Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung -  - E-Book

Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung E-Book

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Beschreibung

Wohlfahrtspolitik gehört seit dem 19. Jahrhundert zum Kerngeschäft des modernen Staates, bewegte sich von Beginn an aber auch im Kontext der christlichen Kirchen. Protestantismus und Katholizismus standen an der Wiege des Bismarckschen Sozialversicherungsstaats. Der brüchige Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik und der deutlich robustere Wohlfahrtsstaat der frühen Bundesrepublik wären ohne die Kirchen und ihre Soziallehren nicht denkbar gewesen. Wie aber eine angemessene und kluge Politik der Wohlfahrt genauer bestimmt werden könnte, bleibt Gegenstand von Kontroversen. So setzen sich die Beiträge dieses Bandes mit den normativen Grundlagen des Sozialstaats im Kontext religiöser Traditionen in Zeiten zunehmender Säkularisierung auseinander.

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Hermann-Josef Große Kracht, Christian Spieß (Hg.)

Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung

Analysen und Reflexionen

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wohlfahrtspolitik gehört seit dem 19. Jahrhundert zum Kerngeschäft des modernen Staates, bewegte sich von Beginn an aber auch im Kontext der christlichen Kirchen. Protestantismus und Katholizismus standen an der Wiege des Bismarckschen Sozialversicherungsstaats. Der brüchige Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik und der deutlich robustere Wohlfahrtsstaat der frühen Bundesrepublik wären ohne die Kirchen und ihre Soziallehren nicht denkbar gewesen. Wie aber eine angemessene und kluge Politik der Wohlfahrt genauer bestimmt werden könnte, bleibt Gegenstand von Kontroversen. So setzen sich die Beiträge dieses Bandes mit den normativen Grundlagen des Sozialstaats im Kontext religiöser Traditionen in Zeiten zunehmender Säkularisierung auseinander.

Vita

Hermann-Josef Große Kracht, Dr. phil., ist Akademischer Oberrat am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt.

Christian Spieß, Dr. theol., ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften und Leiter des Johannes Schasching SJ Instituts der Katholischen Universität Linz.

Karl Gabrieldem Brückenbauer zwischen Sozialethik und Religionssoziologiezwischen sozialem Katholizismus und politischer Modernezwischen Caritastheologie und säkularer Wohlfahrtsstaatlichkeitzum 80. Geburtstag

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Hans-Richard Reuter: Solidarität als soziale Freiheit. Sozialpolitik und Religion bei Eduard Heimann

1.

Kontext: Krise der Sozialpolitik

2.

Theorieansatz: Historische Soziologie des Kapitalismus

3.

Methode: Realistische Dialektik

4.

Religion: Symbolik des Christentums

5.

Schluss

Literatur

Jonas Hagedorn: Im Dickicht korporatistischer Ordnungsmodelle. Der katholische Richtungsstreit im Weimarer Wohlfahrtsstaat

1.

Kapitalismuskritische Richtungen im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit

1.1

Die Wiener Richtungen

1.2

Die Richtung der katholischen Sozialisten

1.3

Die katholisch-solidaristische Richtung

2.

Der Geist des Korporatismus – und die katholischen Richtungen

2.1

Das Korporatismuskonzept des katholischen Universalismus

2.2

Das Korporatismuskonzept des katholischen Sozialismus

2.3

Das Korporatismuskonzept des katholischen Solidarismus

2.4

Zusammenschau 

3.

Warum zentrale solidaristische Einsichten nicht verloren gehen sollten 

Literatur

Berthold Vogel: Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft – revisited!

1.

Die Forsthoffsche Formel

2.

Die Verwaltung des Sozialen

3.

Daseinsvorsorge als tätig werdende Verfassung

4.

Welchen Sozialstaat brauchen wir? Neue Perspektiven auf »Staatsbedürftigkeit«

5.

Staatsbedürftigkeit revisited!?

Literatur

Hermann-Josef Große Kracht: »… das war eine Enttäuschung«. Ernst-Wolfgang Böckenförde und der Sozialstaat der Industriegesellschaft

1.

»… über den Liberalismus hinaus«. Freiheitsrechtliche Sozialstaatlichkeit im Anschluss an Lorenz von Stein

2.

»… den Gesamtprozeß in staatliche Regie nehmen«. Postliberale Sozialstaatlichkeit in der Industriegesellschaft

3.

Globalsteuerung oder Funktionsreduzierung? Eine bleibende Unentschlossenheit in Böckenfördes Sozialstaatskonzeption

Literatur

Frank Nullmeier: Bedürfnisbegriff und Sozialstaatsanalyse in der Kritischen Theorie

1.

»Jedem nach seinen Bedürfnissen« – Karl Marx und die Folgen

2.

Dialektik der Bedürfnisse – Kritische Theorie und Bedürfnisbegriff in den 1940er-Jahren

3.

Wahre und falsche Bedürfnisse bei Herbert Marcuse

4.

Soziale Freiheit als wechselseitiges Verwirklichen der Bedürfnisbefriedigung

5.

Kritische Theorie und Sozialstaat

Literatur

Christian Spieß: Wohlfahrtsstaatliche Anerkennungsordnung und katholische Sozialverkündigung

1.

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu einer liberalen Sozialethik?

2.

Grundmotive einer Sozialethik der Anerkennung

2.1

Anthropologischer Ausgangspunkt

2.2

Normative Theorie der Anerkennung

2.3

Formen der Anerkennung

3.

Anerkennung von Differenz – oder doch besser Angleichung der Lebensverhältnisse?

4.

Katholische Sozialverkündigung als Anerkennungstheorie?

Literatur

Katja Winkler: Welche Ethik des Sozialstaates? Der Capabilities Approach und die Suche nach einer Legitimationstheorie des Wohlfahrtsstaates

1.

Einleitung

2.

Der Capabilities Approach als Ethik des Sozialstaates

3.

Antworten des Capabilities Approach auf Krisenphänomene des Wohlfahrtsstaates

4.

