Wo die Nacht verweilt - A. B. Poranek - E-Book

Wo die Nacht verweilt E-Book

A.B. Poranek

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Beschreibung

Um in ihrem von Aberglaube geprägten Heimatdorf ein ruhiges Leben führen zu können, möchte Liska ihre magischen Kräfte mithilfe der sagenumwobenen Farnblume für immer loswerden. Doch die wächst tief im Wald, wo nichts ist, wie es scheint … Nachdem Liska einen Handel mit dem dämonischen Wächter des Waldes, dem Leszy, eingeht, wird ihr schnell klar, dass er etwas vor ihr verbirgt. Gefahr droht, Liska findet ungewöhnliche Verbündete und muss sich schließlich fragen, ob ihre Magie sie tatsächlich zu einem Monster macht – und ob der Leszy ein solches Monster ist.

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Seitenzahl: 532

Veröffentlichungsjahr: 2024

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A.B. Poranek

Wo die Nacht verweilt

Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Where the Dark Stands Still bei Margaret K. McElderry Books, ein Imprint von Simon & Schuster, New York.

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 by A.B. Poranek

Published in agreement with the author, c/o BARORINTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.

Übersetzung: Henriette Zeltner-Shane

Lektorat: Leonie Teckenburg

Covergestaltung: Niklas Schütte

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.

 

ISBN978-3-03880-185-6

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

 

Für Babcia und Dziadek Weil Bäume nicht ohne Wurzeln wachsen

 

1Das Mädchen, das den Wald betrat

Die Feiern zu Kupała, der Mittsommernacht, haben gerade erst begonnen, als Liska Radost das Dorf hinter sich lässt.

Tränen treten ihr in die Augen, als sie ein letztes Mal zurückblickt. Ein Windstoß zerrt an ihrem Schultertuch und droht die Flamme in ihrer Laterne auszulöschen. Eigentlich wird die Sonnwendnacht unter dem Sommervollmond ausgelassen gefeiert. Unverheiratete Mädchen binden Kränze aus Wildblumen und lassen sie den Fluss hinuntertreiben, damit die einheimischen Jungen sie herausfischen. Am fröhlich prasselnden Sonnwendfeuer singt man Volkslieder und die Dorfbewohner beten zu Gott um Fruchtbarkeit auf den Feldern, in den Ställen und ehelichen Schlafkammern. Das Wichtigste ist allerdings, dass in dieser Nacht der Legende nach die Farnblume blüht.

Und wenn die Legenden wahr sind, dann wird es die Nacht sein, in der Liska sie findet. Sie wird sie pflücken, ihren Wunsch aussprechen und für ihre Sünden Buße tun.

Nun schreitet sie tiefer in die Dunkelheit, durch eines der zahlreichen Weizenfelder, die sich über die sanften Hügel erstrecken und das Dorf auf allen Seiten umschließen. Zu Mittag wird die Sonne die Halme in Gold verwandeln, doch jetzt rascheln sie nur ahnungsvoll gegen Liskas geblümte Röcke und beugen sich wie reumütige Sünder. Sie hebt die Laterne höher, aber das Licht ist nur ein flackernder Funke – ein Hohn im Vergleich zum lodernden Kupała-Feuer in der Ferne, das die strohgedeckten Dächer von Stodoła auf die Leinwand des Himmels malt.

Stodoła. Heimat. Sie wird ihr Zuhause niemals wiedersehen, wenn ihr Vorhaben heute Nacht nicht gelingt. Die Gerüchte, die die Dorfbewohner flüsternd verbreiten, kennt sie gut: dass sie eine Hexe sei und so böse wie die dunkle Magie, die sich im Geisterwald verbirgt. Beinah muss sie darüber lächeln, dass die Farnblume ausgerechnet an diesem verfluchten Ort, der sogenannten Driada, blühen soll.

Es ist ihre eine einzige Chance auf Erlösung.

Der Mond geht auf wie ein großes silbernes Auge, weit geöffnet und wachsam. Er treibt Liska voran, schürt wie eine Flamme den Drang in ihrer Brust. In allen Märchen blüht die Farnblume nur bis Sonnenaufgang – deshalb darf sie keinen Augenblick vergeuden.

Ihr Weg führt sie an den Äckern vorbei auf Anhöhen mit phantomweißen Birken und hartem Gras, wo sich offenbar ein Grillen-Orchester eingefunden hat. Um sich Mut zu machen, beginnt Liska, ein Volkslied zu summen. Das handelt von einem Mädchen mit zwei Verehrern und einem Vogelbeerbaum. Die Grillen geben den Rhythmus vor, die Brise flüstert wohltönend mit und mit der Zeit kann sie sich einreden, dass sie keine Angst hat.

Bis der Driadawald vor ihr auftaucht.

Sie hat ihn schon früher gesehen – so wie alle aus Stodoła, von der schelmischen Neugier eines jeden Kindes hierhergetrieben. Wie oft stand sie mit Marysieńka an dieser Stelle? Die beiden forderten sich gegenseitig heraus, noch näher an den Wald heranzuschleichen. Näher und näher und näher, bis ein Knurren oder Rascheln sie kreischend verjagte und sie ohne Stehenbleiben bis nach Hause zurückrannten. Kinder tun närrische Dinge, bis sie alt genug sind, die Narretei zu begreifen – bis ihr Vater sie lehrt, die Strohornamente zu binden, die man in jedem Haus in Stodoła findet. Oder bis die Mutter erklärt, warum sie ihnen rote Bänder ins Haar flechtet. Das ist ein Schutz, wird sie mit sanftem Ernst sagen, vor Geistern und Dämonen und den bösen Mächten des Geisterwalds.

Als sie so nah vor ihm steht, muss Liska dem Wald eine morbide Schönheit zugestehen: wie die Anmut von Blumen auf Gräbern oder die eines Habichts, der auf seine Beute herabfährt. Die Bäume sind riesig, mächtig wie Türme und ausladend, das Astwerk wie die gespreizten Finger einer alten Frau in wattigem Nebel. Da bemerkt Liska den Geruch, der an ein frisch geschaufeltes Grab erinnert – nach Lehm und Moder und faulem Fleisch – und keinen reinen Atemzug erlaubt.

Irgendwo dort drinnen befindet sich die Farnblüte. Wenn sie die findet, muss sie ihren Wunsch sorgsam bedenken, denn die Blüte gewährt nur einen einzigen. In den Legenden sprechen Männer oft schlecht in Worte gefasste Wünsche aus und finden ein schreckliches Ende, sofern sie es überhaupt schaffen, an den teuflischen Geistern des Waldes vorbeizukommen. Hier bietet Liskas Fluch ihr zumindest einen Vorteil – schon immer war sie imstande, Geister zu spüren, zu hören und sogar zu sehen: den koboldhaften Skrzat neben dem Ofen, der sich über den schmutzigen Fußboden beklagt, oder die Kikimora im Nachbarhaus, die vor Freude über Garn jauchzt, das sie verheddern kann. Doch das sind wohlwollende Hausgeister, die sich an Gaben von Brot und Salz satt futtern und den Menschen, die ihnen Unterschlupf gewähren, freundlich gesonnen sind. Sie bezweifelt, dass die Dämonen der Driada dieselbe Sprache sprechen.

Wird sie es tatsächlich tun? Noch ist es nicht zu spät umzukehren.

Sie gehört nicht hierher.

Eine Erinnerung: Pater Paweł sitzt in der Küche des beengten Radosthofs. Er ist ein junger Priester, seine ausgefranste Soutane so löchrig wie sein Bart, seine Miene zu misstrauisch, um noch als mitleidig durchzugehen. Er und Mama sind die einzigen Menschen in Stodoła, die Liskas Geheimnis kennen. Oder zumindest waren sie das bis vor zwei Tagen.

»Die Leute beginnen sich zu wundern, Dobrawa«, sagt Paweł. »Es gibt keine Beweise, aber anders kann es sich niemand erklären. Du tust das Beste, wenn du sie fortschickst, bevor sie wieder die Kontrolle verliert oder die Prawotas genügend Leute um sich geschart haben.«

Eigentlich soll Liska diese Worte nicht hören, doch sie lauscht von draußen, durch einen Riss im Fensterladen. Sie beißt sich so fest auf die Lippe, dass es in ihrem Mund bald nach Eisen schmeckt. Die Luft ist feucht, der Himmel ein wolkenreiches Blau und zu ihren Füßen scharren ein paar Hühner unbekümmert in der Erde.

»Ich weiß, Pater, ich weiß. Aber wo soll sie hin?«

Dobrawa Radost – Mama – sitzt Pater Paweł gegenüber und zupft Minzblätter zum Trocknen von ihren Stängeln. Mit ihrer strengen Art und Augen so kalt wie Raureif hat sie Liska schon immer an Szklana Góra erinnert, den Glasberg aus den Märchen, den kein Ritter bezwingen konnte. Und wie dieser Berg ist sie weder freundlich noch grausam. Sie ist schlicht unerschütterlich, was sie als die Heilerin von Stodoła auch sein muss.

