten, die von Generation zu Generation weitererzählt wurden, hatten Ellie schon immer in ihren Bann gezogen. Sie war so fasziniert, dass sie sich auf die Stille dieses Ortes konzentrierte, als hätten die abbröckelnden Mauern eine ganz eigene Geheimsprache.

Von Efeu umrankte Steine, von Gestrüpp und Unterholz umgeben, dessen Sommergrün verschwunden war und das jetzt in goldenen Herbstfarben leuchtete. Ein Gerippe ohne Dach mit einem eindrucksvollen sechsstöckigen Turm. Die Türbogen und kunstvoll gefertigten Fensterrahmen wirkten im weißblauen Mondlicht wie mit Zuckerguss überzogen. Es sah aus, als wären edle Spitzen am pechschwarzen Himmel angebracht.

Sie musste Quinn irgendwie überreden! Wenn nötig, mussten sie sich zu Fuß durch den Wald schlagen, um wieder hierherzugelangen. Sie war zu allem bereit, um die Geschichte zu entdecken, die sich an diesem Ort verbarg.

Ellies Augen wanderten weiter: von dem Schloss zu einer kleinen Lichtung, die hinter den Bäumen versteckt gewesen war. Aufmerksam betrachtete sie diese Kulisse, die sie schon einmal gesehen hatte.

Die Felsmauer. Der Rundbogen und die Öffnung für ein Tor, das längst nicht mehr da war. Dahinter der Weinberg mit den Reben, an denen eine reiche Ernte hing.

Obwohl sich die Spuren der Zeit nicht leugnen ließen und vieles von Gestrüpp und Dornen überwuchert war, kannte sie diesen Ort: Er rief eine geheimnisvolle Erinnerung in ihr wach. Eine Erinnerung an etwas, das sie gar nicht selbst erlebt hatte, das sich aber trotzdem tief in ihr eingegraben hatte.

Im Sommer 1944 war hier ein Foto aufgenommen worden, das lange in Vergessenheit geraten war. An dieser Stelle hatte ihre Großmutter gestanden.

Hier hatte ihre Geschichte begonnen.

EINS

14. Juli 1789Les Trois-MoutiersLoiretal

Der Brief enthielt eine schreckliche Nachricht: Baron Le Roux war erschossen worden.

Er war mit dem Gesicht nach unten auf dem Kopfsteinpflaster außerhalb von Saint-Lazare gefunden worden. Sein erwachsener Sohn hatte tot neben ihm gelegen, während im Hintergrund die Getreideschuppen gebrannt hatten.

Aveline Saint-Moreau missachtete zum ersten Mal in ihrem Leben die Anweisung ihrer Mutter, dass sich eine Dame nach strikten Regeln zu benehmen habe: Sie drückte ihr Ballkleid, ein Meer aus Satin und Reifröcken, ans Treppengeländer und krampfte ihre Hand in dem eleganten Handschuh um einen verschnörkelten Eisenstab. Tränen tropften von ihren Wimpern. Ihr Atem war zittrig, während die furchtbare Nachricht wie eine donnernde Flutwelle über sie hinwegrollte.

Der Bericht aus Paris war viel schlimmer, als sich irgendjemand hätte vorstellen können. Und er traf Aveline sehr persönlich, da es sich bei den Toten um Menschen handelte, die seit ihrer Kindheit zum engsten Bekanntenkreis ihrer Familie gehörten.

Wie konnte es sein, dass sich ein Adliger und sein einziger Sohn – Gérard, Avelines Schwager – soeben noch ihres Lebens erfreut hatten und im nächsten Moment jäh aus diesem Erdendasein gerissen wurden?

„Was ist mit der Rue du Faubourg Saint-Honoré?“

Hastig überflog sie Félicités Brief, um herauszufinden, ob darin der Pariser Stadtteil erwähnt wurde, in dem ihre eigene Familie wohnte. Ihr Herz hämmerte, während ihr Blick über das eng beschriebene Papier glitt.

Waren ihr Vater und ihre Schwester außer Gefahr? Wie stand es um ihr Zuhause? Und um die Freunde, deren Leben möglicherweise bedroht war, da sie nur wenige Straßen vom Palast der Familie Le Roux entfernt wohnten?

Baron Le Roux’ Palast ist dem Feuer zum Opfer gefallen. Die Familie konnte sich nur mit der Kleidung, die sie auf dem Leib trug, retten. Eine Schar bewaffneter Männer stürmte das Tor, das an das Kirchengrundstück von Saint-Lazare grenzt. Es waren Gerüchte verbreitet worden, dass sie Getreide, Salz und andere Lebensmittel horten würden. Die Menschen wollten diese Vorräte plündern.

Ich weiß, dass Du aufgrund Deiner Sympathien für den Pöbel nichts von diesen bedauernswerten Umständen hören willst, aber ich kann es Dir nicht ersparen. Vater war entsetzt, als er erfuhr, was Du getan hast. Die Geschichte von der geheimnisvollen Dame mit dem Veilchen ist inzwischen am ganzen Hof bekannt, und es kostete ihn einige Anstrengung, Dich zu schützen. Obwohl verhindert werden konnte, dass Dein Name damit in Verbindung gebracht wird, siehst Du jetzt hoffentlich ein, dass Deine Sympathien völlig fehl am Platz waren.

Es gibt Gerüchte, dass die Baroness und ihre Töchter in der Stadt festgehalten werden. Wo und zu welchem Zweck, wissen wir noch nicht. Ich kann diese Worte nur schreiben, weil ich bei Vater geblieben bin, aber wir sahen die Flammen, die zum Nachthimmel hinaufschossen. Der Pöbel hat das Haus und die Getreidelager des Barons in Brand gesteckt, alles ist völlig niedergebrannt. Was übrig blieb, ist eine dicke Ascheschicht und die frisch aufgehäufte Erde auf den Gräbern.

Ich hatte gehofft, dass ich mit meinem Gatten, dem lieben Gérard, zu Deiner Hochzeit kommen würde, aber diese Hoffnung wurde nun jäh zunichtegemacht. Er ließ mich allein, um das Haus seines Vaters zu verteidigen, und kam nicht zurück. Sei versichert, liebe Schwester: Vater und mir wurde kein Haar gekrümmt.

Wir sind in Sicherheit, aber zutiefst bekümmert.

Die letzten Buchstaben des Briefes waren ein wenig verwischt; auf dem Papier war ein kreisförmiger Fleck zu sehen. Aveline berührte ihn mit der Fingerspitze. War dies eine Träne ihrer Schwester?

Sie schloss die Augen und atmete scharf ein. Sie versuchte, sich das Grauen vorzustellen, und wünschte im selben Augenblick, sie hätte es unterlassen, als Bilder von leblosen Menschen und brennenden Häusern vor ihrem geistigen Auge auftauchten. „Gott erbarme sich ihrer Seelen.“

Um dieses Schreckensszenario und auch den deutlichen Tadel ihrer Schwester zu verdrängen, konzentrierte sich Aveline auf die Aussicht, die sich ihr durch das Fenster im ersten Stockwerk des Schlosses bot.

Am Himmel war das letzte Abendlicht zu sehen, die Bäume warfen in der Dämmerung lange Schatten. Ein Schwan schwamm auf dem Burggraben unter ihr; er zog eine gekräuselte Spur entlang der Außenmauern des Schlosses. Im nahe gelegenen Stall schnaubten die Pferde, die nicht die geringste Ahnung hatten, dass Avelines Welt aus den Fugen geraten war. Von der Straße zum Haupttor, auf der sich immer mehr Kutschen näherten, ertönte eine fröhliche Melodie aus rhythmischem Hufgeklapper und Wiehern.

Diese Burg, die zu einem Château ausgebaut worden war, sollte in zwei Wochen ihr neues Zuhause werden: Dann würde sie Philippe, den Sohn des Duc de Vivay, heiraten.

Doch nun wurde jeder Gedanke an das prächtige weiße Musselinkleid und die mit hochrangigen Gästen gefüllte Kirche von einer dunklen Wolke überschattet. War es überhaupt möglich, dass Avelines Leben wie geplant weiterging, nachdem in Paris das Chaos ausgebrochen und ihr Schwager getötet worden war?

Angesichts des zunehmenden Blutvergießens in Frankreich würde sich alles verändern: Bündnisse. Ehen. Sogar die Liebe. Wie konnte ein solcher Luxus des Herzens überleben, wenn der Tod überhandnahm?

Die bodentiefen Bleiglasfenster, die auf einen großen Balkon hinausgingen, standen offen. Ein Windstoß erfasste einen Vorhang und bewegte den dicken Brokatstoff. Aveline sehnte sich nach einem sicheren Zufluchtsort, während sie sich bemühte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Sobald sie die Treppe hinabging, musste sie freundlich lächeln, als wäre nichts geschehen.

Und bis dahin blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Denn die Stimmen der bereits eingetroffenen Gäste und das Klirren von Kristallgläsern drangen die Treppe herauf und signalisierten, dass die Verlobungsfeier bereits begonnen hatte.

