Wohin treibt unsere Republik? - Rainer Zitelmann - E-Book

Wohin treibt unsere Republik? E-Book

Rainer Zitelmann

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Beschreibung

Wie wurde Deutschland links und grün? Nur vor dem Hintergrund langfristiger historischer Entwicklungen kann man die aktuelle politische Situation in Deutschland verstehen. Der Historiker Rainer Zitelmann beschreibt die politische Entwicklung von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis in die 90er-Jahre: Die Auflösung des antitotalitären Konsenses, die 68er-Revolte und ihre Auswirkungen. Die Linksverschiebung des politischen Spektrums führte dazu, dass die Grünen den Zeitgeist prägten - und auch die CDU/CSU zunehmend sozialdemokratischer und grüner wurde. Zitelmann analysiert die Macht der Medien und die Behinderung der geistigen Freiheit durch die Tabus und die Sprachregelungen der "Political Correctness". Das Buch erschien erstmals 1994, aber seine Analysen sind heute von beklemmender Aktualität. "Leider hat Zitelmann mit erschreckend vielen seiner Prognosen recht behalten", schreibt Professor Mathias Kepplinger.

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Der Autor

Rainer Zitelmann wurde 1957 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte von 1978 bis 1983 Geschichte und Politikwissenschaft und schloss sein Studium „mit Auszeichnung“ ab. 1986 promovierte er bei Prof. K. O. Frhr. von Aretin mit einer Arbeit über „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“ zum Dr. phil. Von 1987 bis 1992 arbeitete Zitelmann am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Danach war er Cheflektor des Ullstein-Propyläen-Verlages, damals die drittgrößte Buchverlagsgruppe Deutschlands. Von 1993 bis 2000 leitete er verschiedene Ressorts der Tageszeitung „Die Welt“, bevor er sich im Jahr 2000 selbstständig machte. Er gründete das PR-Unternehmen Dr. ZitelmannPB. GmbH, das seitdem Marktführer für die Positionierungsberatung von Immobilienunternehmen in Deutschland ist. Im Jahr 2016 verkaufte er das Unternehmen.

Im Jahr 2016 promovierte er ein zweites Mal – diesmal in Soziologie zum Dr. rer. pol. – bei dem Reichtumsforscher Prof. Wolfgang Lauterbach an der Universität Potsdam. Diese zweite Dissertation befasste sich mit der „Psychologie der Superreichen“. Das Buch fand große Beachtung in den Vereinigten Staaten, China und Südkorea, wo es unter dem Titel „The Wealth Elite“ erschien.

Zitelmann hat bislang 24 Bücher geschrieben und herausgegeben, die weltweit in zahlreichen Sprachen erfolgreich sind. Er ist ein gefragter Vortragsredner in Asien, den Vereinigten Staaten und Europa. In den vergangenen Jahren schrieb er Artikel oder gab Interviews in führenden Medien wie Le Monde, Corriere de la Serra, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Neue Zürcher Zeitung, Daily Telegraph, Times, Forbes, National Interest, Washington Examiner und zahlreichen Medien in China und Korea. Mehr Informationen über den Lebensweg von Rainer Zitelmann finden Sie in seiner Autobiografie „Wenn du nicht mehr brennst, starte neu!“

Deutschland driftet nach links Vorwort zur Neuauflage 2021

„Soweit ich sehe, ist dies das erste Buch, das die demoskopischen Daten mit Sachkenntnis voll in die Analyse einbezieht ... Zahlreiche Zusammenhänge werden hier nüchtern, ohne Polemik, mit vorzüglicher Kenntnis von Personen und Fakten übersichtlich beschrieben; damit sichert dieses Buch die Kenntnis von Vorgängen der Zeitgeschichte, die drohten, nicht mehr wahrnehmbar zu sein.“

Elisabeth Noelle-Neumann, Institut für Demoskopie, Allensbach

Dieses Buch erschien erstmals 1994. Aber die darin enthaltenen Analysen sind – leider – aktueller denn je. Deshalb habe ich mich für eine Neuauflage entschieden. Das Buch, das Sie in der Hand halten, ist ein unveränderter Nachdruck jener Schrift, die ich vor fast 27 Jahren verfasst habe.

Ich zeige in dem Buch, wie Deutschland links und grün wurde, und warne vor folgenden Entwicklungen:

Deutschland driftet nach links, die 68er haben entscheidende Schaltstellen in Medien, Politik, Universitäten und Kirchen besetzt.

Die Grünen bestimmen immer stärker die politische Diskussion und den Zeitgeist.

Die CDU passt sich zunehmend an Grüne und Sozialdemokraten an.

In den Medien dominieren linke Einstellungen.

Die SPD bewegt sich auf die PDS (so hieß damals die Ex-SED, die sich heute DIE LINKE nennt) zu und wird mit ihr Koalitionen auf Landes- und Bundesebene bilden.

Die Political Correctness bedroht die freie Diskussion über Themen wie etwa die Zuwanderung.

An die Stelle des antitotalitären Konsenses des Grundgesetzes tritt immer mehr ein „antifaschistischer“ Konsens, verbunden mit einem Anti-Antikommunismus.

Ich veröffentliche das Buch nicht vor allem deshalb wieder, um zu zeigen, dass ich in vielerlei Hinsicht recht gehabt habe. Lieber wäre es mir, ich hätte unrecht behalten und man könnte das Buch heute getrost vergessen. Ich veröffentliche es, um zu zeigen, was die langfristigen Ursachen dieser Fehlentwicklungen sind.

Zudem trägt das Buch vielleicht auch zur Zerstörung mancher Legenden bei. Eine dieser Legenden lautet, die CDU sei unter Helmut Kohl eine dezidiert konservative Partei gewesen und erst mit Angela Merkel habe die Vergrünung und Sozialdemokratisierung der Union begonnen. Ich habe im fünften Kapitel formuliert, mit der sogenannten Modernisierung der Union, die lange vor Angela Merkel begonnen habe, sei „im Grund jedoch nichts anderes gemeint als die Anpassung an den von 1968 geprägten Zeitgeist“.1

Vor allem zeigte ich, dass die Grünen viel stärker sind, als es nach den Wahlergebnissen schien: „Bei vielen Fragen ist es heute schon so, dass die Grünen die Richtung vorgeben, dann die SPD nachzieht und schließlich die Union mit einem deutlichen Verzögerungseffekt nachhinkt.“2 Als ich diese Zeilen schrieb, waren die Grünen nicht einmal im Deutschen Bundestag vertreten, da sie bei den Bundestagswahlen 1990 an der 5-Prozent-Hürde gescheitert waren. Dennoch war ich der Meinung, dass der Einfluss der Grünen erheblich sei – und weiter steigen werde.

Als Beispiele für diese These nannte ich die Debatten über die Frauenquote und die Kernenergie, bei denen sich die grünen Positionen erkennbar durchzusetzen begannen. Der Atomausstieg wurde dann in der Tat sechs Jahre, nachdem ich dies geschrieben hatte, beschlossen, nämlich unter der ersten rot-grünen Bundesregierung mit der „Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000“. Auch bei der Quotenregelung sollte sich meine These bewahrheiten: Die CDU führte zwei Jahre, nachdem ich dies geschrieben hatte, tatsächlich erstmals ein „Frauenquorum“ ein.

Mein Befund damals: „Die Einwirkungen der grünen Partei gehen weit über ihre Beteiligung an Landesregierungen und die in Wahlen dokumentierten Erfolge hinaus. Entscheidender ist, dass es den Grünen immer wieder gelang, politische Themen zu besetzen und die Meinungsführerschaft in der öffentlichen Diskussion zu übernehmen. Dies konnte jedoch nur geschehen, weil sie überdurchschnittlich viele Sympathisanten in den Medien hatten und haben und weil die Reihen ihrer natürlichen Widersacher, also parteipolitisch gesehen die CDU, bereits innerlich aufgeweicht waren und maßgebende Politiker der Union entscheidende Positionen der Grünen schon übernommen hatten.“3 Sätze wie diese belegen, dass viele Entwicklungen, die heute von Konservativen und Liberalen kritisiert werden, viel früher begannen, als man heute annimmt.