»Sie ist alt genug«, erwidert Pater Paweł. »Und ein wohlerzogenes, anständiges Mädchen. Du könntest sie verheiraten, in eine Lehre geben … oder besser noch: in ein Kloster schicken. Gott weist niemanden ab und seine Gegenwart wird sie vor der Versuchung dieser unheiligen Mächte bewahren.«

Dobrawa seufzt. »Ich habe all das bedacht, Pater, aber ist es wirklich eine gute Idee, sie allein fortzuschicken? Ich fürchte, was ohne Unterweisung aus ihr werden könnte.« Sie wirft einen kahlen Minzstängel auf den Boden. »Ach, Bogdan hätte gewusst, was mit ihr anzufangen ist. Er war der Einzige, der sie wirklich kannte.«

»Du tust das Richtige«, versichert ihr Pater Paweł. »Es ist ja keine Verdammung, nur eine Vorsichtsmaßnahme. Zu ihrer eigenen Sicherheit und …«

Und zu unserer. Diese letzten Worte bleiben unausgesprochen, doch Liska weiß, was der Priester sagen wollte: dass Liska eine Gefahr darstellt, weil sie von Magie befallen ist wie ein Obstgarten von Mehltau.

»Ich werde das ändern«, verspricht sie den Sternen über sich. »Ich werde es in Ordnung bringen.«

Sie will alles tun, um zu beweisen, dass sie nicht gefährlich ist, dass sie dazugehört – zum Dorf und zu ihren Leuten. Selbst wenn es bedeutet, dass sie auf die Märchen ihrer Kindheit vertrauen muss.

Sie geht weiter, näher, bis die Bäume des Driadawalds direkt vor ihr aufragen. Furcht packt sie an der Kehle und lässt sich kaum abschütteln.

»Gott schütze mich«, flüstert sie.

Aus dem Wald dringt daraufhin ein Kreischen. Der Wind? Nein, dafür klingt es zu ungleichmäßig.

Wie Geheul.

Oder vielleicht höhnisches Gelächter.

Liska hebt die Laterne in die Höhe und starrt auf den Weg, den sie gewählt hat. Der ist nicht mehr als niedergetretenes Unterholz zwischen raschelnden Brennnesseln und grausamem Dornengestrüpp, das an ein aufgerissenes Maul erinnert. Im flackernden Feuerschein wirkt alles wie ein Trugbild, wie die Schwelle zu einem Palast der Dunkelheit. Lauernd. Wachend.

Das Gelächter ertönt wieder und diesmal zwingt sie sich zurückzulächeln.

Dann tritt sie zwischen die Bäume.

 

Im nächtlichen Wald gibt es keinerlei Gewissheit.

Ein Baum ist in der windstill abgeschotteten Dunkelheit kein Baum, sondern ein entstellter Leib mit krummen Gliedern; seine Borke ist nicht Borke, sondern eine groteske Fratze mit runzliger Haut. Das Brombeergesträuch darunter wird zu etwas ganz anderem – böse Klauen, die schnappen und an den Kleidern reißen. Nesseln verbrennen Liskas nackte Knöchel, doch der Schmerz ist nichts gegen das scharfe, bohrende Gefühl in ihrem Nacken, beobachtet zu werden.

Liska stellt fest, dass sie sich bei Weitem nicht so fürchtet, wie es angemessen wäre. Vielleicht liegt das daran, dass dieser Wald genau wie sie widernatürlich, anders ist. Allein ihrer Erscheinung wegen passt sie schon immer besser in die wilde Natur als ins Dorf: mit Haaren in der Farbe frisch umgeackerter Erde, olivfarbener Haut und Wangen voller Sommersprossen. Für die Sonnwendnacht hat sie die Festtracht angezogen, einen purpurroten Rock mit blassen Blumen und ein besticktes Mieder über einer weißen Spitzenbluse. Ihre wilden Locken sind zu geflochtenen Zöpfen gebändigt und um ihren Hals hängen Perlen, rot wie Vogelbeeren – festlicher Schmuck und zugleich Schutz gegen Dämonen. Als die Kette an einem Zweig hängen bleibt und reißt, fühlt es sich an wie ein böser Scherz.

Sie bleibt nicht stehen, um die Perlen aufzusammeln.

Der Wald wird dichter. In der Ferne blitzen Lichter, deren Ursprung sich nicht erkennen lässt. Für Glühwürmchen sind sie zu groß. Im Dickicht rechts neben Liska raschelt es und sie könnte schwören, ein krummbeiniges Wesen im Nebel lauern zu sehen. Doch bevor der Schein ihrer Laterne es erfasst, krabbelt es schon davon. Beim nächsten Schritt vorwärts zerbricht etwas unter ihrem Fuß. Ein Ast, beruhigt sie sich.

Auch wenn es sich eher wie ein Knochen anfühlt.

Sie läuft weiter, denn dies ist ihre einzige Chance und ihre Verzweiflung ist weit größer als ihre Furcht. Sie malt sich schon aus, wie sie zu Mama nach Hause zurückkehrt und ihr sagt, dass sie sich keine Sorgen mehr machen muss, dass Liskas Zauberkräfte keinen Schaden mehr anrichten werden. Kein Geschirr, das von allein zerspringt, keine auflodernden Feuer in ihrer Gegenwart, keine Vögel, die sich allmorgendlich vor ihrem Fenster versammeln, als wollten sie ihr ein Geheimnis verraten, das sie nicht verstehen kann.

Wie das Leben wohl sein wird, wenn sie nicht mehr mit gesenktem Kopf herumlaufen und so tun muss, als wären die Katastrophen, die sie heraufbeschwört, pure Zufälle? Wenn sie nicht mehr jedes Gefühl im Zaum halten muss, damit es keine Zauberkräfte weckt?

Dabei hatte sie geglaubt, wahrhaftig geglaubt, die Magie endlich im Griff zu haben.

Bis zu dem Vorfall mit Marysieńka.

Die Erinnerung will Besitz von ihr ergreifen, doch sie sträubt sich. Schau nach vorn ins Licht, ermahnt sie sich selbst. Dann wirst du die Schatten hinter dir nicht sehen.

Doch im nächtlichen Wald gibt es nur so wenig Licht.

Schon bald verliert Liska den Weg. Ein unbedachter Schritt, und als sie sich umdreht, ist der Trampelpfad nicht mehr zu sehen – nur Bäume auf allen Seiten. Sie scheinen näher zu rücken, die Äste verflochten zu einem engen Käfig, kaltes, feuchtes Laub, das ihr ins Gesicht klatscht.

Sie hört ihren Puls laut in den Ohren hämmern. Pfade wie der, den sie gerade verloren hat, stammen von Handelskarawanen. Sie durchqueren den Wald, um von Orlica ins benachbarte Litven zu gelangen. Die Kaufleute kommen gut vorbereitet in die Driada – mit kräftigen Pferden, Gewehren und Säbeln, manchmal sogar mit bezahlten Wachen. Eine Woche bevor sie den Wald betreten, hinterlassen sie eine Maut, einen Tribut: Fleisch oder Brot oder Münzen am Beginn des Wegs, den sie nehmen wollen. Gaben für den Dämon Leszy.

Leszy. Den Namen kennt im Dorf Stodoła jedes Kind so gut wie ein Gebet, auch wenn er eher wie ein Fluch benutzt wird. Der Leszy herrscht im Driadawald und hält die Geister darin in Schach. Er schützt die Reisenden auf ihrem Weg, genau wie die umliegenden Siedlungen. Niemand darf sein Reich betreten, ohne den Tribut zu entrichten – und alle wissen, wenn der Leszy mit den Gaben nicht zufrieden ist, gibt es keine Rückkehr aus dem Wald.

Liska hat am Abend vor Kupała ihre eigene Gabe hinterlassen – einen Laib Roggenbrot und getrocknete Kiełbasa-Wurst am Beginn des Pfades, den sie einschlagen wollte. Doch nachdem sie bereits vom Weg abgekommen ist, macht sie sich wenig Hoffnung. Legenden erzählen vom Schutz, den der Leszy Reisenden gewährt, aber ebenso davon, dass, wer sich verirrt, nie wieder zurückfindet.

»Es ist egal«, sagt Liska zum Wald oder zu Gott, die in diesem Moment vielleicht ohnehin ein und dasselbe sind. »Ich kann mir eh nicht vorstellen, dass du die Blüte an einem Ort verbirgst, wo sie leicht zu finden wäre.«

Da bleibt ihr Fuß an einer Wurzel hängen. Sie stolpert vorwärts und schlägt mit den Knien auf. Die Laterne rutscht ihr aus den Fingern, das Glas zerspringt mit einem dumpfen Knacken.

Die Flamme erlischt.

2Bäume mit zu vielen Augen

Die Dunkelheit fällt sie an wie ein Raubtier, das alles rundherum verschlingt. Ihr bleibt nur die Silhouette des Blätterdachs, starres Laub zerteilt das Mondlicht in scharfe Splitter. Liska hat ihre Angst nicht mehr im Zaum. Überwältigend tobt sie durch ihre Brust.

Ihre Schritte werden zu einem blinden Stolpern. Die Hände schrammen gegen raue Rinde und greifen in stacheliges Gestrüpp. Zweige peitschen ihr ins Gesicht und verfangen sich in ihrem Haar, bis die Zöpfe sich lösen. Panik packt sie bei den Eingeweiden und weckt ihre Zauberkraft. Nur die Ruhe. Sie muss sich beruhigen, bevor sie noch die Beherrschung verliert. Also beginnt sie, so leise wie nur möglich, wieder eine Melodie zu singen. Mit schierer Willenskraft versucht sie, ihren Herzschlag dem gemächlichen Rhythmus anzugleichen.

Sie ist erst bei der zweiten Strophe, als sie ihn erblickt.

Einen weißen Hirsch.