Immer mehr Menschen stiegen draußen aus den Kutschen: Damen mit Hochfrisuren und kostbarem Schmuck, deren männliche Begleiter gepuderte Perücken und ein vornehmes Lächeln zur Schau stellten. Alles an ihnen schien von Unbeschwertheit und Sorglosigkeit zu zeugen – angefangen bei ihrem Lächeln bis hinab zu den Spitzen ihrer Schnallenschuhe.

Wie war es möglich, dass neben der Grausamkeit des Blutvergießens nur zweihundert Kilometer entfernt der Luxus des Friedens existieren konnte? Die Silhouette von Paris war offenbar bereits von verkohlten Häusern gezeichnet. Und jetzt, da die Bevölkerung Rache geschmeckt hatte, musste man sich unweigerlich fragen, wer diesem Blutdurst als Nächstes zum Opfer fallen würde.

„Excusez-moi, Mademoiselle.“

Aveline zuckte bei dieser plötzlichen Anrede zusammen. Dabei entglitt ihr Félicités Brief, und sie musste hilflos zusehen, wie das Papier nach unten flatterte und im Schatten der großen Eingangstüren im Erdgeschoss verschwand. Eilig tupfte sie sich die Augen, damit niemand fragen würde, wie sie an einem solchen Abend weinen konnte.

Als sie sich umdrehte, stand Fanetta, die Zofe, die ihr bei ihrem Eintreffen auf dem Schloss zugeteilt worden war, wie eine Statue hinter ihr und wartete.

„Je suis désolée“,entschuldigte sich die junge Frau, deren kastanienbraune Haare von einer schlichten Schleife zusammengehalten wurden, mit einem bedauernden Blick über das Treppengeländer. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie erschreckt habe, Mademoiselle.“

Aveline warf einen verstohlenen Blick zu der Stelle, an der der Brief gelandet war. Sie konnte ihn erst holen, wenn sie die Treppe hinabstieg. Und bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als Haltung zu bewahren. Automatisch hob sie das Kinn und nahm eine tadellose Körperhaltung ein. Die strengen Anforderungen an ihren gesellschaftlichen Stand waren ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sie auch ohne die Anwesenheit ihrer Mutter erfüllte. „Ja. Was ist?“

„Entschuldigen Sie, aber Madame Saint-Moreau wünscht, heute Abend bei Ihrer Toilette zugegen zu sein. Sie hat mich gebeten, Sie zu holen und zu fragen, wann sie kommen solle.“

Fanettas Blick wanderte zu Avelines Ballkleid. Elfenbeinfarbener und rötlicher Satin breitete sich an den Seiten und an der Rückseite in geschmeidigen Falten aus – graziös und vornehm. Unübersehbar ein Abendkleid und kein Kleid für den Nachmittagstee. „Aber wie ich sehe, haben Sie sich schon für den Abend angekleidet …“

Aveline war es müde, dass in Paris die Frauen ihres Standes um ihre Toilette eine große Zeremonie veranstalteten. Wer brauchte schon eine Schar Dienerinnen, die jeder Laune einer Dame nachkamen? Von der künftigen Herzogin des Hauses Vivay würde das unausweichlich erwartet werden. Aber sie waren nicht in Paris. Aveline sollte in die höchsten Kreise des französischen Adels einheiraten, aber gleichzeitig in einem Château im Loiretal leben. Und sie hatte nicht die Absicht, das aufgeblasene Hofleben auch nur einen Tag länger fortzuführen.

Nicht einmal am Abend ihres eigenen Verlobungsballs.

„Mir stand der Sinn nicht danach, die Vorbereitung auf den Ball hinauszuzögern, nur um ein Publikum zu unterhalten. Die offizielle Toilette war mir heute Abend einfach unmöglich.“

„Natürlich, Mademoiselle.“

Fanetta schwieg, offensichtlich etwas verunsichert. Avelines Verhalten stand eindeutig im Widerspruch zum Befehl ihrer Mutter. Die Zofe knickste und wartete ehrerbietig darauf, dass sie neue Anweisungen bekam.

„Es tut mir leid, dass heute Abend niemand die Kunstfertigkeit, mit der Sie Haare frisieren, bewundern kann, Fanetta. Meine Mutter ist die einzige anwesende Dame, der es wichtig wäre, die Pariser Gepflogenheiten auch hier beizubehalten. Aber unter uns gesagt: Könnten wir meiner Mutter helfen, diese Unschicklichkeit zu vergessen, solange sie zu Besuch ist? Und könnten wir diese Tradition danach einfach abschaffen?“

Ein amüsiertes Funkeln leuchtete in Fanettas Augen auf. Sie neigte den Kopf und bemühte sich sichtlich, ein Lächeln zu verbergen. „Gerne, Mademoiselle. Ich glaube, Madame Saint-Moreau könnte schon nach unten gegangen sein. Sie hatte es eilig, da sie es wahrscheinlich nicht riskieren wollte, Ihr Debüt zu verpassen.“

„Das wird sie nicht. Man hat mir versichert, dass die Ankündigung erst Mitte des Abends erfolgen wird.“ Aveline zupfte an den Falten ihrer Handschuhe, um das leichte Zittern ihrer Hände zu verbergen. „Sie wird genügend Zeit haben, um ihren Ehrenplatz an der Tafel einzunehmen, bevor der Herzog die geladene Gesellschaft um ihre Aufmerksamkeit bittet.“

„Natürlich, Mademoiselle. Bitte schön, Mademoiselle.“ Fanetta machte erneut einen Knicks und hielt Aveline eine Schmuckschatulle mit goldener Filigranarbeit hin. „Ich hatte den Auftrag, dies in Ihr Zimmer zu bringen, um es während Ihrer Toilette zu präsentieren, aber Sie hatten Ihre Gemächer bereits verlassen.“

„Was ist das?“

„Ein Geschenk. Für Sie.“

„Für mich? Von wem?“

„Vom Sohn des Duc de Vivay. Ihrem Verlobten, Mademoiselle, wurde ein Porträt von Ihnen überreicht, das Ihre Familie anfertigen ließ. Im Gegenzug bekommen Sie nun ein Geschenk. Ich bin beauftragt, Ihnen zu sagen, dass Sie Teil des Hauses Vivay sind, wenn Sie dieses Geschenk annehmen. Und dass Sie es heute Abend bitte tragen möchten, damit der Sohn des Herzogs seine Braut erkennt, sobald sie den Ballsaal betritt.“

Ein Geschenk, damit ihr Verlobter sie auf den ersten Blick erkennen würde? Das mochte als kleine Aufmerksamkeit gedacht sein. Doch Aveline erschien es eher wie das Sinnbild einer arrangierten Ehe, die zwei Väter ausgehandelt hatten.

Jungen Frauen ihres Standes wurde selten erlaubt, mehr zu lernen als die Kunst, wie man einen Fächer bewegt und in einem Korsett atmet. Und sie hatten ganz gewiss nicht die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob der Charakter eines Mannes ihn zu einem würdigen Heiratskandidaten machte.

Da Aveline das Gesicht ihres Verlobten noch nie gesehen hatte, war sie ihm gegenüber eindeutig im Nachteil. Und durch den Brief ihrer Schwester, der ihr Herz schwer belastete, wurde ihr Unbehagen noch verstärkt. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als tief durchzuatmen und zu beten, dass dieses Geschenk ein Vorgeschmack auf das Einfühlungsvermögen ihres Verlobten sein würde.

Aveline nahm die Schatulle und sagte höflich „Merci“, bevor sie den Verschluss öffnete. Das Scharnier ging geräuschlos auf und der darin liegende Schatz kam zum Vorschein: eine goldene Brosche in Form eines Fuchses mit eingefassten Diamanten, einem Zitrin und winzigen Perlen. Die Edelsteine funkelten ihr entgegen und die goldene Fassung glitzerte im Kerzenlicht.

„Ein Fuchs.“ Fanetta nickte zustimmend. „Dieses Geschenk ist eines Mitglieds dieses Hauses würdig, da der Fuchs das Symbol der Familie Vivay ist.“

„Ein ungewöhnliches Tier für ein Familienwappen.“

„Füchse streunen auf den Weinbergen frei herum, Mademoiselle. Sie fressen die Trauben und plündern Vogelnester in den Sträuchern. Die Arbeiter sind über sie nicht erfreut. Aber diese Tiere werden schon lange mit dem Haus Vivay in Verbindung gebracht. Selbst der große Wald hinter diesen Fenstern ist nach ihnen benannt, der Bosquet du Renard.“

Der Fuchswald. Aveline zupfte an einem Vorhang und schaute auf die Welt im Dämmerlicht hinaus. Am obsidianfarbenen Himmel tauchten nun allmählich die Sterne auf. Es waren kleine Lichtpunkte, die hier und dort durch das Laub der Bäume drangen.

Jemandem, der sich verbergen musste, schien dieser Wald eine gute Zuflucht zu bieten, schoss ihr durch den Kopf.