Ein ganzes Kapitel des Buches (VI) habe ich der Macht der Medien gewidmet. Hier heißt es, dass die 68er „in kaum einem gesellschaftlichen Bereich so erfolgreich wie bei den Medien“ waren.4 Nur wenn man diese Entwicklung versteht, kann man auch die Entwicklung der Parteien verstehen. Denn, so mein Argument: „Zwar entscheiden die Wähler alle vier Jahre über die Wiederwahl eines Politikers bzw. einer Partei, aber die Medien können praktisch täglich darüber entscheiden, ob Verfehlungen eines Politikers zum ,Skandal’ werden oder nicht.“5

Als Beispiel führte ich eine „bislang beispiellose Kampagne ... im Juli 1993 nach einem Anti-Terroreinsatz der Spezialeinheit GSG 9 in Bad Kleinen“ an. Der „Spiegel“ und das Fernsehmagazin „Monitor“ hatten, wie ich kritisierte, „unseriös gearbeitet, sich auf offenkundig unglaubwürdige Zeugenaussagen eingelassen oder diese sogar absichtlich manipuliert, um die absurde These einer „Hinrichtung’ des RAF-Terroristen Wolfgang Grams zu ,beweisen’“.6 Damals mussten der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, der Vizepräsident des BKA Gerhard Köhler, Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) und weitere Personen zurücktreten. Erst 26 Jahre, nachdem ich dies geschrieben hatte, gab der „Spiegel“ öffentlich diesen schweren Fehler zu, bei dem ideologische Vorurteile stärker gewesen waren als seriöse Recherche.7

Nur deshalb, weil Politiker sich oftmals mehr an Medien als an ihren Wählern orientieren, so argumentierte ich, „ist es zu erklären, dass sich Politiker beispielsweise in der Asyl- und Ausländerpolitik über viele Jahre lieber in Widerspruch zur Mehrheitsmeinung ihrer Wähler gesetzt haben, als sich in einen Gegensatz zum Medientenor zu begeben“.8 Mit nur wenigen Ausnahmen „bemühten sich fast alle Printmedien - und erst recht die elektronischen Medien – darum, die Probleme der massenhaften Einwanderung herunterzuspielen oder durch appellative „Ausländerfreundlichkeits’-Kampagnen zu überdecken“.9

Heute, im Jahre 2020, wird viel über politische Korrektheit diskutiert, die immer absurdere Formen annimmt. Doch wer meint, dieses Phänomen sei erst in den vergangenen Jahren entstanden, irrt sich sehr. Schon 1994 stellte ich fest: „Denn heute ist eine ruhige und sachbezogene öffentliche Debatte, beispielsweise über Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit unserer Republik, fast unmöglich, weil man kaum noch eine Frage stellen oder einen Gedanken aussprechen kann, ohne an die von den Wächtern der ,political correctness’ errichteten Tabus und Denkverbote zu stoßen.“10 Debatten wie etwa die über den „Umgang mit der Einwanderung“ würden „moralisiert und ideologisiert, pragmatische Lösungen werden dadurch zunehmend erschwert“. All dies sei Ergebnis der „geistig-politischen Linksverschiebung seit 1968“.11

Ich war skeptisch, ob die CDU/CSU dieser Entwicklung Widerstand entgegensetzen werde. Die Zukunft der Union werde davon abhängen, ob es ihr gelinge, in den eigenen Reihen glaubwürdige Persönlichkeiten zu fördern, die für einen modernen, kritischen und national orientierten Konservativismus stehen. „Gelingt ihr dies nicht, dann werden sich diese Kräfte trotzdem formieren, aber außerhalb und möglicherweise gegen die CDU.“12 Eine solche Entwicklung hielt ich jedoch nicht für wünschenswert, weil ich befürchtete, dass sich eine Partei rechts von der Mitte immer weiter nach rechts außen entwickeln werde.

Mit Blick auf die fast zwei Jahrzehnte später gegründete AfD lohnt es sich, meinen Gedankengang von damals ausführlicher darzustellen. Ich schrieb, bezüglich der Gründung einer Partei rechts von der Union sei „große Skepsis angebracht“.13 Die Erfahrung lehre, dass solche Projekte am Anfang auch „Weltverbesserer, Spinner und gescheiterte Existenzen“ anzögen, wie das etwa bei den Grünen der Fall war. Die Medien seien allerdings sehr nachsichtig, wenn es sich um eine linke Partei handle. Im Ergebnis würden diese Kräfte in einer eher linken Partei durch die Parlamentarisierung im Laufe der Zeit marginalisiert.

Ich argumentierte dann weiter: „Die Situation bei einer Partei, die sich rechts von der Mitte etabliert, ist eine ganz andere. Auch hier würde es sich leider wohl kaum vermeiden lasse, dass eine gewisse Anzahl Extremisten in die Partei eintritt.“ Damit entstehe bald nach außen das Bild einer extremistischen Partei, „was einerseits demokratische Kräfte abschreckt, andererseits jedoch Extremisten anzieht. Der Rechtsextremismus-Vorwurf wird zur self-fulfilling prophecy.“14

Eine solche Partei werde sich immer weiter nach rechts entwickeln, sagte ich voraus. „Die Zeit ... arbeitet in diesem Fall nicht für, sondern gegen eine solche Partei. Zudem entsteht ein Zweckbündnis aus antifaschistischer Linker und der CDU, denn auch die Union hat kein Interesse daran, dass sich rechts von ihr eine neue Partei bildet.“15

Ich empfahl, dass die FDP, der ich mich damals angeschlossen hatte und der ich bis heute angehöre, die Lücke im Parteiensystem schließen solle, die eine immer grünere und sozialdemokratischere Union lässt. Vehement wandte ich mich dagegen, dass sich die Liberalen als „Bedenkenträger-Partei im Bereich der inneren Sicherheit“ profilierten, womit man nur potenzielle Wähler abschrecke.16 Ich meinte damit die Linie, die damals von FDP-Politikern wie Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vertreten wurde: „Ein Abschied von jenen linksliberalen Themen, die heute ohnehin von den Grünen glaubwürdiger vertreten werden, wäre Voraussetzung für eine neue positive Profilierung, die zugleich aber mit einem Anknüpfen an traditionelle FDP-Positionen einhergehen sollte.“17

Die FDP ist diesen Empfehlungen leider nur halbherzig gefolgt. Sie verabschiedete sich zwar unter Guido Westerwelle und Christian Lindner von dem „Bedenkenträger-Kurs“ in der inneren Sicherheit à la Baum und Leutheusser-Schnarrenberger, blieb aber immer wieder auf halbem Wege in der Profilierung stehen. Themen wie etwa der Kampf für geistige Freiheit und gegen Political Correctness – ein urliberales Thema – wurden stark vernachlässigt. Meiner Meinung nach müsste die Verteidigung der geistigen Freiheit gleichberechtigt neben der Verteidigung der wirtschaftlichen Freiheit im Mittelpunkt der FDP-Politik stehen. Erfreulich ist immerhin, dass gerade jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki ein ausgezeichnetes Buch zu diesem Thema geschrieben hat.18 Dass die von mir vorgeschlagene Positionierung für eine liberale Partei funktionieren könnte, zeigt sehr gut das Beispiel der liberalen VVD von Mark Rutte in den Niederlanden, die eine sehr klare Haltung in der Einwanderungs- und Europapolitik hat.

Ich lag in vielen Punkten in diesem Buch leider richtig, so auch in meiner Vorhersage, dass die SPD immer stärker mit der PDS (heute: DIE LINKE) Zusammenarbeiten werde. Die erste rot-rote Koalition entstand vier Jahre, nachdem ich davor gewarnt hatte, 1998 in Mecklenburg-Vorpommern unter Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD). Es folgten viele weitere Koalitionen auf Landesebene. Und heute streben namhafte Politiker von SPD, Grünen und Linken eine Koalition auf Bundesebene an, sollten sie bei den Bundestagswahlen 2021 die erforderliche Mehrheit erringen. Meine damaligen Warnungen vor einer rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene erwiesen sich glücklicherweise als verfrüht. Aber richtig bleibt, was ich am Schluss des Buches schrieb: „Ein Wahlsieg der vereinten Linken würde aber nicht einfach nur zu einer anderen Regierung führen, sondern zu einer anderen Republik. Es wäre dies nicht mehr die pluralistische, freiheitlichdemokratische Grundordnung, sondern eine antifaschistisch-demokratische Ordnung - eine ,DDR light’, die jedoch für die kommunistischen Kader der PDS nur ein Übergangsstadium auf dem Weg zum Sozialismus darstellen würde.“19

