Wo die Liebe schläft - Lavinia Greenlaw - E-Book

Wo die Liebe schläft E-Book

Lavinia Greenlaw

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Beschreibung

Wie lieben wir? Und wie verändert sich die Liebe im Laufe unseres Lebens? Iris, eine Museumskonservatorin in den mittleren Vierzigern, lernt auf einem Empfang den Historiker Raif kennen. Es scheint Liebe auf den ersten Blick - und mit ihrer Begegnung stellt sich die Frage nach einem glücklichen Leben für beide noch einmal ganz neu. Wann sind wir bereit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, und wie viel Intensität, Risiko und Schmerz lassen wir zu, wenn es um unsere Gefühle und Beziehungen geht? Mit erzählerischer Raffinesse entwickelt Lavinia Greenlaw ein komplexes Szenario von Liebe. Ein lebenskluger und ein durch und durch gegenwärtiger Roman.

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Lavinia Greenlaw

WO DIE LIEBE SCHLÄFT

Aus dem Englischen von Anne Brauner

OKTAVEN

Für Lesley Henshaw und Franny Bennett

– mit denen ich seit fast vierzig Jahren befreundet bin

Inhalt

Ja

Folgen

Die Schlittknochen

Die einzige Möglichkeit

Ein versagendes Werkzeug

Wer bist du?

Irgendwo

Flirtet er mit ihr?

Der Wolkenspiegel

Treffpunkt

Lack

Eine zurückgezogene Erinnerung

Neugier

Ich bin nicht, was ich bin

Schwarzer Dunst

Die kleinen Aufstände

Ein Muster

Die unterbrochene Stadt

Der Meermann

Ein überfüllter Raum

Etwas drängt

Wie ein Herz gebrochen wird

Ich bin nicht, ich fühle mich nicht

Eine Klinge

Unsere Schokoladenseite

Der Stich

Anatomie-Modell eines Pferdes

Eine Verständigung über seine Körperteile

Er Möchte etwas sagen

Raum, so einfach auf den Kopf gestellt

Ausgestellt

Ein Yardstock

Regen

Ein kleiner grüner Ort

Wie es wirklich war

Dann verlasse ich dich jetzt?

Die Türme

Das Herz

Blendend

Wo bist du wo ich bin?

Ablenkung vom Abschluss

All das trifft zu

Liebe

Der Mortsafe

Das Neue

Ein Aussetzer

Das kann ich nicht sagen

Das Objekt ermahnt uns

Alarm

Die eiserne Lunge

Fragen

Was fehlt, was bleibt

Der Wallgucker

Wessen Geschichte?

Der dunkle Ort

Benutzt, kaputt, verloren

Ein Schalter

Blüte

Ein praktischer Impuls

Geschichte

Küssen

Tageslicht

Ein Museum

Die Wunderkiste

Und wenn sie stürzt?

Wo Gewissheit liegt

Die Form, die sie annimmt

Eine Stärkung

Der Zauber des Objekts

Das Skelett

Eine Provokation

Sex

Glück

Das unbekannte Objekt

Ein Faible, das bleiben darf

Nichts wird sich ändern

Manchmal sind wir in derselben Stadt

Danksagung und Quellen

Impressum

Leseprobe: Lavinia Greenlaw – Tonspuren

Ja

Stellen Sie sich eine rennende Frau vor. Der lange Flur ist dunkel bis auf das rote Blinken der Rauchmelder und die trüben grünen Schleier der Feierabendbeleuchtung. Sie klatscht ihre erhobenen Hände auf die Notausgänge und drückt sie so schwungvoll auf, dass sie hinter ihr an die Wand schlagen, als wollten sie jemanden drängen, ihr zu folgen. Wird sie verfolgt? Auf der Treppe nimmt sie zwei Stufen auf einmal, dann drei. Es ist die Hintertreppe, der Beton ist ausgetreten, rutschig, und sie stolpert, stößt sich das Knie, steht wieder auf und läuft weiter.

Sie erreicht ihr Büro, doch die Schlüssel – wo sind ihre Schlüssel? Rasch steckt sie die Hand in ihre Tasche, doch ihre Finger können nichts ausmachen. Sie schüttelt die Handtasche, hört es klirren, greift erneut hinein und findet die Schlüssel wieder nicht. Kommt da jemand? Sie kippt die Tasche auf dem Boden aus, schnappt sich die Schlüssel, stürmt ins Büro und lehnt sich außer Atem an die Wand. Sie behält die Tür im Auge. Nichts geschieht.

Es hat keine Berührung gegeben, nur die Vorstellung, nicht einmal die Vorstellung, weniger als das. Ihr Körper hat reagiert – aber worauf? Jetzt, nur wenige Minuten nach dem Gespräch, weiß sie kaum noch, wie er aussieht. Während der Unterhaltung hatte sie seinen Blick gemieden. Sollten sie sich am nächsten Tag zufällig begegnen, würde sie glatt an ihm vorbeigehen. Und doch hatte er – was? – irgendwie etwas in ihr geweckt, das sie vergessen hatte. Und dieses Etwas legte sich in diesem Moment fest, war festgelegt.

Wo ist er? Sie lässt die Tür nicht aus den Augen, obwohl sie weiß, dass er nicht kommen wird. Sie will es auch gar nicht – oder doch –, abgesehen davon: Wer ist er überhaupt? Ein Mann, den sie noch nie gesehen und der sich zu ihr umgedreht hat, während er seinen Mantel aufknöpfte. Er hatte etwas ausgestrahlt, das sie voller Leidenschaft wiedererkannt hatte. Beinahe hätte sie die Arme nach ihm ausgestreckt.

Zufällig verließen sie gleichzeitig die Garderobe und gingen nebeneinander in den Saal; erst dort trennten sich ihre Wege. Sie unterhielt sich mit Kollegen und Bekannten und wartete. Die Frage, worauf sie wartete, hätte sie nicht beantworten können. Bisher hatte sie noch keinen Gedanken über ihn gefasst, doch ihre Art, sich zu bewegen und zu sprechen, bezeugte, dass sie sich offenbar beobachtet fühlte. Hin und wieder, wenn er in ihr Sichtfeld geriet, behauptete ihr Körper, ihn zu kennen, was natürlich nicht der Fall war. Wie er den Mantel aufknöpfte, hatte sie an etwas erinnert. Das war alles. Sie wartete.

Später konnten sich beide nicht daran erinnern, wie ihre Unterhaltung begonnen hatte. Sie hatten sich einander zugewandt, so selbstverständlich, wie wenn man erwachte. Innerhalb weniger Minuten sprachen sie über ihre Väter, beide erfolglose Architekten, beide mittlerweile verstorben. Sie fragte ihn, ob er auch Architekt hatte werden wollen, ob man es von ihm erwartet hatte, so wie von ihr, und er verneinte mit einem Lachen, seine Familie hätte ihn nie für intelligent genug gehalten. Und überhaupt, was interessierten ihn Schränke oder was die Leute darin verstauten? Sie nahm eine Freundlichkeit und Kompliziertheit wahr, die sie später als Warmherzigkeit und Tiefsinn interpretierte. Und obwohl sie sein Gesicht nicht beschreiben konnte, erinnerte sie sich an das freudige Gefühl, weil sie ihn nirgends hinstecken konnte. Wer war er?