Der Capabilities Approach als Legitimationsgrundlage für den ›sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat‹

5.

Kritik an der ›essentialistischen‹ Ausrichtung der Sozialstaatsbegründung des Capabilities Approach

6.

Potenziale des Capabilities Approach als Legitimationstheorie des Sozialstaates

Literatur

Philip Manow: Das katholische Milieu und die AfD

1.

Minderheits- vs. Mehrheitskatholizismus

2.

Empirie: Replikation und Erweiterung

3.

Schluss

Literatur

Ilona Ostner: Frauenfrage, Frauenrechte und Religion

1.

Frauen, Frauenrechte, Religion – eine schwierige Beziehung

2.

Gleich »vor Gott«, verschieden »vor den Menschen«: die religiöse Grundierung der Geschlechterpolarität und ihre Folgen

3.

Frauenfrage und soziale Frage, konfessionelle Standpunkte und Aktivitäten

4.

Deinstitutionalisierung von Religion, Familie und Geschlechterverhältnis

Literatur

Aloys Prinz: Der Wohlfahrtsstaat zwischen Politik, Religion und ökonomischer Realität

1.

Kulturelle Diversität und Wohlfahrtsstaat

2.

Anreizeffekte des Wohlfahrtsstaats

3.

Eigenverantwortlichkeit im Wohlfahrtsstaat

3.1

Eigenverantwortlichkeit als Anspruch und als Realität

3.2

Eigenverantwortlichkeit: Macht Religion einen Unterschied?

4.

Wirtschaftliche Realität: Alternative Absicherungsformen für den Sozialstaat

Literatur

Bernhard Emunds: Wohnungsbau und Wohnungspolitik ›auf Katholisch‹

1.

Frühe Weichenstellungen: Rerum novarum gegen Henry George

2.

Wohnungsbau und Wohnungspolitik bis 1933

3.

Wohnungsbau und Wohnungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg

4.

Moralisch und religiös aufgeladene Begriffe

5.

Kurze Schlussbemerkung

Literatur

Christel Gärtner: Der Wandel des katholischen Milieus in der Abfolge von Generationen. Die Weitergabe von Religion, Glauben und Werten in katholischen Familien

1.

Katholische Familien: Daten, methodischer und theoretischer Zugang

2.

Der Wandel des katholischen Milieus in der sozialisatorischen Interaktion

2.1

Vom milieukatholischen Glauben zum Nichtglauben (#11)

2.2

Bedingung für die Fortführung und Transformation des katholischen Milieus (#2)

2.3

Tradierung der katholischen Bindung und die Gefahr des Abbruchs (#10)

3.

Die Möglichkeit der Weitergabe des (milieu-)katholischen Glaubens unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen

4.

Fazit: Transformation des katholischen Milieus

Literatur

Matthias Möhring-Hesse: Säkularität als Verarbeitungsform gesellschaftlicher Pluralität

1.

Rawlsʼ »Faktum des vernünftigen Pluralismus«

2.

Immanentes Wissen

3.

Der Sinn säkularer Situationen

4.

Bewältigung und Vollzug gesellschaftlicher Pluralität

5.

Säkularität gesellschaftlicher Bereiche

6.

Säkulare Gesellschaft

7.

Religionsproduktive Säkularität und säkulare Theologie

Literatur

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Wohlfahrtsverantwortung und Wohlfahrtspolitik gehören seit dem späten 19. Jahrhundert – in national unterschiedlicher Intensität und Ausprägung – zum Kerngeschäft des modernen Staates, auch wenn er mit dieser Aufgabenzuweisung immer wieder fremdelte; von Anfang an und vielfach bis heute. Der seit dem 18. Jahrhundert entstehende liberale Rechtsstaat wollte zunächst nur Schutz- und Abwehrrechte etablieren und vertraute darauf, dass in der Gesellschaft der Freien und Gleichen grundsätzlich jedermann eine ›bürgerliche Existenz‹ führen und sein individuelles Wohlergehen aus seinen eigenen Kräften, aus eigener Arbeit und eigenem Eigentum garantieren und gewährleisten kann. Mit den sozialen Verwerfungen des Industriezeitalters wurde aber offensichtlich, dass der Staat den von Not und Armut bedrohten eigentumslosen Arbeitermassen in irgendeiner Weise auch soziale Grund- und Teilhaberechte gewährleisten musste, wenn er seine Existenzgrundlagen nicht gefährden wollte. Die Herausforderung, den liberalen Rechtsstaat zu einem postliberalen Wohlfahrtsstaat fortzuentwickeln, stand nun unerbittlich auf der Tagesordnung; und gerade in Deutschland entwickelten sich seit den 1880er-Jahren Ideen und Konzepte, Strukturen und Institutionen eines german way of welfare state, die eine internationale Pionierrolle einnahmen und jahrzehntelang als vorbildlich galten.

Die Frage nach Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtspolitik bewegte sich dabei von Anfang an auch im Kontext der christlichen Kirchen. Protestantismus und Katholizismus standen gewissermaßen an der Wiege des Bismarckschen Sozialversicherungsstaates, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Auch der mit hohen verfassungsrechtlichen Ansprüchen auftretende, in der politischen Praxis aber sehr brüchige Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik wäre ebenso wie der programmatisch weniger ambitionierte, dafür jahrzehntelang deutlich robustere Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik ohne die Kirchen und ihre Soziallehren nicht denkbar gewesen. Auch in den Zeiten zunehmender Säkularisierung wirken religiöse Impulse und Traditionen in der Debatte um die Wohlfahrtspolitik mehr oder weniger deutlich weiter. Dennoch besteht heute mehr denn je die Notwendigkeit, dass sich die Gesellschaft über die normativen und institutionellen Grundlagen des »demokratischen und sozialen Bundesstaates« (Art. 20 GG) auf den Wegen einer säkularen politischen Philosophie verständigt und diese Selbstverständigungsdebatten in breiten öffentlichen Diskursen auf Dauer stellt, permanent erneuert und aktualisiert. Denn eine gute Wohlfahrtspolitik fällt nicht vom Himmel.

