Wo weiße Blumen stehen - Ester Bianka Zufelde - E-Book

Wo weiße Blumen stehen E-Book

Ester Bianka Zufelde

4,9

Beschreibung

"Ich stockte und nach kurzem Zweifeln erzählte ich ihr doch über meine Gabe. Einer Gabe, die ich nicht wollte, dennoch bekam. Wie ein Fluch kam sie über mich. Zog das Böse magisch an. Es dauerte, bis sie die Tragweite meiner Fähigkeiten begriff. Bis ich begriff, dass diese Gabe unendlichen Schmerz und viel Leid mit sich ziehen wird." Eugenia, eine junge Studentin, möchte endlich ihre dunkle Vergangenheit hinter sich lassen. Zwei Jahre verbrachte sie als Kind in der geschlossenen Psychiatrie. Unmengen an Psychopharmaka bestimmten ihr alltägliches Leben, das sie sehr oft einsam verbrachte. Die Jahre vergingen. Jetzt endlich hat sie ihr schützendes, dörfliches Elternhaus verlassen und lebt in einer kleinen WG in der Stadt mit Dorothea. Doch die anfängliche Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als sie beginnt Visionen und Ereignisse aus ihrer verschwundenen Vergangenheit wiederzuerlangen. Als sie begreift, was wirklich geschah. Darüber hinaus versteht, dass alles und jeder miteinander verbunden ist. Wem kann sie noch vertrauen? Wer sagt die Wahrheit und wer spielt ein dunkles Spiel mit ihr?

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Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Liebe Leserinnen und liebe Leser,

fragen wir uns nicht alle tagtäglich, wie unser Leben in glückliche Bahnen gelenkt werden kann? Sind wir zufrieden mit dem, was wir haben oder besitzen?

Nein! Ich glaube, auch wenn man einen gewissen Standard erlangt, erwacht in einem der Wille, mehr zu erreichen. Immer wieder vergessen wir, dass es Menschen gibt, die Hilfe benötigen. Menschen, die aus beachtlicher Kraft tagtäglich kämpfen für ihr eigenes freies Leben, für ein eigenes freies Denken. Für ein Leben in Geborgenheit, in Glück, für eine sichere Zukunft.

Doch wie sind all diese Fragen und Gedanken genau bzw. richtig zu beantworten? Worin verspürt ein Mensch Geborgenheit? Was ist Glück? Ist es so zu difinieren, wie es einst Samuel Johnson meinte: „Hoffnung ist eine Art Glück, vielleicht das größte Glück, das diese Welt bereit hat.“1

Meine erfundene Protagonistin Eugenia Heidenreich verfolgt diese Spur. Möchte das Glück finden. Ihr Glück. Auch wenn sie ihr eigenes Glück im Bestreben darin findet, verstorbenen Seelen zu helfen. Sich Dingen stellt, die viele Menschen als Einbildung oder Unsinn bezeichnen. Letztendlich gerade in dieser Aufgabe ihre eigene Erfüllung, ihr eigenes Glück und darüber hinaus ihrer wahren Liebe begegnet.

Obwohl teilweise von wahren Begebenheiten beeinflusst, sind Namen und Handlung meiner Geschichte frei erfunden.

Ester Bianka Zufelde

1 „Hab Sonne im Herzen; Gedanken zum Glücklich sein Nr. 76“ Samuel Johnson: ( Zitat S. 10), 2014 Coppenrath Verlag GmbH & Co.

Inhalt

Ist es immer das Unfassbare

Das Schöne ist nicht immer das, was es zu sein scheint

Der verschlüsselte Weg führt erst zum Ziel der Erkenntnis

Alpträume können auch der Heilung dienen, um das Leid zu lindern

Erkenntnis, ist der Anfang von etwas Neuem

Das Neue ist nicht immer die Erfüllung der eigenen Träume

Der neue alte Weg führt erst zum Ziel

Manchmal ist die Eingebung eine enge Verbündete

Finde den Weg, er wird dir die ganze Wahrheit offenbaren

Welch eine fatale Mischung sind Rache und Glück

Vergeltung naht bisweilen anders, als man zu denken glaubt

Gelegentlich ist die Erkenntnis der Schlüssel für eine Erinnerung

Ein längst vergessener Schatten, der düster in der Dunkelheit erscheint

Wo weiße Blumen stehen

Ist es immer das Unfassbare was uns anstrebt,

fasziniert, inspiriert oder gar lenkt?

Wo stehen wir? Sind wir real?

Existiert eine Welt aus Geistern in Wahrheit?

Was sind wir und vor allem, wer sind wir?

Die unzähligen Tage waren es, die für mich im Verborgenen lagen. Düster und trist erschien mir die Welt. Ein Schnellzug, der in einer Art Trance vorbeizog. Gedanken, Gefühle, Ereignisse aus meiner Vergangenheit. Manchmal klar, manchmal im Nebel. Unerwartet, fühlbar tauchten sie aus meinem zurückliegenden Leben auf, verwandelten mein Wesen in eine unsichere, eingeschüchterte Person, die ich auf keinen Fall mehr sein wollte.

Wieder brach einer der Tage an, an dem der Nebel überwog. Ich lauschte, ich fühlte. Doch ein klares verlorenes Bild konnte ich nicht in meiner Vorstellungskraft wiederfinden.

Viele Jahre verflogen seither. Trotzdem erlaubte die Zeit nicht alle Wunden zu schließen. Ich wusste, dass sie vorhanden sind und dennoch gelang es mir nicht, sie zu ergründen, zu heilen. Ein Teil aus meiner Vergangenheit. Ein Teil, der zu mir gehört. „Wo ist er?“, fragte ich mich tagtäglich insgeheim.

Erneut versanken meine Gedanken, um meine Vergangenheit zu erforschen. „Ich will, ich muss!“, redete ich mir ein.

„Meine Vergangenheit ist der Schlüssel! Das ist mir bewusst!“, wollte ich mir gerade ins Bewusstsein rufen, als flüsternde Stimmen in meinem Kopf erklangen. Unheilvoll umgaben sie mich. Entfernt, verschwommen darüber hinaus fremd schienen sie zu sein. Ein eigenartiges Stimmengewirr.

„Sind sie in meinem Kopf? Kommen sie aus meiner Umgebung? Wo bin ich?“

Meine Gedanken schwangen umher, doch den Ort, an dem ich mich befand, konnte ich nicht erkunden. Schwarze Nacht, die mich umgab. Beginnend in dieser Sekunde bemerkte ich, dass meine Augen geschlossen waren.

Die flüsternden Stimmen kamen auf mich zu. Ich hörte, doch verstand sie nicht.

„Was ...? Was wollt ihr von mir?“, flohen die Schreie aus meinem Mund. Alles drehte sich im Kopf, dennoch konnte ich die gesprochenen Worte in keinster Weise erfassen.

„Was geschieht mit mir?“

Ich versuchte, meine Augen zu öffnen. Doch es gelang mir nicht.

„Aber warum?“, stellte ich mir die Frage. Panik stieg in mir auf. Noch einmal ertönten die flüsternden Stimmen. „Sie sind mir vertraut“, erkannte ich in diesem Moment. „Ich erinnerte mich. Ich kenne sie.“

Ich wusste jetzt, was sie zu mir sprachen. Ganz unerwartet trat eine kalte Träne aus meinem linken Auge. Sie floh. Meine Haut verspürte das Salz, was brennend bis zu meinem Mund entglitt. Ich schmeckte, begann zu fühlen. Zu fühlen und zu begreifen. Es ist nur eine Erinnerung, die diese Träne zusätzlich unterstreicht. Weit zurück liegt sie in meiner Vergangenheit. Trotzdem gehört sie zu mir. Bis heute.

„Öffne deine Augen! Hab keine Angst meine Kleine!“, sprachen die Stimmen klar, verständnisvoll.

Gerade als mein Körper sich entspannen wollte, passierte es. Ein starker Schmerz, den ich verspürte. Urplötzlich trat er auf. „Meine Knie!“, begriff ich.

Ich versuchte meine Qual mit einem Schmerzensschrei auszusprechen, und meine Knie zu berühren. Ich konnte weder das eine noch das andere.