Er steigt aus dem Nebel, als würde der ihn erschaffen. Silbrige Schwaden umspielen seine Flanken, seine Hufe scheinen in schäumendem Wildwasser zu stehen. Das Geweih ragt wie eine majestätische Krone empor, mit unzähligen Spitzen, bleich wie Birkenstämme. Im dichten Wald sollte so ein Körperteil nur hinderlich sein, doch es berührt die Zweige nicht einmal. Die Bäume scheinen ihr Astwerk ehrfürchtig beiseite zu neigen.

Die ovalen Augen der Kreatur nehmen Liska in den Blick und sogleich erstirbt das Lied auf ihren Lippen.

»Witam«, haucht sie zur Begrüßung und macht sicherheitshalber noch einen Knicks dazu. Dabei kommt sie sich ein wenig albern vor, doch es scheint ihr angemessen.

Der Hirsch senkt kurz den Kopf. Seine farngrünen Augen sehen so verloren und uralt aus, als hätten sie die Geschichte Orlicas schon jahrhundertelang an sich vorbeiziehen sehen.

»Du kennst nicht zufällig den Weg zur Farnblüte?«

Das Tier gibt ein Schnauben von sich, das aufgebracht und amüsiert zugleich klingt. Trotz ihrer Furcht werden Liskas Wangen wärmer.

»Nun«, meint sie verlegen, »wenn du nicht hier bist, um mir zu helfen, dann willst du mich wohl fressen. Nur zu.«

Der Hirsch macht einen Schritt vorwärts und seine Hufe hinterlassen leuchtende Spuren auf dem feuchten Erdboden.

»Immerhin werde ich zur Beute von etwas Schönem«, sinniert Liska mit Herzklopfen. »Besser, als einem Strzygoń oder Teufel zum Opfer zu fallen.«

Wieder schnaubt der Hirsch und klingt viel menschlicher, als er es eigentlich dürfte. Erst geht er einen weiteren Schritt auf sie zu, dann wendet er sich abrupt ab. Noch bevor Liska erschrocken aufschreien kann, stürmt er in den Wald davon. Die schimmernden Spuren pulsieren in der Dunkelheit. Beinah wie ein … Pfad.

Aber wohin? Liska zögert. Sie kennt die Sagen über wunderschöne Dämonen wie die Mittagsfrau Południca, die ihre blutverschmierte Sichel schwingt, oder Rusałka mit dem Zauberlied, die Männer mit ihren geheimsten Wünschen verführt und in ein nasses Grab bringt. Vielleicht ist es ein Trick – wahrscheinlich sogar. Doch es ist die beste Option, die sie hat.

So folgt sie der Spur des Hirschs. Die verblasst, sobald sie den Fuß darauf setzt – vor Liska bleibt sie hell, hinter ihr herrscht wieder Dunkelheit. Langsam lockert der Wald seinen Würgegriff, Stämme richten sich gerade auf und der Nebel hebt sich, sodass ein federleichter Moosteppich sichtbar wird. Abrupt endet die Spur des Hirschs und Liska findet sich am Rand eines Bachs wieder, der tintenschwarz zwischen zwei krummen Koniferen hervorsprudelt. Der Mond bescheint sie mit hellen Strahlen und das Licht ist eine Wohltat, auch wenn das Verschwinden des Hirschs sie beunruhigt.

»Was ist das für ein Ort?«, flüstert Liska – laut zu sprechen wagt sie nicht. »Warum hat er mich hierhergeführt?«

Zögernd kniet sie sich ans Ufer. Tannennadeln stechen in ihre Handflächen, als sie sich vorbeugt, um zu Atem zu kommen. Gedanken an zu Hause beschleichen sie. Inzwischen haben sich die Dorfbewohner wahrscheinlich auf dem Hauptplatz versammelt, wo sie zum Geschrammel einer Fiedel fröhlich tanzen. Vielleicht spricht Pater Paweł einen Segen oder junge Paare nehmen sich bei den Händen und springen übers Sonnwendfeuer. Ach, wie sehr sie sich wünscht, eine von ihnen zu sein.

Noch bevor die Sehnsucht sie ganz erfasst, bemerkt sie eine Melodie.

Unverkennbar singt jemand in der Nähe. Eine bewegende Melodie, die an- und abschwillt. Die Töne umschmeicheln Liska, bringen sie wieder auf die Füße. Sie trösten, warm wie eine freundliche Umarmung oder ein glühender Herd im tiefsten Winter. Komm nach Hause, Liska Radost, sagen sie. Deine Suche ist vorüber. Du hast deinen Platz gefunden.

Liska blinzelt. Den Bach hinauf steht eine Gestalt, als hätte sie schon die ganze Zeit dort gestanden. Eine wunderschöne Frau, nackt, mit flachsblonden Locken, die über ihre Brüste fallen, und einladend ausgebreiteten Armen. Komm, Liska, komm, singt sie.

Liska nickt wie im Fieber. Sie lächelt, ohne sich zu erinnern, warum. Sie weiß auch nicht, wann sie begonnen hat auf die Frau zuzugehen, doch sie ist schon nah genug, um die Gelenke ihrer überlangen Finger zu zählen.

Ein Stechen in der Brust lässt sie plötzlich innehalten. Das Gefühl ist schrecklich vertraut, wie Schmetterlinge, die im zerbrechlichen Käfig ihrer Rippen gefangen sind. Eine Warnung. Ihre Zauberkraft ist erwacht und warnt sie.

Auf einmal flackert das Bild der Frau. Ihr Fleisch sinkt auf die Knochen. Aus strähnigem Haar rinnen Bäche auf die rissige Haut, dort, wo ihre Lippen sein sollten. Als Liska zurückzuckt, reißt die Frau ihre glasigen Augen auf und verändert ihre Gestalt erneut. An ihrer Stelle steht jetzt Mama, mit ihrer makellosen Schürze und strenger Miene. Sie macht einen Schritt auf Liska zu und ihr stahlharter Blick wird weich, als sie nach ihren Händen fassen will.

»Komm nach Hause, Liska.«

Diesmal ignoriert Liska die Warnung in ihrer Brust. Sie wünscht sich nichts mehr, als diese Hände zu ergreifen, ihre feste Sicherheit zu spüren. Und dieses Lächeln … wie lange ist es her, dass sie ihre Mutter das letzte Mal lächeln sah?

»Du hast es geschafft, Słoneczko«, spricht Mama noch sanfter. »Es ist vorbei. Komm mit mir nach Hause.«

Liska blinzelt. Słoneczko, Sonnenschein – das war Tatas Spitzname für sie, aber nie Mamas. Koseworte passen nicht zur unverblümten, pragmatischen Dobrawa Radost.

Ihre Mutter ist nicht hier.

Liska weicht zurück und presst sich die Handflächen gegen die Augen. Als sie sie wieder öffnet, verzerrt sich Mamas Gesicht. Ihr Lächeln wird breiter, unmöglich breit, sodass nadelspitze Zähne und eine blasse, schmale Zunge sichtbar werden.

»Du irrst dich«, flüstert Liska der Kreatur zu. »Mama will mich fortschicken.«

Sie rennt Richtung Bach.

Die Frau – nein, die Rusałka – taucht hinein. Sie löst sich in dem trüben Wasser auf und verschwindet mit der Strömung. Liska will nicht umkehren, springt vom Bachufer ab und landet auf der gegenüberliegenden Seite, wo ihre Knie vom Aufprall nachgeben. Als sie auf dem nassen Boden ins Rutschen gerät, taucht die Rusałka hinter ihr auf. Ihr lippenloser Mund klafft kreischend auseinander und knochige Finger grapschen nach Liskas Röcken.

Liska schnappt nach Luft, klammert sich an einen umgestürzten Baumstamm und tritt mit aller Kraft nach hinten. Ihre Ferse stößt auf etwas Brüchiges, das wie eine Eierschale zerspringt. Der gellende Schrei, der daraufhin ertönt, verrät ihr, dass sie die Rusałka getroffen hat. Die Dämonin lässt von ihr ab. Einen Augenblick später wird die Wasseroberfläche glatt und still. Liska atmet zitternd aus und wagt einen Blick über ihre Schulter.

Da schnellt die Rusałka aus dem Wasser und packt sie bei den Trägern ihres Mieders.

Liska bleibt keine Zeit zum Schreien. Die Welt kippt, als sie von den Füßen und rücklings in die eisige Strömung gerissen wird, vor ihren Augen nur Blasen.

Schleimige Finger schließen sich um ihren Hals.

Panik erfasst Liska bis in ihr Innerstes, während das sandige Wasser ihr in dieNase dringt. Über und unter ihr ist nur Dunkelheit, während sie weiter, immer weiter hinabgezogen wird. Der Bach ist viel tiefer, als er aussah, und durch ihre von Blasen erschwerte Sicht erkennt sie, dass weiß aufblitzende Knochen den Grund bedecken. Auf die Panik folgt eine Art irrsinnige Heiterkeit. Das war’s also, denkt sie. Ich sterbe und werde zu grausiger Dekoration.

Doch etwas in ihr leistet Widerstand. Es erwacht mit dem Flügelschlag von tausend gefangenen Vögeln, die sich schmerzhaft im Käfig ihrer Brust regen. Ihre Zauberkraft reagiert auf die Angst. Als blendendes Licht durchbricht sie ihre Haut und nimmt die übliche Gestalt an: eine Wolke von Schmetterlingen, die unstet durcheinanderwirbeln. Der Ausbruch dieser Kraft schüttelt die Rusałka ab, doch erst nachdem ihre Nägel Liskas Kehle schmerzhaft aufgerissen haben. Liska zögert keinen Moment – mit einem Tritt gegen die Brust der Dämonin strampelt sie zum Ufer, wo sie keuchend auftaucht. Zitternd krabbelt sie auf die Steine und nimmt sich kaum Zeit, das eklige Wasser auszuhusten, bevor sie sich an den harzigen Stamm einer Tanne lehnt. Bei einem Blick über die Schulter rechnet sie mit Verfolgung, doch da ist nichts.