„Ich wusste, dass die Familie mehrere Güter besitzt. Doch es ist erfreulich zu hören, dass der Weinbau erfolgreich ist.“

„Er ist sogar sehr erfolgreich!“ Fanetta biss sich auf die Unterlippe, sie schien ihre Begeisterung kaum zügeln zu können. Dann warf sie einen Blick hinter sich, als ob sie sich vergewissern wollte, dass keine unerwünschten Ohren die Worte hörten, die sie offenbar nicht für sich behalten konnte. „Das Haus Vivay ist dafür bekannt, dass es eine sehr erlesene Weinsorte produziert, die nach dem Fuchs benannt wurde. Es heißt, sogar der König habe den Renard Reserve in seinem königlichen Weinkeller. Und dieser Wein wird hier, im Herzen dieses Tals, produziert. Alles gehört dem Duc de Vivay und dessen Sohn, Ihrem künftigen Gatten.“

„Mir war bekannt, dass der Herzog hier in der Provinz Weinbau betreibt, aber ich wusste nichts Näheres darüber. Wenigstens bis jetzt. Ich freue mich, künftig noch mehr darüber zu erfahren.“

Nun hallten die tiefen Schläge einer Wanduhr auf dem Flur wider. Fanetta reagierte sofort auf diese Mahnung, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, um Aveline für den Abend vorzubereiten. Sie warf einen vielsagenden Blick in Richtung des Gebäudeteils, in dem sich die Gemächer der Damen befanden.

„Möchten Sie Puder für Ihre Haare, Mademoiselle? Violett, denke ich, hebt Ihre Augenfarbe und das Blond Ihrer Haare am besten hervor. Wir haben noch Zeit, wenn Sie in Ihre Gemächer zurückkehren möchten.“

„Nein, s’il vous plaît.“ Aveline schloss die Augen und versuchte verzweifelt, noch schnell ihre Gedanken zu ordnen, bevor sie in wenigen Momenten den Gästen präsentiert werden würde.

Sie hatte ihr Gesicht gepudert und ein wenig Rouge auf ihren Wangen aufgetragen, weil sie wusste, dass ihre Mutter eine kritische Bemerkung machen würde, falls sie sich überhaupt nicht schminkte. Allein bei dem Gedanken an einen möglichen Tadel schnürte ihr das Walknochenkorsett die Luft ab. Noch mehr als sonst. Es war schon an guten Tagen anstrengend, in einem Korsett zu atmen, doch an einem Tag wie diesem war es fast unmöglich.

Aveline konnte es nicht ertragen, sich noch mehr herausputzen und aufplustern zu lassen, nachdem ihre ganze Welt so schwindelerregend aus dem Gleichgewicht geraten war.

„Nein, danke, ich verzichte auf mehr Puder. Ich denke, ich möchte heute Abend einfach ich selbst sein.“

„Gewiss. Wie Sie wünschen.“ Fanetta knickste erneut. „Und was ist mit der Brosche? Möchten Sie den Schmuck anlegen?“

„Mein Verlobter hat mich darum gebeten.“ Aveline hatte die Brosche fest in der Hand gehalten, sich daran geklammert wie an ein Rettungsseil. Nun atmete sie tief aus, lockerte ihren Griff um die Brosche und hielt sie Fanetta hin. „Wir sollten seiner Aufforderung also nachkommen.“

Vorsichtig nahm Fanetta den Schmuck und befestigte ihn auf dem eleganten Stoff des Ballkleids. Dann wartete sie, während Aveline vor den überdimensionalen vergoldeten Spiegel trat, der die ganze Wand beherrschte.

Statt ihr Aussehen zu bewundern, sah Aveline jedoch nur eine gepuderte, aufgetakelte junge Frau. Sie würde die Treppe hinabsteigen, während aller Augen auf sie gerichtet waren, und dabei ein perfekt eingeübtes Lächeln und eine goldene Brosche zur Schau tragen. Zweifellos war sie gut darauf vorbereitet, in die begehrte Rolle der Herrin eines großen Châteaus und vieler Ländereien zu schlüpfen. Sie würde ein Teil von Frankreichs Hochadel werden.

Des Standes, dem sie insgeheim am liebsten entfliehen würde. Und der mit großer Inbrunst von vielen Leuten gehasst wurde, wie sich jetzt immer deutlicher zeigte.

„Sie sehen wunderschön aus, Mademoiselle. Dieser Verlobungsball ist gewiss erst der Anfang Ihres Glücks!“, sagte Fanetta nun respektvoll.

„Oui, ganz gewiss.“

Aveline betrachtete ihre Brosche: den Fuchs, der von dem rötlichen Satin abstach. Das Gold glitzerte auf der Stickerei, die den oberen Rand ihres Mieders säumte, während der Zitrin im Kerzenlicht ein tiefes, glühendes Bernsteingelb annahm.

Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich im Spiegel. Die Stimmen der Gäste, die im Hintergrund zu hören waren, erinnerten sie daran, dass das Fest auch ohne den Ehrengast begonnen hatte.

„Brauchen Sie sonst noch etwas, Mademoiselle?“

„Nein. Merci, Fanetta.“

„Dann bringe ich die Schmuckschatulle in Ihre Gemächer. Das hier soll ich Ihnen noch geben. Es ist eine Nachricht vom Sohn des Duc de Vivay.“

Die Zofe holte einen elfenbeinfarbenen Umschlag aus ihrer Schürzentasche. „Ich wünsche Ihnen, dass der Abend so wird, wie Sie ihn sich erträumen, Mademoiselle.“ Ein Lächeln, ein Knicks, und sie war am Ende des Korridors verschwunden.

Aveline stand wie angewurzelt da. Ihr Herz hämmerte angesichts der Erwartungen, die an sie gestellt wurden. Wie sollte sie ihnen nur gerecht werden? Zum zweiten Mal an diesem Abend erschütterte sie ein unerwarteter Brief, aber dieses Mal kam er anscheinend von Philippe, ihrem Verlobten.

Inständig hoffte sie, dass die Worte ihres Verlobten von einem einfühlsamen, edlen Charakter zeugen würden, während sie das rote Siegel brach. Auch hier war ein Fuchs abgebildet, die Kontur des Wappens hatte sich tief in das Wachs geprägt.

Aveline atmete tief ein und las; mit den Fingerspitzen ihrer linken Hand berührte sie dabei unwillkürlich die Brosche, die momentan ihre einzige Verbindung zu ihrem künftigen Gatten darstellte. Doch binnen weniger Sekunden wurde die Hoffnung, die jäh in ihr aufgeflammt war, durch die wenigen Worte auf dem Papier erstickt:

Kommen Sie zu mir. Ich trage eine blaue Jacke mit dem Renard-Wappen auf dem Revers.

Wenn Sie und Ihre Mutter unbeschadet bleiben wollen, tun Sie bitte genau, was ich sage.

ZWEI

HeuteMarquette, Michigan, USA

Ellison Carver reagierte auf die besorgt klingende Stimme auf ihrem Anrufbeantworter auf die einzige Weise, die ihr einfiel: indem sie in ihrem Jeep so schnell durch die Stadt raste, dass sie fast die Blätter von den Bäumen fegte.

Normalerweise war der Herbst ihre liebste Jahreszeit. Sie freute sich, wenn es kälter wurde und die Ufer des Oberen Sees sich in intensiven Orange- und leuchtenden Goldtönen färbten. Aber heute hatte Ellie für die Schönheit der Natur keinen Blick übrig. Denn sie hatte zum zweiten Mal in dieser Woche die Nachricht bekommen, dass es ihrer Großmutter nicht gut ging.

Das Stoppschild am Ende der Straße riss sie mit der Aufforderung anzuhalten für einen Moment aus ihren Gedanken. Da sie den Tempomat eingeschaltet hatte, wäre sie beinahe weitergefahren. Schnell trat sie auf die Bremse. Die Reifen quietschten, als das Fahrzeug auf der regennassen Straße abrupt zum Stehen kam.

Geistesabwesend starrte Ellie auf die Blätter, die der Wind vor ihre Windschutzscheibe wehte. Sie bemühte sich, ihren Atem zu beruhigen, während sich die Regentropfen auf der Scheibe sammelten und langsam nach unten liefen.

„Mach dir keine unnötigen Sorgen“, pflegte Oma Viola zu sagen. „Mach dir keine unnötigen Sorgen und lass dich auf keinen Fall von Sorgen unterkriegen.“

Wenn es lebensbedrohlich wäre, hätte Laine keine Nachricht hinterlassen. Nein, ihre beste Freundin seit ihrer gemeinsamen Schulzeit hätte zuerst einen Krankenwagen gerufen und sich dann mit ihr im Krankenhaus getroffen.

Ellie nickte, um sich von dieser Erklärung selbst zu überzeugen, und löste ihren schmerzhaften Griff um das Lenkrad.

Heute war nicht der Tag, an dem sie Oma Viola verlieren würde. Wir haben bestimmt noch mehr Zeit.

Mit diesen Worten sprach sie sich selbst Mut zu, als sie auf den Lake Shore Boulevard bog. Und trotz ihrer Anspannung entlockte ihr der vertraute Anblick ein Lächeln: Der Leuchtturm im Hafen von Marquette grüßte sie von der Anhöhe über dem Oberen See mit seinen kirschroten Mauern und funkelnden, weiß umrandeten Fenstern.

Nachdem der Leuchtturm im Rückspiegel wieder verschwunden war, atmete Ellie tief aus und kämpfte die aufsteigende Angst erneut nieder – wenn auch vielleicht nur für wenige Minuten.