Zwei Schwächen dieses Buches hatte ich im Vorwort angesprochen, dass nämlich außenpolitische Themen sowie die Frage nach der „Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ ausgespart blieben.20 Nur eine Anmerkung zur Außenpolitik: Linke Kritiker haben immer wieder behauptet, ich sei ein Kritiker der Westbindung. Das kann man sogar in Wikipedia lesen. Belege dafür fehlen indes, denn die gibt es nicht. Im Gegenteil: Ich hatte hier, wie auch an vielen anderen Stellen, klar geschrieben: „Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ... gewinnt die Einbindung unseres Landes in das westliche Bündnis erneut an Wichtigkeit, weil sich durch die Rückkehr in die alte Mittellage neue Unsicherheiten für Deutschland ergeben. Nur die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten kann uns davor bewahren, dass aus unserer neu-alten Lage wieder eine Isolation Deutschlands resultiert.“21

Auch das Thema Wirtschaft ist in dem vorliegenden Buch zu kurz gekommen. Fragt man mich, welche Fehlentwicklungen ich heute sehe, dann liegen sie genau in diesem Bereich. Deutschland verabschiedet sich zunehmend von der Marktwirtschaft. In immer mehr Bereiche mischt sich der Staat massiv ein. Die Energiewirtschaft wurde im Namen einer sogenannten Energiewende bereits zu einer ineffizienten Planwirtschaft umgestaltet. Der Mietmarkt wird zunehmend reguliert. Besonders gefährlich ist, dass nun auch die Automobilwirtschaft planwirtschaftlich umgestaltet werden soll: Nicht mehr die Unternehmen und die Konsumenten bestimmen, welche Autos produziert werden, sondern faktisch wird dies in Brüssel mit sogenannten Flottenzielen anhand des Kriteriums der CO2-Emissionen festgelegt.

Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit sehe ich eine Bedrohung für den Kapitalismus und eine Renaissance sozialistischen, planwirtschaftlichen Denkens. Auch nach dem Zusammenbruch der meisten sozialistischen Systeme Anfang der 90er-Jahre wird regelmäßig erneut irgendwo auf der Welt versucht, die sozialistischen Ideale umzusetzen. „Dieses Mal“ soll es besser gemacht werden. Zuletzt geschah das in Venezuela, und wieder einmal waren viele Intellektuelle in den westlichen Ländern wie den USA oder Deutschland verzückt von dem Experiment, den „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ zu verwirklichen. Die Folgen des Experiments waren – so wie bei anderen vorangegangenen sozialistischen Großversuchen – katastrophal.

Sogar in den USA träumen heute viele junge Menschen vom „Sozialismus“, wenngleich sie damit nicht ein System wie in der Sowjetunion meinen, sondern eine verklärte und missverstandene Form des skandinavischen Sozialismus. Dabei ist auch diese Variante in den 70er- und 80er-Jahren in Schweden gründlich gescheitert.

Sorge bereitet mir weniger, dass in den nächsten Jahren in westlichen Industrieländern im großen Stil Verstaatlichungen vorgenommen werden könnten und ein offen sozialistisches System eingeführt würde. Viel gefährlicher ist, dass in westlichen Ländern der Markt Stück für Stück zurückgedrängt wird und der planende und umverteilende Staat eine immer wichtigere Rolle spielt. Die Zentralbanken führen sich wie Planungsbehörden auf, die ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen, die Geldwertstabilität zu garantieren, sondern die Marktkräfte zu beseitigen. In Europa hat die

Zentralbank den für die Marktwirtschaft entscheidend wichtigen Preismechanismus teilweise außer Kraft gesetzt, weil echte Marktzinsen praktisch abgeschafft wurden. Die maßlose Verschuldung der Staaten wurde dadurch nicht eingedämmt, sondern sogar noch erheblich verstärkt.

„Je länger die Phase der niedrigen Zinsen andauert“, warnt der Ökonom Thomas Mayer, „desto stärker werden die Preise für Vermögenswerte verzerrt und desto größer ist die Gefahr, dass der Ausstieg aus der Politik der niedrigen Zinsen einen erneuten Einbruch der Wirtschaft und eine weitere Finanzkrise zur Folge hat.“ Diese Krisen, das kann man mit Sicherheit vorhersagen, werden von Politikern und Medien dann dem „Kapitalismus“ zugeschrieben, obwohl sie in Wahrheit gerade aus einer Verletzung kapitalistischer Prinzipien resultieren.

Als Sündenböcke für Fehlentwicklungen müssen vor allem „die Reichen“ herhalten, denen von Politik und Medien die Schuld gegeben wird. Hierüber habe ich ausführlich in meinem Buch „Die Gesellschaft und ihre Reichen“ geschrieben, in dem ich empirisch belege, dass Sozialneid in Deutschland (und auch in Frankreich) besonders stark ausgeprägt ist.

Wenn die Diagnose für die Ursachen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen falsch ist, dann ist auch die Therapie falsch. Und diese Therapie heißt: Noch mehr Staat, noch weniger Markt. Früher haben die Sozialisten die Unternehmen einfach verstaatlicht. Heute wird die Planwirtschaft nicht mehr durch Verstaatlichungen eingeführt, sondern dadurch, dass die Politik den Unternehmen immer stärker hineinredet und sie durch Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Regulierung, Subventionen, Ge- und Verbote ihrer Handlungsfreiheit beraubt.

All dies ist nur möglich, weil viele Menschen einfach nicht wissen (oder vergessen haben), dass die Marktwirtschaft die Basis unseres Wohlstandes ist. Viele junge Menschen kennen sozialistische Systeme, wie sie bis Ende der 80er-Jahre in der Sowjetunion und in den Ostblockstaaten herrschten, nur noch aus den Geschichtsbüchern - wenn überhaupt. Kapitalismus oder freie Marktwirtschaft sind zu Negativbegriffen geworden.

Diese Themen habe ich ausführlich in meinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ behandelt, das insofern eine wichtige und aktuelle Ergänzung des vorliegenden Buches ist. Ich hoffe, ich behalte mit meinen Sorgen über eine Renaissance der Planwirtschaft nicht ebenso recht wie mit den Befürchtungen, die ich in dem vorliegenden Buch artikuliert hatte. Natürlich würde ich manches heute anders formulieren, als ich es in dem vorliegenden Buch getan habe. Es sollte einem Menschen auch zu denken geben, wenn er sich in mehr als einem Vierteljahrhundert nicht weiterentwickelt. Trotzdem habe ich das Buch nicht verändert, denn sonst hätte ich mich mit Sicherheit dem Verdacht ausgesetzt, manche Prognosen im Wissen um die spätere Entwicklung angepasst zu haben. Daher habe ich in diesem Buch kein einziges Wort geändert, denn so bleibt es ein Dokument, das belegt, dass viele Entwicklungen durchaus vorhersehbar waren, und das es uns ermöglicht, zu verstehen, wie Deutschland links und grün wurde.

Rainer Zitelmann, Dezember 2020

Anmerkungen

1 S. →.

2 S. → f.

3 S. →.

4 S. →.

5 S. →.

6 S. →.

7 „Spiegel“ gesteht „journalistische Fehler“ bei Titelgeschichte zu Bad Kleinen ein, in: Die Welt, 29.10.2020.

8 S. →.

9 S. →.

10 S. →.

11 S. → f.

12 S. →.

13 S. →.

14 S. →.

15 S. →.

16 S. →.

17 S. →.

18 Wolfgang Kubicki, Meinungs(un)freiheit. Das gefährliche Spiel mit der Demokratie, Frankfurt 2020.

19 S. →.

20 S. →.

21 S. →.

Weitere Informationen zum Autor finden Sie unter:

www.Rainer-Zitelmann.de

Inhalt

Vorwort

Antitotalitarismus oder Antifaschismus?

Der Bruch von 1968

Das Ende der Abgrenzung

Die Grünen zwischen Extremismus und Demokratie

Weizsäcker, Geißler und die CDU-Linke

Die Macht der Medien - und ihre Grenzen

Der Geist steht links

Der Schock von 1989 und das Rollback der Linken

Auf dem Weg in eine andere Republik

Chancen einer demokratischen Rechten

Gefahren für die geistige Freiheit

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Vorwort

»Wir haben gesiegt« - dies war die Stimmung vieler Konservativer angesichts des Zusammenbruchs des Sozialismus und der Wiedervereinigung Deutschlands. Dem Jubel folgte der Katzenjammer – bei den Rechten. Und dem Katzenjammer folgte eine Phase neuer Hoffnung – bei den Linken. Der deutschen Linken gelang es, nach einer historischen Schrecksekunde ein Rollback zu inszenieren und die schon verloren geglaubte geistig-politische Hegemonie zurückzuerobern. Zwar konnte Helmut Kohl 1994 noch einmal die Wahlen gewinnen, aber der Koalitionspartner FDP ist erheblich geschwächt und die parlamentarische Mehrheit geschrumpft, während jede der drei Linksparteien hinzugewonnen hat. Die Annäherung zwischen Sozialdemokraten und der linksextremistischen PDS erfolgte in einem Tempo, das nur wenige politische Beobachter für möglich gehalten hätten.