Sie hatte ihm von ihrer Arbeit und ihrem Interesse an kleineren Gegenständen erzählt und war kurz davor gewesen, ihn zu fragen, ob er gern – was? In ihr Büro mitkäme? Und das, obwohl der Empfang sich seinem Ende zuneigte und sie am Rande ihrer Wahrnehmung eine Person bemerkte, die offenbar auf ihn wartete. Sie nahm seine Visitenkarte entgegen, verabschiedete sich und ging hinter den wehenden Bannern und Informationstafeln durch die verdunkelte Galerie zurück, vorbei an den Lokomotiven und Raketen und weiter zu den kleineren Ausstellungsstücken – dem Wallgucker, dem Wolkenspiegel und dem japanischen Meermann –, die sie jedes für sich hätte opfern mögen, damit er ihr folgte. Und während sie fortging, erkannte sie das alles – ihre körperliche Nervosität und dass sie, wenn sie ihn gefragt und er mitgekommen wäre, zu allem fähig gewesen wäre, so abrupt war der Abstand zwischen ihnen geschmolzen. Deshalb lief sie davon.

Vor langer Zeit hatte Iris, die damals noch wenig Ahnung hatte, bei einer Abendeinladung einen Mann kennengelernt. Es war ein offizielles Dinner gewesen, zu dem ihr Arbeitgeber sie im letzten Moment eingeladen hatte, weil jemand ausgefallen war. Sie kannte niemanden und merkte sofort, dass sie falsch angezogen war. Deshalb war sie ausgesprochen dankbar, als ihr Sitznachbar sich freundlich vorstellte und gestand, dass er bis auf seine Gattin – er wies auf eine Frau mit einem silbergrauen Zopf weiter unten an der Tafel – ebenfalls niemanden kannte. Diese schüttelte gerade die Hand des Mannes, der sich zu ihr gesetzt hatte. Oh!, rief Iris, weil sie in der Miene der Frau etwas sah: Sie sagte Ja zu diesem Fremden wie man nur Ja zu jemandem sagen kann, der auch Ja zu einem selbst sagt. Ja, sagten sie zueinander. Ja.

Wir können im Vorbeigehen Ja zu einem Fremden sagen, ohne auch nur langsamer zu werden. Das ist keine Bejahung eines Angebots (es wurde nichts angeboten), sondern des Wiedererkennens. Was erkennen wir wieder? Der Fremde erzeugt viel Spannung, sowohl körperlich als auch an der Oberfläche, die man noch nie gesehen hat und die einem doch vertraut ist. Ein Detail in den Proportionen, den Gesichtszügen oder Gesten stellt eine Verbindung zu einer Erinnerung her, von der wir möglicherweise nicht einmal wissen, dass sie in unserem Gedächtnis verhaftet ist und das Wiedererkennen begründet.

Es muss kein fremder Mensch sein. Es könnte jemand sein, den man seit Jahren kennt und der früher die Person war, die den Mantel aufknöpfte, neben einem den Raum betrat oder bei einem Dinner neben einem saß. Es würde einen Augenblick des Ja geben, doch von der sortierten Art. Diese Art des Ja kann sich außer Reichweite begeben oder behält eine lose Form und meldet sich bei jeder Begegnung, bis sie eines Tages ganz klar ist.

Hin und wieder überlegte Iris, was aus dem Paar geworden war, das sie bei jenem Dinner beobachtet hatte. Damals waren ihr die beiden zu alt erschienen, um ihrem Flirt mehr Bedeutung zuzumessen als die höflicher Aufmerksamkeit. Der Mann hatte auf einer Unterhaltung mit Iris bestanden und minutenlang versucht, seine Frau nicht anzusehen, doch früher oder später wandte er den Kopf in ihre Richtung und verstummte. Kein einziges Mal, wenn Iris seinem Blick folgte, wurde dieser von seiner Frau erwidert. Das Ja, das sie und der Fremde einander gegeben hatten, war so stark, dass sie am anderen Ende der Tafel entlarvend offensichtlich wirkten. Die Frau hatte ihren Stuhl dem Fremden zugedreht, den Arm auf den Tisch gestützt, ein Glas in der Hand wie ein göttliches Attribut und den schweren silbergrauen Zopf nun mädchenhaft über die Schulter nach vorn gelegt. Der Fremde lehnte sich zurück und breitete die Arme aus, als wollte er sie einhüllen. Der eine Arm war verborgen, er hatte ihn auf ihre Stuhllehne gelegt. Als er später vom Tisch aufstand, ähnelte er zu Iris’ Überraschung sehr dem Ehemann, der gerade sein Getränk verschüttet hatte und nicht merkte, dass der Fremde vorbeiging.

Trug die Ehefrau diese Begegnung wie einen Edelstein heim, den sie eingesteckt hatte und hin und wieder mit der Hand ertastete, umdrehte und wieder losließ? Merkte ihr Mann endlich, dass diese Frau nicht nur seine Gattin war, sondern ein geheimnisvolles Wesen mit eigenem Willen, das jederzeit an ihm vorbeigreifen konnte? Oder hatte er es immer schon gewusst? Wurde der letzte Rest ihrer Liebe zu ihm von der Kraft und dem Glanz dieses Abends gesprengt? Falls ihre Ehe sich dem Ende zuneigen sollte, könnten wir sagen, dass es von Anfang an so kommen musste und das Interesse des Fremden ihre Unzufriedenheit nur weiter angefacht hatte.

In der Jugend gleicht die Liebe einem Fluss, der in eine Richtung gelenkt werden muss. Möglicherweise rauscht er zu einem Pferd, einem Superhelden, einem Fußballspieler oder einem Sänger. Das sind Generalproben für die Liebe. Eines Tages fließt dieser Fluss zu einer Person, die tatsächlich zur Stelle ist. Das hieße, dieses Gefühl käme vor dem, worauf es sich richtet und doch wird es nicht so erlebt. Ein fünfzehnjähriges Mädchen ist hin und weg von dem Jungen, der jeden Abend an ihrem Fenster vorbeiradelt. Sie ist nicht hin und weg von ihrer Liebe.

Erst wenn es vorbei ist und sie seinen durchschnittlichen Charakter erkannt hat, beginnt sie vielleicht, es zu hinterfragen. Vermutlich nicht. Sie wird fortfahren, das Ja in sich selbst zu erleben und erst wenn es über die dumpfe Enttäuschung über den Jungen auf dem Fahrrad hinausgeht und sich zu Verletzung und Kummer entwickelt, hält sie vielleicht inne und sagt sich Ich weiß, was das ist. Ich sage Ja. Das ist alles und nichts – Erinnerung, Assoziation, Bedürfnis, Lust, nichts.

Oder sie betrachtet die auserwählte Person und erinnert sich an die erste Begegnung, als ihr Ich von ganzem Herzen Ja gesagt hatte, und nun leben sie zusammen. Vielleicht ist genau das der Frau mit dem silbergrauen Zopf und ihrem Fremden passiert. Rückblickend nennen wir das Liebe auf den ersten Blick – wenn das Ja mit Ja beantwortet wird und die Umstände oder Neigungen eine endlose Erweiterung erlauben.

