Das Lied des Schmetterlings - Kristy Cambron - E-Book
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Das Lied des Schmetterlings E-Book

Kristy Cambron

5,0

Beschreibung

Wien, 1942: Als talentierte Violinistin und Tochter eines einflussreichen NSDAP-Anhängers führt Adele von Bron ein angenehmes Leben. Doch ihre heile Welt gerät ins Wanken, als sie beschließt, jüdischen Familien zur Flucht aus Wien zu verhelfen – und sie dadurch selbst nach Auschwitz gebracht wird … New York, Gegenwart: Die Galeristin Sera James begibt sich auf die Spuren eines Gemäldes, das sie seit ihrer Kindheit beschäftigt. Tatsächlich gelingt es ihr, die Geschichte des darauf abgebildeten Mädchens ans Licht zu bringen – eine Geschichte, die aufzeigt, dass selbst an den dunkelsten Orten Hoffnung zu finden ist.

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Über die Autorin

Kristy Cambron liebt Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Die studierte Kunsthistorikerin wurde bereits mehrfach für ihre Romane ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie im US-Bundesstaat Indiana. Ebenfalls auf Deutsch von ihr erschienen: Wo die Hoffnung blüht und Das Lied der Grünen Insel.

Für meinen Vater. Und für Jeremy, den Jahwe aufgerichtet hat.

Ob dein Weg nach rechts oder links führt, eine Stimme wird hinter dir herrufen und dir ansagen: „Das ist der richtige Weg, den geh!“

Jesaja 30,21

EINS

GEGENWART NEW YORK

„Wo ist es? Ich muss es sofort sehen!“

Sera James stürmte durch die Eingangstür der Galerie in Manhattan. Sie hatte es so eilig, dass sie mit ihren hohen Absätzen auf dem glatten Parkettboden fast ausgerutscht wäre. Vor der großen Leinwand, die an der hinteren Wand des Ausstellungsraumes hing, blieb sie atemlos und sichtlich erregt stehen. „Ist sie es wirklich?“

„Bist du den ganzen Weg hierher gerannt, Sera?“

„Ja. Wärst du das etwa nicht?“, gab sie ungeniert zurück. Nachdem sie den Anruf erhalten hatte, hatte sie sich an der nächsten Haltestelle aus der U-Bahn gedrängelt und war die acht Straßenzüge zurück zur Galerie gerannt, die ganze Zeit bemüht, Taxis und Schlaglöchern im Gehweg auszuweichen.

Penny nickte. „Die Jungs hinten haben die Kiste eben erst geöffnet. Unglaublich, dass sie seit einer Woche im Lager steht und wir es nicht bemerkt haben.“

Sera schüttelte ungläubig den Kopf. „Unfassbar!“ Sie zog sich den Chiffonschal vom Hals, ließ den Trenchcoat über ihre Schultern gleiten und trat dann kurz zur Seite, um beides auf den antiken Holztresen zu legen, der sich durch den ganzen hinteren Teil des Raumes erstreckte. Sie schlang ihr langes tiefschwarzes Haar zu einem lockeren Knoten zusammen, den sie mit einem Bleistift, der auf dem Tresen lag, feststeckte.

Erst als sie sich wieder zu ihrer Assistentin umdrehte, die ihr im Laufe der Zeit zu einer guten Freundin geworden war, bemerkte sie, dass sich die junge Frau keinen Zentimeter bewegt hatte. Penny stand da wie eine Statue. Das Einzige, was sich an ihr bewegte, war der Zeigefinger, mit dem sie eine rotblonde Haarsträhne in ihrem Nacken zwirbelte.

Sera lachte. „Du tust es schon wieder!“ Wenn Penny anfing, mit ihren Haaren zu spielen, musste irgendetwas ihre Aufmerksamkeit völlig gefesselt haben. Aber Sera konnte es ihr nicht verdenken. Dies war schließlich ein besonderer Moment. Wenn das Gemälde wirklich das war, wofür sie beide es hielten, war es gerechtfertigt, in Ehrfurcht zu erstarren. Die ganze Stadt hätte vor den Fenstern vorbeifliegen können, und keine von ihnen beiden hätte es bemerkt – oder sich dafür interessiert.

„Es ist nur schade, dass es nicht das Original ist.“ Penny reichte Sera einen Umschlag, ohne den Blick von der Leinwand abzuwenden. „Aber es ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, und das ist alles, was zählt.“

„Hast du die Holzlattung an den Rändern untersucht?“

„Meine Hände haben zwar gezittert“, gab Penny zu und legte den Kopf schief, „aber, ja, ich habe sie mir genau angesehen.“

Das Gemälde vor ihnen war dem gesuchten geradezu unheimlich ähnlich. Die einzige Möglichkeit, das Original von einer Kopie zu unterscheiden, war die Überprüfung des hölzernen Bildträgers, über den der Stoff gespannt war. Und da der nicht übereinstimmte, konnte es nicht das gesuchte Bild sein.

Sera wurde für einen Moment schwer ums Herz, aber dann machte sie sich bewusst, dass es zwar nicht das Porträt war, aber immerhin ein Porträt von ihr. Das Material spielte keine große Rolle angesichts dieser tiefblauen Augen, die den Betrachter des Gemäldes so eindringlich anschauten und verfolgten.

Wie lange hatte Sera auf diesen Moment gewartet! Sie schluckte schwer. „Auch wenn es eine Kopie ist, möchte ich unbedingt wissen, wie du es gefunden hast!“

„Ein Nachlassverkauf“, antwortete Penny, und ihre Stimme klang fast verträumt. „In der Nähe von San Francisco.“

„Wissen wir etwas über den Auftraggeber?“

Penny nickte erneut und zog dabei auf eigenwillige Weise die Augenbrauen hoch. „Das ist ja das Seltsame – es ist irgendein Geschäftsmann in der Immobilienbranche. Er heißt William Hanover. Ich habe in seinem Büro angerufen und nachgefragt, und er hat sofort zurückgerufen. Er sagte, er würde den Nachlass seines verstorbenen Großvaters auflösen. Der Name sagt mir überhaupt nichts, und ich bin genau wie du seit mehr als zwei Jahren hinter diesem Gemälde her! In der Kunstszene ist er vollkommen unbekannt.“

Auch Sera sagte der Name nichts. Wer war dieser William Hanover? Und wie war es ihm gelungen, dieses Gemälde in die Hände zu bekommen, das eine exakte Kopie des Bildes war, nach dem sie suchte?

„Hast du ihm ein Angebot gemacht?“

„Mhm …“ Penny nickte. „Ich dachte, du würdest es haben wollen, also habe ich großzügig geboten.“

Das klang nicht gerade verheißungsvoll. Sera schüttelte den Kopf. „Warum hörst du dich dann so an, als hättest du schlechte Nachrichten für mich?“

„Weil er gesagt hat, dass er es nicht verkaufen wird. Geld ist anscheinend nicht das Thema.“

„Aber du hast doch gesagt, es sei ein Nachlassverkauf …“

„Richtig“, erwiderte Penny. „Aber es war purer Zufall, dass ich das Gemälde auf einer Internet-Auktionsseite gefunden habe. Es war nicht das eigentlich angebotene Objekt, sondern nur im Hintergrund zu sehen. Ich habe Fotos von Nachlassverkäufen vom letzten Herbst durchgesehen, Schmuck und so. Du weißt schon, das Übliche. Ich hatte schon eine ganze Reihe von Objekten durchgesehen, als ich auf ein Foto mit diesem Gemälde stieß – das Bild war kaum zu erkennen, denn es hing an der Wand hinter der Vase, die als Verkaufsobjekt ausgezeichnet war. Aber es gibt keinen Zweifel – sie ist es!“ Während Penny das Gemälde immer noch betrachtete, hob sie das Kinn, als sei sie vom Anblick der erhabenen Schönheit verzaubert. „Es waren ihre Augen, Sera! Ihr Blick drang quasi durch den Monitor und zog mich hinein – falls so etwas möglich ist.“

„Es ist möglich.“ Sera war es genauso ergangen, als sie das Bild zum ersten Mal gesehen hatte. Nur war ihre Erinnerung lückenhaft, weil sie damals noch ein junges Mädchen gewesen war. Jetzt, da sie daran zurückdachte, erschien ihr der Moment noch unrealistischer.

„Ich habe vor Schreck meinen Kaffee verschüttet, als ich es auf dem Bildschirm sah.“ Penny lächelte – es war dieses jugendliche Grübchenlächeln, das so typisch für ihre Assistentin war. „Weißt du noch, dass du mir diesen beigen Pulli ausgeliehen hast? Ich hoffe, du brauchst ihn nicht so schnell zurück …“

„Nein“, antwortete Sera ehrlich und trat gedankenverloren einen Schritt näher an das Bild heran. „Vergiss ihn. Das hier ist viel besser.“

„Ja, nicht wahr?“ Einen Moment lang standen sie schweigend da, wie gebannt von der Schönheit des Porträts. Penny schüttelte den Kopf und flüsterte leise: „Nach all dieser Zeit. Endlich ist sie hier.“

Es hatte viel zu lange gedauert, das stand fest.