Erneut erklangen die Stimmen in meinen Ohren. „Öffne deine Augen, hab keine Angst!“

Zweifel brachte mein Bewusstsein hervor. „War es wirklich ein Traum? Aber warum verspüre ich Schmerzen?“ Meine Gedanken an zurückliegende Erinnerungen wurden auf einmal zu real. Ich wusste nicht mehr, ob ich Träume oder meine verborgene Vergangenheit zum wiederholten Male aufrufe? Verwirrung und Panik kehrten zurück. Langsam versuchte ich, meine Augen zu öffnen. Ich wollte ... Ich wollte diesen Stimmen Folgeleisten. Krampfhaft mit starkem Willen. Ich konzentrierte mich.

Endlich wurde die Umgebung hell, die Bilder allmählich erkennbar.

Ein markerschütternder Schrei floh aus meiner Kehle.

„Hab keine Angst! Wir sind bei dir“, sprachen die Stimmen beruhigend.

Ich brauchte einen Augenblick, um das Entsetzliche klar vor Augen zu haben. Eine mumifizierte Leiche stand vor mir. Die Haut stark ausgetrocknet, braun, fast schwarz. An manchen Stellen des Kopfes erkannte man deutlich Knochenstücke hervorschimmern. Ihr Mund war geöffnet, als habe sie zuletzt geschrien. Erst gegenwärtig bemerkte ich, dass der untere Teil des Körpers, versunken im Moor steckte. Auge in Auge, schaute ich sie mir an. Obwohl sie mumifiziert war, sah man eindeutig ein paar lange weiße Haarsträhnen an ihrem Kopf herunterhängen. Die rechte Hand nach vorn gestreckt. Zudem schien sie etwas greifen zu wollen. „Jedoch wonach?“

Nochmals nahm ich wahr, dass meine Knie schmerzten. Wollte mich bewegen. … Es gelang mir nicht. „Was passiert mit mir?“, stellte ich mir angsterfüllt die Frage. „Ist es ein Traum? Oder ist dieser Moment real?“

Die Furcht kehrte zurück. Gerade als ein erneuter Schrei aus meiner Kehle zu fliehen drohte, fühlte ich Hände an meinen Schultern. Sie schüttelten mich kräftig. Meine Gedanken wirbelten umher, und die Übelkeit erfasste mich.

„Wach auf Eugenia! Wach auf!“ Die Worte kamen von jemand Vertrautem. Von jemandem, den ich schon mein ganzes Leben kannte. Jemand, der seitdem ich die gelebte Vergangenheit zurückverfolgen konnte, schützend an meiner Seite stand.

Ich öffnete die Augen und blickte in das erschütternde Gesicht meiner geliebten Mutter. Erschöpft sank ich zu Boden. Abermals hatte mich die Dunkelheit eingeholt.

Stunden vergingen, ehe die stille Nacht um mich herum beendet schien.

Sanfte Streicheleinheiten über Stirn und Wange befreiten mich aus der Düsternis. Mein Bewusstsein kehrte allmählich zurück. In diesem Moment fühlte ich die geborgene Wärme um mich herum. Ich atmete entspannt ein. Ganz deutlich erkannte meine Nase den Duft des Lieblingsparfüms meiner Mutter. Auch den Pfeifengeruch meines Vaters erfasste mein Geruchsinn. Ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr. Im Hintergrund hörte ich das beruhigende Knistern des Feuers vom offenen Kamin. Jetzt wusste ich, dass ich zu Hause im Wohnzimmer liege.

Lang war es her, als ich bei meinen Eltern gewesen war. Jahre müssen vergangen sein. Nach Abschluss der Schule verließ ich mein zuhause. Wollte unbedingt Archäologie studieren. Doch wieder war es meine Gabe, die meinen Plan zunichtemachte.

Damals, ich weiß es noch wie heute, begegnete ich einer sehr erfolgsorientierten jungen Frau auf dem Campus in Leipzig. Ihr Name war Dorothea Könnemann. Eine selbstbewusste Frau, die sehr taff bei der Kriminalpolizei durchstarten wollte. Von Anfang an mochten wir uns. Beide teilten wir uns eine Wohnung nahe der Stadt, nicht weit vom Hochschulgelände. Unbedingt wollte sie Kriminologin werden. Ich fand ihre Erzählungen sehr faszinierend. Mörder, Opfer, Betrüger und Lügner. Spannende polizeiliche Kriminalfälle, die mich in ihren Bann zogen.

Eines Nachmittags schleifte sie mich in die Pathologie. Ein Mordopfer wollte ich schon immer mal sehen. Kalt war es dort. Grelles Licht brannte. Es ließ den Raum noch kälter erscheinen. An der Wand stand die riesige Kühlung mit den Kühlfächern. Die viereckigen Türen, hochglanzpoliert. Darin bewahrte man die Toten auf. Ich zählte neun. Der Geruch von Formaldehyd lag in der Luft. Endlich war es so weit. Sie öffnete eine der Türen, zeigte mir eine ermordete Frau. Friedlich lag sie vor mir. Ihre Haut aschfahl. Auf der Brust sah man ganz deutlich den Y-Schnitt des Pathologen, der sie seziert hatte. Die Haare der Leiche waren dunkelblond und gingen etwas über ihre Schultern. Ich betrachtete sie sehr aufmerksam. Keine Winzigkeit sollte mir entgehen. Eindeutig erkannte ich Fesselungsspuren an ihren Handgelenken. An ihrer rechten Schläfe befand sich ein Loch. „Ein Schuss?“, fragte ich neugierig.

„Nein“, antwortete Dorothea damals. „Man hat der armen Frau ein Loch in den Kopf gebohrt.“

„Mit einer Bohrmaschine?“, fragte ich erschüttert.

„Ja.“

„Gibt es Spuren?“, wollte ich wissen.

„Ja. Aber du weißt doch, dass ich über laufende Ermittlungen nichts berichten kann. Du darfst noch nicht einmal hier sein! Ich komme in Teufels Küche, wenn man dich mit mir hier unten findet. Langsam müssen wir wieder verschwinden!“, bestimmte sie, dabei schaute sie etwas aufgeregt zur Tür.

„Warte!“, bat ich. Ich berührte die ermordete Frauenleiche. Tausende Bilder schossen sofort durch meinen Kopf. „Sie waren zu dritt.“

„Wer?“, fragte Dorothea damals. „Von wem sprichst du bitte? Du willst doch nicht behaupten, dass du die Täter kennst?“, ungläubige Blicke warf sie mir entgegen.

„Nein, nicht wirklich. Ich meine. Ich kenne sie nicht. Persönlich meine ich, aber …“

„Was meinst du mit, aber? Möchtest du mir ernsthaft erzählen, dass du die Mörder gesehen hast?“

„Ja, aber …“

„Ja, aber was?“

Ich stockte und nach kurzem Zweifeln erzählte ich ihr doch über meine Gabe. Eine Gabe, die ich nicht wollte, dennoch bekam. Wie ein Fluch kam sie über mich. Zog das Böse magisch an. Es dauerte, bis sie die Tragweite meiner Fähigkeiten begriff. Bis ich begriff, dass diese Gabe unendlich viel Schmerz und Leid mit sich ziehen wird.

Meine Gedankengänge verschwammen erneut, zurück in das Heute, wurde mein Körper kurzzeitig versetzt. Ein Traum, eine Vision. Wieder zu Hause im Wohnzimmer umgeben vom Parfümduft meiner Mutter, dem Pfeifengeruch meines Vaters. Das beruhigende Knacken des Holzes vom offenen Kamin.

„Wir müssen endlich etwas tun!“, sprach meine Mutter. „So kann das nicht weitergehen!“

„Du hast recht. Wir müssen etwas unternehmen!“, entgegnete mein Vater. „Es ist jetzt schon das dritte Mal, dass sie fantasiert. Aber diesmal habe ich entsetzliche Angst bekommen.“

„Ich weiß, der Schrei ... Unheimlich ist er gewesen. Minuten habe ich gebraucht, um das Kind aufzuwecken. Als ob sie weit entfernt war. Meine Bedenken, ich könnte sie aus diesem tiefen Schlaf nicht mehr wachrufen, waren für mich, in dieser Situation, unerträglich. Ich habe Angst. Angst unser Kind zu verlieren! Verstehst du das?“ Sie begann zu weinen.