Folgen

Der Mann, dem Iris beim Aufknöpfen seines Mantels zugesehen hat, kann sich selbst nur schwer einordnen. Die Kompliziertheit, die sie an ihm wahrgenommen hat, ist seine Trauer. Seine Frau ist gestorben, sein Gram so tief, dass er lebendiger wirkt, je weniger er sich so fühlt. Wenn er überhaupt etwas fühlt, dann, dass sein Leben neuerdings nach Schema F verläuft. Mehr als die nötigen Schritte unternimmt er nicht.

Mit seinen vierzig Jahren ist er sechs Jahre jünger als Iris, obwohl er aufgrund der Zögerlichkeit, mit der er durchs Leben geht, deutlich wie ein Mann mittleren Alters wirkt. Er trägt den Namen des arabischen Vaters seines aus Mauritius stammenden Vaters, Raif, den seine Eltern wählten, weil sein anderer Großvater, ein Ire, Ralph hieß. Häufig gehen die Leute einfach von einer abweichenden Schreibweise aus und er lässt sie in diesem Glauben.

Raif ist in einer Stadt an der Südküste in einer Straße zwischen dem Golfplatz und der Strandmauer aufgewachsen. Er unterrichtet als Dozent an einer der zwölf Universitäten in London Wissenschaftsgeschichte und stand auf der Gästeliste des Museums, weil er vor zehn Jahren ein Buch über Raritätenkabinette geschrieben hat. Mittlerweile ist es derart in Vergessenheit geraten, dass er nicht einmal weiß, ob er selbst noch ein Exemplar besitzt. Als er seinen Mantel ablegte, hatte er Iris nicht bemerkt, doch er war sich des Augenblicks bewusst, in dem sie gemeinsam den Saal betreten hatten. Etwas hatte sich auf eine Formel gebracht – als hätten sie sich kurz zu einem Tanz aufgeschwungen –, war für die Dauer des Empfangs in seinem Bewusstsein verblieben und hatte ihn zu ihr hingezogen.

Waren sie sich schon einmal begegnet? Iris besaß eine besondere Ausstrahlung, auch wenn Raif noch nicht sagen konnte, woher diese rührte. Sie war klein und schlicht gekleidet, doch sie hatte etwas Markantes und war ungewöhnlich ruhig. In diesem wogenden Raum wirkte sie wie das trockene Festland. Schließlich drehte sie sich um, und er stand da, und sie unterhielten sich, als wären sie einander vorgestellt worden. Raif merkte, dass er ihr etwas erzählen wollte und beantwortete ihre Fragen ausführlich, bis beiden auffiel, was eigentlich passierte – dass es irgendwie zu schnell ging – und das Gespräch ins Stocken geriet. Iris sagte, sie müsse gehen. Als Raif ihr seine Karte reichte, erwiderte sie die Geste nicht, bedankte sich nicht einmal und eilte davon.

Dann kam seine Kollegin Rosa und hakte sich bei ihm ein. (Inwieweit wollte sie signalisieren, dass er zu ihr gehörte?). Sie schlug vor, etwas trinken zu gehen. Zehn Jahre lang war ich ein verheirateter Mann, dachte er, aber jetzt bin ich es nicht mehr und weiß nicht, was das bedeutet. Dieser Gedanke war ihm bereits zur Gewohnheit geworden, zu einem Ruhepunkt. Ich weiß nicht, was das bedeutet.

Auf der Straße holte Rosa ihr Handy heraus und scrollte durch ihre Nachrichten. Raif lief neben ihr her, während sie jemanden anrief und mitten im Gespräch auf ein Schild mit der Aufschrift Bar deutete. Nachdem Raif zustimmend genickt hatte, gingen sie gemeinsam eine Treppe zur Bar hinunter.

Ihr Tisch war klein, die Musik laut. Sie mussten sich Mühe geben, damit sie sich nicht an den Beinen berührten, und weit vorbeugen, um einander zu verstehen. Beim Sprechen streiften sich beinahe ihre Münder. Was dachte er? Rosas zerstreutes Plappern wies darauf hin, dass der Inhalt vergleichsweise belanglos war. Sie arbeiteten seit Jahren zusammen und doch war sie ihm plötzlich so nah, dass er von gefährlichen Details quasi überwältigt wurde: von ihrem offenen Mund, den drei Steckern in einem Ohr, ihren erbsengrünen Fingernägeln und –

Rosa redete weiter. Sie hatte seine Hand genommen.

«Raif.»

Er bewegte die Finger. Hatte er gerade wirklich ihr Handgelenk gestreichelt? Sie zog die Hand weg.

«Es ist ein langer Weg», sagte sie, «aber instrumentalisiere es nicht. Zwei Jahre reichen.»

Instrumentalisieren – was denn? Wozu? Rosa stand auf und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. Diesmal wirkte ihre Nähe eher mütterlich. Hatte sie etwas abgewehrt oder war er es gewesen? Er tat so, als wollte er noch bleiben und weitertrinken und sah ihr nach, als sie ging. Beinahe hätte er etwas sehr Dummes getan. Was hatte er sich dabei gedacht? Ich weiß nicht, was das bedeutet.

Raif läuft durch die Stadt, überrascht, dass es noch nicht so spät ist und für andere Leute der Abend gerade erst anbricht. Auf der Straße geht es noch entspannt, in den vollen Pubs noch rechtmäßig zu. Im Frühsommer bietet die Stadt die angenehmsten Möglichkeiten und die Chance, den Dingen in ihrem eigenen Tempo den Lauf zu lassen. Dennoch hat Raif es eilig, nach Hause zu kommen. Es ist erst zehn Uhr, aber es ist so viel passiert. Er ist erschöpft.

Zu Hause möchte er nicht länger über Rosa nachdenken (oder war es doch Iris, die ihn so verstört hat?) und ruft schließlich Helen an, mit der er seit einer Weile zusammen ist. Anfangs hat er sie stets kontaktiert, wenn er etwas zu zweit unternehmen wollte, und sie waren ins Kino oder ins Konzert gegangen und zusammen aufgewacht. Helen schlug gern Aktivitäten vor, für die man aus dem Haus und in die Welt hinaus gehen musste. Allein kann er so etwas nicht sonderlich gut. Seine Trägheit beruht ebenso auf Gewohnheit wie auf Trauer. Frauen finden ihn tiefsinnig, Männer lethargisch.

Als er Helen bittet, vorbeizukommen, zögert sie, weil sie am nächsten Morgen für eine Rolle vorsprechen soll, sagt dann aber doch zu. Raif lässt sie herein, bietet ihr ein Glas Wein an und beklagt, wie erschöpft er ist. Sie sitzen ein paar Minuten beisammen, bis er aufsteht und zu niemandem im Besonderen sagt, er müsse ins Bett. Helen, die ihre Übernachtungstasche bereits nach oben gebracht hat, geht ins Bad, cremt ihr Gesicht mit konzentrierten kleinen Tupfern ein und nervt Raif damit. Helen tritt zur Seite, als er zu seiner Zahnbürste greift.

Dann geht er ins Bett, als wäre er allein, und liest die Zeitung, während Helen sich auszieht. Er schaut nicht auf, als sie die Unterwäsche abstreift, die sie nach seinem Anruf extra angezogen hat, und in ihre Tasche stopft. Dann legt sie sich artig neben ihn. Raif legt die Zeitung weg, macht das Licht aus und schiebt die Hand zwischen Helens Beine. Sie wartet, doch die Hand rührt sich nicht.