Sera war acht Jahre alt gewesen, als sie das Kunstwerk zum ersten Mal gesehen hatte. Seitdem hatte die Schönheit des Bildes sie verfolgt. Eine schlichte Dreiviertelsilhouette einer jungen Frau von vielleicht zwanzig Jahren mit makellos changierender Haut und durchdringenden tiefblauen Augen. Die sanfte Linie des Mundes, die Traurigkeit in den Zügen … und dann der kahl geschorene Kopf, der eisige Kälte verströmte – eine junge Schönheit, der man ihre Krone und Pracht geraubt hatte. Und schließlich die tätowierte Zahl auf dem linken Unterarm, auf dem eine Geige ruhte.

„Also, damit ich das richtig verstehe …“ Sera in ihrem schwarzen Bleistiftrock und der klassischen weißen Bluse straffte die Schultern, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit dem Fuß auf den Boden, während sie versuchte, die Dinge in ihrem Kopf zu ordnen. „Wir haben durch Zufall ein Gemälde gefunden, aber es ist nicht das Original. Und obwohl es zufällig ein Bild unseres verschollen geglaubten Mädchens ist, steht es nicht zum Verkauf. Der Besitzer will es nicht für Geld hergeben.“

„Das fasst die Situation treffend zusammen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es nicht so ist.“

Sera trat einen Schritt zurück und fragte sich, wie das Gemälde unter diesen Umständen in ihrer Galerie sein konnte. „Also … wie ist es dann hierhergekommen?“

„Es wurde uns als Leihgabe zur Verfügung gestellt.“

„Warum leihweise?“ Sera beugte sich vor und bewunderte die exquisiten Pinselstriche.

„Das ist es ja gerade –“ Penny brach ab, als ob ihr die Stimme versagen würde.

Hellhörig geworden, drehte sich Sera zu Penny um und sah sie direkt an. Ihre Assistentin kaute an ihrem Daumennagel und kniff die Augen zusammen, als starre sie in die Sonne. Sera richtete sich auf, während ihre Hände den Weg zu ihren Hüften fanden. Fast hätte sie über das seltsame Verhalten gelacht. „Penny – was in aller Welt ist los mit dir? Gibt es etwas, was du mir verheimlichst?“

„Er will persönlich mit dir darüber sprechen.“ Penny sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. „Über seine Bedingungen.“

Jetzt musste Sera wirklich lachen. Der Mann stellte Bedingungen? „Seine Bedingungen wofür?“

„Dass er dich anstellt“, sagte Penny und brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Oder besser gesagt, uns. Er ist bereit, eine fast unanständige Summe für die Dienste der Galerie zu zahlen, die genau dasselbe sucht wie er – das Originalgemälde von unserem Mädchen.“

„Hast du ihm erklärt, warum wir das Bild suchen?“

„Ja, natürlich. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt: dass wir daran interessiert sind, Kunst aus der Zeit des Holocausts für die Galerie zu erwerben. Aber ich musste es ein wenig abmildern. Schließlich schien mir etwas, was so klingt wie ‚Sera träumt davon, dieses Gemälde zu finden, seit sie ein Mädchen war‘ nicht angemessen gegenüber einem völlig Fremden, mit dem wir vielleicht verhandeln müssen. Ich meine, wenn er eine Kopie des Bildes besitzt, dann ist er vielleicht unsere Eintrittskarte, um das Original zu finden.“ Penny zog ein Papier aus ihrem Klemmbrett und hielt es ihr hin. „Jedenfalls hat es gereicht, um dir eine Einladung und ein Flugticket nach Kalifornien einzuhandeln. Dein Flug geht gleich morgen früh – auf seine Kosten.“

Sera zögerte und dachte darüber nach, dass der Mann ja sicher seine eigenen Pläne und Absichten verfolgte. „Okay, wir wissen beide, warum ich nach dem Bild suche. Aber warum will dieser William Hanover es haben? Hat er das gesagt?“

Penny schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung. Aber ich denke, dieses Flugticket wird uns helfen, das herauszufinden.“

Als Sera nach dem Ticket griff, zitterten ihre Finger.

Zwei Jahre.

Zwei Jahre war es her, dass ihre Welt aus den Fugen geraten war und sie sich in die Arbeit gestürzt hatte, nur um festzustellen, dass die Faszination durch das Geheimnis des Gemäldes sie nicht losließ. Sie hatte zwar bereits als Kind von dem Bild gewusst. Aber erst als ihr nichts anderes mehr blieb, was ihrem Leben Halt gab, hatte sie den Entschluss gefasst, sein Geheimnis zu ergründen.

Wenn die Suche nach dem letzten Teil des Puzzles bedeutete, dass sie mit diesem William Hanover zusammenarbeiten musste, dann war sie dazu bereit.

Danke, Herr.Wir sind so nah dran, sie zu finden. Nach diesem unausgesprochenen Gebet war Sera irgendwie leichter ums Herz.

„Penny“, Sera lächelte, „wir bringen sie endlich nach Hause!“

ZWEI

3. DEZEMBER 1942 WIEN

„Sie steht unter Schock.“

Der Arzt hatte den Kopf hinaus in die Kälte gestreckt, einen Blick in beide Richtungen der verschneiten Straße geworfen und Adele ins Haus gezogen. Dann hatte sie gehört, wie die Tür hinter ihnen mit Riegeln verschlossen wurde. Anschließend war sie ins Wohnzimmer geführt worden. Ein verblichenes Brokatsofa stand an der hinteren Wand und gegenüber zwei pflaumenfarbene Sessel mit durchgesessenen Polstern, polierten Holzlehnen und Krallenfüßen. Im Kamin knisterte ein Feuer.

„Komm, bring sie hierher ins Warme!“

Er sprach mit jemandem – Adele wusste nicht, mit wem. Sie wusste nur, dass sie vorerst in Sicherheit war. Niemand war ihr gefolgt. Sie hatte sich alle paar Schritte umgesehen und vorsichtshalber einige Umwege durch die schneebedeckten Straßen gemacht, bevor sie beim Haus des Arztes angekommen war.

„Was fehlt ihr?“ Eine brüchige Frauenstimme. Adele konnte ihr die Angst nicht verübeln. Auch sie hatte Angst. Jeder in Wien hatte Angst. „Sieh nur, sie zittert.“

Adeles Hände zitterten tatsächlich.

Das Zittern zog sich von den Fingerspitzen bis zu den Ellbogen, als würden ihr Stromstöße durch die Unterarme gejagt. Ob es an der Kälte lag oder am Entsetzen über die Ereignisse, die sie gerade miterlebt hatte, konnte sie nicht sagen. Sie hatte noch nie einen Schock erlitten. Sie hatte noch nie gesehen, wie jemand getötet wurde. Nicht bis heute Abend.

„Es tut weh“, brachte sie flüsternd heraus, als sie den Schmerz spürte. Er war unterdrückt gewesen, aber jetzt, da sie in Sicherheit war, wachten ihre Sinne langsam wieder auf. Ein fast unerträgliches scharfes Stechen brannte wie die Glut eines Feuers unter ihrer Haut.

„Ja, ich weiß.“

„Es tut mir leid, Herr Doktor. Ich konnte nirgendwo anders hin.“ Er musste wissen, dass etwas Schreckliches passiert war, sonst hätte sie nicht mitten in der Nacht mit ihrer blutigen Faust gegen seine Tür gehämmert. Ärzte wurden zu jeder Tages- und Nachtstunde geweckt, das wusste sie. Aber es war unwahrscheinlich, dass er schon einmal auf diese Weise geweckt worden war.

„Schsch … Setz dich hierher, Kind“, sagte der Arzt und zog einen Stuhl ans Feuer. „Hier wird dir schnell warm werden.“ Er half ihr, sich auf den Stuhl zu setzen, und wandte sich dann mit einigen Anweisungen an zwei Frauen, die hinter ihm aufgetaucht waren. Adele konnte sie im schummrigen Licht des Raumes gerade so erkennen: ein junges Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren und eine ältere Frau mit einem strengen Gesichtsausdruck und einer von Falten durchfurchten Stirn.

„Sorgt bitte dafür, dass die Vorhänge geschlossen sind. Und bringt ihr ein Glas Wein“, sagte der Arzt, dessen tiefe Stimme unter einem wuchtigen grauen Schnurrbart hervordrang. „Dann bringt mir eine Schüssel mit heißem Wasser, Verbände und ein paar Decken. Wir müssen sie aufwärmen.“

„Aber der Wein ist fast alle“, flüsterte die Jüngere.

„Dann sollten wir noch genug haben für eine junge Frau, die ihn braucht.“

Adele hörte, wie sie miteinander flüsterten. Wein war schwer zu bekommen. Man musste ihnen eingeschärft haben, sehr sparsam damit umzugehen. Wer wusste schon, ob der Krieg je zu Ende gehen würde und ob es jemals wieder möglich wäre, etwas zu kaufen?