Die Frage nach dem Programm und Profil einer leistungsfähigen, gerechten und nachhaltigen Wohlfahrtspolitik wird nicht nur in der politischen Öffentlichkeit, sondern auch in den Rechts- und Staatswissenschaften, in der Soziologie, der politischen Ökonomie und der politischen Theorie engagiert und kontrovers diskutiert. Konsens besteht vielleicht einzig darin, dass es ohne den Wohlfahrtsstaat nicht geht. Wie aber eine angemessene und kluge Politik der Wohlfahrt genauer bestimmt werden könnte, bleibt umstritten. Und ob es überhaupt starke und etablierte Theorietraditionen gibt, die sich auf dem Normativitätsprofil der heutigen Gesellschaft mit hoher Überzeugungskraft für einen demokratischen Wohlfahrtsstaat ins Zeug legen, wäre auch noch näher zu klären.

Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich die Beiträge dieses Bandes in interdisziplinärer Perspektive und mit unterschiedlichen historisch-systematischen Zugängen mit wohlfahrtspolitischen Debatten der zurückliegenden einhundert Jahre, wobei auch politisch-ökonomische, parteipolitische und gendertheoretische Aspekte sowie Perspektiven und Bestandsaufnahmen zur Profilierung dessen in den Blick kommen, was in den modernen Gesellschaften als Säkularisierung gelten kann.

Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes haben ihre Texte aus Anlass des 80. Geburtstags von Karl Gabriel verfasst, dem sie sich als Schülerinnen und Schüler, als Kolleginnen und Kollegen freundschaftlich verbunden fühlen.

Solidarität als soziale Freiheit. Sozialpolitik und Religion bei Eduard Heimann

Hans-Richard Reuter

Wer im deutschen Kontext historisch informiert nach dem Verhältnis von Religion und Sozialpolitik fragt,1 kommt um das Werk des Nationalökonomen und Soziologen Eduard Heimann (1889-1967) nicht herum. Kaum ein anderes sozialwissenschaftliches Buch der 1920er-Jahre ist von der Kritik so intensiv zur Kenntnis genommen worden wie dessen Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik.2 Heimann gehörte dem religiös-sozialistischen Kairos-Kreis an, einem intellektuellen Diskussionszirkel aus Theologen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern um den Protestanten Paul Tillich. Von dessen Religions- und Geschichtsphilosophie erhielt der einer jüdischen Familie entstammende Heimann entscheidende Anstöße.

Nach dem Studium bei Alfred Weber und Franz Oppenheimer arbeitete Heimann in der jungen Weimarer Republik zunächst als Sekretär der beiden Sozialisierungskommissionen, dann als Privatdozent in Köln und Freiburg. Seit 1925 lehrte er als Ordinarius für Sozialökonomie an der Universität Hamburg. Nach der erzwungenen Emigration ab 1933 an der New School for Social Research in New York wirkend, kehrte er 1962 nach Hamburg zurück. Vom Frühwerk mit dem Fokus auf Sozialreform und Kapitalismusanalyse über die im Exil entstandenen Beiträge zur Faschismus- und Demokratietheorie bis zur späteren Arbeit an einer integralen Gesellschaftstheorie zeigte sich Heimann von der gesellschaftlichen Relevanz der christlichen bzw. biblischen Tradition überzeugt. Sich über den genauen Zusammenhang von religiösem Impuls und gesellschaftswissenschaftlicher Analyse in seinem Denken Aufschluss zu verschaffen, ist gleichwohl nicht ganz einfach. Für das in statu crescendi begriffene sozialpolitische Frühwerk3 gilt das in besonderem Maße. Das Folgende versucht eine Klärung in vier Schritten.

1.Kontext: Krise der Sozialpolitik

Die Weimarer Reichsverfassung wartete in Art. 51 mit einer solennen Bestimmung auf: »Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.« In schroffem Kontrast zu diesem Auftrag stand die Krise der Sozialpolitik, über die alsbald in Wissenschaft und Politik Klage geführt wurde. Bei genauerer Betrachtung lassen sich drei Aspekte der Krise unterscheiden.4

Unmittelbarer Anlass des Krisendiskurses war die praktisch-politische Frage, ob die wegen der Kriegs- und Inflationsfolgen drückende Wirtschaftslage überhaupt noch die Finanzierung einer Sozialpolitik der herkömmlichen, aus der wilhelminischen Ära stammenden Art erlaube. Den Anstoß bot Heinrich Herkner – in der Nachfolge des Kathedersozialisten Gustav Schmoller Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, der die Vereinigung 1922 mit einer Rede zum fünfzigjährigen Bestehen in die Krise stürzte. Herkner übte harsche Grundsatzkritik an gesetzlicher Arbeitszeitverkürzung und gewerkschaftlicher Lohnpolitik. Statt weiterer Umverteilungsmaßnahmen gelte es, »vor allem an die Hebung der produktiven Leistungen« zu denken (zit. n. Preller 1949/1978, 211); wenig später problematisierte er Erwerbslosenunterstützung, Tarifzwang durch staatliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung u.a.m.

Als zweite Ursache der Krisensymptomatik ist die Erschütterung der politischen Machtverhältnisse zu nennen: 1918 war mit der Ausrufung der Republik das ›Königtum der sozialen Reform‹ untergegangen. Nicht nur der preußische Obrigkeits- und Beamtenstaat als administrativer Träger der Sozialpolitik, auch dessen vermeintlich überparteiliche Definitionsmacht über das Gemeinwohl als ethischem Bezugspunkt aller sozialpolitischen Zwecke waren entfallen. An seine Stelle waren klassenkämpferische Zielsetzungen getreten. Die bürgerlichen Eliten ergriff das Gefühl gesellschaftlicher Desintegration, des Verlusts traditioneller Bindungen und Maßstäbe. Die sozialpolitische Gesetzgebung erschien nicht mehr als Ausdruck ethisch begründeten Gemeinsinns, sondern als Spiegel der Partikularinteressen von Parteien, Verbänden und Gewerkschaften. Karl Pribram warf die »bange Frage auf, ob sich jener Begriff der Sozialpolitik, der mit einer auf das Gesamtinteresse abgestellten sozialen Ethik operierte, überhaupt noch halten lasse, nachdem jener Faktor, der vordem dieses Gesamtinteresse verkörpert […] hatte, völlig in den Bannkreis der übermächtig gewordenen Interessenverbände geraten zu sein schien«5.