Jetzt brachen wieder längerfristige Entwicklungen durch, die sich seit 1968 in Westdeutschland vollzogen hatten. So ist beispielsweise die rasche Annäherung zwischen PDS und SPD nicht ohne die Analyse jenes Prozesses der »Erosion der Abgrenzung« (Wolfgang Rudzio) zu verstehen, der in den siebziger und achtziger Jahren das Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus in Deutschland verändert hatte. Die Linksverschiebung des Meinungsklimas in der Bundesrepublik ist empirisch nachzuweisen, wie die auf Umfragen des Allensbacher Instituts basierende Grafik (vgl. S. 8) belegt. Dabei ist die Veränderung der öffentlichen Meinung sogar noch das schwächste Indiz für die seit 1968 erfolgte »Linksverschiebung des Spektrums« (Jürgen Habermas)1: Während etwa 30 Prozent der Bundesbürger ihren politischen Standort rechts von der Mitte definieren, bezeichnen sich nur etwa 15 Prozent der Journalisten als »konservativ«, »christdemokratisch« oder »rechtsliberal«. Und während sich etwa ein Drittel der Bundesbürger als linksstehend einstuft, versteht sich mehr als die Hälfte der Journalisten als »linksliberal«, »sozialdemokratisch«, »grün-alternativ« oder »sozialistisch«.2

Die politische Einstellung der Journalisten findet ihren Niederschlag in der Berichterstattung. Eine Analyse des Projektes Medien-Monitor, das mit dem Instrumentarium der quantitativen Inhaltsanalyse die Haltung führender deutscher Medien zu politischen Sachverhalten untersucht, kam beispielsweise für den Zeitraum vom 19. Oktober bis 4. November 1994 zu folgendem Befund: In den untersuchten Medien fanden sich 295 positive Aussagen zur SPD, 227 zur CDU/CSU, 217 zur PDS, 125 zu Bündnis 90/Die Grünen, 115 zur FDP und 2 zu den Republikanern. Und im Zeitraum vom 6. bis zum 18. Oktober 1994 brachten die Medien etwa gleich viele positive Aussagen zu den Politikern Helmut Kohl (97), Klaus Kinkel (94) und Gregor Gysi (95) - Rudolf Scharping kam hingegen nur auf 73 positive Aussagen.3 Ralf Georg Reuth stellt im Magazin Focus zu Recht fest: »Es hat demnach mit dem Zustand der politischen Klasse und ihrer Medien zu tun, wenn so rasch nach dem Niedergang der Diktatur-Partei SED der Wortführer der neuen SED, der PDS, zum Medienstar avanciert.«4 Die ständige Beschwörung eines »Rechtsrucks« in der Bundesrepublik ist demgegenüber - Arnulf Baring hat dies auf den Punkt gebracht - »eine Erfindung linker Publizisten« und zeugt von einer extrem verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung.5

DAS MEINUNGSKLIMA IN DEUTSCHLAND (WEST) VERSCHIEBT SICH NACH LINKS

Einstufung des eigenen politischen Standorts zwischen 0=ausgeprägt links und 100=ausgeprägt rechts.

Quelle: Aliensbacher Archiv, IfD-Umfragen 3054 und 6000

DAS MEINUNGSKLIMA IN DEUTSCHLAND (WEST) VERSCHIEBT SICH NACH LINKS

Einstufung des eigenen politischen Standorts zwischen O=ausgeprägt links und 100=ausgeprägt rechts

Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 3054 und 6000

Die Linksverschiebung vollzog sich unabhängig von dem 1982 erfolgten Regierungswechsel. Die linksstehende Publizistin Cora Stephan konstatiert: »Tatsächlich war die >geistig-moralische Wende<, die Helmut Kohl 1982 versprochen hatte, weitgehend ausgeblieben, kam es keineswegs zu einem auf der Linken gefürchteten »großen Aufräumens zu einer konservativen Hegemonie der Gesellschaft. Im Gegenteil: eine eher linksliberale Öffentlichkeit überprüfte die neuen politischen Machtverwalter ständig auf konservative Ambitionen, die, wagten sie sich einmal hervor, von »der Gesellschaft< geübt gekontert wurden... Die 80er Jahre erwiesen sich nachgerade als Habermassches Diskursparadies, waren geprägt von einer über die Medien vermittelten Selbstthematisierung der Deutschen in Vergangenheit und Gegenwart.«6

Die Verschiebung des Koordinatensystems unserer Republik geht auf die Kulturrevolution von 1968 zurück, die wiederum durch Entwicklungen im intellektuellen Bereich, wie die Herausbildung der »Frankfurter Schule« und die Renaissance des Marxismus, vorbereitet wurde. Zwar konnten die 68er ihre Utopien nicht realisieren, aber sie haben in vielen gesellschaftlichen Bereichen geradezu revolutionäre Veränderungen bewirkt. Heute sind sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Dies gilt insbesondere für den Medienbereich, die evangelische Kirche, die Kulturszene, die Universitäten und andere Bildungseinrichtungen. Aber auch die politischen Parteien sind durch diese Generation geprägt - und zwar nicht nur die Grünen und die SPD; der Einfluß reicht bis in die Reihen der Union.

Als die 68er in Westdeutschland scheinbar am Ende waren, weil die linken Utopien an Überzeugungskraft verloren hatten und durch den Zusammenbruch des Kommunismus und die Wiederkehr des nationalen Gedankens seit 1989 der Prozeß der Entlegitimierung ihrer Macht beschleunigt wurde, erhielten sie Verstärkung durch Hunderttausende kommunistische Kader, Agitprop-geschulte Journalisten und sozialistische »Kulturschaffende« aus der ehemaligen DDR. Hemmungen, sich mit diesen Kräften zu verbünden, wurden – insofern es sie überhaupt gab – rasch überwunden. Deutschland driftet – nicht, wie Friedbert Pflüger 1994 meinte7, nach rechts, sondern entschieden nach links.

Wiedervereinigung bedeutet auch: die Vereinigung des westdeutschen, von 1968 geprägten linksliberalen Establishments mit Teilen der herrschenden Klasse der ehemaligen DDR. Und es sollte auch nicht verdrängt werden, daß das Bewußtsein der ehemaligen DDR-Bürger durch 40 Jahre sozialistischer Indoktrination geprägt ist, zumal dies offenkundig auch Auswirkungen auf das gesamtdeutsche Meinungsklima hat. Der Befund der demoskopischen Erhebungen von Elisabeth Noelle-Neumann ist beunruhigend: »Im materiellen Sinne gleichen sich in unerhörter Geschwindigkeit die Ostdeutschen an die Westdeutschen an, während im geistigen Sinne eine Angleichung der Westdeutschen an die Ostdeutschen stattfindet!«8

Sind also jene, die vor 1989 die Ewigkeit der Zweistaatlichkeit beschworen und den real existierenden Sozialismus beschönigt haben, die Gewinner der Wiedervereinigung, und jene, die an dem Gedanken der Einheit entgegen dem Zeitgeist festhielten, die Verlierer? Ist der Marsch in eine andere Republik, vor der Bundeskanzler Helmut Kohl 1994 nachdrücklich gewarnt hat, nicht mehr aufzuhalten? Werden wir zur Jahrtausendwende – oder vielleicht schon früher – in einer von der »Linksunion« (Arnulf Baring) aus SPD, Grünen und PDS regierten rot-grünen Republik leben?

Die Entwicklungen, von denen dieses Buch handelt, erzeugen Widerstand und Gegenbewegungen. Ein Beleg dafür ist der Berliner Appell, der im Herbst 1994 von 150 prominenten Politikern, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Bürgerrechtlern und Journalisten unterschrieben wurde.9 Unter der Überschrift »Wehret den Anfängen!« wurde vor der Einbeziehung der PDS in den politischen Entscheidungsprozeß gewarnt und wurden die Tendenzen zur Verdrängung der kommunistischen Vergangenheit kritisiert. Zugleich wurde darauf hingewiesen, daß konservative Intellektuelle, Politiker und Journalisten zunehmend ausgegrenzt und in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt werden. Die Unterzeichner setzten sich ein »für eine Rückkehr zum antitotalitären Konsens« und »gegen Bestrebungen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch eine >antifaschistisch-demokratische< Ordnung zu ersetzen«. Zusammen mit meinen Freunden Ulrich Schacht, Heimo Schwilk, Michael Wolffsohn und Jürgen Braun gehörte ich zu den Initiatoren. Die gleiche Sorge, die uns zu dieser Initiative bewegte, veranlaßte mich dazu, dieses Buch zu schreiben.