„Ich kann mir keinen besseren Grund vorstellen, ihn aufzubrauchen, als für das Fräulein Adele“, sagte der Arzt. „Bitte, Töchterchen, geh und hol den Wein.“ Er tätschelte dem Mädchen die Wange und widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder der älteren Frau, die händeringend und ruhelos im Zimmer auf und ab ging. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick auf Adele, schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin. Schließlich blieb sie stehen, öffnete die schweren Wollvorhänge einen winzigen Spaltbreit und spähte aus dem Fenster in die Dunkelheit.

„Dieter, was ist mit ihr passiert?“, fragte die Frau und kam näher; ihr starker österreichischer Akzent war deutlich zu hören, obwohl sie flüsterte.

„Ich weiß es nicht. Du hast doch das Klopfen an der Tür genauso gehört wie ich. Als ich öffnete, fand ich das Fräulein Adele zitternd auf unserer Treppe.“

„War sie allein?“

Er antwortete nicht. Stattdessen schenkte er Adele ein respektvolles Lächeln, bevor er sich wieder der nervösen Frau zuwandte. Er flüsterte ihr einige für Adele unverständliche Worte zu, während die Frau sie weiter anstarrte.

Adele hatte sie schon einmal getroffen. Es war Elisabeth, die Frau des Doktors. Es war schon einige Jahre her, dass sie sich begegnet waren, aber Elisabeths Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Die Ringe unter den Augen passten zu der grauen Farbe ihres Haars, das sie mit einem verblichenen Paisley-Tuch zusammengebunden hatte. Sie sah vernachlässigt aus und wirkte bitter – wie die meisten, die in Wien geblieben waren, denn die Jahre des Krieges hatten ihren Tribut von ihnen allen gefordert. Aber es war ihre arrogante Missbilligung, die Adele am deutlichsten in Erinnerung geblieben war. Die zusammengekniffenen Lippen und der strenge Gesichtsausdruck waren damals genauso wenig einladend gewesen wie heute.

„Du weißt genau, wer sie ist!“, stieß Elisabeth anklagend hervor. „Ganz Wien weiß, dass sie der Liebling des Orchesters ist. Wie kannst du nur daran denken, sie hier zu verstecken? Man wird sie sofort erkennen! Und man wird sich fragen, warum sich eine junge Frau wie sie in unserem Haus aufhält – noch dazu in diesem Zustand.“

Der Arzt schüttelte den Kopf.

„Dieter, ich –“

Schließlich unterbrach der Arzt den Redeschwall seiner Frau mit einem leisen, aber entschiedenen Tadel. „Ich kann sie nicht wegschicken, Elisabeth! Das ist das Fräulein Adele. Selbst eine Fremde würde ich nicht aus diesem Haus weisen, geschweige denn die Tochter von Friedrich von Bron. Ich verdanke diesem Mann mein Leben! Hast du das vergessen? Er hat mich damals im Großen Krieg gerettet. Sie ist seine Tochter, und damit gehört sie so gut wie zur Familie. Wenn sie unsere Hilfe braucht, dann wird sie sie auch erhalten.“

„Aber sie werden kommen und auch uns mitnehmen! Deiner eigenen Tochter könnte die Deportation drohen. Verstehst du nicht, was das bedeutet?“ Die Frau rang die Hände, während ihr Blick vom Gesicht ihres Mannes zu Adele schoss. „Sie muss gehen. Gib ihr Wein und Brot, und dann schick sie fort.“

„Niemand wird deportiert. Bitte geh jetzt und tu, was ich gesagt habe.“ Der Arzt widmete seine Aufmerksamkeit Adeles Händen. Die schweren Schritte seiner Frau polterten über den harten Holzboden, als sie den Raum verließ.

„Adele, du bist verletzt.“ Er zog sich einen Holzschemel heran und begann, an ihrem Wollmantel und Schal zu zupfen, aus denen vereinzelte Blutstropfen quollen und auf den Boden hinunterfielen. „Ziehen wir dir mal den Mantel aus, damit ich mir das ansehen kann, ja?“

Elisabeth kam zurück und brachte Verbandszeug. Aber die Frau ging nicht wieder, sondern lauerte reglos im Schatten wie ein Geist, der die Tür bewacht.

„Gut“, sagte der Arzt, lächelte und nickte, als Adeles Mantel zu Boden glitt. „Kein Blut auf dem Pullover – nichts an den Armen und dem Oberkörper.“ Er tastete ihre Arme von oben bis unten ab. „Keine Knochenbrüche. Auch sonst bist du nirgends verletzt. Das ist gut.“

„Meine Hände …“ Das war alles, was Adele über die Lippen brachte. Sie streckte die Hände aus, um ihm die Schnittwunden zu zeigen, die immer noch bluteten. Rote Tropfen fielen auf das helle Kleid, das sie trug.

„Ja, ich sehe schon, das muss sehr wehtun“, antwortete er und ergriff ihre Hände, um die Wunden abzutupfen. „Lass mich das einmal genauer anschauen.“

„Der Wein, Vater.“ Seine Tochter tippte ihm auf die Schulter, dann reichte sie ihm einen angeschlagenen Becher, der kaum halb voll war, und stellte ihm eine schwarze Arzttasche vor die Füße.

„Hier, trink das.“ Der Arzt führte den Becher an Adeles Lippen, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, zu trinken. Sie hatte die Befürchtung, dass alles, was sie schluckte, sofort wieder hochkommen würde.

„Ich kann nicht!“ Adele stieß das Gefäß zurück. „Bitte.“

Der Arzt warf einen Blick über die Schulter. Seine Tochter und seine Frau hatten sich in den Türrahmen zurückgezogen und sahen ihn und Adele an wie zwei lauernde Raubvögel. „Die Schüssel? Ich brauche Wasser“, sagte er mit einer Spur Resignation in der Stimme. „Sonst kann ich ihre Wunden nicht reinigen. Und dann Decken und Brot, Astrid. Sie muss essen, und sie braucht Wärme. Wir müssen etwas gegen die Unterkühlung tun, sonst überlebt sie die Nacht nicht.“

Wieder sah Elisabeth so aus, als wolle sie etwas einwenden, aber er sprach weiter, bevor sie auch nur ein Wort über die Lippen brachte. „Und blast die Kerzen am Eingang aus, bevor ihr das Blut von der Tür wascht.“ Er zog einen kleinen Tisch näher zu sich heran und stellte den Becher mit Wein darauf ab. „Geht jetzt, bitte. Alle beide!“

Seufzend legte Elisabeth einen Arm um ihre Tochter und führte sie aus dem Wohnraum. Ihr verärgertes Schnaufen hallte durch den ganzen Korridor.

Adeles Blick folgte den Frauen. Dann wandte sie sich wieder an den Arzt. „Habe ich Ihnen Schwierigkeiten gemacht, weil ich hergekommen bin?“

„Aber nein, Kind, nein“, antwortete er und schüttelte den Kopf. „Und jetzt lass mich mal nach deinen Händen sehen. Was ist denn passiert?“ Erneut tupfte er behutsam das Blut von ihren Händen.

Nach allem, was geschehen war, brauchte Adele jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Ihr Leben hing jetzt davon ab. „Sie … haben … sie …erschossen …“, sagte sie mit einer Pause nach jedem Wort, während sie darum kämpfte, ihre zitternden Lippen unter Kontrolle zu bekommen.

„Erschossen? Wer ist erschossen worden?“

Adele schüttelte den Kopf. Sie war so arglos gewesen. Eine Närrin. Hatte sie etwa geglaubt, dass die Männer ihre Waffen nicht benutzen würden?

„Die Familie Auerbach.“ Adele stammelte die Worte und erschauderte, als sie hinzufügte: „Meine Freundin Elsa. Ihr Mann spielte manchmal im Orchester mit, und jetzt … sind sie alle tot! Sogar der kleine Eitan …“

Der Arzt senkte das Kinn und sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an. „Wer sind die Auerbachs? Und wieso bist du mitten in der Nacht bei ihnen gewesen?“

Bei diesen Fragen kniff Adele die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Bilder des Horrors dieser Nacht schossen ihr durch den Kopf – dunkle Gassen voller rennender Menschen, der Fischgeruch unten am Hafen, der eisige Wind, der ihr in die Nase stach. Dann die Stille. Es hatte eine unheimliche Stille um sie her geherrscht, abgesehen von ihrem eigenen keuchenden Atem und Stiefeln, die auf dem nassen Pflaster heranstampften. Dann plötzlich Lärm, der die Nachtstille durchbrach. Und fallende Körper … ein Schock. Ihr Herz hatte ausgesetzt und dann auf einmal wieder so heftig gepocht, dass sie glaubte, es würde ihr jeden Moment aus der Brust springen. Die gequälten Schreie und das Knallen der Schüsse in ihren Ohren … die Hand der kleinen Sophie, die ihr entrissen wurde … splitterndes Glas … ihre Füße, die auf dem Blut, das sich auf dem Boden gesammelt hatte, ausrutschten, als sie versuchte davonzulaufen …

Zitternd brachte sie die nächsten Worte heraus. „Sie wurden auf einen Lieferwagen geladen.“

„Wo?“ Falls ihn das, was sie gerade gesagt hatte, schockierte, ließ er es sich nicht anmerken. Er hielt weiter ihre Hände, tupfte sie vorsichtig mit den Stoffstreifen ab und wartete darauf, dass sie antwortete.