Drittens hinterließ der gesellschaftliche Wandel deutliche Spuren im wissenschaftlichen Selbstverständnis der Sozialpolitik, die zu »Umcodierungen des Begriffs« führten (Kaufmann 2003, 79). Heimann bescheinigte dem Fach einen »zweimaligen Wechsel der wissenschaftlichen Grundauffassung«: Nachdem der laissez faire-Liberalismus moralisch unerträgliche Zustände erzeugt hatte, sei dessen »manchesterlicher Quietismus« unter der Ägide von Schmollers Historischer Schule durch bloßen »Voluntarismus« abgelöst worden. Was Staat und Gesellschaft »wollten, schienen sie zu können«.6 Jetzt stelle sich die Sozialpolitik als rein praktisch-ethische Wissenschaft ohne Rücksicht auf exakte Theorie und ökonomische Gesetzmäßigkeiten dar. Schmollers sozialpolitischer Maßstab war das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit, für das er sich auf einen historisch relativen, aber im Zuge fortschreitender Kulturentwicklung perfektiblen common sense berief.7 Dagegen waren Werner Sombart und (besonders wirkungsvoll) Max Weber mit dem Postulat der Werturteilsfreiheit zu Felde gezogen: Nur die Eignung bestimmter Mittel zur Erreichung gegebener Ziele, nicht jedoch die wertende Ableitung dieser Ziele selbst falle in die Kompetenz der Wissenschaft. »Jede sinnvolle Wertung fremden Wollens«, so Weber, »kann nur Kritik aus der eigenen ›Weltanschauung‹ heraus, Bekämpfung eines fremden Ideals vom Boden eines eigenen Ideals aus sein«8.

Als Reaktion auf den politischen, verfassungsrechtlichen und wissenschaftstheoretischen Wandel lassen sich auf Seiten der bürgerlichen Sozialpolitiker zwei Richtungen unterscheiden (vgl. Krohn 1981, 51-64).

Vertreter einer pragmatischen Konzeption wie Otto von Zwiedineck-Südenhorst und Ludwig Heyde setzten bei der Klärung des Begriffs der Sozialpolitik an. Unter Verzicht auf normative Begründungen legten sie rein formale Begriffsdefinitionen zu Grunde, verlagerten aber den Fokus von der Staatsintervention zugunsten der Arbeiterinteressen auf das Problem der Sozialintegration. Zwiedineck bestimmte die Sozialpolitik neutral als »die auf Sicherung fortdauernder Erreichung der Gesellschaftszwecke gerichtete Politik« (zit. n. Janssen 2009, 229) und ließ damit sowohl gemeinschaftsbezogene wie individualistische Gesellschaftsauffassungen zu. Heyde wiederum strich aus seiner Definition, Sozialpolitik sei »der Komplex der planmäßigen Bestrebungen und Maßnahmen, die primär den Zweck verfolgen, das Verhältnis der Klassen und Stände zueinander und zu den Staatsgewalten […] zu beeinflussen«, den darin zuvor enthaltenen Verweis auf maßgebliche Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen einfach heraus (zit. n. ebd., 249). Dabei zielten Zwiedinecks und Heydes Bestrebungen letztlich – alles andere als wertfrei – auf eine antigewerkschaftliche Abwehrstrategie unter dem Primat der Produktionspolitik. Entsprechend galten Lohnsenkungen in Zeiten der Wirtschaftskrise als Mittel der Wahl.

Diesen Trend verstärkten jüngere Nationalökonomen, die auf die Einführung dezidiert antisozialistischer Formen der Arbeitnehmerorganisation aus waren und staatliche Sozialpolitik durch private Absprachen der Sozialpartner ersetzen wollten. In diesem Sinn schrieb der katholische Ökonom und Sozialethiker Götz Briefs den Gewerkschaften die Rolle von Erziehungsagenturen zu, die die Aufgabe hätten, die Arbeiterschaft vor »materieller Versumpfung« (zit. n. Krohn 1981, 58) zu bewahren, sie also durch »Verbürgerlichung des Proletariats« (Heimann 1980, 259) in die bestehende Wert- und Gesellschaftsordnung zu integrieren. Die diesem Projekt dienende organologische Gemeinschaftsideologie vertrat mit besonderer Verve Gerhard Albrecht. Seine Konzeption der »Betriebs-« oder »Werksgemeinschaften« favorisierte eine berufsständische Ordnung, die den Klassenkampf dauerhaft überwinden und in der übergeordneten Gemeinschaft der Nation ihren Abschluss finden sollte (vgl. Krohn 1981, 61-64).

2.Theorieansatz: Historische Soziologie des Kapitalismus

Der Begriff ›Historische Soziologie‹ steht für eine in der Weimarer Republik vordringende Strömung in den deutschen Sozialwissenschaften, die sich um die Überwindung der Grundsatzkontroverse zwischen hermeneutischen und nomothetischen Methoden bemühte. Werner Sombart, Max und Alfred Weber sowie Franz Oppenheimer, aber auch Ernst Troeltsch zählen zu ihren Pionieren, Heimann zu ihren jüngeren Vertretern.9 Sein historisch-soziologischer Zugriff grenzt sich von der Historischen Schule der Nationalökonomie deutlich ab und sucht diese zugleich zu beerben.