»Wohin treibt unsere Republik?« – Der Historiker wie der Beobachter des politischen Geschehens vermag darauf keine sichere Antwort zu geben. Zum Glück sind geschichtliche Entwicklungen nicht determiniert, sondern prinzipiell offen. Nur im nachhinein glauben Historiker, sie wüßten genau, warum es so und nicht anders kommen mußte. Was der Historiker jedoch aus der Rückschau zu leisten vermag, ist nur die Analyse von bestimmten Entwicklungstendenzen, die als Ursachen geschichtlicher Veränderungen benannt werden können. Von solchen Entwicklungstendenzen handelt auch dieses Buch.

Dabei bin ich mir durchaus bewußt, daß wichtige, ja entscheidende Themen, die zur Beantwortung der Frage »Wohin treibt unsere Republik?« behandelt werden müßten, in diesem Buch ausgespart bleiben, so zum Beispiel die nach der Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland oder nach künftigen außenpolitischen Verwicklungen, Gefährdungen und Chancen. Um jedoch die auf uns zukommenden Probleme lösen zu können, bedarf es vor allem einer Änderung des geistig-politischen Klimas. Seine Analyse steht deshalb im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Die Veränderung dieses Klimas ist überhaupt erst die Voraussetzung für einen rationalen Dialog über Sachfragen. Denn heute ist eine ruhige und sachbezogene öffentliche Debatte, beispielsweise über Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit unserer Republik, fast unmöglich, weil man kaum noch eine Frage stellen oder einen Gedanken ansprechen kann, ohne an die von den Wächtern der »political correctness« errichteten Tabus und Denkverbote zu stoßen.

»Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung«, so konstatierte jüngst Martin Walser, sei das »Charakteristikum dieses Jahrzehnts«. Der »Tugendterror der political correctness« habe die »freie Rede zum halsbrecherischen Risiko« gemacht. Wer es dennoch wage, frei zu sprechen oder zu schreiben, müsse darauf gefaßt sein, daß das Gesagte »durch selektives Zitieren wieder zu einem rechtsextremen Horrortext gemacht wird«.10 Der Tabuschleier, der sich über unsere Republik gelegt hat, ist keineswegs nur ein Problem für die intellektuelle Debatte, die zu ersticken droht. Auch die politische Diskussion über die uns bedrängenden Probleme wie etwa die Möglichkeiten einer wirksamen Verbrechensbekämpfung, den Umgang mit der Einwanderung oder auch die Klärung der außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands wird moralisiert und ideologisiert, pragmatische Lösungen werden dadurch zunehmend erschwert. Dies ist Ergebnis der geistig-politischen Linksverschiebung seit 1968. Erst wenn die Mechanismen dieser Veränderung verstehbar werden, kann sie auch aufgehalten und umgekehrt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch eine nüchterne, historisch-politische Bestandsaufnahme. Das vorliegende Buch ist ein Versuch dazu.

Im Unterschied zu den vorangegangenen Büchern, die ich geschrieben oder herausgegeben habe, kann ich bei diesem Thema nicht den Standpunkt des distanzierten und unparteilichen Geschichtswissenschaftlers einnehmen. Die Distanz fehlt mir schon deshalb, weil das Buch zum größten Teil von politischen Entwicklungen handelt, die ich miterlebt habe. Die 70er Jahre habe ich als politisch sehr weit links stehender Schüler und Student erlebt. Die Gründe, warum ich mich von diesem linken Standpunkt zunehmend entfernt habe, sind vielfältig. Der wichtigste Grund war die bittere Erfahrung, daß die Freiheit der politischen und intellektuellen Debatte, die mir ganz besonders am Herzen liegt und die von linker Seite immer wieder vehement gegen die Konservativen eingefordert wurde, in dem Maße von der Linken beschnitten wurde, wie es ihr gelang, Machtpositionen zu besetzen und Teil des Establishments zu werden.

Ich habe Freunden und Kollegen für Kritik an dem Manuskript zu danken. Wichtig waren mir die Hinweise von Dr. Tilman Fichter (Berlin), Ansgar Graw (Berlin), Prof. Dr. Eckhard Jesse (Chemnitz), Rainer Laabs (Berlin), Dr. Klaus Rainer Röhl (Köln), Heimo Schwilk (Berlin), Dr. Enrico Syring (Gießen) und Dr. Karlheinz Weißmann (Göttingen). Für die Korrektur bedanke ich mich bei Herrn Hans-Ulrich Seebohm. Vor allem möchte ich jedoch Frau Prof. Dr. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann herzlich danken, die mich immer wieder auf Umfragen des von ihr geleiteten Allensbacher Instituts aufmerksam gemacht hat. Ich war froh, daß sie und ihre Mitarbeiter jene Fragen gestellt hatten, auf die ich Antworten suchte. Ohne das Archivmaterial und die Jahrbücher, die Frau Noelle-Neumann mir zur Verfügung gestellt hat, wäre dieses Buch bedeutend ärmer an Belegen.

Rainer Zitelmann, Berlin im Dezember 1994

Die vorliegende 2. Auflage wurde erweitert um das Kapitel XI: »Gefahren für die geistige Freiheit«. Ich beschreibe hier im wesentlichen besorgniserregende Entwicklungen, die sich nach Fertigstellung der 1. Auflage ereignet haben.

Rainer Ziteimann, Februar 1995

I. Antitotalitarismus oder Antifaschismus?

Der antitotalitäre Konsens

Am Anfang war der Antitotalitarismus. Prägend für die ersten Jahre unserer Republik wirkte die Doppelerfahrung des nationalsozialistischen und des kommunistischen Totalitarismus. Die Männer, die die Bundesrepublik gründeten und ihre Politik in den fünfziger Jahren leiteten, waren über fast alle Bereiche der Politik unterschiedlicher Meinung: Sollte die Wirtschaftsordnung des neuen Staates nach planwirtschaftlichen oder nach marktwirtschaftlichen Prinzipien gestaltet werden? Sollte die Integration Westdeutschlands in die entstehende westliche Gemeinschaft die zentrale Aufgabe deutscher Politik sein, oder das Streben nach Wiedervereinigung? Unumstritten war nur eines: die entschiedene und kompromißlose Ablehnung jeder Art von Diktatur, ob unter rotem oder braunem Vorzeichen.

Konrad Adenauer beschreibt in seinen Memoiren diese Grundeinstellung so: »Der nationalsozialistische Staat hatte uns die Augen dafür geöffnet, welche Macht ein diktatorisch regierter Staat besaß. Ich hatte die Greueltaten des Nationalsozialismus, die Folgen einer Diktatur kennengelernt... Ich hatte von den Verbrechen gehört, die an den Juden begangen, die von Deutschen an Deutschen verübt worden waren. .. Vom Osten her drohte die atheistische, kommunistische Diktatur. Wir sahen am Beispiel der Sowjetunion, daß eine Linksdiktatur mindestens so gefährlich war wie eine Rechtsdiktatur.«1

Auch Adenauers Gegenspieler, der sozialdemokratische Oppositionsführer Kurt Schumacher, war ein ebenso entschiedener Gegner des Nationalsozialismus wie des Kommunismus. Schumacher hatte zehn Jahre seines Lebens in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches verbracht. Aber aus dieser Erfahrung resultierte für ihn keineswegs eine Gemeinsamkeit mit den Kommunisten, die ja ebenfalls Opfer des Nationalsozialismus waren. Vielmehr bestärkte ihn seine Erfahrung mit dem Nationalsozialismus in der Ablehnung jeder totalitären, anti-freiheitlichen Ideologie. Sein Antikommunismus speiste sich jedoch – anders als bei Adenauer – zugleich auch aus einer dezidiert nationalen Haltung. Die deutschen Kommunisten sah er als Agentur des sowjetischen Imperialismus, schon deshalb bekämpfte er sie mit aller Konsequenz und lehnte jedwede Form der Zusammenarbeit mit ihnen ab.