Als sie das Pflegeheim Maple Ridge erreichte, parkte sie den Jeep, stieg aus und eilte durch die letzten Regentropfen zum Eingang. Rasch tippte sie den Besuchercode in das Tastenfeld neben der Tür, worauf diese sich öffnete. Ellie musste sich beherrschen, um in ihren hochhackigen Stiefeln nicht durch den Flur zu stürmen. Sie wollte nicht wie eine Sprinterin wirken, die zu viel Koffein intus hatte, sondern wie eine Enkelin, die sich berechtigte Sorgen um ihre Großmutter machte.

Laine war an der Anmeldung der Alzheimer-Station leicht zu entdecken: Die schlanke, große Gestalt mit dem kastanienbraunen Nackenknoten war auch von hinten unverwechselbar. Als Leiterin des Pflegeheims strahlte sie schon von Weitem eine ruhige Würde aus, doch ihr Titel spielte in diesem Moment keine Rolle.

Kaum war das Klappern von Ellies Absätzen zu hören, ließ sie alles, was auch immer sie gerade machte, liegen, um ihrer Freundin entgegenzueilen. „Es geht ihr gut, Ellie. Es tut mir leid, dass ich dich von der Arbeit weggeholt habe, aber …“

Eine große Erleichterung breitete sich in Ellie aus. „Nein. Das ist völlig in Ordnung! Ich habe dich ja gebeten, mir Bescheid zu geben, wenn etwas ist.“

Sie schlüpfte aus ihrer Jacke und warf sie über einen Stuhl, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Gleich darauf hatte sie das Zimmer ihrer Großmutter erreicht; die Tür war offen. Ellie blieb im Türrahmen stehen und schaute hinein.

Vor dem einzigen Fenster des Raumes stand eine zierliche Gestalt. Jetzt, da der Regen nachgelassen hatte, umgab sie die Nachmittagssonne mit einem weichen Schein.

Ellie hatte das Gefühl, flüstern zu müssen. Deshalb beugte sie sich zu Laine hinüber und wisperte: „Wie geht es ihr?“

„Es ist so, wie ich am Telefon gesagt habe.“ Laine hakte sich freundschaftlich bei ihr unter. „Sie benimmt sich nicht wirklich auffällig. Genau genommen gibt sie kaum einen Ton von sich, außer wenn du hier bist. Das ist fast die einzige Zeit, in der sie auflebt. Aber sie ist schon die ganze Woche über unruhiger als sonst. Du weißt, dass sie tagsüber immer mehr schläft. Das allein sagt schon viel aus. Dazu kommt, dass sie seit heute Morgen besonders unruhig ist. Und das war Grund genug, dich anzurufen.“

„Wieso ist sie so unruhig? Worüber regt sie sich auf?“

„Das ist es ja gerade. Wir wissen es nicht.“

Als College-Professorin war Viola Carver – oder Lady Viola, wie sie immer genannt worden war – eine Säule der Stadt gewesen. Sie hatte Ellie aufgezogen, seit diese elf gewesen war. Großmutter und Enkelin hatten ihre Haarfarbe gemeinsam: ein tiefes Schwarz, das bei der Älteren inzwischen weiß durchzogen war.

Über den Schultern der alten Dame lag ihre Lieblingsweste, deren Farbton so gut zu ihren dunkelblauen, fast violetten Augen passte. Sie habe die gleiche Augenfarbe wie Elizabeth Taylor, pflegte sie zu sagen. Wegen dieser außergewöhnlichen Augenfarbe habe ihr Vater damals den Namen Viola für sie ausgesucht. Allerdings habe sich später herausgestellt, dass sie leider nicht ganz so hübsch war wie die Hollywoodschauspielerin.

Wenn Oma Viola diese Geschichte früher erzählt hatte, war in ihrer linken Wange ein Grübchen erschienen, und sie hatte wehmütig gelächelt. Sowohl von dem Lächeln als auch von dem Grübchen war inzwischen kaum mehr etwas zu erahnen. Doch in Ellies Erinnerung waren sie noch lebendig – genau wie auf den gerahmten Fotos aus der Kriegszeit, die an der Wand hingen.

Viola Carver zog die Vorhänge auseinander und schien von irgendeinem Anblick vor dem Fenster wie gebannt zu sein. Aber die Ruhe hielt nur wenige Atemzüge an, bevor sie den Vorhang wieder zurückschob und begann, ihre Hände zu ringen.

Laine hatte recht. Das war völlig untypisch für sie.

Eine Dame durfte niemals nervös herumzappeln, das hatte Lady Viola ihrer Enkelin wieder und wieder eingeschärft. Doch in der düsteren Alzheimer-Welt schienen solche Regeln und Tugenden allmählich zu verkümmern.

„So ist sie schon fast den ganzen Tag.“

„Was?! Sie steht schon die ganze Zeit am Fenster?“

Laine nickte. „Jedenfalls immer wieder. Erst schaut sie eine Weile hinaus, dann geht sie auf und ab. Und sie ringt immer wieder ihre Hände. Zwischendurch legt sie eine Handfläche auf ihren Jackenaufschlag und schließt die Augen.“

Ellies Herz hämmerte unruhig. „Sie hat aber keine Schmerzen, oder?“

„Nein“, antwortete Laine in beruhigendem Tonfall. „Das ist es nicht.“

„Bist du sicher?“

„Sie hat ganz bestimmt keine körperlichen Schmerzen, Ellie.“ Laines vertrautes Gesicht spiegelte echtes Mitgefühl, aber auch Zuversicht wider.

„Was hat Kathy gesagt?“, wollte Ellie wissen. Kathy war die Stationsschwester, sie führte ein strenges Regiment. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung war, wäre sie die Erste, der das auffallen würde.

„Sie hat heute Morgen ihre Vitalwerte überprüft. Und wir haben den Arzt geholt, bevor ich dich angerufen habe. Physisch befindet sich deine Oma im Moment in keinem kritischen Zustand. Es ist nur so, dass sie sehr unruhig ist. Ich habe dich wirklich nur ungern von der Arbeit weggeholt, da ich wusste, dass du heute Abend sowieso wie gewohnt zu Besuch kommen würdest. Aber ich dachte, du könntest sie vielleicht beruhigen.“

„Was ist mit Musik?“

Laines Blick verriet bereits, dass das bewährte Mittel dieses Mal nicht half. „Wir haben ihre Lieblingsmusik laufen lassen, jedoch ohne den geringsten Erfolg. Vorlesen führt auch zu nichts. Sie scheint nicht still sitzen zu können. Nicht einmal, um zu essen. Der Arzt hat gesagt, wir könnten ihr etwas geben, damit sie ruhiger wird, aber das musst du entscheiden.“

„Nein. Ich will noch nicht mit Medikamenten anfangen. Oma Viola würde sagen, dass sie wach und aufnahmefähig bleiben will. Davon bin ich überzeugt.“

Ellie atmete tief aus. Sie hatte das Gefühl, als ob sie seit ihrer Fahrt zum Pflegeheim mehr oder weniger die Luft angehalten hätte. „Vielleicht haben wir Glück und sie erkennt mich heute. Ich könnte die Familienalben aufschlagen und sie dazu bewegen, über früher zu sprechen. Das mag sie bestimmt.“

Laine nickte. Ihr Mitgefühl war unaufdringlich, aber spürbar. Diese Art von Unterstützung konnte einem nur eine Freundin geben, die ein Teil der Familie geworden war.

„Du bist wirklich tapfer, Ellie. An dieser Tapferkeit musst du festhalten. Für sie. Und auch für dich.“

Doch Tapferkeit war so ungefähr das Letzte, was Ellie in sich spürte. Stattdessen war sie unsicher und verängstigt. Sie musste doch jeden Tag damit rechnen, ihre Großmutter zu verlieren! Angst und Sorge erschienen ihr viel realer als irgendeine Form von Tapferkeit. Sie fühlte den Schmerz in ihrer Brust, während sie die zierliche Gestalt betrachtete.

„Alles …“ Ellie konnte nicht weitersprechen, weil ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich. „Alles, was mir auf dieser Welt geblieben ist, steht in diesem Zimmer und trägt eine violette Strickweste.“

„Ich weiß. Und deshalb werde ich dir auch nichts verschweigen.“

Ellie sah sie fragend an. „Wie meinst du das? Ist etwas passiert?“

„Deine Großmutter hat heute nach ihrer Brosche gefragt.“

„Nach ihrer Brosche“, wiederholte Ellie bestürzt.

Natürlich! Jetzt ergab alles einen Sinn. Wenn Oma Viola dieses alte Erbstück haben wollte, waren ihre Gedanken zweifellos um Ellies Großvater gekreist. Die beiden waren mehr als sechzig Jahre verheiratet gewesen. Vielleicht erwartete sie, ihr geliebter Mann würde jeden Augenblick durch die Tür treten.