Helen weckt Raif, als er drei Stunden später laut aufschluchzt. Er küsst sie leidenschaftlich und legt seinen Kopf an ihre Stirn. Sie lässt sich auf seine Hinweise ein, während sie gemeinsam versuchen, ihn zum Orgasmus zu bringen, doch er ist nicht nur erschöpft, sondern nimmt auch Medikamente, und es fühlt sich an, als zöge man einen Anker empor. Schlussendlich zieht er Helen zu sich hoch und sieht ihr ins Gesicht.

«Es tut mir leid.»

«Macht nichts.»

«Tut mir leid, dass ich nicht –»

«Du bist müde.»

«Dass ich dir nicht mehr bieten kann.»

«Alles gut», sagt sie und fügt, als er wegdöst, hinzu: «Bald ist es schon ein Jahr.»

«Zwei Jahre. Seit dem Tod meiner Frau.»

«Ich meinte das mit uns.» Helen spricht mit einer abstoßend kleinlauten Stimme. «Seit einem knappen Jahr sind wir jetzt sozusagen zusammen.»

Sie weiß, dass er nicht zuhört und überlegt, warum sie überhaupt damit angefangen hat. Bisher hatte sie noch nicht darüber nachgedacht, doch es gab bereits genügend Nächte wie diese, um sich zu fragen, was sie eigentlich machte, was das war. Er öffnet sich nicht. Wenn überhaupt, hat er sich heute Nacht noch tiefer in sein Schneckenhaus zurückgezogen.

Raifs Gespräch mit Iris hat nur wenige Minuten gedauert. Was sieht er in ihr? Das, was er braucht. Er schläft und als er aufwacht, steht ihm als Erstes das Bild einer Frau vor Augen, die sich abwendet. Er folgt ihr.

Um 21 Uhr verlässt Iris das Museum und geht zum Bahnhof. Die großen nichtssagenden Flügeltüren in der Straße mit den zahlreichen Institutionen sind geschlossen. Die Schwärme von Kindern sind verschwunden, genau wie die freundlichen, immer wiederkehrenden Touristen. Zu dieser Zeit gehen die Studierenden in ihre schäbigen Wohnheime zurück und die Reinigungskräfte fahren zur Arbeit. Jetzt, Ende Mai, ist Iris sommerlich gekleidet, trägt aber zusätzlich einen alten Tweedmantel, weil es seit Wochen kühl ist und sie sich nur langsam an wechselndes Wetter gewöhnt. Mit ihrem weiten Kleid, dem dicken Mantel und dem Kurzhaarschnitt könnte sie kindlich wirken, würde sie nicht so überlegt auftreten.

Das schimpft sich Sommer? Die Londoner nehmen die vereinzelten Sonnentage kaum wahr, so ungeduldig warten sie auf den Hochsommer. Wenn sich aber die heißen, trockenen Tage dahinziehen und wir eigentlich bekommen haben, was wir wollten, sehnen wir uns danach, dass es wieder anders wird. Hält diese Wetterlage an, erlässt die Stadt Warnhinweise. An großen Kreuzungen verteilen Teams gesponserte Wasserflaschen. Damit haben wir zwar gerechnet, doch wie sollen wir uns darauf vorbereiten, dass die Sonne im November eine ganze Woche lang scheint und es dafür von Februar bis Juni regnet?

Vom Bahnhof geht Iris weiter nach Süden und Richtung Fluss, vorbei an halbmondförmigen und rechteckigen Plätzen. Hier sind die Straßen anders beleuchtet. Der diskrete Schein der Laternen scheut vor den Häusern zurück. Iris hat dort im Grunde nichts zu suchen und würde die abgeschlossenen Gemeinschaftsgärten und die seidenmatten Autos verabscheuen. Doch heute kann sie unbemerkt passieren.

Sie denkt nicht über die abendliche Begegnung nach, doch ihr Körper quillt geradezu über, und das, was sie nicht einmal vor sich selbst zugeben möchte, wird mittels kleinerer Explosionen verarbeitet. Solange sie es nicht in Worte fasst, darf sie sich dem angenehmen Schockzustand hingeben. Es ist nichts, worüber wir entscheiden, wir können es uns nicht aussuchen. Körper und Gedächtnis funktionieren so unterschiedlich, dass wir sie unmöglich unterscheiden können. Mit sechsundzwanzig wäre Iris zweifellos am Ball geblieben oder hätte es gelassen. Sogar mit sechsunddreißig wurde dieses spezielle Gefühl regelmäßig geweckt. Doch mittlerweile ist sie sechsundvierzig und findet diese Begegnung so fremdartig, dass sie sich wie sechzehn fühlt.

Als sie nach Hause kommt, hat ihr Mann bereits den Mantel angezogen. Sie bleiben an der Tür stehen und besprechen die nächste Woche. Obwohl sie sich danach nichts mehr zu sagen haben, macht David keine Anstalten zu gehen.

«Und», sagt er.

«Und?»

Sie weiß, was er meint.

«Du wolltest eine Entscheidung treffen.»

«Ach ja?»

Als er die Hand ausstreckt, zuckt Iris zurück.

«Verdammt, Iris.»

An diesem Morgen hatten ihre Töchter sie um fünf Uhr morgens geweckt und sie hatte sie ausnahmsweise so gesehen, wie sie waren: zehn und fast zwölf Jahre alt, kurz davor, die Kindheit hinter sich zu lassen.

«Dad geht’s nicht gut», sagte Lou.

Seit der Trennung hatte Lou sich aufgebürdet, was sie nur konnte, und Kate war ihr Schatten geworden.

«Euer Vater ist erschöpft», antwortete Iris. «Wie wir alle. Wie früh ist es eigentlich, zum Teufel?»

Kate setzte eine flehentliche Miene auf, bittet ihre Mutter nicht sauer zu sein.

«Genau genommen ist es schon Morgen», antwortete Lou.

«Und genaugenommen habe ich geschlafen.»

Lou legte mehr Mitgefühl in ihre Stimme.

«Vielleicht hat er einen Anfall.»

«Wie kommst du darauf?»

«Das hat er uns gesagt», sprudelte Kate hervor. «Er wollte Nudeln für uns kochen, aber dann musste er sich hinlegen, und deshalb haben wir –»

Lou versetzte ihr einen Stoß mit dem Ellbogen.

«Was hat er genau gesagt?», fragte Iris.

Kate schüttelte so dramatisch den Kopf, dass Iris lächeln musste.

«Das ist nicht lustig!», kreischte Lou. Sie schrie förmlich.

Iris nahm sie in den Arm und Kate klammerte sich an alle beide, während sie die tröstenden Worte sagte, die normalerweise von Iris kamen, doch sie klangen so niedergeschlagen und gekünstelt, dass es Iris in den Ohren wehtat.

Die Situation reduzierte sich darauf, dass es ihren Töchtern ganz und gar nicht gut ging und die Frage, was Iris dagegen tun konnte. Sie hatte mit schlaflosen Kindern, und brutalen Vormittagen zu kämpfen, mit Listen, Kosten und dem ganz normalen Alltag, den sie nun alleine stemmen musste. Das Haus fiel in sich zusammen und musste verkauft werden. David konnte nicht ewig im Gästezimmer seiner Schwester hausen. Doch seit den Ereignissen an diesem Morgen schwirrte ihr der Kopf.