Die später verpönte Gleichsetzung der kommunistischen und der nationalsozialistischen Diktatur war in den fünfziger Jahren für alle demokratischen Politiker eine Selbstverständlichkeit. Bundespräsident Theodor Heuss erklärte beispielsweise 1952 bei der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit, daß das »Verfahren, um einer Ideologie willen den anderen als Feind anzusehen«, noch nicht überall ausgestorben sei: »Statt Jude sagt man Bourgeois oder Burschui, und schon ist ein volkseigener Betrieb aus der Väter Arbeit geworden.«2 Und der nationalliberale Politiker Thomas Dehler erklärte im Mai 1950: »Der Kommunismus ist der anders gefärbte Zwillingsbruder des Nationalsozialismus, er bedeutet wie dieser Zwang und Furcht... Der Kommunismus ist der Todfeind jeder Demokratie. Käme er jemals bei uns zum Einfluß, so wäre es um die staatsbürgerlichen Freiheiten getan. Ein neuer autoritärer Machtstaat würde aufgerichtet.«3

Später, in den sechziger Jahren, wurde es üblich, im Antikommunismus eine Vorform faschistischen Denkens zu sehen, da ja auch die Nationalsozialisten Antikommunisten waren. Man sprach von bedenklichen Kontinuitäten zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik und sah im »primitiven Antikommunismus« die ideologische Gemeinsamkeit, die beide Systeme einte. Dagegen spricht aber, daß die entschiedensten Gegner des Nationalsozialismus oft auch die entschiedensten Antikommunisten waren.

Die Beispiele von Ernst Tillich und Rainer Hildebrandt, den Gründern der antikommunistischen »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«, verdeutlichen, daß es eben auch eine Kontinuität von »Antinazismus« und »Antikommunismus« gab. Der religiöse Sozialist Ernst Tillich gehörte zur Bekennenden Kirche, wurde 1936 von der Gestapo verhaftet und verbrachte einige Jahre im KZ Oranienburg-Sachsenhausen und im Gefängnis am Alexanderplatz. Rainer Hildebrandt hatte zum Kreis um den Geopolitiker Albrecht Haushofer gehört und war im Frühjahr 1943 verhaftet worden. Nach einem Jahr Haft wurde er im Juni 1944 entlassen, jedoch nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 erneut für sechs Wochen inhaftiert. Hildebrandt und Tillich betrachteten beide Totalitarismen - Kommunismus und Nationalsozialismus – als gleichartig. Sie zogen nach 1945 die Lehre, daß es den Anfängen jeder Diktatur zu wehren gelte. »Man hat uns vorgeworfen, wir hätten zu viel geschwiegen, wir seien nicht aufgestanden, wir hätten alles über uns ergehen lassen«, erklärte Hildebrandt im Mai 1949. Diesem auf die nationalsozialistische Vergangenheit bezogenen Vorwurf stellte er jedoch sofort die Gegenwart gegenüber: »Werden nicht täglich Menschen in der Ostzone verhaftet, weil für sie stillschweigendes Zusehen gleich viel gewesen wäre, wie wenn sie das Unrecht selbst verübt hätten? Die Männer, die Flugblätter verteilen, die Unmenschlichkeit aufdecken, dem System des NKWD nachspüren, sind alle Todeskandidaten.« Hildebrandt sprach hier von der konkreten Widerstandstätigkeit der antikommunistischen Kampfgruppe, deren Tätigkeit er in Kontinuität zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus sah: »Wir haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen!«4

In einer von der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« herausgegebenen Broschüre hieß es 1949: »Sachsenhausen und Buchenwald - diese beiden Namen empfand die Welt als gleichnishaft für die Unmenschlichkeit, Barbarei und den Sadismus des Nationalsozialismus. Und heute haben Sachsenhausen und Buchenwald wieder oder noch immer symbolhaften Klang für einen anderen, nicht weniger furchtbaren Verächter der Menschlichkeit, den sowjetischen Kommunismus. Wo früher die SS quälte und folterte, tun gleiches heute die NKWD und ihre deutschen Söldlinge.«5

Während es in den siebziger und achtziger Jahren in »aufgeklärten« Kreisen als »reaktionär« galt, von Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung in den kommunistischen Staaten zu sprechen, war die Erfahrung des roten Totalitarismus in den fünfziger Jahren allgegenwärtig. Nicht nur die Berichte über die Zustände in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR, sondern auch der Eindruck der imperialistischen Expansionspolitik der Sowjetunion, die Ereignisse in Prag (1948), Korea (1950), Ost-Berlin (1953) und Budapest (1956) stärkten den antitotalitären Konsens auch in seiner antikommunistischen Komponente, die in späteren Jahren zunehmend negiert wurde. »Der Begriff der >freien Welt<, so sehr er sich als Schlagwort später verbrauchen mochte, bezeichnete damals etwas sehr Reales, und zwar in doppeltem Sinne: sowohl die Befreiung vom Joch der NS-Herrschaft wie nun auch die Verteidigung gegen eine neue diktatorische Überwältigung.«6

Daß der Antikommunismus in der Bundesrepublik eine konstitutive Grundlage des Staates war, wird von niemandem bestritten. Oft heißt es aber, dieser Antikommunismus, der »für alle gesellschaftlichen Gruppen typisch war«, sei mit einer Verdrängung des Nationalsozialismus einhergegangen. »Unter den Bedingungen des Kalten Krieges«, so meint etwa der Historiker Anselm Doering-Manteuffel, »gewann der Antitotalitarismus allerdings eine zwangsläufig einseitige Ausprägung, so daß die Frontstellung gegen den Kommunismus auch dahingehend wirkte, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu verdrängen.«7

In der Tat wäre es ja auch nicht völlig abwegig gewesen, hätte man sich intensiver mit der gegenwärtigen, noch nicht überwundenen Spielart des Totalitarismus auseinandergesetzt, unter der 17 Millionen Deutsche litten, als mit jener Diktatur, die zerschlagen und besiegt worden war. Politiker wie Thomas Dehler und Kurt Schumacher warfen den westlichen Besatzungsmächten vor, über der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit den Kampf gegen den Kommunismus zu vernachlässigen. So kritisierte Dehler im September 1950 die Besatzungsmächte, sie hätten keine Ahnung von den Aufgaben der Gegenwart. Noch immer führten sie einen Scheinkampf gegen den Nationalsozialismus und übersähen dabei die »Fratze des Bolschewismus«.8 Kurt Schumacher erklärte im März 1951 in einer Bundestagsrede: »Die Stärke der totalitären Position beruht weitgehend auf der Unkenntnis und der Unklarheit über das Wesen des Totalitarismus bei den westlichen Demokratien und erst recht bei großen Teilen des deutschen Volkes.«9

Obwohl es also nahegelegen hätte, dem Kampf gegen den noch herrschenden Totalitarismus eine gewisse Priorität vor der Auseinandersetzung mit dem bereits besiegten Totalitarismus einzuräumen, so war dem in Wirklichkeit keineswegs so. Die Ansicht, vor lauter antikommunistischem Engagement habe man in der Adenauer-Zeit die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus versäumt, ist unrichtig. Es ist das Verdienst des Historikers Manfred Kittel, in seiner Studie Die Legende von der »Zweiten Schuld« gezeigt zu haben, daß die These von der angeblichen Verdrängung der NS-Vergangenheit auch für den Zeitraum der fünfziger Jahre nicht aufrechtzuerhalten ist.

Die Behauptung, die Deutschen hätten sich, zumal in den fünfziger Jahren, mit der NS-Vergangenheit nicht oder nur höchst unzureichend auseinandergesetzt, keine »Trauerarbeit« geleistet und die Verbrechen des Dritten Reiches »verdrängt«, wurde so oft wiederholt, daß sie heute fast schon kanonische Geltung besitzt. Defizite bestreitet auch Kittel nicht. So weist er etwa darauf hin, daß ab 1948 auch stärker belastete ehemalige Mitglieder von Sondergerichten oder führende Justizbeamte aus der SA im Zuge der immer nachsichtiger agierenden »Entnazifizierung« als »Mitläufer« eingestuft wurden und auf ihre Wiedereinstellung pochen konnten. Darüber hinaus ist oft und zu Recht darauf hingewiesen worden, daß kein einziger Richter des Freislerschen Volksgerichtshofes für die Terrorurteile zur Rechenschaft gezogen wurde. »Dennoch hat es eine über das Personelle hinausgehende, inhaltlich-strukturelle Kontinuität der deutschen Justiz nicht gegeben, die Loyalität der Richter und Staatsanwälte zum demokratischen Staat stand – anders als in der Weimarer Republik – nie ernsthaft in Frage.«10

Von Anfang an gab es jedoch beispielsweise im kulturellen Bereich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Carl Zuckmayers Drama Des Teufels General – durchzogen von der Frage nach Schuld und Sühne – avancierte 1947/48 zu einem außergewöhnlichen Theatererfolg mit 884 Aufführungen an 17 Bühnen. Romane wie der 1947 veröffentlichte Doktor Faustus von Thomas Mann fanden große Aufmerksamkeit, und eine Flut von zeitgeschichtlichen Darstellungen, beispielsweise über den Widerstand im Dritten Reich und den SS-Staat, spricht gegen die Ansicht, die Deutschen hätten von der NS-Vergangenheit in den fünfziger Jahren nichts hören wollen.