„Bitte weine nicht! Wir finden eine Lösung. Du wirst sehen.“ Die Worte meines Vaters klangen beruhigend, Sorge um mein Wohlergehen erkannte ich trotz alledem in seiner Stimme.

Ich spürte die Angst meiner Eltern. Ihre Verzweiflung.

„Ja, und hast du ihre Knie gesehen? Sie sind wund, bluten. Anscheinend hat Eugenia Stunden auf dem kalten Asphalt, vor unserem Haus, knieend verbracht. Ich begreife das alles nicht. Erst dieser Unfall. Dann der tote Soldat. Eugenia kannte seinen Namen! Und jetzt hat sie wunde, aufgeschürfte Knie. Fast nicht mehr zu sich gekommen wäre sie, erzähltest du mir.“

Ein starkes, angsterfülltes Zittern, erkannte ich jetzt in der Stimme meiner Mutter. „Ich weiß, vielleicht müssen wir trotzdem keinen Arzt um Hilfe bitten. Es ist das Alter. Sie ist in der Pubertät. … Es könnten doch Tagträume sein? Oder Phasen, die bald vorbei sind?“

„Sei doch bitte nicht so überaus naiv! Pubertät, dass ich nicht lache. Unser Kind hat Visionen. Das kann nicht normal sein! Dieses unsägliche Ereignis mit dem toten Soldaten. Woher kannte Eugenia seinen Namen? Zufall? Ein Arzt kann ihr mit Sicherheit helfen.“

Schluchzend erklärte meine Mutter. „Eugenia ist mein Kind! Unser Kind. Behüten müssen wir sie! Aber gleich ein Psychi ater? Wer weiß, vielleicht verabreicht er starke Medikamente. Sie ist doch noch ein Kind! Bedenke die vielen Nebenwirkungen!“

„Wir haben doch schon unzählige Male darüber gesprochen. Ihre Zustände werden schlimmer! Du spürst es doch auch! Das fühle ich. Es ist das Richtige. Doktor Leichtenschlag, wurde mir wärmstens empfohlen. Du siehst doch selbst, dass sich ihr Zustand ständig verschlechtert“, sprach mein Vater leise. „Ich habe schreckliche Angst unser Kind zu verlieren!“, Verzweiflung und Hilflosigkeit lagen in seiner Stimme.

„Ich lasse einfach meine Augen geschlossen“, dachte ich bei mir. „Hier bin ich sicher. Keiner kann mir etwas tun.

Ich bin ein Kind! Ein normales Kind! Lebe in einem kleinen Kurort. Bin glücklich. Gut, hier im Harz bin ich umgeben von alten Sagen und unzähligen Legenden. Deshalb vielleicht meine lebhafte Fantasie. … Oder nicht? … Aber was sage ich dem Arzt? Was sage ich, wenn er fragt, was mit mir passiert? Sage ich, dass ich Stimmen höre? Dass ich Tote sehe? Oder zumindest glaube, Tote zu sehen. Man …, wo bin ich da nur rein geraten? Hätt ich doch nicht diesen Stein gefunden. Diesen vermaledeiten Stein! Seitdem ich den Stein in den Händen hielt, veränderte sich mein ganzes Leben.“

Einige Monate sind seither vergangen, als ich mit einem Freund am Stausee, nahe unserem kleinen Kurort, gewesen bin. 1994 war eine aufregende Zeit, für alle. Vieles änderte sich in diesen Tagen. Jeder war im Aufbruch. Es wurde hektischer, aber das langersehnte freie Leben war auch irgendwie unbeschwerter. Die Menschen orientierten sich neu. Der Missmut der letzten Jahre vor der Wiedervereinigung kam jetzt endlich zum Erliegen. Obwohl viele junge Leute in die alten Bundesländer abwanderten. Menschen arbeitslos wurden, neue Wege finden mussten. Nicht stehen bleiben, weiter gehen, erhobenen Hauptes und diese Neue Welt entdecken, um sie für sich gewinnen zu können. Das war für alle etwas Unbekanntes. Nur bei uns Kindern, so schien es, blieb alles beim Alten.

Heiß war dieser 28. Juli, als mein Leben das erste Mal von nicht erklärbaren Ereignissen überschattet wurde. Exakt eine Woche nach meinem dreizehnten Geburtstag. Eine Erinnerung, die bis heute intensiv in meinem Gedächtnis verwurzelt ist.

Ich angelte an jenem Tag mit einem meiner Freunde. Mathias, ein begeisterter Angler. Schon eine Weile saßen wir ruhig und schweigend an einem See in der Nähe unseres Wohnorts. Fische wollten nichtsdestotrotz keine beißen. Der See lag in einer Senke, umgeben von unendlich erscheinenden Feldern, auf denen Getreide angebaut wurde. Mohnblumen, Kornblumen, vereinzelte langstielige Gräser wuchsen an ihren Rändern. Ich liebte diese bildlichen Eindrücke vom Knallrot, Blau nebst einem leuchtenden Goldgelb. Überall zirpten die Grillen. Die Sonne brannte heiß auf meinen Körper. Intensiv atmete ich den Geruch, einer Mischung aus Wiesenblumen und Kornfelder, gepaart mit einer warmen, wohltuenden zugleich erfrischenden Windbriese ein. Ich genoss den Augenblick.

Doch die Hitze auf meiner Haut erwies sich als unerträglich. Schwerfällig stand ich auf.

„Meinst du die Fische beißen noch?“, wollte ich von Mathias wissen.

Keine Reaktion kam von ihm. Kein Laut glitt über seine Lippen, obwohl ich fast flehend fragte. Der Blick von Mathias strikt auf den See gerichtet.

„Sag schon! Ich möchte jetzt wissen, ob ...“

„Pst, sei ruhig!“ Sprach er mit zorniger Miene.

Jetzt empfand ich eindeutig langeweile. Die Hitze, die Stille und das fortwährende Sitzen. Am liebsten wäre ich in den See gesprungen. Jedoch die Angst einen Streit zu verursachen ließ meine Wut verfliegen. Kurz entschlossen beschloss ich flache Steine am Ufer des Sees zu suchen. Ärgern, mit dem Schnipsen der Steine über die klare, glatte Wasseroberfläche, Mathias lethargische Haltung beenden, das war es, was ich damit bezwecken wollte.

Seltsamerweise fand ich keine Geeigneten. Wie verhext erschien mir der Umstand in Anbetracht der Tatsache, dass das Ufer aus Schieferbruch bestand. Unerwartet erblickte ich ihn. Einen Stein, der absolut nicht in unserer Region vorkam. „Schau Mathias, ein Hühnergott!“ Ich hob den Stein auf. Betrachtete ihn. Unförmig, fast eckig, doch dann an einigen Stellen, etwas rund. Nicht einmal die Hälfte meiner Handfläche bedeckte er. Schneeweiß waren manche Stellen, andere pechschwarz. Die weißen Stellen auf dem Stein bestanden aus versteinerter Kreide. Die schwarzen Stellen hingegen aus Bernstein. Ein Stein, der sehr untypisch für diese Gegend war, in der es nur Fels und Schiefer zu finden gab. Ungefähr in der Mitte des Steins befand sich ein Loch. Ich schaute durch das Loch im Stein, in Richtung Mathias.

Ungläubig blickte er mich an. „Ein Hühnergott, das glaubst du doch selber nicht. Hier bei uns gibt es fast keine! Es sei denn, man hätte ein Loch hineingebohrt.“

„Doch! Sieh selbst, du kannst mir ruhig glauben“, bestand ich darauf.