David steht immer noch an der Tür.

«Iris. Du wolltest dich entscheiden.»

Mit einem Mal fällt ihr auf, dass sie sich seit Neuestem mit Vornamen anreden, als wollten sie einander wegstoßen. Sie hat zufällig mitgehört, wie ihre Töchter sie oben in ihrem Zimmer ebenfalls als David und Iris bezeichneten. Machten Kinder das so? Ihre Störenfriede von Eltern wegzustoßen? Endlich kann sie etwas erwidern.

«Die Mädchen haben gesagt, es ginge dir nicht gut.»

Er zuckt mit den Schultern und richtet sich auf.

«Kein Grund zur Sorge.»

Obwohl sie weiß, dass er es nicht so meint, akzeptiert sie es.

«Das ist gut. Vielleicht kannst du sie selbst noch einmal beruhigen.»

Das, was er jetzt fühlt – die Kälte seiner Frau, die Einsamkeit aufgrund seiner Krankheit, die Trennung von seinen Töchtern – durchströmt ihn mit solcher Macht, dass er erschauert. Er legt mehr Kraft in seine Stimme und will etwas Versöhnliches sagen, als er es merkt: Ihre Kraft ist vollkommen nach innen gewandt. Sie ist entrückt.

«Mit wem vögelst du?» Er grinst jetzt, damit er nicht anfängt zu weinen.

Iris weicht zurück. Es ist, als hätte er sie auf dem Heimweg beobachtet, als ihr Körper so viel Lust ausstrahlte. Es war offensichtlich, oder etwa nicht? Sie ist jetzt auch eine dieser Frauen – albern, geschmeichelt, aus der Bahn geworfen. Der Nervenkitzel strömt durch ihre Adern, als wäre sie sechsunddreißig, sechsundzwanzig, sechzehn. Und deshalb sagt sie das, was sie sagt, aus dem Bedürfnis heraus, diese lächerliche Seite verborgen zu halten.

«Nicht mit dir, David.»

Als er sie packt, schiebt sie ihn zur Tür hinaus und schlägt sie zu. David boxt dagegen und schreit.

«Wer ist es? Wer?»

Als Iris den Blick hebt, stehen ihre Töchter auf dem Treppenabsatz. Im nächsten Augenblick sind sie verschwunden. Hat sie sie heraufbeschworen, damit sie ihr raten, die Tür zu öffnen und David wieder aufzunehmen?

Im Hausflur ist es still. Er ist weg. Sie setzt sich auf die Treppe.

Die Schlittknochen

Als Raif fragte, woran sie gerade arbeitete, erzählte Iris ihm von den Schlittknochen, die kürzlich am Rande der Altstadt ausgegraben worden und einer Schätzung zufolge fast tausend Jahre alt waren. An diesem Morgen will Iris sie evaluieren. Sie zieht Handschuhe an, bevor sie jedes einzelne flache, schmale Objekt herausnimmt. Die Knochen sind erodiert und verdichtet, doch sie sind noch immer so porös, dass sie auch die winzigste Menge Fett von ihrem Finger aufnehmen würden. Iris arbeitet in einem fensterlosen Raum, doch selbst hier ist die Luft noch reichhaltig genug, um Schaden anzurichten.

Wäre es tatsächlich ein Schaden oder nur eine weitere Veränderung? Schließlich wurden die Schlittknochen hergestellt, benutzt und verloren. Sie verschwanden in jahrhundertealtem Lehm und Eis und tauchten erst wieder auf, als die Bagger im Zuge der Vorbereitung auf die neue Eisenbahnlinie von Ost nach West Schichten der Stadt freilegten.

Der Schlittknochen, den Iris für eine eventuelle Ausstellung ausgewählt hat, ist dunkelbraun. Es handelt sich um das Röhrbein eines Pferdes, den langen Knochen unterhalb des Knies. Da er durch das Körpergewicht zusammengedrückt und vom Eis mürbe wurde, hat er seine natürliche grobkörnige Beschaffenheit verloren und wirkt wie polierte Holzfaser. Nur die gebohrten Löcher, durch die möglicherweise eine Lederschnur gezogen wurde, beweisen, dass dies ein Schlittknochen ist.

Iris muss Gegenstände ihrer Bezeichnung gemäß anordnen. Da das Ausstellungsstück im Museum für sich selbst sprechen soll, wird der Schlittknochen als Schlittschuh präsentiert werden, und nicht als Teil eines Pferdekörpers oder überhaupt als Knochen. All das wird jedoch in der Bildbeschriftung erklärt. Iris wurde ausgebildet, die Objekte zu schützen und sie ohne jegliche Veränderung zu festigen, während sie sich gleichzeitig dessen bewusst ist, dass dies in der Praxis ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Vor tausend Jahren grenzte die östliche Mauer der Altstadt an ein wassergetränktes Moor. Wenn es im Winter zufror, schliffen junge Männer die Schienbeine von Rindern glatt, befestigten sie an ihren Schuhen und spielten auf dem Eise. Weiter im Norden dienten die Schlittknochen nicht dem Spiel, sondern waren auf Reisen schier unabdinglich. Ein langer schmaler See, im Sommer ein dunkles Gewässer, fror zu und bot plötzlich die Möglichkeit, durch den Wald zu sausen. Manch einer bindet Knochen an die Füße und bewegt sich mit Hilfe eines kleinen spitzen Stockes fort, bis er geschwind wie ein Vogel durch die Lüfte schießet, oder gleich dem Pfeile einer Armbrust.

Wie viele Objekte, die Iris am meisten interessieren, sind diese Schlittknochen keine Schönheiten. Knochen, die so rosig und geschmeidig aussehen, wenn sie aus einem lebendigen Körper herausgeschnitten werden, werden im trockenen Zustand körnig und stumpf. Sind sie tierisch? Mineralisch? Die Teile, auf die wir aufgezogen sind, erscheinen an unserem Körper am wenigsten lebendig.

Die einzige Möglichkeit

Bei ihrer dritten Begegnung wird Raif Iris von seinem gebrochenen Herzen erzählen. Er sagt die Wahrheit – sein Herz hat Probleme, zusammenzuhalten. Er wird nie erfahren, was es mit Liis auf sich hatte, wie sie sein Herz zu einem vereinzelten festen Bestandteil seines Ichs gemacht hatte, doch das hatte sie bewirkt. Er hatte sie geheiratet, um sie zu retten, doch in seiner Verliebtheit hätte er sie ohnehin geheiratet.

Kurz nach Raifs Promotion war er plötzlich von sexuellen Ambitionen erfüllt - eine Belastung, da er eigentlich von Natur aus vorsichtig war. Frauen stellten ihm nach und er ging gerne darauf ein. Er erwiderte jeden Flirt und geriet in Schwierigkeiten, da er häufig in der ein oder anderen Richtung übers Ziel hinausschoss. Beziehungen entstanden ohne seine aktive Beteiligung und gingen auch so zu Ende. Als er Liis zum ersten Mal sah, half er bei einer Konferenz an seiner Universität aus. Sie fiel auf, weil sie wie eine Managerin aussah, was sie, wie er bald erfuhr, auch war.