Die Rusałka ist fort.

Der Wald liegt still.

Liska läuft los und bleibt nicht einmal stehen, als sie die mondbeschienene Lichtung hinter sich gelassen hat. Schweiß bedeckt ihren Nacken und ihr Herz hämmert zum Übelkeit erregenden Donner der Zauberkraft in ihrer Brust. Sie muss fort, fort von diesem fürchterlichen Bach. Doch wie weit sie auch läuft, sie findet keine Hilfe. Dies sind die wahr gewordenen Märchen ihrer Kindheit. Wahr gewordene Albträume.

Sie findet nicht einmal in ihrer Magie Trost. Diesmal hat die sie zwar beschützt, weil es ihr gefiel – anders als beim letzten Mal, als sie mit blutbefleckten Händen den Tod hinterließ. Man kann der Zauberkraft nicht trauen. Deshalb muss Liska sie loswerden, und zwar rasch. Doch wo ist die Blüte?

Als hätte sie ihre Frage laut ausgesprochen, erscheint eine vertraute Gestalt in einem Gestrüpp vor ihr. Der Kopf mit dem Geweih neigt sich ihr zu. Der Hirsch! Liska will auf ihn zulaufen, doch da verschwindet die Kreatur in einer Nebelschwade. »Warte!«, ruft sie keuchend und muss dann über ihre eigene Dummheit lachen. »Du tust das mit Absicht, nicht wahr?«

Es kommt keine Antwort, da ist nur das Geräusch ihres keuchenden Atems, als sie sich suchend um sich selbst dreht. Sie steht jetzt am Rand einer Schlucht zwischen neun merkwürdigen Bäumen, die um sie herum einen Halbkreis bilden. Aus ihren Stämmen ragen seltsame Knoten. Auf den ersten Blick scheinen es nur Verwachsungen zu sein, doch als sie genauer hinsieht, bemerkt sie, dass diese pulsieren.

Liska schlägt sich die Hände vor den Mund und will fliehen, doch es ist bereits zu spät.

Risse erscheinen in der Mitte jedes Knotens, die Rinde zieht sich zurück und legt blutunterlaufene Augen frei. Menschliche Augen, die gelbliches Sekret weinen, während sie Liska fixieren.

Der Wald hat sie gesehen.

Sie weicht zurück, aber kann nirgends hin. Ihre Fersen rutschen vom Rand der Schlucht, plötzlich gibt die Erde unter ihren Füßen nach.

Sie fällt nicht tief. Ihre Füße bleiben an einem verkrüppelten Setzling hängen, sodass sie am Boden aufschlägt. Es folgt eine unkontrollierte Rutschpartie. Sie greift verzweifelt nach allem, um sich festzuhalten, während ihre Knie brutal über Steine und spitze Äste schrammen. Als sie endlich den Boden der Schlucht erreicht hat, sinkt sie zusammen.

Einen kurzen, verschwommenen Moment lang liegt sie wie benommen da, atemlos und mit schmerzendem Körper. Dann zwingt sie sich auf die Knie, wobei ihre Hände etwas Hartes streifen … etwas, das überhaupt nicht hierherpasst.

Kopfsteinpflaster.

Verwirrt rappelt Liska sich hoch. Vor ihr schlängelt sich ein gepflasterter Weg in die Dunkelheit, gesprungen, von Moos überwachsen und vollkommen fehl am Platz. Beklommen starrt sie ihn an. Einerseits ist sie erleichtert über ein Anzeichen von Zivilisation, aber andererseits beunruhigt es sie auch – zwar hat sie schon von Straßen gehört, die sich durch den Geisterwald ziehen, aber diese scheint noch zu schmal für den kleinsten Karren. Wenn es keiner dieser Wege ist … wohin führt er dann?

Schon bald entdeckt sie die Antwort. Trotz seiner Größe bemerkt sie im Dämmerlicht das Gebäude beinah nicht, das wie ein schlummernder Riese zwischen den Bäumen liegt. Es ist nicht wirklich eine herrschaftliche Villa, eher eine Erinnerung daran – mit zerbrochenen Fenstern, abblätternder Farbe und einem schiefen Turm scheint sie fast vergessen zu haben, dass sie mal ein Zuhause war. Das Ganze ist von einer efeubewachsenen Mauer umgeben, an deren Tor steinerne Hirsche Wache halten. Das Tor war vielleicht einmal schön, doch nun hängt es mit seinen völlig verrosteten Eisenstäben schief in den Angeln. Alles zusammen strahlt eine elende Resignation aus, als würde die Villa sich dem Driadawald als eine Art Opferlamm anbieten.

Die Angeln protestieren quietschend und erschrecken Liska, als sie das Tor aufdrückt. Die Gärten dahinter sind ein Dschungel für sich, die ungepflegten Hecken von Dornengestrüpp durchsetzt. Nur der Steinweg ist frei, wenn auch teilweise von Blättern und Zweigen übersät. Verschlungen führt er über den Vorplatz zu einer kleinen freien Stelle, wo vielleicht ein Brunnen stünde, wenn dieses Anwesen sich in der Menschenwelt befände.

Doch das tut es nicht. Es gehört Geistern und Dämonen.

Deshalb stößt Liska dort nicht auf einen Brunnen. Stattdessen entdeckt sie einen Farn, üppig und unnatürlich grün. So grün, dass er zu leuchten scheint.

In der Mitte, zwischen die Farnwedel geschmiegt und vom Leuchtkranz der Blätter umgeben, befindet sich eine einzige Blüte.

3Ein nicht so schlauer Fuchs

Die Farnblüte ist so schön, wie die Legenden sie beschreiben. Sie hat mehr Ähnlichkeit mit einer Flammenzunge als mit einer Blume und lodert in Ocker-, Gold- und Zinnobertönen. Und genau wie bei einer Flamme scheut Liska sich, sie zu berühren. Gewiss würde sie sich daran die Finger verbrennen. Die Blüte gibt ein Geräusch von sich, ein beständiges Trommeln, wie ein Puls, ein Herzschlag. Als sei jede Wurzel im Wald eine Vene, jeder Ast eine Arterie. Und sie alle finden ihr Zuhause in dieser kleinen Blüte.

Vor Ehrfurcht und Staunen wie angewachsen betrachtet Liska die Blume. Sie hat es geschafft. Die Sagen irrten sich. Sie hat die Blüte gefunden und ist noch am Leben – vorläufig.

Die wichtigste Aufgabe steht allerdings noch aus: die Blume pflücken und ihren Wunsch aussprechen. Lass meine Magie verschwinden, wird sie sagen. Wie wird es sich anfühlen, wenn ihr Wunsch erfüllt ist? Wird ihre Zauberkraft verschwinden, als hätte es sie nie gegeben, oder wird sie nach und nach verblassen? Sobald das getan ist, muss sie immer noch den Weg aus diesem labyrinthischen Wald finden. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer und der genügt Liska. Wie eine Bettlerin hat sie gelernt, sich auch an Brosamen zu erfreuen.

Ohne noch länger zu zögern, wölbt sie ihre Hände um die seidigen Blütenblätter und spürt den pulsierenden Rhythmus ihrer Kraft. Bumm, bumm, lauter und lauter, bis es sich anfühlt, als würden ihre Knochen davon zerspringen. Sie beugt sich ein Stück weiter nach vorn, greift nach dem Stängel der Blüte und hat ihren Wunsch schon auf den Lippen, als –

»Sie ist hübsch, nicht wahr?«

Die Stimme klingt nicht menschlich. Unmöglich, wie sie so von allen Seiten widerhallt. Bis jetzt hat Liska noch nie den Teufel sprechen hören, doch sie stellt sich den Klang so vor: glutvoll und verführerisch, geschmeidig wie Wasser, das durch ein Flussbett fließt. Erschrocken blickt sie sich um und versucht, den Ursprung der Stimme zu entdecken. Doch weil die pulsierende Magie der Farnblüte sie noch immer durchschüttelt, kann sie kaum oben von unten unterscheiden.

»Leider kann ich nicht zulassen, dass du sie bekommst, kleine Diebin.«

Auf einmal steht der Hirsch da, am Tor, den Kopf zur Seite geneigt. »Wie heißt du?«, fragt er freundlich.

Die Stimme gehört ihm. Der Hirsch spricht, obwohl sein Maul sich nicht bewegt. Liska weiß jetzt, dass er überhaupt kein Hirsch ist. Er ist der Wächter dieses Waldes und es wäre mehr als unklug, ihm ihren Namen zu nennen.