Laine zögerte einen Moment. „Sie bestand darauf, sie heute Morgen anzustecken, als Kathy in ihr Zimmer kam. Seitdem hat sie immer wieder nach der Brosche gesucht. Ich habe es erst erfahren, als ich heute Nachmittag zum Dienst kam. Zwar kann es sein, dass das überhaupt nichts bedeutet, aber wir fanden trotzdem, dass du es wissen solltest.“

„Danke“, sagte Ellie tonlos und wünschte, eine Spur dieser Tapferkeit, die Laine in ihr sah, würde sich bemerkbar machen. „Ich schaue, ob ich etwas tun kann.“ Sie holte tief Luft und trat ins Zimmer.

Die gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos, die jahrzehntelang auf dem Kaminsims im Landhaus ihrer Großeltern gestanden hatten, waren nun auf engem Raum zusammengedrängt. Postkarten auf einer Pinnwand über dem breiten Bett dokumentierten das Leben ihrer Großeltern: Hawaii. Der Grand Canyon 1953. Die Niagarafälle. Und nicht zuletzt Hackensack, New Jersey: ein Zwischenspiel mit einer Reifenpanne bei einer ihrer vielen Reisen quer durchs Land in den frühen Jahren ihrer Ehe.

Obwohl Oma Viola nicht mehr las, war jeder Zentimeter des eingebauten Bücherregals unter dem Fenster mit Büchern gefüllt: hübsche, abgegriffene Buchrücken in perfekten Reihen angeordnet – eine nostalgische Geschichte neben der anderen. All das war immer noch so sehr ein Teil dieser Frau, dass sich Ellie ihre Großmutter ohne die Bücher und Fotos nicht vorstellen konnte.

„Oma?“ Ellie legte den Kopf schief und schaute zu dem fernen Punkt außerhalb des Fensters, den ihre Großmutter anzuvisieren schien. Durchs Fenster sah man bunte Blätter, die mit dem Herbst flirteten, und einen vollen Parkplatz, auf dem das Metall der Autos in der Sonne glänzte.

Sie trat näher. Einen vorsichtigen Schritt. Dann noch einen. „Oma?“

„Ja?“ Viola Carver drehte sich um und merkte offenbar erst jetzt, dass jemand hinter ihr stand. Doch sie schaute durch Ellie hindurch, als wäre sie nichts weiter als Dampf im Raum.

„Ich bin es – Ellie“, flüsterte die junge Frau und deutete mit ihren Fingerspitzen auf ihre eigene Brust. „Deine Enkelin.“

Sieh mich!, flehte sie im Stillen. Schau mich an und sieh mich wirklich!

„Guten Tag, meine Liebe. Komm doch herein.“

Lady Viola war viel zu höflich, um zuzugeben, dass sie Ellie nicht erkannte. So lief es fast immer ab: Viola verstellte sich aus tief verwurzelter Höflichkeit, und Ellie war nur ein weiterer fremder Gast, der gekommen war, um sie zu quälen. Offensichtlich bildete dieser Tag keine Ausnahme.

Ellie betete, dass irgendetwas, das sie sagte, eine Saite im Gedächtnis ihrer Oma zum Schwingen bringen würde. „Weißt du … Weißt du, wer ich bin?“

„Natürlich weiß ich, wer du bist!“ Violas Augen hinter der Brille konzentrierten sich nun auf Ellie, und ihre Stirn runzelte sich. „Du brauchst es mir nicht ständig neu zu sagen.“

Ellie lächelte unwillkürlich. Ja, das war Lady Viola Carver. Die resolute Engländerin war, wenn auch nur für einen Moment, wieder da. Sie hatte ihre Schlagfertigkeit noch nicht verloren.

„Dann ist es ja gut. Dann brauchen wir darüber nicht mehr zu reden.“ Ellie trat auf sie zu und küsste sanft ihre Wange. Behutsam nahm sie sie anschließend am Ellbogen und hoffte, sie könnte sie zum Sessel führen. „Wie geht es dir, Oma? Möchtest du dich nicht setzen?“

„Nein. Ich bleibe am Fenster.“ Viola tätschelte Ellies Hand, entzog ihr jedoch ihren Ellbogen. „Der Regen hat aufgehört.“

„Aber der Sessel steht gleich hinter dir. Du kannst von dort immer noch aus dem Fenster schauen und wirst dabei nicht so müde. Ich kann mich zu dir setzen, wenn du möchtest.“

Wie Laine es vorhin beschrieben hatte, legte die alte Dame nun ihre Hand auf den Aufschlag ihrer Weste. Ihre Fingerspitzen bewegten sich, als strichen sie über etwas, das sich in ihrer Fantasie an dieser Stelle befand. „Meine Brosche? Ich kann sie nicht finden …“ Suchend ließ sie ihren Blick durchs Zimmer wandern. „Ich habe sie verlegt.“

„Die Brosche ist zu Hause, Oma. Erinnerst du dich? Du hast mich gebeten, sie im Landhaus aufzubewahren.“

„Im Landhaus?“

„Ja. In dem Haus, das Opa für euch gebaut hat. Dort ist deine Brosche. Aber ich kann sie dir gern bringen, wenn du sie tragen möchtest. Soll ich sie dir morgen mitbringen?“

Viola wandte sich wieder ab. Hatte sie überhaupt verstanden, was Ellie gesagt hatte?

Stirnrunzelnd schaute sich die junge Frau im Zimmer um. Sie musste ihre Großmutter irgendwie ablenken, um sie aus dieser inneren Fixiertheit herauszuholen. Da fiel ihr Blick auf ein ledergebundenes Album auf dem Nachttisch. „Hast du Lust, die Fotos anzusehen?“

Die dunkelblauen Augen erwachten zum Leben, als Ellie die erste schwarze Seite aufschlug. Vorsichtig ließ sich die alte Dame im Sessel nieder. Allerdings lediglich vorne auf der Kante, um wenn nötig plötzlich wieder aufspringen zu können.

Das war typisch für Lady Viola Carver: dass sie einem Vorschlag zwar zustimmte, dies aber zu ihren eigenen Bedingungen tat.

Sie fuhr mit dem Finger über ein Foto von einem jungen Mann in Offiziersuniform. Seine Haare waren blond, und er lächelte leicht, ohne jedoch seine Zähne zu zeigen. „Er sieht gut aus.“

Ellie kauerte sich neben sie und stützte sich auf die Armlehne des Sessels. Dies war immer eine Gratwanderung: Gespräche über die Vergangenheit zu führen, wenn Oma Viola sich nur an Bruchstücke erinnerte. Sie musste vorsichtig vorgehen. Denn sie wollte, wenn sie es irgendwie verhindern konnte, keine zu bittersüßen Erinnerungen wecken. „Ja. Er sieht sehr gut aus. Sehr distinguiert, würde ich sagen.“

„Ich kenne ihn …“

„Natürlich. Das ist Dr. Frederick Carver. Er war dein Mann.“

Viola starrte das Bild an und nickte leicht.

„Das ist mein Opa. Du hast ihn nach Kriegsende geheiratet.“ Ellie blätterte weiter. Von einer der nächsten Seiten lächelte ihnen ein kleiner Junge mit Cowboyhut entgegen. Über seiner Jeans war ein Revolvergürtel um seine Taille geschnallt. „Und du hattest einen Sohn, Eric. Das ist er an seinem dritten Geburtstag. Das war immer eines deiner Lieblingsbilder.“

Wieder nickte Viola. Aber ob sie sich tatsächlich daran erinnerte, wer die beiden auf den Fotos waren, ließ sich nicht sagen. Erneut wanderte ihr Blick zu einer fernen Welt außerhalb des Fensters. „Kommt er uns besuchen?“

„Ähm … nein, Oma. Heute nicht.“ Ellie schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. „Er und Opa sind seit vielen Jahren nicht mehr da.“

„Er hat es verstanden, weißt du. Der Tag in der Kapelle hat alles verändert, aber er hat mich trotzdem geheiratet. Er war ein guter Mann.“ Viola blätterte zurück und fuhr mit der Fingerspitze über den Rand des Fotos von ihrem Mann. Sie tätschelte Ellies Hand, dann tippte sie wieder auf das Foto. „Ein sehr guter Mann.“

„Ja, Opa war ein sehr guter Mann. Das hast du immer gesagt.“ Ellie legte den Kopf schief und versuchte, den Gedankensprüngen ihrer Oma zu folgen. „Aber du hast gesagt, dass er etwas verstanden hätte. Ist irgendetwas vorgefallen? Oder hat sich etwas verändert?“

„Ich habe mich verändert.“ Viola schüttelte den Kopf und drückte einen Handrücken an ihre Lippen, als gebe sie jemandem einen Abschiedskuss.

Ellie stand auf und klappte das Album zu. „Vielleicht ist das genug für heute, was meinst du? Wir könnten in den Speisesaal gehen. Oder uns einen Tee bringen lassen und uns auf den Balkon setzen. Es ist nicht zu kühl, wenn wir eine Decke für dich holen.“

„Nein!“ Diese klare Weigerung war etwas Neues. Viola tippte wieder an die Stelle, an der sich ihre Brosche befinden sollte. „Ich muss warten.“

„Warten? Worauf, Oma?“, fragte Ellie besorgt. „Wen erwartest du? Wer soll kommen?“

Viola bedachte sie mit einem scharfen Blick und schnaubte unwillig. Dann stand sie auf und wandte sich mit einer flinken Bewegung zum Bücherregal. Sie kniff die Augen zusammen und fuhr mit dem Zeigefinger über die Buchrücken. Offensichtlich suchte sie etwas.