Adele senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Nicht weit von hier, unten am Fischmarkt. Sie hatten so lange darauf gewartet, aus ihrem Versteck zu kommen –“ Sie brach ab und stieß ein dumpfes Schluchzen aus. „Und ich hatte ihnen versprochen, dass alles gut wird, wenn wir es heute Nacht versuchen.“

„Adele? Was in aller Welt sagst du da?“ Der Arzt sah ihr direkt in die Augen, und der erwartete Schock war nun offensichtlich, als er ihr Gesicht musterte.

Sie wusste, was sie ihm da gerade gestanden hatte.

Es war ein Todesurteil, wenn die Behörden es herausfanden. Nein, ihr Schicksal wäre besiegelt, wenn irgendjemand die Wahrheit erfahren würde: Adele von Bron, Tochter eines hochrangigen Vertreters des Dritten Reichs, Österreichs Liebling und begnadete Violinistin, die eine glänzende Zukunft vor sich hatte, war daran beteiligt, heimlich Juden aus der Stadt zu bringen! Es war eine schockierende Enthüllung, die sie selbst kaum begreifen konnte. Wenn sie es herausfanden – wenn irgendjemand es herausfand –, war sie so gut wie tot.

„Ich habe mit Wladimir zusammengearbeitet. Kennen Sie ihn?“

Er nickte. „Ja. Wladimir Nicolai. Er spielt auch im Orchester, nicht wahr?“

„Er ist Cellist in der Philharmonie“, bestätigte Adele. Der Arzt konnte ja nicht wissen, wie viel mehr er für sie war. „Er hat Kontakte im Süden, die bereit waren, die Familie aufzunehmen, sie in die Schweiz zu schmuggeln.“

„Und wie lange geht das schon so, mein Kind?“

„Fast zwei Jahre“, hauchte sie. „Ich habe zufällig davon erfahren, was Wladimir tat. Er hat versucht, es vor mir geheim zu halten.“

„Und er hat dich überredet mitzumachen?“ Der Arzt klang nicht mehr nur schockiert, sondern auch ein wenig vorwurfsvoll, als wäre er verärgert darüber, dass der rebellische junge Cellist sie zu den Untergrundaktivitäten verleitet hatte.

„Nein. Ich habe aus eigenem Entschluss mitgemacht.“ Adele schüttelte den Kopf und spürte, wie neue Kraft in ihr aufstieg. „Und ich weiß, was Sie jetzt denken müssen. Aber Gott ist mein Zeuge, dass mich niemand gezwungen hat. Wladimir hat mich nicht gedrängt – im Gegenteil. Er hat sogar versucht, mich davon abzuhalten. Ich wusste, wo sich die Auerbachs versteckten, und ich wollte ihnen zur Flucht verhelfen.“

„Wie hast du von der Familie erfahren?“

„Das spielt jetzt keine Rolle mehr …“ Das tat es tatsächlich nicht. Denn was würde es nützen, noch mehr Leben zu gefährden – nun, da die Menschen, die sie zu retten gehofft hatte, tot waren? „Wir haben ihnen viele Monate lang geholfen.“

Der Arzt warf einen Blick über die Schulter, bevor er flüsternd weitersprach. „Aber ich dachte, es gäbe keine Juden mehr in der Stadt. Ich nahm an, dass sie alle schon längst geflohen oder weggebracht worden sind. Die meisten, die ich kannte, haben Wien vor mehr als drei Jahren verlassen. Diejenigen, die nicht gegangen sind, nun ja … Wie kann es sein, dass sie noch in Wien sind? Wie ist das möglich?“

„Einige sind tatsächlich geblieben.“ Mit einem Hilfe suchenden Blick sah Adele zu ihm auf und hoffte insgeheim, er würde ihr sagen, dass sie sich in einem Traum befand und nicht in der zerbrochenen Realität dieser Welt.

Doch als keine Reaktion von ihm kam, erzählte sie weiter: „Wladimir war auch da. Er sagte mir, ich solle weglaufen, als die Gestapo kam. Sie tauchten aus dem Nichts auf. Ich war im Schatten der Gebäude am Fischmarkt unterwegs, um die Kinder aus der Gasse zu führen und sie zu dem Fluchtfahrzeug zu bringen, aber dann – es ging alles so schnell.“

„Und was ist dann passiert?“, fragte der Arzt und hielt Adeles Hand fest, um eine der Schnittwunden zu nähen. Sie zuckte vor Schmerz zusammen.

„Es war das ältere Mädchen, Sophie. Sie schrie auf, als man auf ihre Eltern schoss. Ich habe versucht, ihr den Mund zuzuhalten, aber es war zu spät. Sie –“ Adele verschlug es die Stimme, und sie schüttelte den Kopf.

„Aber du bist entkommen!“ Der Arzt legte ihr eine Hand unters Kinn und hob es an, damit sie ihn ansah. „Wie hast du das geschafft, ohne dass sie dich gesehen haben?“

„Wladimir zog uns in eine Seitengasse, nahm Sophie auf den Arm und sagte mir, ich solle rennen. Rennen und mich nicht umdrehen. Er lief mit Sophie in die entgegengesetzte Richtung. Bereits vorher hatte er mir erklärt, dass, falls etwas schiefgehen würde, ich an einen Ort gehen solle, von dem ich wüsste, dass er sicher sei. Also kam ich hierher.“

Der Arzt nickte. „Wladimir ist ein guter Mann. Er wird sich um die kleine Sophie kümmern“, versicherte er.

„Aber ich weiß nicht einmal, ob sie entkommen sind. Sie rannten in die andere Richtung. Und als die Kugeln um uns herumzufliegen begannen, hörte ich ihn aufschreien!“ Mit zitternden Fingern berührte Adele ihre Lippen. Vater im Himmel, ist er noch am Leben? Oder liegt mein Wladimir irgendwo tot am Straßenrand? Der Schrecken war immer noch präsent. Ihre Lippen zitterten, als sie weitersprach. „Er rief mir zu, ich solle weiterlaufen. Also tat ich es und rannte den ganzen Weg hierher, trotz des Schnees.“

„Hat er deinen Namen gerufen?“

Daran hatte Adele gar nicht gedacht. Hatte Wladimir ihren Namen gerufen, als er sie anwies wegzulaufen? Sie konnte nicht klar genug denken, um sich sicher zu sein.

„Ich weiß es nicht mehr …“ Adele schloss die Augen, in der Hoffnung, dass es ihr helfen würde, sich zu erinnern. „Ich glaube nicht.“

„Bist du ganz sicher?“

War sie das? Mit geschlossenen Augen und sich überschlagenden Gedanken durchlebte Adele die erschütternden Momente noch einmal und versuchte, darauf zu achten, ob in der Erinnerung ihr Name gerufen wurde. Die Schreie waren real, ebenso die Schüsse, aber sie hörte Wladimir nicht ihren Namen rufen.

„Nein. Er hat ihn nicht gesagt.“

„Gut.“ Der Arzt tätschelte ihr Handgelenk. „Und was ist mit deinen Händen passiert?“

Ja, richtig. Sie hatte ihm noch nicht gesagt, was die Schnitte verursacht hatte, die sich über ihre Handflächen zogen. „Ich habe zurückgesehen. Wladimir sagte, ich soll wegrennen, und das tat ich auch, aber als ich Schüsse hörte, habe ich mich umgedreht.“

Adele ließ zu, dass der Doktor ihre Hand wieder zu sich heranzog. Er untersuchte sie und beugte sich dann vor, um etwas aus der Tasche zu nehmen, die vor seinen Füßen auf dem Boden stand.

„Dann bin ich über eine Kiste gestolpert und hingefallen. Auf der Straße lag Glas von einem zerbrochenen Fenster, und ich wollte den Sturz mit den Händen abfangen. Ich spürte zwar, wie die Scherben in meine Handflächen schnitten, aber ich bin aufgestanden und weitergerannt.“

„Sch … ganz ruhig.“ Der Arzt versuchte, sie zu beruhigen, als ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Wir werden uns darum kümmern. Ich weiß, du machst dir Sorgen um Wladimir, aber du musst ihm vertrauen. Er scheint mir ein fähiger Mann zu sein. Und was die Hände einer Konzertgeigerin angeht – die werden wieder so gut wie neu, das verspreche ich dir.“

„Aber was mache ich bis dahin? Wie kann eine Geigerin mit zerschnittenen Handflächen spielen? Sie werden wissen, dass etwas passiert ist, und werden mich ausfragen. Die Wachen haben gesehen, dass jemand da war, der den Auerbachs bei der Flucht half. Und sie haben uns verfolgt. Es wird nicht lange dauern, bis sie es herausfinden. Vielleicht suchen sie bereits nach uns.“ Adele sprach eindringlich, die Tränen waren nun einem atemlosen Flehen gewichen. „Was soll ich tun?“

„Du bist dir sicher, dass dich niemand gesehen hat?“

Sie nickte.