»Bist du ein Fisch?«, sinniert der Hirsch und seine Stimme klingt so räuberisch, dass sie gar nicht zu einer so sanften Kreatur passt. »Nein? Dann glotz mich nicht wie einer an. Ein Name ist eine einfache Sache, aber du kannst ihn mir nicht sagen. Bist du dumm? Wenn ja, dann bin ich froh. Es wird mir die Arbeit erleichtern.«

Liska macht ihren Mund zu, dann wieder auf. Ihre Stimme zittert noch leicht: »Ich bin nicht dumm.«

»Das werde ich selber sehen.« Er macht einen Schritt vorwärts, dann noch einen, jede Bewegung arrogant und höhnisch. Wie ein Kater, der mit einer Maus spielt. »Deinen Namen hast du mir immer noch nicht gesagt.«

»Muss ich denn?«, fordert sie ihn heraus. Die Zauberkraft schlägt in ihrer Brust und warnt sie fast so intensiv wie vor der Rusałka. »Mir brauchst du deinen nicht zu sagen. Ich weiß, wer du bist.«

Er zuckt mit einem Ohr und kommt noch näher. Jetzt steht nur noch der Farn zwischen ihnen. »Ach?«

»Der Leszy.«

Eine Pause. Der Wind heult und erfüllt die Luft mit Blätterrascheln. Dann reckt der Hirsch den Kopf und tut einen weiteren Schritt.

Und beginnt zu verrotten.

Anders kann man es nicht bezeichnen. Wie von Insekten zerfressen welkt sein Fleisch, seine Muskeln faulen, silbrige Pilze brechen aus seiner Flanke hervor und verwesen sogleich. Die Haut fällt von seinem Kopf ab und lässt gelbliche Knochen und kaputte Zähne zum Vorschein kommen. Seine Augen sinken in den Schädel und verschwinden in klaffenden schwarzen Höhlen. Das Skelett bricht, verändert und verformt sich. Es wirkt, als würde sein Körper sich selbst zerlegen und zu einer völlig neuen Gestalt wieder zusammensetzen.

Zu einem Menschen.

Nein, zu einem Halbmenschen, denn der schaurige Schädel des Hirschs bleibt und verbirgt das Gesicht. Mondbleich bewegt sich das Wesen mit unnatürlicher Anmut. Seine Sukmana, ein Wollmantel, wie ihn auch die Bauern in Stodoła tragen, raschelt leise, als er die Farnblätter streift. Seine Haut ist fahl und aschig, sein Haar vom Alter schneeweiß. Der Leszy trägt seine Wildheit wie eine Trophäe. Disteln und Dornen sind auf seine Ärmel gestickt und die Schärpe um seine Taille hat blau-grüne Streifen.

»Ja, der bin ich«, sagt der Dämon. Er ist groß, von schlanker Statur und besitzt die Eleganz eines Adeligen. »Und was dich angeht, werde ich nur noch ein letztes Mal fragen. Wie heißt du?«

»Kasia«, sagt Liska schnell.

Der Dämon bleibt reglos, wie auch der Wald, der ihn umgibt. Als würde jedes Blatt und jeder Zweig angestrengt ihrer Unterhaltung lauschen. Dann murmelt er: »Ich höre, wie dein Herzschlag stolpert, kleine Lügnerin. Versuch es noch mal.«

Erschrocken zieht sich Liskas Kehle zusammen. Sie schluckt und gibt sich geschlagen. »L-Liska.« Mehr wird sie ihm nicht zugestehen. Ihren Nachnamen behält sie für sich.

Er kichert belustigt. »Liska, Liseczka … oj, Lisku, ein Füchslein. Aber du bist kein sehr schlauer Fuchs, nicht wahr?« Je näher er kommt, desto drohender wirkt er und sie zappelt angesichts seiner leer starrenden Augenhöhlen. »Und doch hast du die Rusałka überlebt. Wie?«

»Glück«, sagt Liska.

»Wieder gelogen.«

»Ich bin keine –«

»Du konntest hinter ihre Illusionen blicken, nicht wahr?« Er beugt sich vor und schnüffelt konzentriert. »Du hast Magie im Blut, nicht so schlauer Fuchs. Das macht dich nützlich. Jetzt sag mir, was willst du von meiner Blüte?«

Seiner Blüte. Natürlich. Wie die Rusałka ist die Farnblüte eine Falle, oder vielleicht eine Prüfung. Ein weiteres Seil im Netz dieses verteufelten Waldes. Ein Netz, in dem sie sich schon hoffnungslos verfangen hat.

Der Leszy schnalzt mit der Zunge. »Oj, du bist wirklich dumm. Dann lass mich dir helfen. Ist es Reichtum? Erfolg? Nein, warte. Bei kleinen Mädchen wie dir ist es immer unerwiderte Liebe. Wer ist er also? Ein Knecht? Ein Bäcker? Erbe eines Vermögens? Komm schon, nicht so schlauer Fuchs. Es steckt immer eine Geschichte dahinter.«

Irgendwo in der Mitte seiner Rede beginnt Wut in ihr zu köcheln. Als er schweigt, um Luft zu holen, stößt sie hervor: »Ich will meine Magie loswerden.«

Die Antwort scheint den Leszy zu überraschen. Er lehnt sich zurück, mustert sie noch mal gründlich. »Und warum solltest du das wollen?«

Marysieńka, will sie schon sagen. Und Tata, fügt sie in Gedanken hinzu, doch sie unterdrückt die Stimme. Sie antwortet gar nicht und schlingt nur die Arme um ihren Oberkörper. »Wirst du mich töten?«

»Willst du das?«, fragt er spöttisch zurück. Seine langen Finger sind plötzlich an ihrem Hals, ein harter Nagel fährt über ihre Kehle, bis sie das Kinn hebt. »Du wirkst wie ein furchtsames Ding, doch du warst mutig genug, unerlaubt auf mein Anwesen vorzudringen und zu versuchen, aus meinem Garten zu stehlen. Du musst es sehr wollen, um das alles auf dich zu nehmen.«

Liska nickt und senkt instinktiv die Augen. Die sittsame, höfliche Liska, die man in einer Menge leicht übersieht. Wenn du ihnen keinen Grund gibst, auf dich aufmerksam zu werden, pflegt Mama zu sagen, dann wird ihnen nichts Außergewöhnliches an dir auffallen.

»Ich bin so lange allein gewesen, kleiner Fuchs. Über diesen Wald zu wachen, kostet mich viel Kraft. Deshalb schlage ich dir Folgendes vor: Diene mir für ein Jahr, und wenn du das getan hast, werde ich dir deinen Wunsch erfüllen. Selbst wenn es« – er lacht leise – »der lächerlichste Wunsch ist, den ich je gehört habe.«

Wie er das sagt, klingt es eher nach einem Urteil als nach einem Handel. Liska weicht ein Stück zurück und beißt sich auf die Lippe. »Und wenn ich mich weigere?«

»Dann werde ich dich gehen lassen«, sagt der Dämon. »Doch wirst du ohne die Blüte und ohne meinen Schutz dastehen. Ich bin der Wächter dieses Waldes und es hat Folgen, wenn man mich verärgert. Vielleicht gehörst du zu den wenigen Glücklichen. Vielleicht schaffst du es zurück an die Grenze, bevor meine Mitbewohner deine Fährte aufnehmen und beschließen, dass sie von dir kosten wollen.«

Er ist schrecklich, denkt Liska. Und, was noch schlimmer ist, unerträglich arrogant. Sie presst eine Hand an ihre Brust, um sich selbst zu beruhigen und vernünftig zu überlegen. Ein Jahr ist nicht lang. Vier Jahreszeiten, und die vergehen immer rasch – der Schnee schmilzt und die Schneeglöckchen erblühen, bevor sie den herben Geruch des Herbsts richtig wahrgenommen hat. Ein Jahr fern von zu Hause kann sie überleben. Auch wenn es sie schmerzt, sich vorzustellen, was Mama tun wird, wenn sie Liskas Nachricht findet und begreift, wohin sie verschwunden ist.

Es wird sich lohnen. Ein Jahr ist es wert. Ein Jahr genügt, damit Liskas Verfehlungen zu einer fernen Erinnerung verblassen, damit die Dorfbewohner ihre Verdächtigungen vergessen und neuere, frischere Skandale für ihren Klatsch und Tratsch finden. Vielleicht genügt es sogar, damit Pani Prawota von ihrer fixen Idee ablässt, zu beweisen, dass Liska eine Hexe sei. Schließlich hat sie ja schon bekommen, was sie wollte: Liska aus Stodoła vertreiben, sodass sie keine Gefahr mehr für dessen Bewohner darstellt. Und wenn Liska schließlich zurückkehrt und ihre Magie weg ist, wird zumindest Letzteres der Wahrheit entsprechen. Sie wird so sein wie alle anderen im Dorf. Sie wird dazugehören.

Dazugehören.

Ja, ein einziges Jahr die Launen eines Walddämons ertragen, das lohnt sich, um ein Leben lang dazuzugehören.

Sie stählt sich, reckt das Kinn und zwingt sich, in die Augenhöhlen des grässlichen Schädels zu blicken.

»Also gut«, sagt sie und wählt ihre Worte mit Bedacht. »Für meinen Wunsch und meine Freiheit in genau einem Jahr stehe ich dir zur Verfügung.«

Der Hirschschädel lässt keinerlei Regung erkennen, doch aus der Stimme klingt eine Spur ironischer Freude. »Und so trifft der nicht so schlaue Fuchs eine beinah schlaue Entscheidung.« Er streckt den Arm in die Höhe und berührt mit seinen schlanken Fingern eines der Enden seines Geweihs. Mit einem heftigen Ruck reißt er es ab. Das Stück bricht nicht wie ein Knochen, eher wie ein Ast, splitternd und krachend. Während er es in einer Hand hält, schnappt seine andere nach Liskas linkem Handgelenk.