Mathias schaute ihn an und konnte es nicht glauben. „Tatsächlich, ein Hühnergott. Aber dieser ist nicht aus unserer Gegend. Eindeutig ein Stein, der an der Ostsee zu finden ist. Den hat bestimmt jemand verloren. Hundert Prozent.“

„Egal, ich habe den Stein gefunden. Jetzt gehört er mir! Er wird mir Glück bringen.“

Als ich den Satz ausgesprochen hatte, geschah es das erste Mal. Ich sah einen Mann, gestützt auf Krücken. Er besaß eine große mächtige Gestalt, fast ausgeprägt war seine Glatze. Die restlichen Haare, die sich an beiden Seiten seines Kopfes befanden, waren hell ergraut. Ich kannte ihn. Der Mann hatte immer eine weiße, ich glaube aus Gummi bestehende Schürze um. Von Beruf Fleischer. Seit vielen Jahren in Rente und dennoch trug er immer diese Schürze. Wenn er lachte, blitzten die vielen Goldzähne in seinem Mund. Das Lächeln des Mannes ließ mich jedes Mal erschaudern. Es war mein Nachbar. Im Dorf erzählte man sich, dass er ein Nazi sei, der sich versteckte. Gut, er war immer mies gelaunt, hatte einen herrischen Tonfall. Aber deshalb gleich ein Nazi? Ich weiß nicht. Glauben konnte ich das nicht.

Der Mann rief meinen Namen. „Eugenia ... komm zu mir! Du musst mir helfen!“, befahl er.

„Was macht der denn hier? Und was will er von mir?“, sprach ich erstaunt, auch irritiert.

„Wer? Wen meinst du?“, erwiderte Mathias skeptisch.

„Bist du blind? Mein Nachbar, Herr Stahl.“

„Meinst du den alten Nazi? Wo ist er denn?“

„Er ist kein Nazi. Lass solche Ausdrücke! Nur weil die Leute Behauptungen aufstellen, denkt gleich jeder, diese würden der Wahrheit entsprechen. Herr Stahl ist nur ein alter Mann. Sonst nichts.“ Es machte mich immer wütend, wenn Menschen Behauptungen aufstellten und andere noch etwas dazu dichteten, ohne einen einzigen Beweis, dass es sich um Tatsachen handelte.

„Wahrscheinlich hast du recht. Aber die Leute im Ort sagen etwas Anderes. Wo ist er?“

„Na da. Bist du blind? Am vorderen Ende des Sees. Auf dem Hügel, vor dem Getreidefeld.“ Ich zeigte auf die Stelle, drehte mich dabei zu Mathias um. „Wo bist du? Mach keine Scherze! Das ist nicht komisch. Bitte komm heraus! Mathias!“, hallten die Worte fast schreiend aus meiner Kehle. Aber weit und breit war er nicht mehr zu sehen. Nicht nur Mathias war verschwunden, sondern auch seine ganze Angelausrüstung.

Irritiert blickte ich erneut in die entgegengesetzte Richtung. Herr Stahl stand immer noch an der gleichen Stelle. Er lächelte. Eiskalte Gänsehaut verbreite sich über meinen Körper. Deutlich nahm ich sie unter meiner leichten Sommerkleidung wahr. Angst stieg in mir auf. Suchend, innerlich flehend drehte ich mich nach allen Seiten. Mathias war unwiderruflich verschwunden. Weg. Endgültig, keine Spur von ihm.

Allein stand ich da. Angst und gleichzeitig existierte Ungewissheit in mir. Fragen schossen durch meinen Kopf. Nochmals drehte ich mich um. Ich zuckte zusammen, trat einen Schritt zurück, denn Herr Stahl stand jetzt nur noch ein paar Meter, in voller Größe, vor mir. Auf beiden Krücken gestützt, lächelte er mich an. Seine Zähne kamen zum Vorschein. Die Goldzähne glänzten für mich unheimlich in der Sonne. „Hab keine Angst! Ich möchte nur mit dir reden!“, befahl er. Der Tonfall herrisch wie eh und je.

Augenblicklich ging ich ein paar Schritte rückwärts. Ich stolperte und fiel auf meinen Po. Langsam kam er auf mich zu. Mein Herz raste. „Was mach ich jetzt bloß? Soll ich laut Schreien? Aber wer hört mich denn hier?“

Bedächtig und vorsichtig ging er ein paar weitere Schritte auf mich zu. Deutlich sah ich, wie sein mächtiger Schatten meinen Körper langsam bedeckte. Die Angst in mir wich unbändiger Furcht. Ich spürte den rasenden Herzschlag in meiner Brust. Es kam mir so vor als wolle mein Herz jeden Moment meinen Brustkorb sprengen. Er hob den rechten Krückstock, richtete ihn auf mich. Schützend hielt ich meinen Arm vor Augen.

„Mädchen, was machst du denn da? Du musst aufpassen! Sonst verletzt du dich womöglich noch.“ Überrascht blickte ich zu ihm. Die gesprochenen Worte waren nicht mehr gepaart mit einem herrischen Tonfall. Nein, Herr Stahl sprach ganz ruhig und schien etwas besorgt. Noch nie hatte dieser Mann, in diesem sorgsamen Ton, mit mir gesprochen.

Mein Herzschlag verlangsamte sich. Er lächelte. Doch dieses Mal erschrak ich nicht vom Glanz des Edelmetalls in seinem Mund.

„Fass fest zu! Du musst meinen Krückstock mit beiden Händen fest umfassen! Danach kann ich dir wieder auf die Beine helfen. Hast du dich verletzt? Geht es dir gut?“, sprach er mit besorgniserregender Stimme.

Misstrauisch blickte ich zu ihm. Nach kurzem Zögern umfasste ich dennoch seinen Krückstock, den er mir geduldig entgegenstreckte. Er zog an, bis ich wieder fest auf meinen Beinen stand.

„Mir geht es gut. Ich hoffe, mein Kleid ist nicht beschmutzt. Meine Mutter veranstaltet immer einen riesigen Aufstand, wenn ich mit beschmutzter Kleidung nach Hause komme. Sie denkt, ich unternehme zu viel mit Jungs. In meinem Alter unternimmt man nichts mehr mit ihnen. Ich muss andauernd diese unpraktischen Mädchensachen anziehen.“ Ich strich über mein Kleid und sah danach zu Herrn Stahl.

Er schmunzelte, bevor er antwortete. „Weißt du, Mütter sind immer besorgt. Sie meint es bestimmt nicht böse. Aber wir leben in einem kleinen Ort. Du weißt doch, wie die Leute reagieren. Jede Kleinigkeit wird zu Tratsch.“

„Ich weiß.“ Antwortete ich etwas beschämt über meine letzten Worte. „Ich kann nicht verstehen was sie an diesen Ort bringt? Zu weit von zuhause entfernt, das gestützt auf Krücken?“, ich erschrak vor meinen eigenen Worten. Merkte, wie die rote Farbe in meinem Gesicht zu glühen begann.

„Ja, Mädchen. Das würde ich selber gern wissen. Leider weiß ich nicht, wie ich an diesen Ort kam. Ich bin viel zu entfernt von meinem Haus. Jahre sind seither vergangen, als ich solch eine lange Strecke das letzte Mal gegangen bin. Eigenartig .... Das Letzte, an das ich mich erinnere war, ich ging zu Bett. Schlief ein. Nicht einmal an das Aufwachen, geschweige denn das Anziehen blieb in meiner Erinnerung. Weißt du, was für mich besonders bedenklich erscheint?“

Ich schüttelte verwirrt den Kopf.

„Es ist äußerst sonderbar, dass ich keinerlei Schmerzen fühle. Dennoch halte ich meine Krücken in den Händen, um mich abzustützen. Ich überwinde mich nicht, ohne zu gehen! Die Angst, diese entsetzlichen Schmerzen kehren zurück, ist allgegenwärtig!“

Gedankenversunkene Blicke tauschten wir einander aus.

Grübelnd sprach ich darauf. „Ja, das ist alles sehr verwirrend. Auch Mathias ist mit seiner gesamten Angelausrüstung verschwunden.“

„Welcher Mathias? Warst du nicht allein?“, fragte er. Sogleich blickte er suchend durch die Sommerlandschaft.

„Nein, vor wenigen Augenblicken stand er noch neben mir und angelte.“

„Das kann nicht sein, Kind. Ich sah nur dich.“

„Aber ich stand hier! Mit Mathias! Ich schwöre, bei allem, was mir lieb ist!“

„Mmh. Eigenartig. Ich bin schon ganz verwirrt. … Du sagst, wie hieß er noch mal?“

„Mathias.“

„Ah, ja. Mathias war bei dir und ihr habt gemeinsam geangelt …. Aber wo um Himmels willen ist denn das Angelzubehör? Nur du stehst hier. Vorhin standest du allein am See. Kein Mathias. Glaube mir bitte, wenn ich dir sage, dass ich nur dich sah! Meine Augen sind zwar alt, sehen kann ich jedoch wie ein Luchs.“

Ich war total durcheinander. Tränen standen in meinen Augen. Doch weinen wollte ich auf keinen Fall. Nicht in diesem Moment. Und das vor meinem Nachbarn. Nein. Ich überlegte angestrengt, bevor ich zu sprechen begann. „Ich stand hier! Habe mit Mathias geangelt. Das schwöre ich!“ Hilfesuchende Blicke warf ich Herrn Stahl entgegen. Eindeutig erkannte ich Mitleid in seinen Augen. „Dann fand ich den Stein ...“, fuhr ich fort.