„Adele, du bist im ganzen Land bekannt. Ich weiß zu schätzen, dass du diesen Menschen helfen wolltest, aber wie kannst du nur dein eigenes Leben aufs Spiel setzen? Du weißt genauso gut wie ich, wer dein Vater ist. Es bräuchte nur einen einzigen Menschen, der dich erkannt hat und es meldet!“

Er hatte recht. Ihr musikalisches Talent war nur einer der Gründe, warum sie in Österreich sehr bekannt war. Als Enkelin eines berühmten Geigers und Tochter einer Konzertpianistin und eines hochrangigen österreichischen Generals war ihr Bekanntheitsgrad garantiert. Auch ihr hellblondes Haar und die blauen Augen, das Markenzeichen der Familie von Bron, hatten Adele über die Bühne hinaus bekannt gemacht. Falls das Licht einer Straßenlaterne auf ihr Gesicht gefallen war, hatte man sie mit großer Wahrscheinlichkeit erkannt.

„Mein Vater weiß nichts von meinen Aktivitäten“, gab Adele zu. „Wenn er davon wüsste, würde er mich vermutlich eigenhändig anzeigen.“

„Ich hatte auch nicht angenommen, dass dein Vater in das, was du tust, eingeweiht ist.“

„Aber wird man mir glauben, dass ich die ganze Nacht zu Hause war? Meine Eltern werden es wahrscheinlich von den Angestellten erfahren. Welche Entschuldigung kann ich vorbringen, wenn sie mein Zimmer betreten und das Bett leer vorfinden?“

„Wie hast du es denn fertiggebracht, aus dem Haus zu kommen?“

„Ich habe vorgegeben, ich hätte Kopfschmerzen, und mich nach dem Abendessen in mein Zimmer zurückgezogen und darum gebeten, nicht gestört zu werden.“

„Gut. Das verschafft uns etwas Zeit.“ Er schien mit ihrer Ausrede zufrieden zu sein und fuhr fort: „Du bleibst hier, bis wir uns überlegt haben, was nun zu tun ist. Wir haben einen Holzofen und ein gemütliches Tagesbett in der Küche, wo du heute Nacht schlafen kannst“, erklärte der Arzt, während er sich auf die Mullstreifen konzentrierte, die er um ihre Hände wickelte. „Mach dir keine Sorgen. Hier bist du in Sicherheit. Bis morgen früh haben wir eine Lösung gefunden.“

Adele fiel nichts anderes ein, als Danke zu sagen. Sie sagte es leise, aber er reagierte nicht, sondern widmete sich weiter dem Verbinden ihrer Wunden. Dann flüsterte sie es noch einmal, diesmal mit all den unverarbeiteten Emotionen in der Stimme, die sich in ihr aufgestaut hatten. „Danke!“

Er sah auf. Adele erwiderte seinen Blick und stellte erschrocken fest, dass ihm Tränen in den Augen standen. Die Aufruhr in seinem Inneren war deutlich zu hören, als er sagte: „Das ist nicht mehr unser Österreich … Was ist nur aus uns geworden? Das kann nicht der Weg Gottes sein!“

Adele musterte das Gesicht des Arztes, den sie ihr ganzes Leben lang als einen freundlichen und besonnenen Mann gekannt hatte. Dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Wie konnte es sein, dass ein so bescheidener Mensch – ein Mann mit großem Ehrgefühl und einem Gespür für die Ungerechtigkeiten der Welt – in derselben Welt existierte wie ihr Vater, der das genaue Gegenteil dieser Tugenden verkörperte? „Wenn das nicht der Weg Gottes ist, dann müssen wir ihn neu finden.“

Er lächelte und strich ihr über die Wange, so wie er es kurz zuvor bei seiner eigenen Tochter getan hatte. „Werte es als gutes Zeichen, dass du am Leben bist. Ich denke, da hat Gott auf dich aufgepasst.“

Adele hätte zurückgelächelt, wenn ihr nicht plötzlich etwas eingefallen wäre. Sie wollte den Versuchen des Mannes, ihre angespannten Nerven zu beruhigen, nur allzu gern nachgeben, aber mit einem Mal kam die Angst wieder in ihr hoch.

Er hatte nicht die leiseste Ahnung, dass sie am nächsten Tag ein Konzert für die Größen des Dritten Reichs spielen sollte.

DREI

4. DEZEMBER 1942 WIEN

Der Schlaf bot ihr eine willkommene Zuflucht.

Der Arzt hatte sie überredet, etwas von dem Wein zu trinken, und kaum hatte sich Adele hingelegt und die Augen geschlossen, hatte das Getränk seine Wirkung entfaltet. Sie war in die tiefe Schwärze des Schlafes gesunken – so tief, dass keine Erinnerung sie erreichte. Es gab keine Schüsse oder fallenden Körper, keine Angst vor gesichtslosen Patrouillen, die sie mit gezogenen Waffen durch dunkle Gassen jagten.

Erst als sie die Augenlider öffnete, erinnerte sie sich wieder an die vorangegangene Nacht und daran, wo sie jetzt lag, nämlich auf einem Tagesbett im hinteren Teil der Küche des Doktors. Sie blinzelte und blickte durch den schmalen Spalt zwischen den Brokatvorhängen, die den kleinen Bereich abschirmten, in dem sie geschlafen hatte.

Da bereits die Morgendämmerung durch das Küchenfenster hereinkroch, konnte Adele den schwarz-weiß karierten Bodenbelag erkennen, der sich über die gesamte Fläche des großen, aber spärlich eingerichteten Raumes erstreckte. Weiße Bauernschränke und ein kleines Regal mit Einmachutensilien waren die einzigen Dinge, die sie an den Wänden sehen konnte. An dem langen Esstisch aus Eiche in der Mitte standen seltsamerweise nur drei Stühle, und Adele fragte sich, ob die anderen zuletzt den überdimensionalen Holzofen in der Ecke gespeist hatten. Darauf stand ein großer Topf, in dem eine Flüssigkeit kochte, die über den Rand spritzte und zischte, sobald die Tropfen die heiße Herdplatte trafen.

Bei diesem Anblick begann Adeles Magen zu knurren. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen?

Ein leises Klopfen an der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit. Ohne daran zu denken, dass ihre Hände verbunden waren, stützte sie sich an der Seitenwand der Nische ab und schob sich mühsam hoch.

Der Doktor kam auf sie zu, seine Miene war ernst und seine Augen sahen müde aus. „Fräulein Adele“, sagte er und wies auf jemanden im Schatten des Flurs, „Sie haben Besuch.“

Ihr Herz begann, heftig zu pochen.

War es ihr Vater? Sicher nicht. Oder Behördenangestellte, die gekommen waren, um sie zu vernehmen? Nein, sie würden einfach in den Raum poltern, wenn das der Fall wäre. Vielleicht war es jemand aus dem Orchester. Aber wer wusste, dass sie hier war? Wer außer …

Als die hochgewachsene Gestalt in das schummrige Morgenlicht trat, verflogen ihre Fragen, und eine Welle der Erleichterung überkam sie. „Wladimir!“

Er stand tatsächlich da, aufrecht und würdevoll, und sah sie an. Zum Glück machte er nicht so eine ernste Miene wie der Arzt. Sein Lächeln war schwach und doch einladend, sodass Adele fast die Wärme darin spüren konnte.

Der Doktor stand schweigend daneben, mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht deuten konnte. Er wirkte irgendwie distanziert und viel ernster, als er es am Abend zuvor gewesen war. Dann sah er von Wladimir zu ihr und atmete tief aus. „Es tut mir leid, Herr Nicolai, ich kann Ihnen nicht mehr als fünf Minuten geben. Dann müssen wir Adele von hier wegbringen.“

Entschlossenen Schrittes verließ er das Zimmer.

Im nächsten Moment stürmte Wladimir auf sie zu, zog sie in seine Arme und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. „Gott sei Dank, du bist in Sicherheit!“

Adele schloss die Augen ganz fest, genoss das Gefühl seiner Nähe und die Wärme seiner Umarmung. Gott sei Dank bist auch du in Sicherheit!

„Bitte entschuldige, dass ich ohne dich geflohen bin“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Aber ich musste zuerst einen Ort finden, an dem ich Sophie unterbringen konnte. Dann bin ich so schnell wie möglich hergekommen, um dich zu holen.“

„Wie spät ist es?“

„Es ist noch früh. Kurz nach sieben.“

„Du bist am Leben …“ Adele sprach die Worte laut aus; endlich konnte sie ihr Herz glauben lassen, dass er wirklich bei ihr war.

Sie löste sich aus der Umarmung, legte ihm eine ihrer bandagierten Hände an die Wange und war so dankbar, dass sie beide in der Nacht zuvor, in der sie um ihr Leben gerannt waren, durch die Hand Gottes beschützt worden waren.

Schließlich begann sie, seine Arme, Hände und sein Gesicht genau zu betrachten, während er still vor ihr stand. Sie bemerkte einen Riss unter seinem Auge, aber ansonsten fand sie keine Anzeichen für eine Verletzung. Es schien ihm den Umständen entsprechend gut zu gehen.