Erschrocken will sie sich ihm entziehen, doch er lässt nicht locker. Ein seltsames grünes Leuchten geht von dem Stück Geweih aus, als es ihre Haut berührt. Dann bewegt es sich, geschmeidig wie eine Schlange. Bevor Liska sich befreien kann, hat es sich um ihr Handgelenk gewunden.

Als der Leszy sie endlich loslässt, trägt sie eine Fessel aus Holz. Sie legt ihre freie Hand darüber und Tränen der Scham schießen ihr in die Augen. Es fühlt sich an, als hätte sie gerade ihre Seele verkauft.

»Der Handel ist besiegelt«, sagt der Leszy. »Für ein Jahr gehörst du mir. Jetzt komm mit.« Er läuft an ihr vorbei auf die Villa zu.

Liska beißt sich wieder auf die Lippen und wirft einen letzten wehmütigen Blick auf den Farn. Während sie mit dem Leszy gesprochen hat, ist die Blüte irgendwann verschwunden. Ohne deren glühenden Schein ist der Farn zwischen dem Unkraut kaum zu erkennen. Liska ist fern von zu Hause und in Gesellschaft eines Dämons.

Ein Jahr ist es wert, erinnert sie sich und streicht mit den Fingern über die Fessel. Wie sehr kann sich der Dienst für den Leszy schon vom Leben in Stodoła unterscheiden? Seit Tatas Tod war Liska für den Hof verantwortlich, kochte das Abendessen und pflegte den Garten. Auch wenn sie nicht die Stärkste und Disziplinierteste ist, wird sie fähig genug sein. Und nach dem Zustand des Hauses zu schließen, dürfte sie in diesen Dingen immerhin besser sein als der Leszy.

»Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, Fuchs«, reißt der Leszy sie mit seiner schmeichelnden Stimme aus den Gedanken.

Liska schnappt nervös nach Luft. Misstrauisch betrachtet sie die Eingangstüren: eine bedrohlich wirkende Konstruktion aus altem Holz und abblätternder schwarzer Farbe, versteckt hinter einem Vorhang aus Geißblatt. Sie wagt sich nicht auszumalen, was sie dahinter vorfinden wird.

»Ich habe nur zwei Regeln«, ruft der Leszy ihr zu. »Die erste lautet, dass du dich nicht in meine Angelegenheiten mischst.«

Sie nickt und fühlt sich irgendwie matt. »Und die zweite?«

»Dass du das Anwesen nie ohne mich und die Villa nie nach Einbruch der Dunkelheit verlässt. Wenn du dich daran hältst, wirst du in einem Jahr frei sein … vorausgesetzt, dass du so lange überlebst.«

4Das Haus unter dem Vogelbeerbaum

Im Haus des Leszy riecht es nach Schimmel und Trostlosigkeit. Die Eingangstüren knarzen kläglich, als sie sich hinter Liska schließen. Sie duckt sich, um bei den Schritten in den Vorraum nicht gleich in ein Spinnennetz zu laufen. Der Leszy wartet nicht, sondern schiebt sich an ihr vorbei und stolziert weiter. Liska muss sich selbst orientieren. Seine kryptische Warnung, vorausgesetzt, dass du so lange überlebst, lässt sie nicht los.

Dabei ist es besser, jetzt nicht weiter darüber nachzudenken. Zum Umkehren ist es sowieso zu spät.

Im engen Vorraum gibt es eine Garderobe, weiß von Staub und bestückt mit nicht zusammenpassenden Sachen: ein altmodischer Umhang, ein dicker Wintermantel und ein abgetragener Wollschal. Liska zögert und hängt schließlich ihr Schultertuch daneben. Diese einfache Handlung besiegelt irgendwie ihre Lage – ja, sie wohnt ab jetzt hier und deshalb hängt sie ihr Tuch neben die Sachen eines Monsters mit Totenschädel. Sie zieht auch ihre Stiefel aus, obwohl sie keine Pantoffeln findet. Als sie dem Leszy über die kalten Holzdielen folgt, klappern ihre Zähne.

Trotz der Spinnweben und des Staubs strahlt das Gemäuer noch etwas von seiner früheren Pracht aus. Wie eine alte Frau, die sich an ihre lebhafte Jugendzeit erinnert. Das Haus ist auch offensichtlich verwunschen. Liska hat nie genau gewusst, was das Wort bedeutet, doch jetzt erkennt sie es – an den verzierten Wandleuchtern, die flackernd aufleuchten, sobald sie an ihnen vorbeigeht, um ihr den Weg zu zeigen, und dann hinter ihr wieder verlöschen.

Der Vorraum ist zugig und schmal. Eine Treppe aus geöltem Holz windet sich zu einer Galerie hinauf. Hoch oben wirft ein Kronleuchter flackerndes Licht, die eisernen Arme wie Zweige geformt und an den Enden mit Kerzen versehen, die wiederum schmiedeeiserne Blätter umhüllen. Darüber ist eine gewölbte Decke zu sehen, auf die ein röhrender Elch und hohe Bäume gemalt sind. Vergoldete Verzierungen schimmern matt unter Spinnweben. Trotz der Beleuchtung bleiben die Ecken des Raums dunkel und die Schatten zucken unruhig.

Der Leszy wartet auf den Treppenstufen und blickt auf Liska herab. Seine bleiche Gestalt hebt sich scharf von der Dunkelheit ab, sodass er noch gespenstischer wirkt. Seine Haltung mit dem starren Rücken und dem geneigten Kopf hat etwas Beunruhigendes an sich, weil sie nicht menschlich aussieht.

»Willkommen im Haus unter dem Vogelbeerbaum«, sagt er. Seine Stimme hallt durch die leeren Räume und versieht jede Silbe mit einem furchterregenden Echo. »Du kannst hin, wo du willst, nur setze keinen Fuß in das Turmzimmer ganz oben. Ich erwarte mein Frühstück um acht Uhr morgens, das Abendessen um fünf Uhr – stell beides vor die Tür zum Turmzimmer.« Er schweigt kurz, was ein wenig unsicher wirkt, als wisse er nicht, was er mit Liska anfangen soll, jetzt, wo sie hier ist. »Das ist alles«, meint er schließlich. »Gute Nacht.«

Damit dreht er sich um und steigt mit schnellen Schritten die Stufen hinauf, deren altes Holz knarzt und knackt. Die Geräusche werden schwächer, nachdem er einen Absatz erreicht hat und nicht mehr zu sehen ist.

Allein in dem stillen Vorraum, läuft es Liska kalt über den Rücken. Das Haus ist beängstigend und heruntergekommen, mit sich ablösenden Tapeten und rostigem Metall. Als sie sich umsieht, weiß sie, dass hier genug Arbeit auf sie wartet, um selbst eine gestandene Hausfrau aus Orlica zur Verzweiflung zu bringen.

»Morgen«, beschließt sie. »Darüber mache ich mir morgen Gedanken.« Aus den letzten Worten wird ein Gähnen. Sie ist erschöpft von dem irrsinnigen Lauf durch den Wald und der ständig in ihrer Brust pulsierenden Angst. Im Haus eines Dämons zu schlafen, das ist alles andere als verlockend, doch ihr verschwommener Blick unter schweren Lidern lässt sich nicht leugnen.

Auf Zehenspitzen schleicht sie ins nächstbeste Zimmer und späht hinein. Es ist dunkel, doch sie kann die Schatten eines offenen Kamins und abgenutzte Sofas um einen niedrigen Tisch erkennen. Das sieht aus wie ein kleiner Salon. Sie holt sich einen Umhang von der Garderobe und schüttelt eine unzufriedene Spinne herunter. Dann zieht sie ihr Mieder und den Rock aus, sodass sie nur noch Bluse und Unterrock anhat. Nachdem sie lose Blätter aus ihrem Haar und einen Dorn aus einem Finger entfernt hat, rollt sie sich auf einem der Sofas zusammen und deckt sich mit dem Umhang zu.

Ihr Körper schmerzt und die Gedanken drehen sich im Kreis, doch schließlich besiegt die Müdigkeit alles andere. Morgen wird die Sonne scheinen und ein neuer Tag beginnen – dann wird der Driadawald sicher nicht mehr so furchterregend sein. Die Vorstellung beruhigt sie ein wenig und langsam schlummert sie ein.

 

Tropf, tropf, tropf.

Das Geräusch lässt sie die Augen aufreißen.

Aus den Schatten heraus beobachtet sie etwas. Ein monströses Etwas, halb Leiche, halb Hund, riesengroß und mager, mit pechschwarzem Fell. Seine Augen sind wie glühende Kohlen. An Brust und Maul ist das Fleisch verrottet, sodass einige perlmuttfarbene Rippen zu sehen sind. Von gelblichen Reißzähnen tropft Speichel auf den Boden.

Tropf … tropf …

Ruckartig setzt Liska sich auf. Ihr Herz hämmert.

Der Hund ist verschwunden.

Sie kriegt kein Auge mehr zu, bis Licht durch das schmutzige Fenster zu kriechen beginnt. Erst dann schläft sie, beim fernen Gezwitscher erwachender Vögel, noch einmal ein.

 

Als Liska wieder aufwacht, ist das Zimmer in das butterige Gold des frühen Morgens getaucht. Einen kurzen, benommenen Moment lang glaubt sie sich zu Hause in Stodoła. Doch dann spürt sie die Holzfessel um ihr Handgelenk und eine piksende Klette an ihrer Bluse. Träge setzt sie sich auf und zupft die Klette ab, während die Erinnerungen sie überfallen: der Driadawald, die Rusałka, der Handel mit dem Leszy und schließlich der rotäugige Hund.