Im übrigen sollte nicht vergessen werden, daß die Alliierten durch ihre Maßnahmen und Anordnungen einem Wiederaufleben des Nationalsozialismus die Grundlagen entzogen hatten. Wer heute behauptet, nach 1945 sei man mit den Nationalsozialisten großzügiger verfahren als nach 1989 mit ehemaligen Kommunisten, beweist damit nur seine mangelhaften historischen Kenntnisse. Eine der ersten Maßnahmen der Alliierten war die Anordnung, die NSDAP und alle ihre Gliederungen aufzulösen, die NS-Gesetzgebung aufzuheben und die mehr als nur nominellen Nationalsozialisten aus Ämtern des öffentlichen Dienstes und jeder Position von Einfluß (auch in der Privatwirtschaft) zu entfernen. Zudem wurde ein »Automatic Arrest« über alle Nationalsozialisten in Führungspositionen verhängt - zu ihnen zählten sämtliche Amtsträger der Partei bis hinab zur Ortsgruppenebene. Entsprechend diesen Vorgaben wurden bis Dezember 1945 in der gesamten US-Zone 117 512 Personen interniert. Die Bedingungen in den Internierungslagern waren sehr hart, die Internierten mußten oft Monate und Jahre bis zum Zeitpunkt der ersten Vernehmung warten.11 Ergänzt wurden diese Maßnahmen durch ein Programm der »Entnazifizierung« und der »reeducation«. Für all dies gab es nach 1990 keinerlei Entsprechung: Die kommunistische Partei konnte große Teile ihres Vermögens behalten und unter anderem Namen ihre Aktivitäten fortsetzen, führende Repräsentanten von Partei und Staat konnten und können in Talkshows für ihre Auffassungen werben, das politische System der Bundesrepublik attackieren und das der DDR beschönigen und verharmlosen. Die These von der Verdrängung der Vergangenheit hätte für die Bundesrepublik der neunziger Jahre eine weitaus größere Berechtigung als für die fünfziger Jahre.

Manfred Kittel ist zuzustimmen, daß die Behauptung, die Deutschen hätten sich damals einer kritischen Auseinandersetzung mit der Hitler-Zeit entzogen, in erster Linie das Produkt einer Fehlwahrnehmung von Wissenschaftlern, Publizisten und Politikern ist, die sich an die hohe Lautstärke der »Vergangenheitsbewältigung« seit den 60er Jahren so sehr gewöhnt haben, daß die etwas leiseren Töne einer durchaus geführten Erblastdiskussion in der Frühzeit der Bundesrepublik nicht mehr zu ihnen hinüberdringen.12 Freilich war und ist diese These auch eine Waffe im politischen Kampf – ebenso wie die Vergangenheitsbewältigung selbst von Anfang an keineswegs nur von hehren moralischen Zielen geleitet wurde, sondern stets auch ein Mittel war, um den politischen Gegner in Bedrängnis zu bringen. Bis heute werden beispielsweise immer wieder die Fälle von Hans Globke und Theodor Oberländer als Beleg für die – auch personelle – Kontinuität von Drittem Reich und Bundesrepublik angeführt. Die Kampagnen gegen den Bundesvertriebenenminister Oberländer und Adenauers engen Mitarbeiter Globke wurden teilweise aus der DDR gesteuert und arbeiteten mit Vorwürfen, die einer genaueren Prüfung vielfach nicht standhielten. Ähnlich sollte es sich später mit den Kampagnen gegen den Bundespräsidenten Heinrich Lübke und gegen den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger verhalten, die mit Material des Staatssicherheitsdienstes der DDR geführt wurden und der Destabilisierung des politischen Systems der Bundesrepublik dienen sollten.

Insbesondere die politische Linke erkannte rasch, daß es für sie von erheblichem propagandistischem Nutzen war, mit dem Hinweis auf die NS-Vergangenheit von konservativen Politikern und auf die Rolle, die die Konservativen bei Hitlers Machtergreifung spielten, eine geistige Nähe zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus zu behaupten. Häufig schwang der Vorwurf mit, man hätte in Westdeutschland gewisse »antifaschistische« Strukturreformen unterlassen und somit die tieferen Ursachen des »Faschismus« nicht beseitigt.

Auch wenn dies nicht immer ausdrücklich gesagt wurde, war damit zumindest implizit oftmals die marxistische These verbunden, daß nur eine Aufhebung des Kapitalismus bzw. des Privateigentums an Produktionsmitteln die »strukturellen« Bedingungen »faschistischer Herrschaft« liquidieren könne. »Die Rede von den Strukturreformen, die versäumt worden seien, meint – auch da, wo sie vage bleibt – im Kern genau dies.«13 Hinter der etwas unklaren Klage der Linken über eine »Restauration« nach 1945 verbarg sich der Unmut darüber, daß die »kapitalistischen Strukturen« nicht beseitigt wurden und damit die Möglichkeit einer Wiederkehr des Faschismus in der Bundesrepublik gegeben sei. Das Gegenmodell aber wurde in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR verwirklicht, wo eine »antifaschistischdemokratische Ordnung« installiert wurde.

Die antifaschistisch-demokratische Ordnung

Freilich wäre es eine Verkürzung, den Begriff der »antifaschistischdemokratischen Ordnung« bloß als geschöntes Etikett für eine kommunistische Diktatur anzusehen. Vielmehr handelte es sich ursprünglich um eine Übergangsphase, die die »bürgerliche Revolution« vollenden sollte, um dann allerdings in eine sozialistische Revolution übergeleitet zu werden. »Die politische Aufgabe«, wurde den KPD-Kadern in Moskau vor ihrer Abreise gesagt, »bestehe nicht darin, in Deutschland den Sozialismus zu verwirklichen oder eine sozialistische Entwicklung herbeiführen zu wollen. Dies müsse im Gegenteil als schädliche Tendenz verurteilt und bekämpft werden. Deutschland stehe vor einer bürgerlich-demokratischen Umgestaltung, die ihrem Inhalt und Wesen nach eine Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 sei. Es komme darauf an, aktiv für diese Vollendung einzutreten, sich aber jeglichen sozialistischen Losungen zu widersetzen, da diese unter den gegenwärtigen Bedingungen reinste Demagogie seien; unter solchen Umständen würde die Idee des Sozialismus nur diskreditiert.«14

Schon Lenin hatte in seiner Schrift Zwei Taktiken der Sozialdemokratie (1905) die Theorie entwickelt, daß sich die »Arbeiterklasse« an die Spitze der bürgerlich-demokratischen Revolution setzen müsse, um diese später in eine sozialistische Revolution überzuleiten. In einem Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945 hieß es folgerichtig15, heute gehe es um die Vollendung der 1848 begonnenen bürgerlichdemokratischen Umbildung, um die »feudalen Überreste völlig zu beseitigen«. Es sei der falsche Weg, »Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen«, denn dies entspräche nicht den »gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland«. »Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk.« Sogar die ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums wurde versprochen.