Raifs Erfahrung nach taucht das Leben, tauchen Menschen und Gefühle plötzlich auf und weichen wieder zurück. Er selbst wartet lieber ab. Früher oder später bildet sich eine Oberfläche, über die er hinweggleitet, ohne sich Gedanken um die Richtung oder etwaige Konsequenzen zu machen. Doch auf Liis eilte er zu und inszenierte eine Reihe weiterer Begegnungen wie Etappen einer Zeremonie. Er hatte das Gefühl, wie wild auf einem zugefrorenen See Schlittschuh zu laufen – springend, rückwärts, in Achten –, und das war beileibe kein schlechtes Gefühl, da er – wie unglaublich war das denn? – alles konnte!

Liis war Amerikanerin, stammte ursprünglich aus Estland, und sprach ein extrem klares, nicht im Mindesten individuell geprägtes Englisch. Nur selten hatte Raif das Gefühl, in ihren Gesprächen etwas zu erfahren oder zu begreifen, und reagierte darauf mit Erleichterung. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht nahm er sie in seine winzige Studentenbude mit. Sie zog sich aus und ging ins Bett. Er folgte ihrem Beispiel. Als es hell wurde, schlug er die Decke zurück und Liis legte seine Hände dorthin, wo sie sie haben wollte. Sie ließ ihn wissen, was er tun sollte. Noch nie hatte er sich derart konzentriert, noch nie richtig hingesehen. Er blickte auf ihren perfekten Körper, bis sie ihn mit einem leisen Seufzer an sich zog.

Anschließend nahm er seine Kleidung mit ins Badezimmer, zog sich an und wartete im Flur auf sie. Da er ihr kein Frühstück in einem Café spendieren konnte, bereitete er Tee und Toast zu und schlug vor, Februar hin oder her, das Tablett mit nach draußen zu nehmen und auf einer Bank auf dem ungepflegten Rasen gegenüber zu frühstücken. Sogar das Frühstück sollte etwas Besonderes sein. Bei dieser Gelegenheit erzählte Liis ihm von New York.

Ihr Vater hatte in der Sowjetzeit weit oben in der Rangliste als Diplomat gearbeitet und durfte reisen, da er als äußerst vertrauenswürdig galt. Als Liis achtzehn war, bat er um die Erlaubnis, sie auf einen Trip nach New York mitnehmen zu dürfen. New York! Sie erinnerte sich daran, wie sie gestaunt hatte: über den Marmor im Hotelfoyer, die eingepackten Seifen, die Handtücher, den Aufzug in den fünfunddreißigsten Stock, wie bunt, vielfältig und zahlreich alles daherkam. Am letzten Tag ihres Besuchs, als sie in der Lobby auf das Taxi zum Flughafen warteten, teilte Liis’ Vater ihr mit, dass er sich absetzen würde. Sie konnte sich aussuchen, ob sie nach Hause fliegen und ihn denunzieren oder in New York bleiben wollte. Sie hatte genau eine Minute Zeit, sich zu entscheiden.

An diesem Punkt in der Geschichte verstummte Liis und Raif überlegte verzweifelt, wie er darauf reagieren sollte. Er kannte niemanden, in dessen Leben sich ein Erlebnis diesen Ausmaßes ereignet hatte. Hatte der Vater gut oder schlecht an seiner Tochter gehandelt? Raif entschied sich für eine unverbindliche Erwiderung.

«Du bist geblieben, nehme ich an. Selbstverständlich. Ich meine –»

Sie blickte unverwandt geradeaus, sah weder ihn noch die Bäume oder den Himmel an.

«Selbstverständlich.»

«Und was war mit deiner Mutter?»

Liis schüttelte den Kopf.

«Habt ihr euch wiedergesehen?»

«Ja, letzten Sommer. Allmählich zogen einige Leute wieder zurück und ich dachte –»

«Und dein Vater? Ist er mitgefahren?»

«Er ist tot.»

«Und wie war das letzten Sommer?»

«Ich habe meine Mutter getroffen.»

Obwohl sie kein Gefühl in ihre Stimme legte und ganz entspannt wirkte, sah Raif sich genötigt, sie zu trösten. Mit den Fingerspitzen strich er über ihren Handrücken.

«Ist dir kalt?», fragte er.

«Eigentlich nicht.»

Doch sie zitterte und zog seinen Arm um ihre Schultern.

Er hielt sie so zögerlich im Arm, wie er es in den Folgejahren auch tun würde. Sie blieben noch eine Weile auf der Bank sitzen, während Raif überlegte, was er noch sagen könnte. Bald merkte er, dass Liis gar keine Reaktion erwartete. Wie erholsam! Er dachte sich selbst ein Ende für die Geschichte aus und projizierte alles, was er aus diesem Drama heraufbeschwören konnte, in ihr hübsches, ausdrucksloses Gesicht.

Ein junges Mädchen in einer Hotellobby, das sich eine Zukunft aussuchen soll. Das Leben, das sich in einem Augenblick zuspitzt, in dem gehandelt werden muss. Derartige Momente katapultieren uns in eine einfache Welt aus großen Gesten, in der viel auf dem Spiel steht und die Gefahrenlage klar ist. Liis’ Stern leuchtete immer heller. Kein Wunder, dass Raif sich in sie verliebte.

Ein Jahr nach der Hochzeit hatte er mit Studierenden in einem Pub gesessen. Ein Student sprach über eine Reise nach Estland.

«Die Menschen hat es auf eine Weise getroffen, die wir uns gar nicht vorstellen können. Erst von den einen, dann von den anderen besetzt. Die Jahre in der Sowjetunion. Unglaubliche Geschichten. Ich habe eine Frau getroffen, die seit ihrem achtzehnten Lebensjahr zum ersten Mal wieder dort war. Ihr Vater war ein hochrangiger Diplomat gewesen, der das volle Vertrauen der Regierung genossen hatte. Dann flog er nach New York und durfte eins seiner Kinder mitnehmen.»

«Wann war das?», fragte Raif.

«Keine Ahnung – Ende der Achtziger?»

«Ich meine, wann haben Sie die Frau getroffen?»

«Als ich letztes Jahr dort war. Sie war mit ihrem Mann in meinem Hotel abgestiegen. Eine hübsche Frau, aber tieftraurig, das war offensichtlich …»

Raif setzte sich kerzengerade hin.

«Meine Frau stammt aus Estland und sie …»

Seine Stimme klang gepresst und er hielt sich am Stuhl fest. Etwas rollte auf ihn zu und würde ihn fortschwemmen. Der junge Mann dagegen schaute kaum von seinem Bier auf.

«Ihre Frau? Wirklich? Ein schönes Volk, aber auch ganz schön traurig, oder? Wie auch immer, diese Achtzehnjährige fährt mit ihrem Vater nach New York, amüsiert sich prächtig …»

«Die Geschichte kenne ich», sagte ein anderer. «Hat er sich nicht abgesetzt?»

«Ganz genau! Anscheinend ist sie berühmt oder so.»

«Wie hieß sie denn?», fragte Raif.