Der Hund. Erschrocken blickt sie sich um und rechnet beinah damit, dass er hinter ihr steht. Aber nein, sie ist allein. Und falls die Standuhr an der Wand richtig geht, schon spät dran, um das Frühstück herzurichten.

Die Vorstellung, den Leszy zu verstimmen, genügt, damit sie aufspringt. Sie schiebt die weißen Spitzenvorhänge beiseite und öffnet mit Mühe das Fenster. Feuchte Luft, die nach nasser Erde und Laub riecht, weht herein. Ein Stück entfernt stehen die mächtigen grünen Bäume der Driada, bewachsen mit Moos und Flechten.

Vereinzelte Sonnenstrahlen fallen auf den vernachlässigten Garten und ins Zimmer. Sie wärmen Liskas Gesicht, während sie sich die zerzausten Zöpfe neu flechtet und ihre Tracht wieder anzieht. Dabei bemüht sie sich, den Schmerz in ihrer Brust zu ignorieren, als sie die zerrissene Stickerei sieht – ihr Sonntagsstaat, ruiniert.

Aus dem Salon geht sie in den schwach erhellten Vorraum und reckt den Kopf, um alles zu sehen, was ihr im Dunkel der Nacht verborgen geblieben ist. Sie war noch nie in einem vornehmen Haus und hat bisher auch nur eine Handvoll Villen von einem Karren aus gesehen, wenn es zum Markt nach Gwiazdno ging.

Das größte Haus, das sie je betreten hat, gehörte dem Wójt, dem Bürgermeister von Stodoła. Er hatte Liska rufen lassen, weil er gehört hatte, wie gut sie sich mit Tieren auskannte. Sein wertvoller Hengst hatte einen schlimmen Husten bekommen. Es kostete sie nicht viel Mühe, dem Hengst zu helfen – sie befeuchtete nur sein Heu und ließ ihn aus dem staubigen Stall auf die Weide hinaus. Trotzdem war der Bürgermeister so dankbar, dass er Liska und Mama zum Abendessen einlud. So bekam Liska sein massives Haus mit dem Schindeldach und drei großen, hellen Räumen zu sehen.

Im Vergleich dazu ist das Haus unter dem Vogelbeerbaum eine Festung. Wohin Liska auch schaut, überall sind kunstvolle Schnitzereien, verzierte Vasen und stolze, halbrunde Fenster. Trotz der dicken Schicht aus Schmutz und Spinnweben ist alles prächtig und eindrucksvoll, um nicht zu sagen überwältigend.

Es wird nicht einfacher dadurch, dass das Haus unter dem Vogelbeerbaum sich stur weigert, gewöhnlich zu sein. Das Erste, was Liska auffällt, sind die Gemälde: Sie zeigen nicht wie üblich Ahnen oder Heilige, sondern knopfäugige Tiere in düsterer Waldlandschaft, wo sie durch undurchdringliches Dornengestrüpp streifen. Während sie sie betrachtet, streicht Liska mit der Hand übers Geländer, sodass eine Staubwolke aufsteigt und Schmutz an ihren Fingerspitzen kleben bleibt. Doch sogar der Staub ist in diesem Haus eigenartig – anstatt kurz aufzusteigen und sich wieder zu legen, wirbelt er spiralförmig umher und schmiegt sich wie eine liebebedürftige Katze an Liska. Er folgt ihr sogar und schlängelt sich um ihre Knöchel, bis sie ihn direkt ansieht und sagt: »Bitte, nicht jetzt. Ich bin auch so schon nervös genug und du machst meine Kleider ganz schmutzig.«

Wie ein gescholtenes Kind legt der Staub sich tatsächlich und Liska fragt sich, ob sie bereits den Verstand verloren hat.

Als sie endlich das Badezimmer findet, erweist es sich als der sauberste Ort im ganzen Haus. Sie staunt auch über die Leitungen. Sie hat schon von so etwas gehört, es aber noch nie gesehen: Rohre und Hähne über einem Waschbecken aus Marmor und einer Badewanne mit Löwenpranken. Die Rohre sind nicht, wie sie erwartet hat, aus Kupfer, sondern besitzen eine raue Rinde, als wären es ausgehöhlte Baumstämme. Und vielleicht sind sie das ja. Inzwischen würde sie nichts mehr überraschen.

Ob Baumrohre oder nicht, Liska will sie unbedingt ausprobieren. Als sie am Hahn des Waschbeckens dreht, quillt angenehm kühles Wasser heraus. Damit wäscht sie sich den Staub vom Gesicht und das verkrustete Blut von der Stelle, wo ein Ast sie getroffen hat.

Über dem Waschbecken hängt ein Spiegel mit einem Rahmen aus eisernen Zweigen. Liska schaut minutenlang hinein, während ihr das Wasser vom Gesicht tropft. Sie fühlt sich verändert, auch wenn man es ihr nicht ansieht. Sie ist immer noch dasselbe einfache, unscheinbare Mädchen mit der Stupsnase und dem dunklen Haar; beides hat sie von Tata geerbt. Ihre Augen sind allerdings blau wie Mamas. Aber während Mamas Augen frostig wirken, sind Liskas schon immer weicher. Wie Lavendelblüten, pflegte Tata zu sagen. Die Haare hat sie sich nicht gut frisiert, eine dicke Locke rutscht unter ihrem Tuch hervor. Sie ist weiß und gehört zu der Strähne an Liskas Schläfe, die nach dem Vorfall mit Marysieńka ergraut ist.

Vorfall. Ein zu freundliches, zu mildes Wort für das, was Liska getan hat. Ihr Atem stockt und einen Herzschlag lang kann sie alles noch mal sehen.

Marysieńka mit zum Schrei geöffnetem Mund, wie sie zusammengekrümmt zu Boden sinkt …

»Nein«, sagt sie laut und klammert sich mit beiden Händen ans Waschbecken. Die Kühle des Marmors beruhigt sie, bis sie schließlich wieder normal atmen kann. Hastig schiebt sie die Strähne zurück unter das Tuch und eilt aus dem Badezimmer.

Die Küche ist glücklicherweise nicht schwer zu finden; ein einfacher, praktischer Raum mit holzverkleideten Wänden, vielen Regalen und einem gemauerten Herd mit Feuerstelle und reichlich Platz für Holz. Der auch hier in der Luft schwebende Staub lässt alles unscharf und wie im Traum aussehen. Liska findet einen kleinen Vorrat Mehl in einem Schrank, eine Flasche Milch und eine Schüssel voller Eier. Sie nimmt sich vor, später nach einem Keller zu suchen; vorläufig kommt sie zurecht mit dem, was sie hat.

Wie schwer kann es schon sein, einen Dämon zufriedenzustellen?

Aus Mehl und Eiern macht sie einen Teig für Zacierki und reißt ihn in kleine Stücke, während sie die Milch auf dem Ofen erhitzt. Als sie Nocken in die kochende Milch schüttelt, kommt ihr in den Sinn, dass sie keine Hühner und schon gar keine Kuh beim Gebäude gesehen hat. Kann es sein, dass der Leszy sich auch in die Menschenwelt begibt? Das wäre ein Anblick!

Hastig löffelt sie das Frühstück in Porzellanschüsseln, findet ein Tablett und stellt eine Schüssel mit Löffel darauf. Dann seufzt sie. Obwohl sie sich Mühe gibt, das Gefühl zu ignorieren, hat sich Furcht in ihr gebildet wie Rahm auf einen Tag alter Milch. Das Dasein hier wird sich nicht groß von ihrem Leben im Dorf unterscheiden, überlegt sie. Sie muss sich einfach unauffällig verhalten und Schwierigkeiten aus dem Weg gehen. Dann ist sie in einem Jahr frei.

Bevor sie die Küche verlässt, wirft sie einen traurigen Blick auf den Ofen, denn sie vermisst die Gesellschaft des Skrzats ihrer Familie. Üblicherweise saß der Hausgeist auf einem Bord und beobachtete sie aus dem Halbdunkel. Doch es gab auch Zeiten, als er sich zu ihr gesellte, dieser winzige Mann mit rußigem Bart und kohlschwarzen Augen, um ihr bei der Hausarbeit zu helfen. Mama konnte ihn nie sehen, und wenn Liska versuchte, ihn ihr zu zeigen, dann drückte sie Liskas Hand, bis es wehtat, und sagte: »Da ist nichts, hast du verstanden?«

Zuerst begriff Liska es nicht, doch mit der Zeit lernte sie es.

Im Turm der Villa sind die Wände aus kaltem Stein. Die Treppe ist gröber und alles wirkt viel älter als der Rest des Gebäudes. Ganz oben gibt es ein unverglastes Fenster auf die Krone eines hohen Vogelbeerbaums hinaus. Dessen Blüten sind weiß wie Schnee und es wachsen auch schon ein paar vereinzelte frühe Beeren. Am Ende der Treppe befindet sich eine Holztür. Liska stellt das Tablett davor und klopft. Als niemand antwortet, legt sie beide Hände um ihren Mund und ruft: »Leszy?«

Nichts. Sie versucht es noch einmal: »Ah, Panie Leszy?«

Stille. Zögernd macht sie sich auf den Rückweg. Als sie die halbe Treppe wieder hinuntergestiegen ist, hört sie, wie die Tür sich knarzend öffnet und das Tablett aufgehoben wird.