„Welchen Stein?“, unterbrach mich Herr Stahl.

„Na den.“ Ich öffnete meine rechte Hand und offenbarte den Stein. Mit Schweiß überzogen glänzte er in der Sonne. Meine Hand schmerzte.

„Tatsächlich, ein Hühnergott. Eigentlich nichts Besonderes. Nur hier hat ihn bestimmt jemand verloren. Bernstein. An der Ostsee findet man viele von denen. Sie bringen angeblich Glück.“

„Ich weiß, aber seit ich den Stein in meiner Hand halte, sehe ich sie Herr Stahl und Mathias verschwand.“

Herr Stahl schaute nachdenklich auf den Stein, der noch immer auf meiner ausgebreiteten Handfläche lag.

Er klemmte sich seine Krücke unter den linken Arm, griff mit der rechten Hand nach dem Stein. Als er ihn in der Hand hielt, sah er mich an und begann zu fragen. „Wie ist es jetzt? Siehst du mich noch, oder bin ich weg? Ich sehe dich, aber nur dich. Kein Mathias weit und breit.“

„Ich sehe sie. Mathias ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich glaube, ich verliere meinen Verstand“, brachte ich leise und zugleich traurig hervor.

Herr Stahl lachte. „So schnell verliert man nicht den Verstand. Du bist noch viel zu jung, und wie ich das beurteilen kann, viel zu gesund und schlau.“ Er gab mir den Stein zurück. Ich lächelte, wenn auch etwas verlegen. Angestrengt versuchte ich mich zu konzentrieren. Die letzte Stunde hatte mein bis dato kindliches Bewusstsein verändert. Eine Welt, die ich bis dahin für unbeschwert wahrnahm, hörte auf für mich zu existieren. Es geschahen Dinge, die ich mir nicht erklären konnte. Trotz der Aufmunterungsversuche Herrn Stahls war es mir einfach nicht möglich, eine plausible Erklärung zu finden.

„Sind ihre Schmerzen wirklich verschwunden?“

Seine unbeschwerten Gesichtszüge verschwanden. Er dachte nach. „Ja, das ist korrekt. Darüber bin ich auch sehr froh.“

„Das ist doch sehr eigenartig. Ich verstehe das alles nicht!“

Wir überlegten angestrengt. Unser Blick konzentriert aufeinandergerichtet. Meine Betrachtung ihm gegenüber forschend, zugleich neugierig.

Sein Lächeln kehrte zurück. Mutiger, schien es, wurde er. Herrn Stahls Schultern bewegten sich langsam, die gekrümmte Haltung verschwand. Die Krücken schmiss er achtlos beiseite. Die Statur erschien mir jetzt gigantisch. Er zögerte. Letztendlich hatte die Euphorie der Schmerzlosigkeit ihn dermaßen beeinflusst, dass Herr Stahl jegliche Vorsicht beiseiteschob. Er streckte die Arme in die Luft, ging gleichzeitig in die Hocke. Zu guter Letzt stieß er sich kräftig vom Boden ab.

Herrn Stahls Gesicht strahlte vor Freude, als er diesen kleinen Sprung in der Luft vollbrachte, um danach wieder auf dem Boden zu landen. Doch dabei strauchelte er und fiel direkt auf meinen Hocker, den ich noch vor wenigen Momenten gelangweilt verlassen hatte.

Ich erschrak, wollte ihm helfen. Entsetzliche Angst, er könnte sich schwer verletzt haben, stieg in mir auf. Er schien benommen. Hektisch griff ich ihm unter die Arme. Aber was konnte ich schon ausrichten. Einen massiven Mann aufheben. Ich, ein Kind, versagte kläglich bei diesem Versuch.

„Eigenartig! Eugenia weißt du, ich verspüre keinen Schmerz. Nicht den Geringsten. Ich verstehe das nicht!“ Vorsichtig erhob er seinen massiven Körper. Herrn Stahls gigantische Größe wurde erneut erkennbar, während er direkt neben mir zum Stehen kam.

Er schaute mich nachdenklich an. „Nein, im Gegenteil, mir geht es sehr gut.“ Er lachte, doch gleich darauf verging die Freude, sie wich einem unglücklichen Gesichtsausdruck. Ich verfolgte die Blicke, erkannte, warum sein Lächeln verschwand. Mein Gesicht erstarrte. Wir wussten, was wir sahen, trauten uns jedoch nicht, darüber zu sprechen. Unwirklich, nicht vorhanden schien diese Tatsache. Dennoch war sie da. Real! Herr Stahl, war nur noch ein Geist, eine Seele. Das stand für uns beide jetzt fest.

Er setzte sich freudlos auf den Boden. Gleich darauf nahm ich neben ihm Platz. Heimlich berührte ich ihn. Deutlich fühlte ich die Kleidung. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich. „Warum kann ich ihn berühren? In Büchern, im Fernsehen sind Geister nie greifbar für Sterbliche.“, flau wurde es mir in der Magengegend. „Vielleicht bin ich doch ein Geist? Vielleicht bin ich gestorben?“ Panisch kniff ich mir mit der rechten Hand in den linken Arm. „Au, das war schmerzhaft! Aber wenn ich schmerzen verspüre, bin ich nicht gestorben. Das kann nicht sein!“ Hektisch griff ich nach meinem Stuhl. Anstatt mich auf ihn zu stützen, stieß ich ihn versehentlich an. Als er daraufhin kippte, atmete ich befreit ein. Erleichtert über die Tatsache, ihn zu berühren, darüber hinaus ihn zu bewegen. Das machte mich glücklich. Beruhigt darüber blickte ich, genau wie Herr Stahl, über die spiegelglatte Wasseroberfläche. Zusammen sahen wir eine Weile über den glasklaren See, der vor uns lag.

Schließlich brach Herr Stahl das Schweigen. „Ich glaube, das ist mein Ende. Mein Leben ist vorbei.“ Tränen füllten sich in seinen Augen. Deutlich erkannte ich, dass dieser kräftige, ältere Herr, erfüllt von Trauer war. Trauer, die mich sehr berührte. Ich wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Ich wollte seine Hand berühren, traute mich aber nicht. Ich sah in sein Gesicht. Mit bedrückten Blicken schaute er über den ruhenden spiegelglatten Stausee. Kurze Zeit darauf bemerkte Herr Stahl meinen nachsichtigen, unglücklichen Gesichtsausdruck. Er drehte sich zu mir um und seine Mimik brachte ein mildes Lächeln hervor. Ich merkte, dass er in diesem Augenblick versuchte, mich nicht zu ängstigen. Ja, eine Art Beschützerinstinkt machte sich bei ihm bemerkbar. Ich versuchte meine Traurigkeit zu überspielen, indem ich lächelte. Aber die Träne, die sich schon in meinem Auge staute, konnte ich nicht mehr unterdrücken. Unaufhaltsam rollte sie meine Wange hinunter. Schnell wischte ich sie weg. Denn auf keinen Fall wollte ich den armen Mann in seinem Kummer bestärken.