Dieser Neuansatz lag bei Heimann nicht von Anbeginn voll entwickelt vor. Gemessen an der Sozialen Theorie von 1929 bleibt sein erster Beitrag zur sozialpolitischen Krisendebatte noch auf halbem Wege stehen. Klar ist für ihn: Eine wissenschaftliche Begründung der Sozialpolitik muss heute weniger mit moralischen und politischen Argumenten arbeiten, sondern »stark wirtschaftstheoretisch und soziologisch eingestellt sein« (Heimann 1923, 47 f.). Was die moralische Begründung betrifft, trägt Heimann vordergründig dem Weberschen Objektivitätsideal Rechnung, wenn er zu Schmollers Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit feststellt: »Gerechtigkeit ist ein edler Stern, aber wir haben ihn verloren; wir wissen, daß er da ist, aber er leuchtet uns nicht. Wir haben nur den formalen Begriff der Gerechtigkeit, ohne angeben zu können, welches sein lebendiger Inhalt unter diesen unseren Verhältnissen ist; der Ruf ergeht an uns, aber wir tappen im Dunkeln.« Doch bei genauerer Betrachtung zielt die Kritik darauf, die Abhängigkeit distributiver Gerechtigkeitsvorstellungen von der sozialen Realität einer (im aktuellen Fall erst noch zu schaffenden) Vergemeinschaftungsform zu betonen: »Gerechtigkeit ist Teil und Ausfluß der Gemeinschaftssitte; in einer gemeinschaftslosen Zeit gibt es Gerechtigkeit nur als einen dauernden Vorwurf und Stachel in edleren Seelen, gleichgültig, ob ihnen die Unerfüllbarkeit ihrer Sehnsucht zum Bewußtsein kommt oder nicht.« (ebd., 48 f.)

Als zielführender gilt Heimann das politische Argument, wenn man es nicht auf die Erhaltung einer Staatsform, sondern auf die Zügelung der Klassengegensätze bezieht. Die aktuelle Sozialpolitik gehe notwendig aus dem kapitalistischen Wirtschaftssystem hervor, weil in ihr als »antithetische[r] Ordnung […] der gesellschaftliche Zusammenhang durch den gesellschaftsauflösenden Trieb« (ebd., 53) konkurrierender Eigeninteressen vermittelt wird. Ohne sozialpolitische Gegenwirkung müsse der soziale Zusammenhalt unter dem Klassengegensatz zerbrechen.

Gegenüber ständischen Ganzheitsideologien hält Heimann somit am Klassenbegriff fest, bleibt aber vorerst der unter bürgerlichen Theoretikern geführten Begriffsdiskussion verhaftet. Er begründet die Sozialpolitik mit Zwiedineck negativ als »Abschwächung der Klassengegensätze« und positiv als »Streben nach Einheitlichkeit der Gesellschaft« (ebd., 58). Zwar resultiere die Gefährdung der Gesellschaftszwecke mehr noch als aus dem Klassenantagonismus aus den Mängeln des antithetischen Wirtschaftssystems selbst. Deshalb sei Sozialpolitik, die das Marktversagen bei der Bewirtschaftung des Arbeitsvermögens durch Arbeiterschutz und Arbeitslosenversicherung kompensiert, »kein Abfallprodukt einer leistungsfähigen Wirtschaft, sondern Voraussetzung ihrer Leistungsfähigkeit« (ebd., 60 f.). Doch geht die hier von Heimann gegebene produktionspolitische Deutung über eine kapitalismusimmanente Funktionalisierung der Sozialpolitik noch nicht grundsätzlich hinaus: Sozialpolitik »mildert den Kapitalismus nicht, vielmehr ermöglicht sie ihn erst, da er bei noch größerer Schärfe an wirtschaftlichen Unvollkommenheiten und sozialen Spannungen zugrunde gehen würde« (ebd., 71).

An dem hier unterstellten statischen Ideal der Sozialpolitik und dem ebenso statischen Kapitalismusbegriff hat der Hamburger Ökonom später explizite Selbstkritik geübt, denn sie ermangelten des historisch-dynamischen Elements: »Eine Theorie der Sozialpolitik muß historisch gearbeitet sein, wenn sie nicht in leeren Definitionen und Abstraktionen steckenbleiben will.«10 Dem Spannungsverhältnis zwischen Sozialpolitik und Industriekapitalismus werde nur eine Theorie gerecht, die sich nicht auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten kapriziert, sondern historisch den dynamischen Wandel des Kapitalismus und (herrschafts-)soziologisch die mit ihm verbundene Verschiebung der Machtverhältnisse berücksichtigt. Dies bedingt eine explizite Distanzierung vom Postulat der Werturteilsfreiheit, geht es doch in der Sozialpolitik um die Beziehungen und das Schicksal der Menschen in der Wirtschaft, denen gegenüber es unmöglich sei, einen Standpunkt der Neutralität zu bewahren. Deshalb kann, so Heimann, diese Theorie »nicht wertfrei sein, aber sie verfällt dadurch nicht der subjektiven Willkür«, denn sie ist »an die objektiv in der Geschichte wirkenden Kräfte gebunden«.11

Damit ist der Ansatz der Sozialen Theorie von 1929 markiert: Er fußt auf dem seit Mitte der 1920er-Jahre vollzogenen Wandel in Heimanns Auffassung der Sozialpolitik vom Instrument kapitalistischer Selbststabilisierung zur notwendigen Voraussetzung des Sozialismus als sozialer Freiheitsordnung – und zwar in einem dialektischen Doppelsinn: »Sozialpolitik ist also der Einbau des Gegenprinzips in den Bau der Kapitalherrschaft und Sachgüterordnung; es ist die Verwirklichung der sozialen Idee im Kapitalismus gegen den Kapitalismus.« »Sozialpolitik sichert die kapitalistische Produktionsgrundlage vor den von der sozialen Bewegung drohenden Gefahren, indem sie der sozialen Forderung nachgibt; sie baut den Kapitalismus stückweise ab und rettet dadurch seinen jeweils verbleibenden Rest […]. Dies ist ihr konservativ-revolutionäres Doppelwesen.« (Heimann 1980, 167, 172)