Ellie hatte sich unwillkürlich hinter sie gestellt, um ihre Großmutter vor einem möglichen Sturz zu bewahren. Wenn sich die alte Dame so hastig bewegte, konnte sie vor lauter Eifer leicht einen Unfall erleiden.

Achselzuckend warf Ellie einen Blick zur offenen Tür, wo Laine sie vom Flur aus beobachtete. Sie konnte nur ratlos danebenstehen, während ihre Großmutter ihre Suche fortsetzte.

„Oma, kann ich dir helfen? Was suchst du denn?“

Nun zog Viola ein Buch aus dem Regal. Es hatte ganz unten gestanden, als ob es lange vergessen gewesen wäre. Der Titel, der sich auf dem Buchrücken befunden hatte, war verblasst. Der Ledereinband war eingerissen und an den Kanten abgegriffen.

„Dieses Buch hier.“ Viola setzte sich wieder auf die Kante ihres Sessels.

Ellie stand hinter ihr, während ihre Großmutter liebevoll über den Titel strich, der mit Blattgold auf den rostbraunen Einband gedruckt war: Histoires ou Contes du temps passé.

„Aber das ist ja … französisch?“

„Oui.“ Viola nickte, als wäre keine weitere Erklärung nötig. „La Belle au bois dormant – Dornröschen.“ Sie reichte Ellie das Buch und schien sie damit aufzufordern, das Märchen auf den Seiten dieses Buches zu suchen.

Ellie gehorchte und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Welche Wörter ähnelten denen, die sie soeben gehört hatte? Da sie nur ein paar Brocken Französisch konnte, kam sie nicht weiter. „La Belle …“, wiederholte sie, blätterte ein paar Seiten um und suchte nach Illustrationen, die zur Geschichte von einer schlafenden Prinzessin passen könnten.

Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, wenn sie das Märchen fand. Aber vielleicht würde sich Oma Viola einfach darüber freuen, das Buch in den Händen zu halten. Vielleicht würde sie in Erinnerungen versinken, die sie mit dem Text oder den Zeichnungen verband.

Da rutschte plötzlich etwas aus dem Buch und fiel zu Boden.

„Entschuldigung. Einen Moment, ich hab es gleich.“ Ellie bückte sich nach dem Stück Papier und hob es auf.

Viola schaute sie eindringlich an. „Siehst du es?“

Das war es ja gerade! Ellie sah es. Aber sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, was sie da in der Hand hielt. Bei dem Stück Papier handelte es sich nämlich nicht um ein vergessenes Lesezeichen, sondern um ein vergilbtes Foto.

Es zeigte eine junge Frau mit Victory Rolls, der Frisur, die während des Zweiten Weltkriegs modern gewesen war. Die großen pechschwarzen Locken umrahmten ihr Gesicht, ein vertrautes Grübchen zierte ihre linke Wange und ein Kleid mit dem typischen Ausschnitt der 1940er-Jahre betonte ihre Figur. Sie saß auf einer alten Steinmauer. Barfüßig, die Beine an den Knöcheln züchtig übereinandergelegt.

Auf dem Foto strahlte sie zu einem Mann hinauf. Er schaute direkt in die Kamera und hatte einen Arm lässig um ihre Taille gelegt – ein junger, sonnengebräunter Soldatentyp mit vom Wind zerzausten Locken, die ihm in die Stirn fielen, und einem breiten Grinsen.

Er sah umwerfend aus. Die Liebe des jungen Paares inmitten eines sonnenbeschienenen Weinbergs war vielleicht einer der reizvollsten Anblicke, die Ellie je gesehen hatte. Dieses Bild ließ das Herz jeder Romantikerin höherschlagen. Ellie war immer der Meinung gewesen, dass sie eine Romantikerin sei, doch in diesem Fall war es wohl nicht angebracht, in solchen Gefühlen zu schwelgen.

Denn die Frau auf dem Foto war zwar unübersehbar ihre Großmutter, der Mann neben ihr aber definitiv nicht ihr Großvater.

Ellie drehte das Foto um, fand allerdings keinen Hinweis auf den Ort oder den Namen des Mannes. Nur ein mit Bleistift geschriebenes Datum: 5. Juni 1944.

„Oma?“ Sie hielt ihr das Foto hin und tippte mit dem Nagel ihres Zeigefingers unter das Gesicht des jungen Mannes. „Wer ist das?“

„Ich musste ihn dortlassen. Bei Dornröschen.“

Stirnrunzelnd blätterte Ellie nochmals in dem Buch, um nachzusehen, ob es noch weitere Geheimnisse enthielt. Doch sie fand nichts außer einem mit Bleistift geschriebenen Wort: In ungleichmäßigen Buchstaben war Criquetauf die erste Seite gekritzelt. Ein Kind, das Schreiben übte? Das half ihr nicht weiter.

„Du meinst, du willst das Foto in dem Buch aufbewahren? Bei dem Märchen?“

„Nein. Im Schloss.“

Jetzt verstand die junge Frau gar nichts mehr. „In welchem Schloss?“

Ellie bereute es schon eine ganze Weile, dass sie ihre Großmutter nicht öfter nach deren Erlebnissen während des Krieges gefragt hatte. Einige Geschichten aus Oma Violas Vergangenheit kannte sie natürlich: Wie sie Ellies Großvater kennengelernt hatte, dass sie nach dem Krieg nach London zurückgekehrt war und eine der ersten Frauen gewesen war, die 1948 in Cambridge ihr Studium abgeschlossen hatten. Doch den Krieg selbst hatte Oma Viola in ihren Erzählungen praktisch ausgeklammert.

„Du meinst, du warst in einem Schloss? In einem echten Schloss irgendwo in Frankreich?“ Ellie wurde schmerzhaft bewusst, dass es Geschichten gab, die offenbar niemand außer ihrer Großmutter kannte. Vielleicht hatte nicht einmal ihr Großvater etwas davon geahnt. Oder ihre Eltern. Waren die Geschichten so gut verborgen gewesen wie dieses alte Foto? So lange vergessen, dass sie genau wie ein Schwarz-Weiß-Bild verblasst waren?

„Warum hast du nie ein Wort darüber verloren?“

Viola verzog die Lippen zu einem vielsagenden Lächeln. „Weil ich nicht bereit war, über ihn zu sprechen.“

Diese Erklärung war einleuchtend. Und der Anflug eines Lächelns erinnerte Ellie an Oma Viola, wie sie sie ihr Leben lang gekannt hatte. Dass die alte Dame jedoch genau in diesem Moment wieder sie selbst wurde, gab Ellie einen Stich.

„Wer ist dieser Mann? Gehört er zur Familie?“

„Zu keiner Familie, die du kennst.“

So viel zu dieser Möglichkeit! „Dann ein Freund? Vielleicht ein Bekannter von Großonkel Andrew? Oder jemand, den du im Krieg kennengelernt hast?“

„Er hat gesagt, dass ich ihn in der Kapelle finde, in der Kapelle von Dornröschen. Wenn ich die Brosche trage, wüsste er meine Antwort, sobald ich durch die Tür trete.“

„Die Brosche? Ich dachte, Opa hätte sie dir geschenkt“, protestierte Ellie verwirrt. „Man sieht sie deutlich auf deinen Hochzeitsbildern. Deshalb dachte ich, Opa …“

„Er wollte, dass ich sie habe.“ Die alte Dame brach ab. Einige Sekunden verstrichen, in denen nur das Ticken der Uhr an der Wand zu hören war. „Das war alles, was er mir geben konnte.“

Bestürzt nahm Ellie wahr, dass ihrer Großmutter Tränen in den Augen standen. Wie lange war es her, dass sie zum letzten Mal geweint hatte? Es musste sich um eine sehr bedeutsame Erinnerung handeln, wenn sie davon so überwältigt war.

Ellie glitt neben dem Sessel auf den Boden und berührte die zarte Hand ihrer Großmutter. Obwohl sie es kaum wagte, die Frage zu stellen, flüsterte sie schließlich: „Auf wen hast du gewartet? War es …?“ Sie schluckte schwer, bevor sie fortfuhr, denn sie war nicht sicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte. „War es dieser Mann?“

„Er hat gesagt, dass er zurückkommt.“ Mit feucht glänzenden Augen schaute Viola wieder zu den Bäumen hinaus. Dann schüttelte sie den Kopf und blickte auf ihre leeren Handflächen hinab. „Ich hätte dort bleiben sollen, so wie er es erbeten hatte. Aber ich hatte Angst. Und ich war so jung … Und dann konnte ich nicht. Es war zu spät.“

„Ich verstehe nicht, was du meinst. Was war zu spät? Was konntest du nicht?“

Mit einem Mal war Lady Viola Carver wieder sie selbst. Wenn auch nur für wenige Sekunden in einem kleinen Zimmer in einem Pflegeheim, doch sie lebte plötzlich wieder auf: mit einem Zwinkern in ihren Elizabeth-Taylor-Augen und dem vertrauten Lächeln, bei dem ein Grübchen auf ihre Wange trat. Begleitet von Tränen. Wachgerüttelt durch Verluste und Märchen, vergessene Fotos und alten Schmuck …

„Seine Frau werden, natürlich.“

Ein Schauer lief Ellie über den Rücken. „Seine Frau?“

„Ja, seine Frau.“ Viola fuhr mit dem Zeigefinger über den verblichenen Rand des Fotos. „Du musst für mich zum Dornröschen fahren. Finde ihn! Sag ihm, dass ich seinen Antrag annehme. Bevor es zu spät ist.“

DREI

22. April 1944Les Trois-MoutiersLoiretal

Viola Hart wagte es nicht nachzurechnen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Während anstrengende Tage und schlaflose Nächte fast nahtlos ineinander übergegangen waren, hatte ihr Magen es irgendwann einfach aufgegeben, sie mit Hungergefühlen zu quälen.