Herr Stahl bemerkte meine einfühlsame Haltung. Er begann erneut das Schweigen zu brechen. „Du musst nicht weinen! Mein Leben war lang und dennoch erfüllt. Vierundachtzig bin ich. Verzeihung! Bin ich im vergangenen Monat geworden.“ Ein leichtes ironisches Lächeln glitt über sein Gesicht. „Einen guten, starken Sohn, schenkte mir meine Frau. Wir führten eine segensreiche, von Glück erfüllte Ehe. Na ja, wenn ich bedenke, dass ich einige Jahre an der Front in Russland kämpfte. Verlorene Jahre. Endloser Schmerz, tausende Tränen und trotz alledem brachte sie mir in dieser schweren Zeit, einen gesunden Sohn zur Welt. Stolz war ich. Doch die Panik, ihn in dieser beschwerlichen Zeit, durch Hunger oder den verdammten Krieg zu verlieren. Diese unsägliche Angst, ein ständiger Begleiter. Gott sei Dank überstand er die entbehrungsreiche Zeit. Ich hatte das Glück, dass meine gesamte Familie überlebte. … Als ich nach dem Krieg, halbverhungert, aus russischer Gefangenschaft nach Hause kam, konnte mein Sohn schon laufen. Glücklich war ich in jenen Tagen. … Ja, das Leben meinte es gut mit mir. Vom ersten Augenblick an, liebte ich meine Frau und das bis heute.“

Er wurde nachdenklich. In Herrn Stahls Worte mischte sich unendliches Bedauern. „Es stand immer ein Geheimnis zwischen uns. Eigentlich war es das nicht. Ich kannte es. Dennoch meine Frau Magda … sie dachte ein Leben lang, dass ich es nicht weiß. Immer hatte ich die Hoffnung, sie würde es mir irgendwann erzählen. Jedoch tat sie es nicht. Einige Male stand sie kurz davor. Aber im letzten Augenblick machte sie stets einen Rückzieher. Das fand ich jedes Mal sehr schade. Danach war meine Stimmung ihr gegenüber gedrückt. Und zu meinem Bedauern wurde ich sehr grob zu ihr.“

Entsetzt sah ich Herrn Stahl an. Er bemerkte sofort meine tadelnden, gleichzeitig bestürzenden Blicke. Auf der Stelle warf er ein.

„Nicht was du denkst! Nie im Leben hätte ich ihr körperliche Gewalt angetan. In meinem vergangenen Leben habe ich viel zu viel Gewalt erlebt … gesehen. Meine Familie wollte ich immer davor schützen! Nein, was ich damit sagen möchte … verbale taktlose Äußerungen, die mir hinterher stets leidtaten.“

Er schwieg. Die Blicke schienen mir weit entfernt zu sein. Ich war der festen Überzeugung, dass er bereit war, endlich mit jemandem über sein Geheimnis zu reden. Dieses Geheimnis, das unausgesprochen zwischen ihm und seiner Frau lag.

„Welches Geheimnis stand denn zwischen ihnen und ihrer Frau?“, wollte ich wissen. Erschrocken über meine ausgesprochene Neugier, hielt ich mir die Hand vor dem Mund.

Er lächelte nachsichtig, holte tief Luft, bevor er sein Geheimnis mit mir teilte.

„Ich bin nicht verärgert. Im Gegenteil. Erleichtert möchte ich eher sagen. Erleichtert endlich mit jemandem darüber zu sprechen. Mein Leben ist beendet. Wer weiß, ob ich noch eine Gelegenheit bekomme“, sprach er gedankenversunken.

Deutlich fühlte ich die Anspannung in mir aufkommen. Meine Neugier wuchs.

Nochmals atmete Herr Stahl kräftig ein, bevor er weitersprach. „Mein Sohn … mein Sohn, ist nicht mein Sohn! ... Jedoch, wenn ich es recht bedenke, ist er es doch! Vielleicht nicht genetisch. Aber er ist mein Sohn! Als ich ihn das erste Mal auf meinen Armen hielt, wusste ich es. Ich weiß nicht warum. Aber ich erkannte es. Auch als er älter wurde, bemerkte ich, dass wir keinerlei Ähnlichkeit miteinander hatten. Trotz alledem liebte ich ihn. Von Anfang an. Das musst du mir glauben! Achtundvierzig Jahre waren wir glücklich verheiratet. Weitere Kinder waren uns nicht vergönnt. Mein Schicksal hatte das entschieden. … Vielleicht konnte ich nie Kinder zeugen? Ich hatte mir immer gewünscht, dass sie mir eines Tages die Wahrheit sagte. ... Von Anfang an hätte ich ihr verziehen. Du musst wissen, dass ich nur maßlos enttäuscht darüber war, dass mir Magda das Geheimnis nicht anvertraute. Hatte sie Angst, ich setzte sie mit unserem Kind vor die Tür? … Nie wäre es mir in den Sinn gekommen. … Viel zu sehr liebte und liebe ich sie und unseren Sohn musst du wissen!“

Trauer verspürte ich in meinem Inneren. Tiefe Trauer. Ich wollte helfen, wusste aber nicht wie. Ich wollte ein tröstendes Wort sprechen, wusste aber nicht welches. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich. Warum geschieht das mit mir? Warum erzählt mir ein Erwachsener sein größtes Geheimnis? Ein Geheimnis, was er schon lange mit sich trägt. Einem Kind mit dreizehn. Ich spürte die Verzweiflung, den Hilferuf von ihm und doch konnte ich in dieser traurigen Situation nicht helfen. „Was kann ich tun? Was soll ich ändern? Ich bin ein Kind! Wenn ich es erzähle, glaubt es mir keiner. Ganz im Gegenteil, man wird mich wegschicken, behaupten ich verbreite Lügen.“

„Du brauchst es niemandem zu sagen! Nur einer ... Meiner Frau, Magda. Bitte! Ich weiß es wird nicht einfach, aber wenn du ihr meinen Ring gibst, vertraut sie dir. Bestimmt. … Sie ist eine gutherzige Frau. Hab keine Angst!“

Herr Stahl zog seinen Ehering vom Finger. Überreichte ihn mir. Zögernd nahm ich ihn an und las die Gravur vom Innern des Ringes. „In ewiger Liebe, deine Magda 1.5.1934.“

Als ich darauffolgend in Herrn Stahls Gesicht schaute, lächelte er sanftmütig.

„Bitte sag es ihr!“ Flehende Blicke waren es, die er mir entgegenbrachte.

Ein flüsterndes „Ja“, brachte ich über meine Lippen und langsam verschwanden Herrn Stahls Umrisse, die Umgebung wurde unscharf. Ein Kratzen in meinem Hals trat unwiderruflich ein. Luft wollte ich holen, konnte es nicht. Mein Körper schlaff. Keine Kraft mehr in mir.

Ich klappte zusammen. Das Kratzen im Hals, kaum zu ertragen. Ich konnte nicht atmen. Aber irgendetwas pustete Luft in meine Lungen. Das kratzige Gefühl war unerträglich. Schlagartig wurde mir klar, dass etwas meine Luftröhre blockierte. Mein Körper bündelte seine letzten Kraftreserven. Ich hustete, dabei drehte ich mich auf die Seite. Der Drang mich zu übergeben kam in mir auf. Wasser floss aus meinem Mund.

„Eugenia, hörst du mich?“, rief jemand weit entfernt. Obgleich ich nicht erkennen konnte, wer mich rief. Eine männliche Stimme, das ist mir bewusst gewesen. Doch wer sprach mit mir? Gedanklich wollte ich die Stimme zuordnen. Ihr ein Gesicht geben, als plötzlich eine weitere Stimme meinen Namen rief. Vertraut war sie. Unwiderruflich wurde mir bewusst, dass ich sie kurz zuvor noch schmerzlich vermisste. Ich öffnete die Augen. Verschwommen erkannte ich deutlich zwei menschliche Umrisse über meinem Kopf auftauchen. Langsam, wurden die Bilder klarer.

„Gott sei Dank, sie lebt.“

Es war Mathias Stimme, die ich erleichtert wahrnahm.

Ein leichtes Klatschen bemerkte ich auf meiner Wange. Die Hand zittrig, die mich berührte. Ein aufgeregtes Gesicht, das ich dazu erkannte. Zuordnen wollte ich es endlich. Die Person erkennen. Diesem Gesicht einen Namen geben. Es veränderte sich, die Nervosität und gleichzeitige Besorgnis wich daraus zu einem Lächeln. Es war der Sohn Herrn Stahls, der mir sein befreites Lächeln entgegenbrachte. Ja, das erkannte ich jetzt.

„Mädchen.“, sprach er ganz aufgelöst. „Ich bin sehr glücklich darüber, dass du es geschafft hast! Bin ich froh, in deiner Nähe gewesen zu sein.“

Mathias und der Sohn Herrn Stahls sahen mich erleichtert an.