Der Aufruf der KPD wirkte weniger klassenkämpferisch als jener der SPD, der auf die Verwirklichung von »Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft« abzielte. Waren die Kommunisten zu demokratischen Sozialisten mutiert? Oder wollte Stalin, von dem ja nach wie vor die zentralen Direktiven für die deutschen Kommunisten kamen, gar eine »Demokratie westlichen Typs« in Deutschland verwirklichen, wie der Historiker Wilfried Loth behauptet?16

Die Strategie Stalins für Nachkriegsdeutschland ist weiterhin umstritten, und die Frage ist für die Jahre 1944/45 sogar noch schwieriger zu beantworten als etwa für das Jahr 1952, da trotz einiger neuer Quellenfunde in den Moskauer Archiven aussagekräftige Dokumente über Stalins Intentionen und Strategien fehlen. Man wird jedoch davon auszugehen haben, daß Stalin sein langfristiges Ziel des Sozialismus zu verbinden hatte mit der konkreten Situation und internationalen Lage 1945, wobei die militärischen, politischen und ökonomischen Interessen der Sowjetunion eine entscheidende Rolle spielten. Für die Formulierung des Programms der »antifaschistisch-demokratischen« Umgestaltung waren wohl folgende Motive maßgeblich:

»Erstens konnten sie bruchlos in die sowjetische Europastrategie eingefügt werden, ohne antikommunistischen Bedenken bei den Westalliierten Nahrung zu geben; zweitens durfte eine die parlamentarischdemokratischen Spielregeln akzeptierende KPD auf Zuspruch in weiten Teilen der Bevölkerung hoffen, und drittens schufen die anvisierten gesellschaftlichen Strukturveränderungen eine günstige Voraussetzung für weitergesteckte Ziele der Sowjets, der Übertragung ihres Gesellschaftsmodells eventuell auf ganz Deutschland.«17

In der Praxis entpuppte sich die »antifaschistisch-demokratische Umgestaltung« rasch als bloßes Mittelglied zur Errichtung der kommunistischen Diktatur - was auch immer ursprünglich damit gemeint war. Zumal die deutschen Kommunisten von Anfang an nach der Devise handelten, die Walter Ulbricht im Mai 1945 ausgegeben hatte: »Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.«

Viele deutsche Kommunisten lehnten die neue antifaschistischdemokratische Strategie zunächst ab. »Sie konnten oder wollten nicht die Strategie und Taktik ihrer Führung verstehen, erstens durch die Einbeziehung bürgerlicher Demokraten u.a. einen politischen Pluralismus aus gesamtdeutschen Motiven vorzuspiegeln, zweitens die Parteien nach und nach als Transmissionsriemen für bestimmte Bevölkerungsschichten umzufunktionieren, drittens die anfangs dort vorhandenen oppositionellen Regungen zu kanalisieren und zu zerschlagen.«18 Enttäuscht fragten manche Kommunisten auf den Parteiversammlungen: »Warum kein Wort von Diktatur des Proletariats und Sowjetmacht in Deutschland? Was wird denn mit dem Sozialismus?«19

Die antifaschistisch-demokratische Umgestaltung entfaltete jedoch rasch eine solche Dynamik, daß auch die Bedenken der revolutionärsten Genossen widerlegt wurden. Am 14. Juli 1945 wurde ein Block der »Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien« aus KPD, SPD, CDU und der liberalen LDPD gebildet. In der gemeinsamen Erklärung war von der Wiederherstellung des Rechtsstaates die Rede und von der »Zusammenarbeit im Kampf zur Säuberung Deutschlands von den Überresten des Hitlerismus und für den Aufbau des Landes auf antifaschistisch-demokratischer Grundlage«.20

Formell waren alle Parteien gleichberechtigt, aber in der Praxis verstanden es die Kommunisten, die im April 1946 mit den Sozialdemokraten zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zusammengeführt wurden, sich durchzusetzen. Unter der Parole des »Antifaschismus« und des Kampfes gegen »Kriegs- und Naziverbrecher« wurden alsbald ökonomische Umgestaltungen im sozialistischen Sinne durchgeführt, gegen die die CDU zwar noch protestieren konnte, deren Widerspruch aber wirkungslos blieb. So hieß es in einem Beschluß des Hauptvorstandes der CDU vom 5. Juni 1946 zu dem angestrebten Volksentscheid zur Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Volkseigentum:

»Mit derselben Entschiedenheit, mit der die Union dieser politischen Aktion zustimmt, muß sie aber auch darauf bestehen, daß die Aktion auf die Aufgabe der Enteignung der Kriegsverbrecher und Naziaktivisten konzentriert bleibt. Es dürfen nicht unter dem Mantel und mit dem Vorwand der Aktion Maßnahmen versucht oder durchgeführt werden, die nichts mit der Bestrafung der Kriegs- und Naziverbrecher zu tun haben, sondern die hinzielen auf eine allgemeine Änderung der sozialwirtschaftlichen Struktur. Die allgemeine Zukunft unserer Wirtschaftsform ist eine Frage, die dem deutschen Volk in seiner Gesamtheit vorbehalten bleiben muß und die nicht isoliert in Teilgebieten und mit anfechtbaren Methoden geregelt werden darf. Würde man jetzt eine revolutionäre Änderung des allgemeinen Sozial- und Wirtschaftsaufbaus auch nur in einem Teil der östlichen Zone vornehmen - und darauf würde eine über die politische Strafaktion hinausgreifende Verstaatlichung aller größeren Betriebe hinauslaufen –, so würde damit ein neuer und wesentlicher Unterschied zwischen den Zonen herbeigeführt und die Kluft vergrößert.«21

Auch der Terror gegen Andersdenkende wurde stets mit der Parole des »Antifaschismus« und des Kampfes gegen den »Nazismus« legitimiert. Die Sowjets führten die von den Nationalsozialisten eingerichteten Lager weiter, und in ihnen kamen Tausende Menschen ums Leben. Nur ein relativ geringer Prozentsatz der Internierten hatte eine aktive nationalsozialistische Vergangenheit. Wirkliche NS-Größen gab es in den Lagern selten, da diese entweder nach Westen geflohen oder von Militärtribunalen verurteilt und in die Sowjetunion abtransportiert worden waren.

Die Perfidie, mit der die Parole des »Antifaschismus« genutzt wurde, um alle politisch Andersdenkenden auszuschalten, kommt schlaglichtartig in der Tatsache zum Ausdruck, daß sich sogar Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus unversehens in sowjetischen Lagern wiederfanden. Zu ihnen gehörten Männer des 20. Juli 1944 wie Justus Delbrück und Ulrich Freiherr von Sell, die in Jamlitz starben. Horst von Einsiedel, Angehöriger des »Kreisauer Kreises«, kam 1946 in Sachsenhausen ums Leben. Joachim Ernst Herzog von Anhalt, den die Nationalsozialisten im KZ Dachau gefangenhielten, starb 1947 im NKWD-Lager Buchenwald.

Natürlich gab es auch Zeichen des Widerstandes gegen die totalitäre Gleichschaltung. Hier ist besonders der Vorsitzende der Ost-CDU Jakob Kaiser zu nennen, der bereits aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gestanden hatte. Jakob Kaiser, der zusammen mit Ernst Lemmer am 6. September 1947 als Vorsitzender der Ost-CDU bestätigt wurde, erklärte in Anwesenheit des sowjetischen Obersten Tulpanow: »Wir müssen und wir wollen Wellenbrecher des dogmatischen Marxismus und seiner totalitären Tendenzen sein.«22 Nachdem sich die Konflikte zwischen Kaiser und den Kommunisten zugespitzt hatten, wurde er im Dezember 1947 von den Sowjets als CDU-Vorsitzender faktisch abgesetzt. Im Januar 1948 erklärte er: »Wir haben die Zusammenarbeit geübt bis an die Grenze des Möglichen. Bis an die Grenze des Möglichen, d.h. bis zu dem Punkt, wo ein weiterer Schritt Preisgabe der Grundsätze der Partei, der Gesetze, unter denen wir stehen, bedeutet hätte. Oder sollen wir uns verhehlen, daß die Blockpolitik, wie sie in der Zone üblich ist, stets ein gewagtes Spiel um die Grundsätze der nichtkommunistischen Parteien war und ist? Sollen wir uns verhehlen, daß die Einheitsorganisationen nichts anderes sein sollen als Hilfstruppen für die Durchsetzung des Machtanspruches der SED?«23

Die streitbare Demokratie

Die Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone zeigt, daß der später in der Bundesrepublik verpönte Antikommunismus keineswegs ein Relikt nationalsozialistischer Indoktrination war, sondern täglich durch die konkrete Politik von Sowjetunion und SED hervorgerufen und gerechtfertigt wurde. Kritik am Antikommunismus erscheint nur insofern legitim, als sie sich gegen eine Ideologisierung der Außen- und Deutschlandpolitik wendete. Dies war der Ansatzpunkt von Publizisten wie Paul Sethe, der selbst zweifelsohne Antikommunist war, zugleich aber sah, daß die zentrale Aufgabe der Deutschen, nämlich die Überwindung der Teilung, nur mit, nicht jedoch gegen die Sowjetunion zu erzielen war. Wenn Sethe kritisierte, der Antikommunismus sei zur Ersatzreligion verkommen24, dann war dies Ausdruck seiner Auffassung, daß die Außenpolitik in erster Linie Realpolitik sein müsse, die sich nicht primär nach ideologischen Grundsätzen ausrichten dürfe, sondern die jeweiligen Machtinteressen zu berücksichtigen, auszugleichen und – wenn möglich – in Übereinstimmung zu bringen habe. Hier lag ein Unterschied zu Adenauer, für den die Außen- und Deutschlandpolitik in viel höherem Maße ideologisch determiniert war.