 

Wenig später krempelt Liska die Ärmel hoch und macht sich an die Arbeit. Auch wenn überwältigend viel zu tun ist, hat sie sich vorgenommen, Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Sie war nie eine besonders auf Sauberkeit bedachte Person – besäße sie eine Münze für jeden Tadel, den sie von Mama zu hören bekam, weil sie Schmutz in die Küche trug oder Flecken auf ihre Kleider machte, wäre sie schon reich. Doch irgendetwas an diesem Gemäuer weckt ihr Mitleid. Es erinnert sie an einen alten Jagdhund, einst der Stolz seines Besitzers, jetzt vergessen und vernachlässigt. Liska möchte sogleich helfen, das Gebäude wieder gesund machen und Licht zurück in die aufgegebenen Zimmer bringen.

Sie beginnt mit einem Streifzug. Dabei schreitet sie das ganze Anwesen ab, so weit, wie sie sich traut, und behält dabei den Wald hinter der Mauer ständig im Auge. Sie hat ein großes Küchenmesser mitgenommen, nur für alle Fälle. Wobei sie ihre Zweifel daran hat, ob es ihr bei der Begegnung mit einem Dämon oder, schlimmer noch, mit dem rotäugigen Hund viel helfen könnte.

Wie alles andere ist auch die Rückseite der Villa von Unkraut überwuchert und vom sich ausbreitenden Wald bedrängt. Liska findet dort einen verfallenen Brunnen und die Tür zu einem Keller, versteckt und von Moos und Efeu überwachsen. Nur ein Trampelfpad durchs Unterholz lässt erkennen, dass der Leszy beides nutzt. Zum Glück ist der Keller besser bestückt als die Küche; es gibt ein paar Stücke eingesalzenes Fleisch, Kartoffeln, Rüben und Getreide. Der Anblick lässt Liska das Wasser im Mund zusammenlaufen. In Grenzdörfern wie ihrem ist Fleisch teuer und wird nur zu Feiertagen oder in reicheren Familien am Sonntag gegessen.

Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hat, beginnt Liska mit ihrer zweiten Aufgabe. In der Küche gab es keine Kräuter oder Gewürze, aber draußen wächst vieles, was sie kennt: gelb blühender Dill, wilder Knoblauch, Meerrettich, Minze und Thymian mit seinen violetten Blüten. Sie sammelt von allem etwas in ihrer Schürze und trägt es in die Küche, bevor sie mit einem Eimer zurückkommt, um Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen.

So vergeht ihr Tag: Sie versucht, aus der Hülle des Herrenhauses wieder einen belebten Ort zu machen. Sie mischt Mehl und Wasser, um Sauerteig anzusetzen, kocht ein Stück eingesalzenes Fleisch für Rosół, eine Suppe, und nimmt die Töpfe und Pfannen von der Wand, um sie sauber zu schrubben. Als sie fertig ist, fährt sie sich mit dem Ärmel, der voller Mehl ist, über die Stirn und betrachtet die Küche.

Da fällt ihr auf, dass der Raum sich verändert hat.

An der Wand neben dem Herd gibt es einen Holzbalken mit lauter Haken zum Aufhängen von Töpfen und Pfannen. Oder zumindest war er dort, als Liska das letzte Mal hinsah. Jetzt ist er fort.

An seiner Stelle befindet sich nun eine Tür.

Eine schwere, prächtige Tür in der Farbe des Himmels bei Mitternacht und versehen mit goldenen Sternen. Der Knauf hat die Form eines Kometen und durch einen Spalt am Boden fällt so helles Licht, als wäre dahinter die Sonne gefangen.

Liska erstarrt. Im selben Moment sind im Flur Schritte zu hören. Erschrocken dreht sie sich zu dem Geräusch um, dann wieder zu der seltsamen Tür.

Doch da ist keine Tür mehr. Die Töpfe und Pfannen sind wieder da, als wären sie nie verschwunden gewesen.

Was –

Liska hat keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn ein Schatten füllt den Türrahmen aus. Dann steht der Leszy da und sieht mit seinem Geweih bei Tageslicht noch furchterregender aus als in der Mittsommernacht.

5Gebrochene Magie

Liska unterdrückt einen Aufschrei des Erstaunens, indem sie sich die Hände vor den Mund presst. Der Leszy steht reglos da. Die Arme hängen an seinen Seiten herab und der Hirschschädel zeigt das unveränderliche Grinsen. Heute trägt er keine Sukmana, nur ein weites Hemd, das von einem breiten Gürtel mit mehreren Schnallen zusammengehalten wird, und an den Taschen bestickte Hosen. Er sagt nichts und auch Liska schweigt. So starren sie einander an, der Dämon und das Mädchen, jeweils erschrocken über die Gegenwart des anderen.

»Da war …« Eine Tür, will Liska sagen, doch dann besinnt sie sich eines Besseren, weil sie kaum begreift, was sie da gesehen hat. Noch einen Moment lang herrscht Stille. Der Dämon starrt sie weiter an.

Schließlich sagt Liska: »Du hast viele Vorräte.«

»Ja.«

»Aber keinen Garten oder Felder.«

»Nein.«

»Also …« Sie verstummt, angespannt wie eine Bogensehne. »Wie?«

Der Dämon klingt verächtlich: »Tribute.«

Sie runzelt die Stirn, bevor es ihr wieder einfällt. Oh. Die Abgaben. Sind es wirklich so viele? Wenn sie jetzt darüber nachdenkt, wird ihr bewusst, dass sie nicht einmal die Ausmaße des Driadawalds kennt. Nur ein einziges Mal hat sie eine Landkarte von Orlica gesehen, in einem von Pater Pawełs kostbaren Büchern. Aber er muss ja groß sein, wenn so viele Menschen ihn durchqueren.

»Wie beschützt du sie alle?«, fragt sie.

»Das lass die Sorge eines Dämons sein. Kehr du an deine Arbeit zurück, nicht so schlauer Fuchs. Und versuch, mein Haus nicht zu sehr in Unordnung zu bringen.«

Liska muss sich zwingen, fügsam zu nicken, und beißt sich auf die Zunge, als er sich umdreht und davonmarschiert. Erst als er fort ist, murmelt sie gekränkt: »In Unordnung bringen? Ich versuche, es in Ordnung zu bringen, aber vielen herzlichen Dank.«

Eine Stunde später kehrt der Leszy zurück, doch er ist kaum mehr als ein flüchtiger Schatten, der mit leisen Schritten die Treppe hinauf verschwindet. Bald danach trägt Liska eine Schüssel heißer Rosół-Suppe in den Turm. Als sie das Tablett abstellt und klopft, ruft der Leszy: »Komm herein.«

Seine Stimme hallt in der Dunkelheit bedrohlich durch den Treppenaufgang. Liska beißt sich auf die Lippe und streckt die Hand nach dem rostigen Türknauf aus. Bevor sie ihn fassen kann, wächst ein Gewirr von Zweigen aus den Ritzen zwischen den Dielen, erklimmt den Türrahmen und legt sich um den Knauf. Während Liska staunend dasteht, drehen die Zweige, geschickt wie Menschenhände, und ziehen die Tür auf.

Was sich dahinter befindet, könnte man Studierstube nennen, doch das Wort passt nicht zu den Ausmaßen des Raums. Einmal hat Liska Pater Paweł von einem Laboratorium sprechen gehört, als er von den Gelehrten in seiner Heimatstadt Aniołów berichtete. Er schilderte damals einen Raum, in dem Weisheit und Chaos einen Handel eingingen, wo ein Mensch begreift, wie wenig er tatsächlich weiß und wie viel mehr er plötzlich wissen möchte.

So fühlt sich auch Liska beim Anblick der schieren Menge an Dingen in dem runden Zimmer – Dinge mit unbekanntem Zweck und unbekannter Form, Regale voller Phiolen, Schriftrollen und Kisten. In Schalen schimmern Juwelen, Totenschädel grinsen von den Wänden und Bücher stapeln sich überall turmhoch. Der Leszy selbst sitzt an einem Schreibtisch aus geschnitztem Ebenholz vor einem Spitzbogenfenster, umgeben von Zweigen.

Diese Zweige bewegen sich. Sie sind bleich, spindeldürr, tragen Blätter an den Spitzen und sprießen aus dem Fußboden. Andere ragen wie krumme Arme von den Wänden in den Raum. Die meisten rühren sich nur ein wenig, doch dann sieht Liska, wie einer sich durch das Zimmer schlängelt, um eine Phiole aus einem Regal zu holen, und sie in die wartend ausgestreckte Hand des Leszy legt.

In der Phiole befindet sich eine lebende Motte, deren weiße Flügel mit schmalen Augenflecken versehen sind. Als der Leszy den Korken herauszieht, verwandelt sie sich in Nebel, der aus der schmalen Öffnung quillt, bevor er sich wieder zu einer Motte zusammenfügt. Die flattert aus dem Fenster und verschwindet zwischen den Bäumen.

»Was war das?«, fragt Liska mit zaghafter, piepsender Stimme, die dennoch von den Wänden widerhallt.

»Einer meiner Wächter«, erwidert er. »Während wir hier reden, dringen Reisende in den Driadawald ein. Meine Motten warnen mich, falls es irgendwelche Schwierigkeiten gibt.«

»Diese Reisenden müssen dich gut bezahlt haben«, platzt es aus Liska heraus.

»Das haben sie«, antwortet er überheblich. »Und nun stell das ab und schweig – nein, geh nicht. Sei nur still.«