Eisenbahnschienen, neben denen sich Reste von verlassenen Waggons und Lokomotiven befanden – Überbleibsel der Massenflucht aus Paris 1940 –, schnitten sich durch die Landschaft. Auf ihrem Fußmarsch von La Roche-Guyon wanderte Viola immer an diesen Schienen entlang.

Natürlich blieb sie im Schatten der Bäume, um nicht entdeckt zu werden. Und sie hielt Augen und Ohren offen, damit ihr kein Geräusch entging. Sobald das rhythmische Stampfen marschierender Nazipatrouillen und das Quietschen von Panzerketten auch nur von Weitem zu hören waren, wechselte sie sofort die Richtung.

Vor einigen Tagen hatte sie in einem verlassenen Garten Pastinaken gefunden. Kurz darauf einige Pilze unter einem umgestürzten Baum im Wald. Ein paar Vogeleier in einem Nest in der Hecke eines verlassenen Bauernhofs.

Und dann war sie auf einen umgestürzten Waggon gestoßen, der einen Schatz enthalten hatte: zwei Sardinendosen, die unter dem Wrack neben den Schienen verloren gegangen waren. Das Blech hatte in der Sonne geglänzt und so das Versteck verraten. Viola hatte mit den Fingernägeln in der Erde gescharrt, um die Dosen auszubuddeln. Anschließend hatte sie sich neben den Waggon gesetzt und wie eine Königin gespeist.

Aber das war schon lange her – diese seltenen Essensgeschenke bildeten eine Ausnahme von der Regel. Dabei hatte Violas Kleidung schon viel zu lose an ihr gehangen, bevor sie aufgebrochen war.

Gerade eben hatte sie ein Märchenschloss gesehen: eine Steinruine, die von einer dichten Efeuschicht umhüllt war. Wie gern hätte sie sich dort versteckt, wäre in die abbröckelnden Geheimnisse eingetaucht und hätte die Welt für eine Weile vergessen. Vielleicht hätte sie in einem der hohen Gemächer geschlafen und sich die vornehmen Bälle ausgemalt, die diese Mauern vor Jahrhunderten mit Leben gefüllt hatten.

Aber das Schloss war von einem breiten Graben mit trübem Wasser umgeben. Und unter den blühenden Bäumen, die einen lebensfrohen Baldachin bildeten, befanden sich frische Reifenspuren.

Wenn sich in dem nahe gelegenen Weinbaustädtchen SS-Leute aufhielten, patrouillierten diese wahrscheinlich auch auf den ausgedehnten Ländereien mit den vielen Schlossruinen. Die Nazis waren überall auf der Suche nach Feinden des Dritten Reichs. Feinden wie ihr.

In der Nähe des Schlosses entdeckte Viola nun eine alte Kapelle. Der bescheidene Steinturm und das Kreuz, die sich wie eine Fata Morgana aus dem Morgendunst erhoben, luden sie ein, näher zu kommen. Das kleine Gebäude war so gut verborgen, dass Viola es beinahe übersehen hätte; die Chancen standen also gut, dass patrouillierende Augen es nicht wahrnahmen.

Da es bald hell werden würde, hielt die junge Frau diese Kapelle für einen guten Ort, um sich auszuruhen. Außerdem sah das Dach stabil genug aus, um ihr Schutz zu bieten, falls sich der Himmel für einen Frühlingsregen entscheiden sollte.

Vorsichtig spähte Viola ins Innere des Gebäudes. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass die Kapelle leer war, ging sie hinein und sah sich um. Und in einer Nische fand sie etwas, das ihre kühnsten Erwartungen überstieg: einige Kisten voller Birnen und einen Sack mit Walnüssen.

Sie überlegte nicht lange, wer das Essen hier versteckt haben konnte. In einer Welt, in der schon das nackte Überleben beinahe einen Luxus darstellte, hatte sie ihren Hunger lang genug unterdrückt. Jetzt ließ er sich nicht länger ignorieren.

Viola kauerte sich auf den Boden und biss in eine Birne. Der Saft lief ihr übers Kinn. Die Frucht schmeckte süßer als alles, woran sie sich erinnern konnte. Und das Fruchtfleisch war unglaublich zart. Wann hatte sie zuletzt etwas so sehr genossen?

Während sie die zweite Birne aß, schaute sie sich noch etwas genauer um. Falls es hier einmal Kirchenbänke gegeben hatte, waren sie längst verschwunden. Der Boden war kalt, aber der Altar lud sie trotzdem ein, sich anzulehnen, tief durchzuatmen und diese kurze Verschnaufpause zu genießen.

Viola war so dankbar, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie, sich zu beherrschen. „Du wirst nicht weinen.“ Ihre Worte, die von der Decke widerhallten, durchbrachen die Stille. „Du wirst nicht …“

Sie konnte nicht weinen, denn sie war mit knapper Not entkommen. Andere Menschen hatten ihr Leben riskiert, um ihr die Flucht zu ermöglichen. Und diesen Menschen war sie es schuldig, nicht aufzugeben. Sie musste am Leben bleiben, komme, was da wolle. Tränen würden ihr nicht weiterhelfen – sie musste stark sein.

Die Schönheit eines Buntglasfensters hinter dem Altar zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Viola fühlte sich irgendwie getröstet durch die Figur des Christus, der über dem Raum Wache hielt. Er war ein mächtiger König, gekleidet in Elfenbein, Himmelblau und Purpur – ein Bild des Friedens in ihrer vom Krieg zerrissenen Welt.

Sie biss wieder in eine Birne. Die herrliche Kombination aus honigsüßem und säuerlichem Geschmack holte sie in die Gegenwart zurück: Momente der Sehnsucht beim Anblick eines Buntglasfensters waren ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.

Irgendjemand hatte diese Lebensmittel in der Kapelle gelagert. Und der Besitzer der Kisten konnte jeden Augenblick zurückkommen, sie durfte sich jetzt keine Pause gönnen. Ihr blieb keine andere Wahl, als ihre Taschen zu füllen und sich wieder in den Wald hinauszuwagen, weiterzugehen und zu beten.

Gerade als sie seufzend einige Birnen und Walnüsse in ihre Leinentasche stopfte, hörte sie die Tür knarren.

Viola erstarrte.

Die schwere Kapellentür bewegte sich unter dem quietschenden Protest der alten Eisenangeln. Wenige Sekunden später hallten Schritte in der Kapelle wider. Die Sohlen von Schuhen oder – Gott stehe ihr bei!– von Militärstiefeln knirschten auf den getrockneten Blättern, die sich haufenweise auf dem Steinboden angesammelt hatten.

Jeder Schritt beschleunigte das panische Rasen ihres Herzens. Soweit sie wusste, gab es nur einen einzigen Eingang: die Tür auf der Ostseite der Kapelle. Sie hatte sie offen gelassen, um wieder hinaushuschen zu können, ohne gehört oder gar gesehen zu werden.

Geräuschlos erhob sie sich auf die Knie und überzeugte sich davon, dass die Tür jetzt angelehnt war. Es war also tatsächlich jemand in die Kapelle gekommen. Und diese Person war immer noch da.

Viola sank wieder zurück, während ihre Gedanken sich förmlich überschlugen. Vielleicht konnte sie den Neuankömmling überraschen? Einfach aufspringen und loslaufen? Zur Tür hinausstürmen, um in den Wald zu fliehen?

Nein! Die SS-Männer in La Roche-Guyon waren schwer bewaffnet. Und sie haben sich nicht gescheut, diese Waffen auch zu benutzen.

Sie bekäme sicher eine Kugel in den Rücken, noch bevor sie fünf Schritte aus der Tür wäre.

Denk nach, Viola! Denk nach!

Das alte Messer, das sie unterwegs gefunden hatte, lag ganz unten in ihrer Tasche. Es würde zu viel Lärm verursachen, es jetzt herauszuholen. Und was konnte sie mit einem verbogenen, rostigen Messer schon gegen das Maschinengewehr eines Soldaten ausrichten?

Aber sie musste kämpfen!

Verzweifelt fuhr Viola mit den Fingernägeln über die Ritzen zwischen den Steinen unten am Altar. Der Mörtel gab nach, doch sie hatte keine Zeit, einen Stein herauszulösen. Ihre letzte Möglichkeit waren die Obstkisten. Sie würden sich als kümmerliche Waffe erweisen, aber was blieb ihr anderes übrig?