Die Bismarcksche Sozialversicherung genügt Heimann zufolge diesem Begriff der Sozialpolitik nur »am alleräußersten Rande« – handelt es sich bei den Versicherungsbeiträgen doch um »gesperrte Lohnteile«, was das gesamte Projekt als »Akt der Fürsorge bzw. Wohlfahrtspflege« im Sinn der »obrigkeitliche[n] Idee« erweist (ebd., 246, 243). Überhaupt liege die Einheit der Sozialpolitik »nicht in ihren Institutionen, sondern in ihrem Ursprung aus der Einheit des arbeitenden Menschen und der ihm eingeborenen sozialen Freiheitsidee« (ebd., 217). Sozialpolitik im Heimannschen Verstande beschränkt sich nicht auf die Summe ihrer institutionalisierten Instrumentarien; sie empfängt ihren Richtungssinn aus dem ontologisch vorausliegenden »Spannungsfeld des Sozialpolitischen als Vergesellschaftungsprinzip« (Böhnisch 2020, 44; Herv. i.O.).

Aus dem dialektischen Doppelwesen der Sozialpolitik leitet Heimann drei idealtypische Grundformen ab – je nachdem, ob sie mit der Sicherung, der Veränderung oder der Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Eigendynamik einhergehen. Sonach dient ihr erster Typus der Sicherung des Wirtschaftsverlaufs und tritt mit dem Arbeiterschutz hervor: Obwohl aus innerkapitalistischer Logik erwachsen, bringt er den Erwerbstätigen »eine erste Sicherheit für Leben und Gesundheit« (Heimann 1980, 194), auch wenn sie damit weiterhin Objekte der Betreuung bleiben. – Eine mittlere Stellung nehmen für Heimann Maßnahmen ein, die auf die Veränderung des Wirtschaftsverlaufs zugunsten der Arbeiterschaft zielen, ohne die gesamtwirtschaftliche Produktivität zu hemmen. Dazu zählen Lohnerhöhungen und die wissenschaftlich fundierte Verbesserung der Arbeitsbedingungen. – Eine dritte Gruppe sozialpolitischer Maßregeln führt er auf außerwirtschaftliche Ursachen zurück. Sie gehen von der sozialen Freiheitsidee aus und nehmen – wie ihrem Sinn nach die Arbeitszeitverkürzung – eine Beeinträchtigung des ökonomischen Gesamtablaufs zum Vorteil der Arbeiterschaft in Kauf. Voll realisiert wird diese qualitativ neue Stufe durch das Arbeitsrecht, d.h. die Anerkennung des arbeitenden Menschen als Subjekt der Rechte in und an seiner Arbeit, woraus die Gewährleistung von Arbeitslosenversicherung, gewerkschaftlicher Koalitionsfreiheit und sozialer Betriebsverfassung folgt.

Andernorts hat Heimann – primär soziologisch, weniger ökonomisch argumentierend – auf den mittleren Typus verzichtet und zwei Hauptetappen unterschieden, die sich an der Differenz zwischen Objekt- und Subjektstatus der Erwerbstätigen orientieren.12 Das Spezifische seiner Konzeption emanzipatorischer Sozialpolitik als Arbeiterrechtspolitik, für die Staatshilfe letztlich Frucht der Selbsthilfe sein muss, wird damit unterstrichen.

3.Methode: Realistische Dialektik

Für die Methode der Sozialen Theorie stützt sich Heimann seit Mitte der 1920er-Jahre auf die Realdialektik, die Paul Tillich unter Rekurs auf die mystisch-naturphilosophische Nebenlinie der neuzeitlichen Philosophie bei Jakob Böhme und dem späten Schelling aus ihrer orthodox-marxistischen Engführung befreit hat (vgl. Heimann 1980, 146).13 Der Ökonom verortet die Realdialektik in einer doppelten Frontstellung: zum einen gegen Positionen, die das Bewegungsgesetz der Geschichte einseitig in den Geist – hegelianisch in den Begriff oder kantianisch in den Willen – verlegen; zum andern gegen einen Materialismus, der den Sozialismus mit naturgesetzlicher Notwendigkeit aus dem Klassenkampf hervorgehen lässt.

Der erste konsequente Einsatz der dialektischen Methode zur Begründung von Sozialismus und Sozialpolitik findet sich 1928 in Heimanns Vortrag auf der Heppenheimer Pfingsttagung religiöser Sozialisten (vgl. Heimann 1931a, 172-196, 250-252). Hier argumentiert er antiidealistisch gegen Hendrik de Man, der den historischen Materialismus von rein moralisch-rechtlichen Forderungen her kritisiert hatte: Der Sozialismus ist für de Man kein kausalgesetzlich notwendiges Resultat von Klassenkämpfen, vielmehr ein aus allgemeingültigen Normen abgeleitetes Ideal. Gegen diese Trennung von Sein und Sollen opponiert Heimann fortan auf der Basis einer stark lebensphilosophisch getönten Identitätsphilosophie: Das sich durch geschichtliche Aufeinanderfolge immer neuer Qualitäten zur bunten Einzigartigkeit der Geschöpfe entfaltende Leben werde vergewaltigt, wenn man es einem externen zeitinvarianten Maßstab unterwirft. Realdialektisch werden der Sinn bzw. das Wesen der lebendigen Dinge nicht vom Geist hervorgebracht; vielmehr liegt der Sinn in den Dingen selbst und muss aus ihnen im erkennenden Nachvollzug erschlossen werden: »Nach der idealistischen Dialektik […] ist der Sinn, den der Geist in sich vorfindet, zugleich auch in den Dingen, weil die Dinge im Geist und nur im Geist sind. Nach realistischer Lehre ist der Sinn das Lebendige in den lebendigen Dingen, und der Geist schafft ihn nicht, sondern erkennt ihn in den Dingen und die Dinge durch ihn, weil der Geist selbst ist und dadurch am Sein der Dinge teil hat; er erkennt die Dinge und ihren Sinn, wenn er sich tief in die Dinge versenkt, und er kann ihn freilich auch verfehlen. Der reine Geist, die abstrakten Ideale sind unverbindlich, soweit sie nicht aus der Tiefe heraufwachsen.« (ebd., 174)