„Was ist hier passiert?“ Sie fuhr mit einer Fingerspitze über die Haut unterhalb der Wunde.

„Das kommt vom Glas der Schaufenster.“

Adele atmete schwer, erneut erschüttert darüber, wie nahe sie dem Tod gekommen waren. „Wie?“

„Durch die Schüsse.“

Sie ließ die Hand sinken, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass diese mit Mull umwickelt war. Das hatte sie ihm eigentlich nicht zeigen wollen. Aber er musste es gesehen haben, denn seine Miene veränderte sich.

„Und das ist alles?“, fragte sie.

„Ja.“ Er nickte leicht. „Nur der eine Schnitt.“

„Aber was ist, wenn sie fragen –“

Er ließ sie nicht ausreden, sondern erwiderte sogleich mit fester Stimme: „Das werden sie nicht. Wer würde schon nach einer kleinen Wunde im Gesicht eines Kaufmannssohns fragen?“

Sie nickte, fügte aber trotzdem hinzu: „Und wenn sie es doch tun?“

„Dann werde ich eine Ausrede erfinden.“

War es wirklich so einfach, solche Dinge zu vertuschen?

Auf dem Herd hinter ihnen brodelte es immer noch, die Flüssigkeit aus dem Topf kochte über und zischte.

Das Gespräch brach ab und verwandelte sich in eine unangenehme Stille. Schließlich hatte Adele das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, um das Schweigen zwischen ihnen zu beenden. „Hast du ein wenig geschlafen?“ Warum fragte sie so etwas Belangloses?

„Nein.“

„Und was ist mit –“

„Adele, hör auf mit diesem Geplänkel.“ Er unterbrach ihre Fragerei mit sanftem Tadel in der Stimme. Immer noch vor dem Tagesbett stehend, nahm er ihre bandagierten Hände in seine. „Der Arzt hat es mir schon gesagt.“

Sie versuchte, die Hände zurückzuziehen, aber er hielt sie fest und drückte sie sanft.

„Es geht mir gut“, beteuerte sie.

„Nein“, sagte er und sah sie mit einem Blick an, aus dem nichts als Besorgnis sprach. „Das tut es nicht. Wie um alles in der Welt willst du heute Abend spielen?“

„Ich weiß es nicht.“ Adele schüttelte den Kopf, ihre dichten blonden Locken fielen ihr um die Schultern. In ihrem schläfrigen Dämmerzustand hatte sie das Konzert ganz vergessen. Jetzt war sie erneut mit der Angst und der Ungewissheit konfrontiert. Was sollte sie nur tun?

„Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Er meint, mit deinen verwundeten Händen solltest du nicht spielen. Du riskierst eine Infektion oder sogar bleibende Schäden, wenn sich die Fäden lösen.“

Nun starrten Wladimirs haselnussbraune Augen ins Leere. Er sah müde aus. Erschöpft. Und besorgt. Obwohl sie in der Nacht nur mit knapper Not mit dem Leben davongekommen waren, schien er sich mehr Sorgen um die Schnitte in ihren Handflächen zu machen als um alles andere.

„Ich muss spielen“, erwiderte Adele, zwang sich zu einem Lächeln und zuckte leicht mit den Schultern. „Ich habe keine andere Wahl. Mein Vater erwartet von mir – nein, er verlangt –, dass ich spiele. ‚Es ist für Österreich!‘, sagt er. Er würde mir nie erlauben, einen Auftritt abzusagen, schon gar nicht einen so wichtigen wie diesen.“

„Adele, du scheinst den Ernst der Lage nicht zu begreifen!“ Eine dunkle Haarsträhne fiel ihm über das rechte Auge, als er sich zu ihr vorbeugte.

Wie sehr sie doch wünschte, ihre Welt wäre anders! Wie sehr sie wünschte, sie könnte ihm das Haar aus dem Gesicht streichen, wann immer sie wollte. Aber in einer Welt wie der ihren konnte sich jemand wie sie – die Tochter aus gutem Hause, die talentierte Geigerin, der Liebling der Nation – unter keinen Umständen mit dem Sohn eines einfachen Kaufmanns abgeben. Egal, wie begabt er als Musiker war. Egal, wie sehr sie ihn liebte. Ihre Beziehung würde für immer ein Geheimnis bleiben müssen.

„Doch, das tue ich! Ich habe gestern Abend dasselbe gesehen wie du. Ich weiß, was in unserem Land vor sich geht, Wladimir.“ Sie schluckte schwer bei dem Gedanken an die Bilder der vergangenen Nacht. „Ich weiß, welche Risiken es gibt.“

„Nein, das weißt du nicht, Adele. Das kannst du gar nicht!“

Adele war sich sicher, dass sie das Mitgefühl in seinen Augen nicht falsch deutete, als er ihre bandagierten Hände betrachtete. Doch es schien, als hielte er sie immer noch für arglos. Und behütet. Nichts ahnend, was außerhalb des perfekt arrangierten Lebens geschah, das ihre Eltern für sie geschaffen hatten. Aber all das war jetzt vorbei! Von einem Moment auf den anderen hatte sich alles verändert.

„Ich habe dich in Gefahr gebracht, indem ich hergekommen bin. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste wissen, ob es dir gut geht –“ Wladimir verstummte, als ob es zu schwer wäre, die Wahrheit auszusprechen. Schließlich fuhr er fort: „Die Gestapo hat meinen Vater verhört. Ich glaube, wir werden alle beschattet.“

„Nein …“ Adele flüsterte das Wort, schüttelte ungläubig den Kopf und wusste doch genau, was es bedeutete. Sie hatten ihn als möglichen Verräter des Reiches ins Visier genommen.

„Und der Doktor? Wie ist es mit seiner Familie?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie sind noch nicht da gewesen, um ihn zu verhören, Gott sei Dank. Sie haben keinen Grund, ihn mit mir in Verbindung zu bringen.“ Er blickte über die Schulter und senkte die Stimme. „Aber seine Frau setzt ihn unter Druck.“

Adele schnappte nach Luft. „Du meinst, damit er uns verrät?“

„Sie hat Angst“, antwortete Wladimir und sah selbst ein wenig verängstigt aus.

„Sie will also, dass wir gehen?“

Er nickte und fing an, ihre Sachen einzupacken, die auf einem Stuhl neben dem Tisch lagen. Das Verbandsmaterial verstaute er in seinen Manteltaschen. „Wir können nicht länger hierbleiben. Außerdem müssen wir dich nach Hause bringen und irgendwie vor dem Frühstück reinschmuggeln. Wenn du das Personal bittest, dir das Frühstück aufs Zimmer zu bringen, kannst du deine Verbände verstecken. An einem Esstisch geht das nicht.“

„Ich habe gestern Abend beim Abendessen Kopfschmerzen als Entschuldigung vorgetäuscht. Das kann ich auch heute Morgen tun.“

„Gut.“ Wladimir nahm ihren Mantel von der Stuhllehne und blieb stehen, als das schwache Licht auf die Blutflecken fiel. „Den kannst du nicht mit nach Hause nehmen. Wir müssen dir einen anderen besorgen.“ Er wandte seine volle Aufmerksamkeit dem Flur zu, bevor er flüsterte: „Ich wüsste gern, ob seine Tochter vielleicht einen zweiten Mantel hat …“

„Und wirst du heute Abend spielen?“

Er drehte sich um und schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln. „Ich glaube, für Österreich Cello zu spielen, ist im Moment meine geringste Sorge.“

„Wenn du dabei bist, dann kann ich spielen.“ Adele hob die Hände. „Trotz der Verbände. Ich glaube, ich könnte es schaffen, wenn ich wüsste, dass du hinter mir auf der Bühne stehst.“

Die Vorstellung des bevorstehenden Balls war so weit entfernt von dem Blutvergießen, das Adele erlebt hatte, wie es nur irgend möglich war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu Ballkleidern und Champagnerflöten zurückkehren sollte. Der Gedanke an den Luxus des bevorstehenden Abends verursachte ihr Übelkeit. Als sie Wladimir in die Augen sah, konnte sie sehen, dass auch er mit seinen Gefühlen rang. Aber sie mussten gehen. Sie mussten auftreten. Sie mussten sich hinsetzen und spielen und sich dann unter die Männer mischen, von denen einige vielleicht in der Nacht zuvor Schüsse auf ihre unschuldigen Freunde abgefeuert hatten.