An der Kiste, die ihr am nächsten stand, war ein Brett locker. Viola stellte fest, dass es widerstandslos und geräuschlos nachgab. Zwei rostige Nägel ragten an einem Ende heraus. Falls sie sich damit gegen einen Angreifer verteidigen musste, würden die Nägel zumindest etwas ausrichten können.

Sie umklammerte das Brett – fest entschlossen, sich dem Eindringling nach Kräften zu widersetzen, selbst wenn sie dabei zu Boden gehen würde.

Die Schritte kamen näher.

Gott, hilf mir!

Für den Bruchteil einer Sekunde kniff Viola die Augen zusammen und lauschte noch angestrengter. Gleichzeitig versuchte sie, ihren Atem zu beruhigen. Sie wünschte, sie hätte die von Bäumen gesäumte Straße und die versteckte Kapelle nie entdeckt. Wenn sie nur an der Schlossruine vorbeigegangen wäre, statt sich von ihr anlocken zu lassen!

Halte das Brett fest!

Als sie sicher war, dass der Eindringling nur noch einen Schritt entfernt war, schoss Viola in die Höhe. Sie hob das Brett und holte zum Schlag aus.

„Arrêtez – stopp!“, rief der Mann und ließ sofort das Gewehr sinken.

Galt diese Aufforderung ihr oder ihm selbst?

Er hielt eine Hand vor sich und wiederholte: „Arrêtez!“ Dieses Mal atmete er tief aus, was darauf schließen ließ, dass er genauso angespannt war wie sie. Rasch blickte er sich in der Kapelle um, bevor er sich der jungen Frau wieder zuwandte und sie prüfend betrachtete. „Êtes-vous seule?“

„Yes. I’m alone.“ Warum sie auf seine französische Frage, ob sie allein sei, ohne nachzudenken auf Englisch geantwortet hatte, konnte sich Viola nicht erklären. Vielleicht lag es an ihrer Erschöpfung und ihrem halb verhungerten Zustand, dass diese Worte automatisch aus ihrem Mund gekommen waren. Doch das war ein Fehler, und Fehler konnten den Tod bedeuten.

Sie durfte keine weiteren Fehler mehr begehen!

„Bien.“ Er seufzte schwer. „Sie sind Engländerin.“

Obwohl ihm ihre Anwesenheit in der Kapelle offenbar nicht gefiel, schien dieser Mann zu Violas Erleichterung keine echte Bedrohung darzustellen. Seine Verärgerung war ihr lieber als tödliche Absichten.

Er richtete sein Gewehr auf den Boden und stützte sich wie auf einen Stock darauf. „Sie sollten lieber français sprechen. Und nehmen Sie dieses Brett da weg. Ich würde gern darauf verzichten, ein Stück Holz ins Gesicht zu bekommen. Das wäre ein schlechter Tagesanfang.“

Vermutlich konnte sie es tatsächlich wagen, sich ein wenig zu entspannen. Viola ließ das Brett sinken, hielt es jedoch immer noch fest umklammert. Für alle Fälle.

Er fuhr mit einer Hand durch die dunklen, gewellten Haare, die ihm in die Stirn hingen. „Warum, um Himmels willen, haben Sie nicht Französisch gesprochen?“ Nach einer kurzen Pause fügte er eindringlich hinzu: „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie gefährlich es ist, hier Englisch zu sprechen?“

„Ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich das getan habe. Ich habe eine ganze Weile mit niemandem mehr gesprochen.“

„Wie lang ist eine ganze Weile?“

„Lang genug, um zu wissen, dass das ein großer Fehler war.“

Er seufzte wieder. „Also, Engländerin, würden Sie mir bitte sagen, was Sie hier machen? Abgesehen davon, dass Sie das Essen plündern, das wir über den Winter eingelagert hatten?“

Viola überlegte blitzschnell. Sie brauchte eine Erklärung, die so nahe an der Wahrheit war, dass sie glaubwürdig klang, aber gleichzeitig so weit davon entfernt war, dass er nicht weiterfragen würde.

„Nun?“

Viola zwang sich, so unschuldig auszusehen wie eine Milchmagd. „Ich bin unterwegs zum Bauernhof meiner Familie in Vercors.“

Er schaute sie kritisch an. „Vercors? Dann sind Sie aber ziemlich weit von Ihrer Heimat entfernt. Warum haben Sie sich hierher ins Weingebiet verirrt?“

„Ich war hier in der Nähe zu Besuch, um meinem Onkel zu helfen. Aber es gab … Komplikationen. Deshalb befinde ich mich jetzt auf dem Weg zurück, um wieder zu meiner Familie zu kommen.“

Anstatt etwas zu sagen, schaute er sich in der Kapelle nach einem Onkel um, von dem sie beide wussten, dass es ihn nicht gab. „Und Ihre Reisedokumente?“

Viola verschluckte sich fast. „Warum interessieren Sie meine Papiere?“

Es war keine Zeit gewesen, um einen Ausweis für sie zu fälschen. Doch ohne gültige Papiere würde der bloße Verdacht eines einheimischen Dorfbewohners genügen, um sie der nächsten grauen Uniform auszuliefern. Sie würde innerhalb weniger Stunden vor einem Exekutionskommando der Nazis stehen.

„Ihr Schweigen ist eine deutliche Antwort.“ Er verlagerte sein Gewicht und stützte sich erneut auf das Gewehr. „Sie tanzen also durch von Nazis besetztes Gebiet, stammeln schwache Erklärungen auf Englisch und haben keine Papiere. Ach ja, und Sie bestehlen uns, indem Sie sich an unserem knappen Lebensmittelvorrat bedienen. Habe ich es mehr oder weniger richtig zusammengefasst?“

Viola richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Falls er vorhatte, sie vor die Gewehre des Exekutionskommandos zu schleppen, würde sie all ihren Mut zusammenraffen. „Ich habe nichts gestohlen.“

„Menteuse“, bezeichnete er sie lächelnd als Lügnerin und zog ein Taschentuch aus seiner Tasche. Mit einer vielsagenden Geste tippte er an sein Kinn, bevor er ihr das Tuch zuwarf. „Die halb gegessene Birne, die dort auf dem Boden liegt, sowie ihr Gesicht erzählen aber etwas anderes.“

Oh nein! Der Birnensaft musste Spuren an ihrem Kinn hinterlassen haben.

Viola schloss die Augen und wünschte, ihr wäre in diesem Moment nicht bewusst geworden, dass sie noch einen Funken Eitelkeit besaß. Für den Fall, dass unter den SS-Leuten ein Foto von einer Frau mit langen schwarzen Haaren kursierte, hatte sie vor einigen Tagen ihr Haar auf Schulterlänge gekürzt. Die ungleichmäßig abgeschnittenen Enden waren bestimmt nicht sehr ansehnlich.

Doch der Krieg veränderte alles: Eitelkeit jeder Art hatte in dieser unsicheren Welt keinen Platz. Und dieser Fremde müsste eigentlich klug genug sein, sie nicht für eine Notlüge zu tadeln, die sie vorgebracht hatte, um inmitten dieses Chaos zu überleben.

Viola wischte sich das Gesicht ab und beschmutzte dabei das weiße Taschentuch.

Ihr Gegenüber musterte sie mit einem kühlen Blick. „Sind Sie gesund? Brauchen Sie einen Arzt?“

Das war eine sonderbare Frage, vor allem, wenn er gerade überlegte, ob er sie den Nazis ausliefern sollte. Sie hatte damit gerechnet, dass sie viel eher einen Bestatter als einen Arzt brauchen würde.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Vielleicht brauchen Sie jetzt noch keinen, aber wenn Sie nicht besser aufpassen, kann das noch kommen. Wissen Sie nicht, dass jeder, der unbefugt dieses Gelände betritt, sofort erschossen wird? An der Straße stehen Schilder. Und auch in der Stadt. Niemand darf sich dem Schloss nähern. Punkt.“

„Ich kann lesen.“ Viola wollte ihm nicht verraten, dass sie sechs Sprachen beherrschte. Einschließlich Französisch und Deutsch. „Aber ich bin weder auf der Straße noch durch die Stadt gekommen. Falls es also Schilder gibt, habe ich sie nicht gesehen.“

„Wie sind Sie dann …?“

„Mit der Eisenbahn.“

Das war keine direkte Lüge, denn immerhin war sie die ganze Zeit den Schienen gefolgt. Trotzdem verriet ihr seine gerunzelte Stirn, dass er sich nicht so leicht etwas vormachen ließ.

„Engländerin, ich finde Ihre Geschichte nach wie vor sehr interessant.“ Er hob sein Gewehr und deutete in die Richtung der Straße, die zum Schloss führte. „Die Eisenbahn befördert schon seit Jahren keine zivilen Fahrgäste mehr. Auch keine ausländischen ohne Papiere. Und da die Nazis weit und breit jede Straße unter Kontrolle haben, können Sie weder mit dem Auto noch mit der Bahn gekommen sein. Versuchen Sie es also noch einmal.“

Mist! Er war klüger, als er sich hatte anmerken lassen.

„Ich bin den Schienen zu Fuß gefolgt, im Schutz der Bäume.“

„Und warum, wenn ich fragen darf?“