Umgekehrt wird, so Heimanns antimaterialistischer Einwand, die realdialektische Spannung von Geistigem und Dinglichem zum entgegengesetzten Pol hin aufgelöst, wenn man die geistige Sphäre vulgärmarxistisch auf einen bloßen Reflex des Wirtschaftsverlaufs reduziert.14 Dennoch bleibt für ihn die realistische Umkehrung in Kraft, mit der Marx die Hegelsche Dialektik vom Kopf einer »Denkbewegung« auf die Füße einer »Seinsbewegung« gestellt hat (ebd., 205). Heimann rekonstruiert die historische Entfaltung der »sozialen Idee« gemäß dem realdialektischen Prinzip, wonach »die gestaltenden Ideen an die Sozialgestalten gebunden, eben deswegen aber die Sozialgestalten mit der Kraft der lebendigen Ideen erfüllt sind« (Heimann 1980, 300 f.). Seine Ausgangsthese: Der Anspruch auf die Vereinigung von Freiheit und Gemeinschaft, Individualismus und Universalismus ist Teil des emanzipatorischen Programms, das die moderne Welt dem ökonomisch-sozialen Liberalismus verdankt, auch wenn er unter den veränderten Bedingungen des Industriekapitalismus scheitern muss.

Im liberalen Weltbild dient ja, so Heimann in Anspielung auf den deistischen Hintergrund der klassischen Nationalökonomie, auch der antisoziale Trieb hinter dem Rücken der Produzenten einem sozialen Endzweck, sodass »die Freiheit aller« als »Bedingung der allgemeinen Harmonie« erscheint (ebd., 16 f.). Zudem hat der Liberalismus gegenüber dem Feudalismus den arbeitenden Menschen zur rechtlichen Freiheit erhoben und ihn mit dem Eigentum an seiner Arbeitskraft ausgestattet. In dem Maße jedoch, in dem der Kapitalismus die Eigentümer der Arbeit vom daraus erzielten Ertrag trennte, musste die Freiheit kleinbetrieblicher Demokratie der eigentumslosen Unfreiheit unter monopolistisch-großbetrieblicher Herrschaft weichen. Die soziale Unfreiheit der Arbeitnehmerschaft inmitten ihrer rechtlichen Freiheit ist der mit dem Kapitalismus selbst gegebene, über ihn hinaustreibende Widerspruch. Gegen die Kapitalherrschaft erhebt sich daher die soziale Bewegung. Sie fordert eine neue Verbindung von Freiheit und Gemeinschaft – eine Ordnung sozialer Freiheit, in der die »Freiheit des einen zur […] Garantie für die Freiheit des anderen« wird und »wo jeder sich als Bürgen für die Freiheit des andern weiß«. »Solidarität und Freiheit sind aufeinander bezogen; sie sind in der sozialen Freiheitsordnung zusammengefaßt.« (ebd., 159 f.) Der Sozialismus ist insofern der geistige Erbe des demokratischen Liberalismus; von ihm übernimmt er »den Impuls, führt ihn aber in entgegengesetzter Richtung« (ebd., 45): »Die soziale Idee geht […] von der dem Kapitalismus eigentümlichen Erniedrigung des Arbeiters aus; sie ruft seine rechtliche Freiheit auf – verglichen mit der feudalen Unfreiheit: die Elemente seiner Freiheit; verglichen mit der liberalen Utopie: die Rudimente seiner Freiheit –, damit er die volle und wirkliche Freiheit erkämpfe: die Freiheit zur Ordnung des Arbeitslebens nach den eigenen Wertvorstellungen und unter der eigenen Verantwortung der arbeitenden Menschen.« (ebd., 158)

Als Inhalt der sozialen Idee gilt die Freiheit und Würde der Arbeit in der Arbeit; der Wille dazu ist ihre der Arbeiterbewegung als ihrem Träger eingeschriebene »Realität«, ihre mit Geist geladene »Materialität« und »Stoffgebundenheit« (ebd., 140-142). Doch impliziert die »Gegenwartsbeschreibung« des sozialistischen Strebens in Heimanns revidiertem Sozialismus keine »Zukunftsprophezeiung«. Sie lässt »die Frage nach der Form der sozialistischen Ordnung offen, sie greift der Produktivität der Geschichte nicht vor« (Heimann 1931a, 202). Die fortschrittsteleologische Vorstellung von einem Ende der Geschichte lehnt der Realdialektiker in der Hegelschen wie in der Marxschen Variante ab: »Die Dialektik fordert den Verzicht auf eine – sei es auch noch so stark säkularisierte – Vorstellung vom irdischen Gottesreiche, von einem Reich der Vollkommenheit. Es genügt ihr, im Werdenden das schöpferische Geheimnis des ewigen Ursprungs zu verehren und den Auftrag des Dienstes am Werdenden zu vernehmen. Sie weiß, daß es Höheres im menschlichen Bereich nicht gibt.« (ebd., 204)

Freiheit ist Heimann zufolge nicht auf Einsicht in die historisch-ökonomische Notwendigkeit zu reduzieren; das würde einen absoluten, der geschichtlichen Dynamik enthobenen Standpunkt voraussetzen. »Dialektik ist die Lehre von der Größe des Schicksals und von unserer Freiheit, seine schöpferische Gewalt aufzuspüren und zu erfüllen.«15 Die paradoxe Einheit von Schicksal und Freiheit liegt in der religiös qualifizierten Befähigung, sich der durch die Einmaligkeit der geschichtlichen Lage gestellten Aufgabe in verantwortlicher Entscheidung zu stellen – mit Tillich: im Ergreifen des Kairos, des Einbruchs des Unbedingten ins Bedingte, des Ewigen in die Zeit.