„Was ist passiert? Warum bin ich nass?“, flüsterte ich erschöpft.

Mathias Augen funkelten, Tränen sah ich darin. Hektisch erzählte er mir, was geschah.

„Du hast mir den Hühnergott gezeigt, dabei bist du ausgerutscht. Direkt am Ufer. Dein Kopf schlug auf irgendetwas. Das Ufer ist sehr steil, der Schlamm zog dich ins Wasser. Du bist sofort untergegangen. Ich wollte dir helfen, aber meine Kraft reichte nicht. Ich schrie! Dann kam plötzlich Herr Stahl und rettete dich. Er zog dich ans Ufer, beatmete dich sofort. … Ohne ihn wärst du vielleicht nicht mehr am Leben! Man, du hattest verdammtes Glück, dass er hier war. Wenn er nicht zufällig seine Wildplätze abgesucht hätte, wärst du wahrscheinlich nicht ...“, er schwieg.

Ich lächelte leicht. Benommen, vollkommen entkräftet blickte ich in das Gesicht von Herrn Stahls Sohn. Auch er brachte mir ein Lächeln entgegen.

„Danke!“, floh es gerade noch aus meinem Mund. Ich fror, trotz der heißen Temperaturen. Aufstehen wollte ich. Konnte es aber nicht. Heftige Schmerzen durchfuhren meinen Kopf. Durchnässt, vollkommen erschöpft versuchte ich aufzustehen.

„Bleib bitte liegen! Du hast eine große Beule an deinem Kopf. Ich hole Hilfe. Mathias wird hier bei dir bleiben. Du wirst sehen, im Handumdrehen, bringt man dich ins Krankenhaus.“

Verwirrt war ich. Versuchte meine Gedanken zu ordnen.

Doch ich war zu schwach, dachte über das Geschehene nach.

Ein kräftiger, stechender Schmerz fuhr durch meinen Kopf. Froh bin ich in diesem Moment gewesen, denn ich dachte, geträumt zu haben.

Vorsichtig hob ich meine starkverkrampfte Hand, die noch immer eine Faust bildete. Langsam öffnete ich sie einen Spalt. Den Hühnergott noch einmal sehen. Mir eingestehen, dass alles nur ein Traum war.

Jedoch, als ich sah, was meine Hand offenbarte.

Mit Schrecken erkannte ich den Ring. Gold, das glänzend mir entgegen leuchtete. Und obwohl meine Hand schmerzte, ballte ich sie wieder zusammen.

Meine Gedanken spielten verrückt. „War es ein Traum, die Realität oder hatte der Wahnsinn in mir die Vorherrschaft übernommen?!“ Der Schmerz in meinem Kopf verstärkte sich. Ich wurde unendlich müde. Meine Gliedmaßen bewegungsunfähig und die Traumwelt übermannte mich erneut.

Erst Stunden später wachte ich im Krankenhaus auf. Meine Mutter saß damals an meinem Krankenbett. Sie hielt meine Hand. Die Kopfschmerzen schienen immer noch unerträglich für mich.

Als sie bemerkte, dass ich zu mir kam, streichelte sie zärtlich über den Kopf. „Es wird alles gut. Hab keine Angst! Du bist hier in den allerbesten Händen. Schlaf, ich bleibe bei dir!“ Sie strich ein weiteres Mal sanft über meinen Kopf, gab mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn.

Eine Gehirnerschütterung, war die Folge meines Unfalls. Zusätzlich zierte eine dicke Beule meinen Hinterkopf. Einige Tage später wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen, konnte zurück nach Hause. Zu diesem Zeitpunkt war der Ring nicht mehr in meinem Besitz. Ich vermutete, dass das Geschehene meiner fantasievollen Traumwelt entstammte.

Doch dann wurde das Unerwartete wahr.

Das Schöne ist nicht immer das,

was es zu sein scheint

Wohlige Wärme, die mich umgab. Hier im Wohnzimmer meiner Eltern, umgeben von ihrer Nähe. Den Duft des Parfüms meiner Mutter, den Pfeifengeruch meines Vaters. Das Geräusch vom Knistern des Holzes, vom offenen Kamin. Umgeben von denen, die mich Lieben, fühlte ich mich am wohlsten. „Die Zeit soll einfach nicht vergehen!“, dachte ich bei mir. „Nur klar muss mein Verstand sein! Damit ich das Erlebte ordnen kann. Das Erlebte, die Angst, den Kummer und die vielen positiven, leider auch die vielen negativen Eindrücke. Sie mussten einfach in meinem Kopf geordnet werden! Wer bin ich? Bin ich ein Kind? Oder ist die Zeit schon so weit fortgeschritten, dass ich bereits als Frau durchs Leben schreite?“

Als junge Frau, die damals ihre erste ermordete Leiche zu sehen bekam. Wie sie dalag, kalt, aschfahl. Ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Keine weitere Mimik war zu erblicken. Mimik, die den grausamen Tod sichtbar machte. Nichts, nur ein leichtes Lächeln. Das Loch, in der rechten Schläfe. Es konnte auch ein Schuss gewesen sein. Der gut verschlossene Y-Schnitt des Pathologen, auf ihrer Brust. Die Fesselungsspuren, die deutlich an ihren Handgelenken zu sehen waren. Etwas Formaldehyd vermischt mit dem süßlichen Geruch der Verwesung. Alles war möglich. Ihre Mörder immer noch auf freiem Fuß. Ich allein kannte die Täter, glaubte ich. Nicht mit ihren Namen. Nein, das nicht. Aber ich hatte sie gesehen. Gesehen, wie sie die arme tote Frau quälten. Ihr zum Schluss ein Loch in den Kopf bohrten.

„Wer war sie?“, wollte ich damals von Dorothea unbedingt wissen.

„Ich kann es dir nicht sagen! Du weißt doch, dass ich über laufende Ermittlungen nichts berichten darf! Wann hörst du endlich damit auf?“ Dorothea war sauer. Sie war sauer, da ich ihr nicht schon längst über meine Fähigkeiten berichtete. Schon mehr als drei Semester lebten wir in unserer kleinen WG als Studenten.Sie, eine angehende erfolgsorientierte Kriminologin. Ich in einer staubigen, steinigen, faszinierenden, doch für sie langweiligen Welt der Archäologie.

„Bitte sei mir nicht böse! Aber wenn du ehrlich bist, hättest du mich am liebsten ausgelacht. Du hättest gelacht und mich für verrückt erklärt. Genau so verrückt, wie damals mein Arzt. … Ich war erst dreizehn Jahre, als er mich mit Antidepressiva vollpumpte. Zwei, für mich, endlos erscheinend lange Jahre. Sie sind einfach weg. Doktor Leichtenschlag hat mir nie geglaubt. Alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt der Aufnahme in der Klinik sah und erlebte, war für den Arzt nicht greifbar. Er erklärte es, für nicht vorhanden. Wahnvorstellungen stellte er als Diagnose fest. Nach meiner fingierten Aussage keine Toten mehr zu sehen, beschloss mein behandelnder Arzt, mich endlich aus der Psychiatrie zu entlassen. Menschen, die mich bis dato kannten, mieden mich. Alte Freunde wechselten die Straßenseite. Eine falsche Diagnose machte mich zum Einzelgänger. Einige Erwachsene, vor allem Lehrer, behandelten mich wie ein rohes Ei. … Freunde, hatte ich keine mehr. Sogar mein bester Freund Mathias sprach nur noch mit mir, wenn uns niemand beobachtete. Ich glaubte, ich tat ihm damals leid. Er fühlte sich durch den erlittenen Unfall, wegen dem meine angeblichen Wahnvorstellungen begannen, schuldig. … Leid, wollte ich dir, nun wirklich nicht tun! Auch wollte ich nicht, dass du mich für geistesgestört hältst.“, bittere Tränen füllten meine Augen. Tränen, die ich nicht mehr weinen wollte. Ich blickte Dorothea fest an. Auch ihr Blick war mir zugewand. Eindeutig erkannte ich, dass Schuldgefühle bei ihr aufkamen.