„Ich werde kommen.“ Wladimir strich ihr mit der Hand über die Wange. „Ich werde kommen, und sei es nur, um ein wachsames Auge auf dich zu haben. Denn all das ist meine Schuld!“

„Wie kann das, was gestern Abend passiert ist, deine Schuld sein?“

„Nicht gestern Abend, Adele. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass deine Sturheit über mein besseres Urteilsvermögen siegt. Du hättest von Anfang an nicht in die Sache hineingezogen werden dürfen. Und ab sofort werde ich alles dafür tun, dass du nicht mehr daran beteiligt bist.“

Sie beschloss, die Tatsache zu ignorieren, dass er sie stur genannt hatte. „Wer wird dir dann helfen?“, forderte Adele ihn heraus und wünschte, ihre Hände würden nicht so wehtun – nur zu gern hätte sie sie in die Seite gestemmt. „Jemand muss dir helfen, Sophie aus dem Land zu bringen.“

„Du jedenfalls nicht. Das werde ich nicht zulassen!“

„Du kannst mich nicht aufhalten“, erwiderte sie. „Ich war gestern Abend für Sophie verantwortlich. Ihre Mutter, meine Freundin Elsa, sie hat uns vertraut. Ich kann dieses Vertrauen nicht vergessen, nur weil sie nicht mehr da ist. Wie kannst du glauben, dass ich einfach weitermachen könnte, als sei nichts passiert, ohne ihre Tochter von diesem furchtbaren Ort wegzubringen? Sophie ist die letzte Überlebende ihrer Familie. Wir müssen ihr helfen.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihr nicht helfen will.“

„Sie ist doch noch ein Kind.“

„Und sie ist Jüdin.“ Wladimirs Gesicht zeigte nichts als eiserne Entschlossenheit als Reaktion auf ihr Drängen. „Allein für das Wissen, dass sie noch am Leben ist, würden sie dich umbringen – trotz all der Beziehungen deiner Familie. Sie würden nicht zögern, dich in eines dieser Lager zu schicken oder womöglich etwas noch Schlimmeres mit dir anzustellen. Ich kann nicht zulassen, dass du mit mir in dieser Sache weitermachst.“

„Wo ist sie?“

Wladimir seufzte und schüttelte den Kopf. „Das werde ich dir nicht sagen.“

„Du erwartest also von mir, dass ich heute Abend auf diesen Ball gehe, ein elegantes Kleid trage, lächle und so tue, als wäre letzte Nacht nichts passiert? Ob ich nun spiele oder nicht, du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht einfach danebenstehen und nichts tun kann!“ Sie konnte nicht glauben, dass er sie jetzt ausschließen wollte.

„Sieh dir deine Hände an, Adele. Das war schon schlimm genug.“ Wladimir küsste einen der Verbände und ergriff ihren Ellbogen, als wolle er sie zur Tür führen. „Wir sind gestern Abend nur knapp davongekommen, und das werde ich nicht noch einmal riskieren.“

„Du kannst mich nicht vor allem beschützen“, beharrte sie und wand sich aus seinem Griff. „Es ist mein Leben. Ich kann damit machen, was ich will.“

„Du hast recht. Ich kann dich nicht vor allem schützen, aber ich kann dich hiervor schützen. Das liegt in meiner Hand.“

Wladimir wandte sich zur Küchentür, denn ihre zunehmend lauten Stimmen hatten die Frau des Arztes aufgeschreckt, die jetzt in der Tür stand und sehen wollte, was los war. Mit einem müden Seufzen sagte er zu ihr: „Verzeihen Sie, gnädige Frau. Wir wollten gerade gehen.“

„Und das war’s dann? Wir sollen in unser altes Leben zurückkehren, als ob nichts geschehen wäre?“

Als er vorhin zur Tür hereingekommen war, wäre Adele ihm am liebsten um den Hals gefallen. Jetzt wollte sie ihm den Hals umdrehen. Wie konnte er es wagen, sie auszuschließen! Verstand er denn nicht, dass sie mehr als nur oberflächliche Zuneigung für ihn empfand? Wusste er nicht, dass sie etwas Sinnvolles aus ihrem Leben machen wollte, und zwar gemeinsam mit ihm?

„Du hast gesagt, du würdest heute Abend spielen, Adele, und ich glaube, das wirst du auch. Du bist viel zu stur, um dich von ihnen unterkriegen zu lassen.“ Er senkte den Kopf und blickte sie eindringlich an. „Aber was den Rest angeht: Das war das erste und letzte Mal, dass ich zugelassen habe, dass du in Gefahr gerätst.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und spürte den Abstand, der zwischen ihnen entstanden war.

„Du brauchst einen Mantel“, sagte er und verließ die Küche. Kurz darauf kam er mit einem langen weinroten Wollmantel zurück. „Hier“, flüsterte er und legte ihn ihr um die Schultern.

Adele betrachtete die Perlenknöpfe, die die Vorderseite des Mantels säumten. Sie fuhr mit dem Handgelenk über das weiche, elfenbeinfarbene Satinfutter. „Er ist wunderschön.“

„Er gehört seiner Frau.“

Sie nickte. „Sie hat ihn sehr gut gepflegt. Wahrscheinlich stammt er noch aus der Zeit vor dem Krieg. Er sieht aus wie ein Opernmantel.“

„Das ist alles, was sie hatten.“ Seine Stimme war leise, ungewöhnlich rau und voller mühsam beherrschter Emotionen.

„Wladimir“, Adele war es schwer ums Herz, „ich nehme ihren besten Mantel, nicht wahr?“

Er reagierte nicht auf ihre Frage, sondern sah sie mit liebevollem Blick an und flüsterte: „Komm jetzt. Wir müssen sehen, dass du nach Hause kommst.“

VIER

Marina von Bron betonte, dass ihre Tochter in dem Ballkleid eine perfekte Erscheinung sei.

Der exklusive champagnerfarbene Satin war für diesen Anlass extra aus Berlin eingeflogen worden, und die Schneider hatten die ganze Woche lang gearbeitet, um sicherzustellen, dass das schulterfreie Modell bis ins letzte schimmernde Detail perfekt genäht worden war. Jetzt stand Adele in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel und fühlte sich wie eine Statue, während ihre Mutter um sie herumschwirrte, sie mit blumigem Parfüm einnebelte und an ihrer Frisur herumzupfte.

„Hier, mein Liebes.“ Marina nahm einen Lippenstift von der Kommode und reichte ihn Adele. „Zieh deine Lippen nach.“

Adele tat, wie ihr gesagt wurde, und trug eine dicke Schicht Rot auf, um die natürliche Form ihres Mundes zu betonen. Sie rieb die Lippen aneinander und ließ ein leises Schmatzen hören, als sie den Mund wieder öffnete.

„Wunderschön“, erklärte Marina und wandte sich der Schmuckschatulle auf der Kommode zu, um sie zu inspizieren. „Du trägst heute Abendhandschuhe?“

Ihre Mutter warf ihr die Frage leichthin über die Schulter zu, ihr französischer Akzent war heute besonders stark. Adele war erschrocken über die Erwähnung der Handschuhe und versuchte, das Thema schnell abzuhandeln. „Nur, bis wir auf die Bühne gehen.“

„Oh ja, sie sind wirklich wunderschön. Kannst du dir vorstellen, bei einem Konzert der Wiener Philharmoniker ohne Handschuhe zu erscheinen? Ich weiß natürlich, dass man darin nicht spielen kann, aber für den Rest des Konzerts sind sie angebracht.“ Marina schnalzte leise mit der Zunge, während sie weiter das Schmuckkästchen durchforstete, und murmelte: „Cherie! Wo sind die Perlenohrringe?“

Einen kurzen Moment später drehte sie sich mit einem siegreichen Lächeln um und hielt zwei Perlenstecker hoch. „Die Ohrringe deiner Großmutter“, zwitscherte sie fröhlich und begann, an Adeles Ohrläppchen zu ziehen. „Sie hat sie an einem Abend wie diesem getragen – sogar an genau dem Abend, an dem sie deinen Großvater kennenlernte. Ich hoffe, du hast genauso viel Glück wie sie.“ Die Stimme ihrer Mutter verstummte, während sie die Ohrringe befestigte und anschließend ihre Aufmerksamkeit den letzten Details von Adeles Frisur zuwandte. „Heute Abend wirst du in ganz Österreich Herzen brechen.“

Sicherlich konnte ihre Mutter hören, wie heftig ihr Herz pochte. Die Frau plapperte vor sich hin; wie konnte sie wissen, dass die Worte Adele ins Herz trafen und sie zutiefst beunruhigten?

Marina neigte den Kopf zur Seite und begegnete dem Blick ihrer Tochter im Spiegel. „Adele? Gibt es da vielleicht einen jungen Mann?“

Ja. Sein Name ist Wladimir, und ich bebe innerlich, weil ich nicht weiß, ob er heute Abend auftaucht … ob er in Wien bleibt … ob er den morgigen Tag erleben wird …

Als Adele den Kopf schüttelte, wandte sich ihre Mutter dem Rock zu, um ihn glatt zu streichen, da sie wie immer voller Sorge war, ihre Tochter könne in der Öffentlichkeit auch nur das kleinste bisschen zerknittert aussehen.

„Ach, mach dir keine Sorgen. Nach dem heutigen Abend wirst du einen haben. Einen jungen Österreicher aus der Stadt. Oder vielleicht einen deutschen Offizier? Ich weiß, dass der eine oder andere deinen Vater bereits gefragt hat, ob er uns einen Besuch abstatten darf. Wäre das nicht schön?“

Adele betrachtete ihr Spiegelbild und war schockiert über die Nonchalance ihrer Mutter, die so tat, als sei ihre größte Sorge die Suche nach dem perfekten Schwiegersohn. Wie realitätsblind war sie eigentlich? Wusste sie nicht, was vor ihrer Haustür geschah? Hörte sie nicht die schnellen Schusswechsel, die nachts durch die Straßen hallten?