«Anja. Nachnamen weiß ich nicht. Egal, am letzten Tag ihrer Reise warteten sie auf das Taxi zum Flughafen …»

Raif behielt es für sich. Er ging nach Hause und legte sich neben seine Frau, als lägen sie auf dem zugefrorenen See, auf dem er schon so lange Schlittschuh fuhr.

Ein versagendes Werkzeug

In ihrem Alter ist Iris bewusst, dass sowohl Entscheidungen als auch die zugrundeliegenden Gefühle viele Komponenten haben. Es geht darum, die Dinge ins Gleichgewicht zu bringen, und das kann sie gut. Sie geht gern methodisch, sorgfältig und unbeteiligt vor. Und doch hindert die Begegnung mit einem Fremden sie daran, die Entscheidung hinsichtlich der Wiederherstellung ihrer Familie in die Tat umzusetzen. Obwohl ihr die Vorstellung, dass man sie so leicht von ihrem Weg abbringen kann, überhaupt nicht gefällt, weiß sie, dass es mit Raif zu tun hat, wie sie sich gerade fühlt, nämlich unterschwellig sehr viel ambitionierter und lebendiger.

Das Wochenende gestaltet sich öde, ihre Töchter sind quengelig und langweilen sich bei allem, was sie bisher gern getan haben. Iris möchte an einem Bericht arbeiten, doch dafür braucht sie Dokumente, die sie im Depot des Museums gelassen hat. Dieses Gebäude, in dem sie regelmäßig einen Teil ihrer Arbeitszeit verbringt, liegt jedoch im äußersten Westen.

Die Mädchen lungern auf dem Sofa und treten einander sporadisch. Iris drängt sich zwischen sie.

«Wollt ihr mit ins Depot?»

Sie sieht Kate an, die Lou anschaut, die sich noch mehr ins Polster lümmelt, bevor sie antwortet.

«Sachen angucken? Haben wir doch schon gemacht.»

Kate bemüht sich, so gelangweilt zu klingen wie ihre Schwester.

«Haben wir alles schon gesehen.»

«Aber nicht meinen Arbeitsplatz.»

«Was soll daran so interessant sein?»

«Dort lagern dreimal so viele Objekte wie im Museum.»

Während Lou die Information auf sich wirken lässt, fällt ihr etwas anderes ein.

«Das Depot ist privat, oder?»

«Na ja, es ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.»

«Also ist es ein besonderes Gebäude, in das normale Menschen nicht reindürfen?»

«Genau. Man braucht einen Ausweis und eine Sondergenehmigung.»

«Okay, dann ja.»

«Holt eure Mäntel.»

«Es ist Sommer.»

«Nehmt sie mit.»

Lou und Kate haben ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht und wissen wie alle anderen weniger darüber, als sie denken. Sie kennen ihre Wege und Ziele und nehmen wenig Kenntnis von allem, was dazwischen liegt. Im Standard-Stadtplan sind die Attraktionen, Geschäfte und Denkmäler aufgelistet, von denen jeder schon einmal gehört hat. Doch es gibt auch eine ausgetüfteltere Karte mit weniger bekannten Stellen, deren Standorte schwer zu beschreiben wären. Sie finden sich eher dort, wo die City sich ihrer selbst nicht sicher ist, wo nichts ist, wie es scheint und wo das eine das andere abschleift oder bekämpft und nichts zusammenpasst. An solch einem Ort befinden sich Lou und Kate jetzt, sie sind verunsichert und gespannt.

Das Depot war in einem weitläufigen Gebäude, der ehemaligen Hauptverwaltung der Postsparkasse, untergebracht. Um die Wende zum 20. Jahrhundert saßen hier viertausend Menschen nach Frauen und Männern getrennt und bearbeiteten hunderttausend Korrespondenzen am Tag. Das Gebäude war für Menschen gedacht, die einer abstrakten Tätigkeit nachgingen: der Bewegung von Geld. Mittlerweile sind nur noch wenige Menschen hier, dafür aber sehr viele eingelagerte Objekte.

Lou lässt ihren scharfen Blick kurz über das verrußte Backsteinhaus, die veralteten Regenrinnen und den schmuddeligen Eingang schweifen. Es ist ihre Art, mit neuen Begegnungen umzugehen. Man betrachtet jemanden, als würde mit dieser Person etwas nicht stimmen, bevor sie es mit einem selbst tun könnte.

«Wie ein Depot sieht das nicht aus», sagt sie.

Kate nimmt Iris’ Hand, als müsste eher ihre Mutter getröstet werden.

«Mum», sagt sie. «Können wir uns jetzt etwas ansehen?»

Sie folgen Iris die Treppe hinunter und durch lange Gänge. Als die Wärme des Tages schwindet, ziehen sie ihre Mäntel an. Genauso gut könnten sie in einer Kirche, einem Krankenhaus oder einem Gefängnis sein. Fenster sind rar gesät.

«Schlechte Luft», sagt Kate. «Total verbraucht.»

«Tja, hier lagern auch viele verbrauchte Dinge», erwidert Iris.

Sie beginnt ihren Rundgang mit einem Raum voller Votivgaben, in dem reihenweise Mutterschöße aus Lehm und Phallusse sowie grobe Figuren mit geschwollenen Bäuchen stehen. Die Mädchen gehen ehrfürchtig von einer Schauvitrine zur nächsten und tun so, als würden sie sich alles ansehen, obwohl diese Gegenstände zu klein und zu unbestimmt sind, um tatsächlich ihr Interesse zu wecken.

«Wieso sind sie nicht hergerichtet?», fragt Lou.

«Weil sie hier nicht ausgestellt werden.»

Die Mädchen kennen Museen als Orte, an denen Exponate entweder außer Reichweite hinter Glas liegen oder ihnen in die Hände gelegt werden. Hier bewegen sie sich umsichtig und halten Abstand. Kate deutet Iris’ Miene als Enttäuschung.

«Was ist dein Lieblingsstück?», fragt sie.

Im Depot sind alle Gegenstände nur mit einer Nummer beschriftet. Die Magie der Einordnung geschieht in den Ausstellungsräumen des Museums. Die Besucher betrachten einen Lehmklumpen, weil die Bildbeschriftung ihnen mitteilt, wie selten und bedeutend er ist – wo er wann gefunden wurde und welche geheimen Kräfte ihm innewohnen. Iris wäre es lieber, wenn die Leute zuerst das unbeschriftete Objekt sähen – als einen Lehmklumpen – und es erst danach als ein Mittel wahrnahmen, die Zukunft vorherzusagen.

Sie schließt die Vitrine auf, zieht ein Fach heraus und erklärt, dass dieser spezielle Lehmklumpen die Kopie eines Modells einer Tierleber darstellt. Das Original ist viertausend Jahre alt.

«Das hier ist viertausend Jahre alt?», fragt Kate.

«Nein», antwortet Iris. «Das ist eine Kopie, aber immerhin hundert Jahre alt.»

«Was sind das für Zeichen?» Kate demonstriert Interesse, während Lou gar nicht richtig hinsieht.

«Babylonische Schrift», sagt Iris.

«Und was steht da?»

«Das weiß ich nicht.»

«Und was soll das Ganze dann?», fragt Lou.

«Es handelt sich um mehrere Prophezeiungen. Ein Priester bringt ein Tieropfer, schneidet die Leber heraus und sucht nach Zeichen. Danach schaut er oder sie sich die gleiche Stelle an einem Modell an und stellt eine Vorhersage. Wie ein Orakel oder ein Horoskop.»