Sie fing an zu stottern. „Ich … weiß … gar nicht, was … ich sagen soll … Ich glaube, du hast recht … aber glaub mir bitte! … Auf keinen Fall … kündige ich dir die Freundschaft!“

Dorothea schritt auf mich zu und wir umarmten uns. Wir umarmten uns und weinten. Wir weinten und schluchzten. Schnieften, nahmen uns Taschentücher aus der Box, die immer auf dem kleinen Küchentisch stand. Schlossen gemeinsam einen noch festeren Bund der Freundschaft. Und endlich erzählte ich ihr, was schon so viele Jahre auf meiner Seele brannte.

Ich erzählte ihr, wie alles begann. Vom Hühnergott, den ich fand, während ich mit Mathias angelte. Vom Unfall, den ich erlitt. Und ich erzählte die Familiengeschichte Herrn Stahls. Die Geschichte, die mein bis zu diesem Zeitpunkt gelebtes Leben extrem beeinflusste.

Müde wurde ich. Dorothea kochte Tee. Wir aßen etwas. Die Zeit verflog. Doch letztendlich wollte ich mir alles von der Seele reden. Sie stand mir bei und hörte geduldig zu. Ich war glücklich, denn ich glaubte endlich eine Freundin gefunden zu haben. Eine Freundin, der man alles erzählen kann. Die zuhört und einem vor allem auch beisteht. Beisteht, egal in welcher Lebenslage. Dieses Gefühl war fantastisch. Ich merkte, wie sich wohlige Wärme in mir ausbreitete, als die schwere Last, die ich über viele Jahre hinweg ansammelte, endlich jemanden anvertrauen konnte. Wie ein Wasserfall sprudelte sie aus mir heraus. Eine unwirklich erscheinende Wahrheit, die für mich Tatsache gewesen war. Doch für andere erschreckend und unlogisch zugleich.

„Als ich damals aus dem Krankenhaus entlassen wurde und zurück nach Hause kam, war ich froh. Denn mein zuhause war wie eine Festung für mich. Das ist es auch heute noch.“ Erzählte ich Dorothea. Sie schmunzelte, denn anscheinend hatte sie schon lange von ihrem zuhause Abschied genommen. Ich war noch nicht so weit. Obwohl ich es mit fünfundzwanzig Jahren, schon längst getan haben müsste. Weiter fuhr ich mit meinen Ausführungen, über die unvorstellbaren Geschehnisse und meiner bestehenden Gabe, fort. …

Ich ging auf mein Zimmer, legte mich wieder ins Bett, schlief sofort ein, obwohl der Vormittag schon weit fortgeschritten war. Am Nachmittag kam mich damals Mathias besuchen.

„Wie geht es dir? Hast du dich erholt?“, fragte er und dabei schaute er mir suchend ins Gesicht.

„Was meinst du wohl, wie es mir geht? Ich hatte eine Gehirnerschütterung! Ab und zu brummt noch mein Schädel. Müde bin ich auch andauernd.“ Eingeschüchtert schaute er mich an. Er nahm zögernd den Stuhl von meinem Schreibtisch, stellte ihn neben mein Bett und setzte sich.

„Schon gut, reg dich nicht auf!“, sprach er schnell.

Das Lachen verkneifen konnte ich mir jedoch nicht. Darauf wurde ich ernst. „Danke!“, bat ich. „Ich weiß gar nicht, wie ich mich je revanchieren kann. Danke, noch mal!“ Ich nahm seine Hand. Er wurde ein wenig rot und winkte belanglos ab.

„Du musst dich nicht bedanken! Wenn der Sohn vom Nazi nicht gewesen wäre, hätte ich dich nie aus dem See bekommen.“

„Sprich doch nicht so über diesen alten Mann! Du weißt doch ganz genau, dass ich das nicht möchte. Was die anderen sagen, ist mir egal.“

„Oh, man. Du klingst schon wie meine Mutter“, erneut lachten wir. Gleich darauf umarmten wir uns. „Freunde?“

„Freunde.“, antwortete ich.

Meine Mutter kam ins Zimmer. Sie trug ein Tablett mit Tee und Keksen darauf. Erschrocken sah sie uns an. Sofort beendeten wir unsere Umarmung.

Etwas gereizt sprach sie. „Eugenia muss sich noch ausruhen. Noch ein paar Minuten und dann musst du gehen!“

„Ja, natürlich Frau Heidenreich.“

„Trinkt langsam! Er ist noch heiß. Du magst doch Kamillentee?“, fragte meine Mutter Mathias und dabei strich sie vorsichtig über meine Stirn.

Mathias, der wieder neben meinem Bett auf dem Stuhl saß, brachte nur ein schüchternes „Ja.“, heraus.

Sie verließ daraufhin mein Zimmer.

Ich lachte. „Hast du gesehen, wie sie uns anstarrte? Als ob sie uns bei etwas Unanständigem erwischt hätte.“, wieder lachte ich. Mathias wurde rot, bemühte sich dennoch ein gespieltes Lächeln vorzutäuschen. Verlegen griff er in seine Hosentasche.

„Bevor ich es vergesse. Hier!“, sprach er schnell, zeigte mir den Hühnergott, den ich am Stausee fand.

„Wo hast du denn den her?“, fragte ich Mathias und bemerkte, dass Unbehagen in mir aufstieg.

„Er fiel dir aus der Hand. Als du wieder bewusstlos wurdest.“ Mathias überlegte. „Eigenartig, als wir am See angelten, hast du mich nach dem alten Herrn Stahl gefragt und behauptet, er wäre in unserer Nähe gewesen. Kannst du dich noch daran erinnern?“

„Kann sein, weiß nicht mehr. Warum?“, wollte ich wissen. Mir war überaus bewusst, was er mich fragte. Meine Beule am Kopf war immer noch vorhanden, dennoch konnte ich mich an jede Kleinigkeit erinnern, die ich am See erlebte. Mir wurde flau im Magen. Ich bekam Angst. Doch auf keinen Fall beabsichtigte ich, darüber zu sprechen. Ich hatte Furcht, Mathias zu verärgern, wenn er denkt, dass ich lüge. Aber würde ich lügen? Oder ihm eine geträumte Geschichte erzählen? Würde ich das? Selbst konnte ich mir diese Frage nicht beantworten. Wenn ich heute darüber nachdenke, wollte ich es auch auf keinen Fall herausfinden. Ich tat so, als mochte mich das nicht sonderlich interessieren.

Mathias erzählte. „Na ja, er kann dort nicht gewesen sein. Denn am gleichen Tag ist er verstorben. Im Dorf erzählt man sich, er sei einfach nicht mehr aufgestanden. Beim Schlafen hätte sein Herz ausgesetzt. Erzählen die Leute.“

Erschrocken blickte ich ihn an. Mathias fragte. „Was hast du? Geht es dir nicht gut?“

„Doch.“, erwiderte ich beschwichtigend. „War da noch etwas, als ich am See lag?“, fragte ich gespielt.

Er dachte erneut nach. „Nein, nur dieser Stein. Dein Glücksbringer. Warum?“, fragende Blicke waren es, die mich in diesem Moment etwas verwirrt anschauten.

„Ach, nichts. Schon gut.“

Ich überlegte einen Augenblick, während das Unbehagen in mir fast unerträglich wurde. „Sollte ich den Stein annehmen? Aber vielleicht sehe ich dann wieder etwas. Etwas, was nicht da ist“, dachte ich angsterfüllt über diese Situation nach.

„Was ist, willst du ihn nicht mehr?“

„Doch.“ Zaghaft griff ich nach ihm. Als ich ihn schon fast in der Hand hielt, sagte Mathias. „Soll ich dir vielleicht beim Tragen helfen?“, er grinste spöttisch.

„Haha, sehr witzig! Selten so viel gelacht.“ Doch als ich den Stein in meiner Hand betrachtete, war er verschwunden. Es war der Ring. Der Ehering von Herrn Stahl. Ganz deutlich erkannte ich die Umrisse des Ringes in meiner Hand. Ich zuckte zusammen, der Ring fiel zu Boden. Ich machte eine hektische Bewegung, wollte den Ring unbedingt allein vom Boden aufheben. Mir wurde schwindlig. Dabei fiel ich fast aus meinem Bett. Mathias fing mich gerade noch rechtzeitig auf. Vorsichtig half er mir zurück ins Bett.