Das Grauen, das Adele in der Nacht zuvor erlebt hatte, war nur ein Vorgeschmack, da war sie sich sicher. Wenn es stimmte, was Wladimir gesagt hatte, dann erlebten die Truppen keinen so großen Sieg, wie man die Welt glauben machen wollte – trotz der üppigen Siegeskonzerte, die immer wieder veranstaltet wurden. Jedes öffentliche Ereignis verstärkte die Täuschung, die verdecken sollte, dass sie zunehmend von den Alliierten überrollt wurden. Die Deutschen bauten fieberhaft an befestigten Wachtürmen in der ganzen Stadt, und das schon seit September. Warum sollten sie solche Maßnahmen ergreifen, wenn sie nicht befürchteten, dass eine Angriffswelle der Roten Armee über sie hereinbrechen würde?

„Magnifique!“ Marina klatschte in die Hände. „Mein wunderschönes, perfektes Mädchen! Sie werden heute Abend alle von dir hingerissen sein – jeder einzelne Offizier im Publikum –, zuerst mit den Augen und dann mit den Ohren.“ Ihre Mutter tippte ihr mit dem Finger auf die Nasenspitze. „Denk an meine Worte, Adele.“

„Danke, Mama.“

Adele betrachtete erneut ihr Spiegelbild und fühlte sich innerlich tot. Wie konnte sie sich so elegant kleiden und gleichzeitig wissen, dass um sie herum so viel Leid herrschte? Dieser Widerspruch raubte ihr den Atem.

„Warum bist du so still, mein hübsches Mädchen?“ Adeles Mutter meinte es immer gut, auch wenn ihre Zuneigung meist darin bestand, die Vorzüge einer glänzenden und anmutigen Erscheinung zu preisen. „Bist du nervös wegen heute Abend?“

„Nein. Ich bin nicht nervös.“ Damit sagte Adele die Wahrheit. Sie hatte schon hundertmal auf der Bühne gestanden. Ihre Mutter hätte es ihr wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt, dass die Nerven sie übermannt hatten.

„Und deine Kopfschmerzen sind nicht wiedergekommen?“

Adele schüttelte den Kopf über die Lüge, die sie erzählt hatte, um sich am Abend zuvor aus dem Haus zu schleichen.

„Was ist dann los?“ Marina drehte sie zu sich herum und hob mit der Hand ihr Kinn an. „Sag es deiner Mutter.“

Adele wusste, dass sie ihr niemals die Wahrheit sagen konnte. Marina von Bron war zu sehr vom Glanz und Glamour ihrer Stellung im Dritten Reich eingenommen, als dass das Schicksal der Juden in der Stadt sie gekümmert hätte. Adele hatte mit angehört, wie sie auf Cocktailpartys über das „jüdische Problem“ in Wien geplaudert hatte. Sie hielt die Juden für erbärmliche, seelenlose Kreaturen. Und je schneller Österreich sie alle zu einer nützlichen Beschäftigung in die Arbeitslager schickte, desto besser.

Von einem neuen Gedanken abgelenkt, wandte ihre Mutter sich von ihr ab, ging aus dem Zimmer und kam mit einem wunderschönen weißen Nerzschal in den Armen zurück, um Adeles Schultern damit zu schmücken.

„Fragst du dich nicht, was da draußen passiert, Mama?“

Marina schien verwirrt und blickte zur geschlossenen Zimmertür, während ihre Hände den Pelz um Adeles Hals drapierten. „Unten? Nun, dein Vater hat Gäste, die uns ins Konzert begleiten. Wenn es dir lieber ist, dass wir allein gehen, können wir das selbstverständlich auch tun. Ich kann einen Wagen kommen lassen.“

„Nein, ich meinte da draußen.“ Adele wies mit dem Kopf zu den Fenstern, die einen Blick auf die pittoreske Wiener Altstadt unter ihnen boten. Die Straßenlaternen verbreiteten einen sanften Schein. „Jenseits unserer Heimat, jenseits der Grenzen unserer Stadt. Wo unsere Soldaten kämpfen und sterben und in Särgen nach Hause gebracht werden. Dort draußen, wo die Welt in Trümmern liegt. Jenseits von Feierlichkeiten und Siegeskonzerten … jenseits eines Geigensolos auf der großen Bühne. Wie sieht es da draußen aus? Wissen wir das überhaupt?“

Marina wirkte durch Adeles Worte beunruhigt. Über Tod und Krieg zu reden, war ein zu gewichtiges Thema angesichts ihrer Vorfreude auf den heiteren Abend, der vor ihr lag.

Sie drehte sich um und sah ihrer Tochter unverwandt ins Gesicht. Dann packte sie Adele an den Oberarmen und drückte sie fest, als wollte sie sie aus einem vorübergehenden Zustand der Verblendung befreien. „Was in aller Welt ist los mit dir?“

„Nichts, ich –“

Ihre Mutter verstärkte den Druck und schüttelte sie. „Sag es mir, und zwar auf der Stelle! Hat es etwas damit zu tun, dass du gestern Abend einen Raum voller Dinnergäste verlassen hast?“

„Ich wollte doch nur –“ Adele brach ab und war entsetzt angesichts des wütenden Funkelns, das in den Augen ihrer Mutter aufflackerte. „Ich weiß nicht, ob ich spielen kann, das ist alles.“

„Halt sofort den Mund!“

Marinas plötzlicher Zornesausbruch überraschte Adele so sehr, dass sie nicht einmal in der Lage war, eine Antwort zu geben.

„Das wäre eine Beleidigung für deinen Vater und die anderen Männer dort unten. Und für den Führer!“ Ihre Mutter verzog das Gesicht, als würde sie allein der Gedanke anwidern. „Was jenseits dieser Mauern geschieht, geht dich nichts an, verstehst du mich? Deine Aufgabe ist es, zu spielen. Das ist es, was du für Österreich tun wirst. Spielen. Du wirst den Führer und deine Familie ehren. Du wirst uns heute Abend nicht blamieren!“

„Ich hatte nicht die Absicht, jemanden zu blamieren.“

Ihre Mutter starrte sie an, und die Intensität ihres Blicks ließ Adeles Entschlossenheit schwinden.

„Was ist nur los mit dir, Kind?“

„Keine Ahnung, ich –“

Marina unterbrach sie abermals mit ungewohnter Heftigkeit, diesmal jedoch getarnt in elegantem Tonfall. „Du hast ein seltenes Talent, und ich werde nicht zulassen, dass du es vergeudest, weil du dich plötzlich für Philosophie interessierst.“

„Aber wir sind doch Christen, oder nicht?“

„Du siehst mich jede Woche in der Kirche beten und eine Kerze für Österreich anzünden. Was hat Gott mit dem zu tun, was da draußen passiert, außer dass er die Soldaten unseres Landes beschützen soll? Ich bete für ihren Schutz, so wie jeder andere auch“, fauchte Marina.

Adele verstand nicht, was ihre Mutter so sehr aufregte. Sie hatte noch nie erlebt, dass Marina von Bron auch nur einer Fliege etwas zuleide getan hätte, geschweige denn, dass sie jemanden so fest an den Armen gepackt hätte, wie sie es in diesem Moment bei ihr tat. Und nun wurde sie zynisch bei der Erwähnung von Gott? Er hatte doch mit allem etwas zu tun, oder nicht? Adele fand, dass sie jedes Recht dazu hatte, Fragen zu stellen – vor allem nach den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Nacht.

„Mama, bitte hör mir doch zu.“ Adele wünschte, sie könnte ihrer Mutter gegenüber die Wahrheit sagen: dass wenn sie wirklich Christen sein wollten, sie nicht gleichzeitig den Nazis folgen konnten. Sie wusste, was auf den Straßen von Wien und in ganz Europa geschah. Sie konnte nicht länger wegsehen. „Wie kann ich inmitten von solchem Leid spielen? Wie kann ich die Augen verschließen vor dem, was um uns herum geschieht? Ich wusste bis jetzt nicht, was es war. Aber was wir dem jüdischen Volk antun, das ist …“, sagte sie und hatte Mühe, die Worte laut auszusprechen, daher flüsterte sie nur: „… das ist grauenhaft, Mama!“

Die Ohrfeige traf sie ohne Vorwarnung. Ihre Mutter hatte einen Schritt zurückgemacht und ihr mit aller Kraft auf die linke Wange geschlagen.

Adele war fassungslos.

Sie führte eine behandschuhte Hand an ihr Gesicht und hielt sich die schmerzende Wange – unfähig zu glauben, dass das gerade tatsächlich passiert war.

„Bist du ein Feigling oder bist du Österreicherin?“, fragte ihre Mutter zynisch.

Mit glühenden Wangen und aufgewühlten Gedanken flüsterte Adele: „Ich bin Österreicherin.“

Marina kam ihr so nahe, dass ihre Nasenspitzen nur noch einen Fingerbreit voneinander entfernt waren. „Dann rate ich dir, dich auch so zu verhalten.“