«Haben sie das Tier vorher getötet oder einfach die Leber rausgeschnitten?», will Kate wissen.

Kate gibt sich alle Mühe, das Besondere an diesem Lehmklumpen zu spüren, doch Lous Bedürfnis, etwas zu sagen, ist größer als das, ihre Mutter zu schützen.

«Was fängt ein Museum mit einer Kopie an?», fragt sie.

«Damit werden Lücken in einer Sammlung geschlossen.»

«Obwohl es gar nicht das echte Teil ist?»

Nach kurzem Zögern versucht sich Iris an einer Erklärung.

«Man kann nur sehr schwer bestimmen, was echt ist. Alles stellt sich mehr oder weniger als eine Version von etwas anderem oder als Version einer Idee heraus.»

«Bin ich eine Version?», sagt Kate.

«Das könnte man so sagen», antwortet Iris. «Du bist eine Version von Dad und mir, aber du bist gleichzeitig ein Original, du selbst, einzigartig und echt.»

Kate lacht entzückt, aber Lou besteht auf ihrer Langeweile.

«Wieso gibt es so viel von dem Gleichen? Reicht nicht ein Exemplar?»

«Der Mann, der das alles gesammelt hat, war anscheinend anderer Meinung.»

Ihre Töchter interessieren sich nicht für die Meinung des Sammlers und Iris überlegt, was sie ihnen noch bieten könnte.

«Wir haben fünfzig Zahnarztstühle.»

Lou schüttelt den Kopf.

«Das sind doch bloß Zahnarztstühle.»

«Stimmt, aber fünfzig Stück.»

Kate drängt sich zwischen sie und ruft, als wäre sie fünf und nicht zehn: «Die will ich sehen!»

Das Museum hat zwei Zahnarztstühle in aufwändigen Lehrmodellen von Operationen der entsprechenden Epoche ausgestellt. Die Stühle verschmelzen mit der passenden Umgebung. Hier im Untergeschoss des Depots wirken sie zusammengeschoben neben den eisernen Lungen und Röntgengeräten verstörend.

Die Mädchen sind beeindruckt.

«So viele komische Möbel», flüstert Kate.

Haufenweise stehen Versionen von Betten, Tischen, Schränken und Stühlen herum. Von schlichten Holzlatten zu einem Thron aus rotem Samt, Leder, Chrom, Plastik und einer klinischen hellgrünen Lackierung strahlen sie alle die gleiche Ambivalenz aus. Ruh dich aus, sagen sie, aber auch halte aus.

Seit Jahrhunderten erfinden wir neue Methoden, in den Körper einzudringen und auf ihn einzuwirken. Doch wenn wir jetzt einen Körper aufschneiden, können wir nur voraussagen, warum er nicht mitmacht, ob er es je wieder tun wird, und vielleicht, wie lange.

Abends bekommt Iris einen Anruf nach dem anderen, während sie mit den Mädchen fernschaut. Während das Handy auf dem Beistelltisch vor dem Sofa vibriert, können sie alle Davids Namen sehen. Iris rührt sich nicht. Beim vierten Anruf streckt Kate den Arm aus, doch Lou hält sie fest. Die Mädchen ahmen ihre Mutter nach und konzentrieren sich auf das Fernsehprogramm. Obwohl Iris vorgibt, nichts zu merken, ist sie schier entsetzt. Wann haben die Mädchen sich zu diesen blassen kleinen Diplomatinnen entwickelt? Sie sind zu jung für diese Art von Vorsicht.

Kaum sind sie im Bett, ruft sie David an.

«Es nimmt sie so sehr mit», sagt sie. «Wir müssen uns mehr Mühe geben, sie weniger zu belasten.»

«Soll ich etwa so tun, als wäre ich nicht krank?»

Aber du bist doch nicht wirklich krank, hätte sie am liebsten gesagt. Jedenfalls die meiste Zeit nicht. Sie schweigt.

«Du hast immer gesagt, wir sollen ehrlich zu ihnen sein», sagt er.

«Du meinst, wir sollen ihnen erklären, warum du ausziehen musstest?»

«Weil du die ganze Zeit sauer auf mich warst? Das wissen sie bestimmt.»

«Ich habe meinen Zorn immer vor ihnen verborgen. Immer.»

Als Iris das sagt, wird ihr mulmig. Davids Stimme wird dünn, als er versucht, sie möglichst tief zu verletzen.

«Du glaubst, du hast alles im Griff. Ich musste dich retten, bevor wir überhaupt Hallo sagen konnten, weißt du noch?»

«Das ist unfair.»

«Aber es stimmt, oder etwa nicht?»

Sie merkt, dass er komisch atmet.

«Bist du betrunken, David? Du bist betrunken.»

Sie hat recht. David hat sich mittags mit einer Flasche Whisky hingelegt. Er will wissen, mit wem Iris ins Bett geht und findet es furchtbar, dass er ungeachtet dessen, was da vorgeht, selbst mit ihr schlafen will. Doch sie begehrt ihn und seinen Körper nicht. Mittlerweile bekommt er nur noch selten eine Erektion und hat Inkontinenzprobleme. Er kriegt keinen hoch und kann nichts drinbehalten, und gleichzeitig hat sie sich in die ehemals begehrenswerte Iris zurückverwandelt. Und ein anderer, jedenfalls nicht er, löst das in ihr aus.

Er macht sie fertig und sie zahlt es ihm zurück und vergisst, dass er zeitweise auch wegen seiner Krankheit nuschelt, so wie er zittert, stolpert und sich ausruhen muss. Iris hasst sich und David geichermaßen. Sie sind zwei abgestumpfte, ätzende Individuen, die gemerkt haben, wie leicht es ist, einander das Schlimmste an den Kopf zu werfen. Sie sind keine leidenden Erwachsenen, sie sind Ungeheuer.

Iris und Max stehen dick eingemummelt in einem zugigen Gang im Magazin und kochen Tee mit einem Wasserkocher, der im Regal steht. Die Küche wurde quasi für Objekte beschlagnahmt. Es wird immer voller. Iris arbeitete schon vor Davids Diagnose mit Max zusammen. Als sie sich kennenlernten, war sie die Mutter von zwei kleinen, noch verschwommen wirkenden Mädchen mit einem launischen, aber charmanten Mann. Iris und David hatten ihre Probleme, aber auch den unverwüstlichen Glauben, sie lösen zu können.

An diesem Morgen hat Iris sich vorgenommen, Stränge eines unter dem Meer verlegten Telegrafenkabels aus dem 19. Jahrhundert herauszuholen und zu präparieren. Das Kabel ist derart ausgefranst und korrodiert, dass sie es am liebsten überhaupt nicht transportieren würde. Sie zieht Handschuhe an, holt die entsprechenden Ablagekästen aus dem Regal und stellt sie auf den Rollwagen, den sie durch den Flur zum Lastenaufzug schiebt. Der Aufzug ist kaputt und der Forschungsraum liegt zwei Stockwerke tiefer. Als sie Max telefonisch um Hilfe bittet, sieht sie, dass sie eine Nachricht von David bekommen hat. Sie liest sie nicht.