Mit der postrevolutionären Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie sah Heimann die Arbeiterbewegung aus dem Stadium der Opposition in das der Verwirklichung eingetreten. Jetzt bedürften ihre Vertreter weniger der Klassensolidarität als der Fähigkeit jedes Einzelnen zum verantwortlichen Freiheits- und Machtgebrauch. Darüber täusche die altmarxistische Notwendigkeitslehre mit ihrem »Wunderglauben« hinweg, dass die kapitalistischen Produktivkräfte auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung von selbst in den Sozialismus umschlügen.16 Sozialpolitik ermöglicht für Heimann die Annäherung an den Sozialismus, impliziert aber keinen Automatismus für den Übergang in eine soziale Freiheitsordnung. Der Weg der Sozialpolitik als Sozialisierung von unten nimmt »den einzelnen Arbeiter soweit als möglich in die Freiheit und Verantwortung hinein […], während die plötzliche Vollsozialisierung notwendig über seinen Kopf hinweggeht« (Heimann 1980, 313). Eine Garantie für die Realisierung der sozialen Idee bietet die Sozialpolitik nicht: Es bleibt denkbar, »daß die Arbeiter […] für das Linsengericht der sozialpolitischen Milderung im Kapitalismus ihr geschichtliches Recht auf Neugestaltung der Welt aus dem Geiste der sozialen Freiheit verkaufen« (ebd., 315).

4.Religion: Symbolik des Christentums

Heimann hat die konfessionellen Ansätze zur Sozialreform nicht pauschal verworfen, aber aus teils dogmatischen, teils soziologischen Gründen äußerst skeptisch beurteilt.17

Nach katholischer Lehre, so der religiöse Sozialist, ist die Erfahrung von Gericht und Gnade ihrer existenziellen Unmittelbarkeit beraubt und in die Verfügungsmacht der Kirche gelegt. Diese habe heilsökonomisch das Gemeineigentum dem Gnadenstand, das Privateigentum dagegen dem Sündenstand zugewiesen, aus dem nur die kirchlich verwalteten Heilsmittel heraushelfen können. Daraus »ergibt sich die immanente Notwendigkeit der Privatwirtschaft als Korrelat zu dem Herrschaftsrecht der Kirche; mit jener würde dieses zerfallen« (Heimann 1931a, 112). Zudem wurde die Radikalität der Liebesforderung durch eine Zweistufenmoral abgeschwächt, sodass Armut als göttlich verordnete Gelegenheit für den karitativen Frömmigkeitserweis der Reichen erscheint. Heimann sieht die katholische Sozialreform traditionsgemäß einem berufsständischen bzw. korporatistischen Gesellschaftsmodell verpflichtet, das unter der amoralischen Eigendynamik des modernen Kapitalismus längst erodiert ist. Dem zwischen Kapitalismus und Sozialismus vermittelnden Solidarismus Peschs attestiert er, »außerhalb der Zeitprobleme« zu stehen (ebd., 120). Kurzum: »Eine freiheitliche, unmittelbar aus dem lebendigen Liebesdrang geschöpfte Auffassung der sozialen Welt steht von vornherein in Spannung nicht nur mit der obrigkeitlichen Sozialpolitik, die dem Wesen der Kirche entspringt, sondern eben deswegen mit dem obrigkeitlichen Wesen der Kirche selbst.« (ebd., 122)

Der Protestantismus dagegen hat Heimann zufolge die individuelle Auseinandersetzung mit den überpersönlichen Mächten von Sünde und Gnade von kirchlicher Verfügung befreit. Die gesellschaftlichen Auswirkungen seines religiösen Freiheitsprinzips blieben aber begrenzt wegen der »schroff herrschaftlichen Auffassung der sozialen Welt« (ebd., 123), die das staatlich kuratierte Luthertum kennzeichnet. Außerdem wurde die »Welt« durch eine auf Innerlichkeit verkürzte Rechtfertigungslehre dem religiös motivierten Gestaltungswillen entzogen und der feudalistischen, später kapitalistischen Entwicklung überlassen. Durch Austreibung der »mammonistischen« Gesinnung sollte das kapitalistische System gebessert, durch Beseitigung des Inhalts die Form gerettet werden. Aber Form und Inhalt sind nicht zu trennen: »Alle Form ist symbolisch für ihren Inhalt.«18 Die Innere Mission Wicherns blieb der unpolitischen Illusion rein individueller Liebestätigkeit verhaftet. Bismarcks Sozialversicherung bezweckte, »dem Arbeiter zu helfen, ohne die Hausherrenrechte des Arbeitgebers im Betrieb anzutasten« (ebd., 130). Trotz Intensivierung praktischer Sozialarbeit zeigt sich die evangelische Kirche auch nach Ende der Monarchie durch ihre kleinbürgerliche Basis gehindert, konsequent für die proletarische Sache einzutreten.

Heimanns kirchenkritische tour dʼhorizon postuliert einen ekklesialen Akt der »Reue« und »völligen Umkehr« – gleichzeitig benennt sie die Gründe für dessen Absenz: Ist es der katholischen Kirche schon wegen ihres sakral überhöhten Selbstverständnisses verwehrt, auf den »Ruf zur Buße« zu antworten, so steht die protestantische Verstrickung mit den herrschenden Schichten einem Schuldbekenntnis im Weg (ebd., 135 f., 137). Fazit: »Es gibt also kirchliche Sozialpolitik nur in grundsätzlich demselben Sinne wie bürgerliche Sozialpolitik: als machtpolitische Anpassung an das Unvermeidbare, nicht als Neuschöpfung aus dem Geist der Liebe.« (Heimann 1980, 188)

Religion ist allerdings mehr als Kirche. In der Religion geht es um das »Wesen des menschlichen Lebens«, um die Freiheit zur Erfüllung oder Verfehlung des individuellen Lebenssinns (Heimann 1931a, 252). Von hier aus wird die Lage des Proletariats als Extremform von Sinnwidrigkeit offenbar: Weit davon entfernt, in seiner Würde als Selbstzweck anerkannt zu sein, gerät der arbeitende Mensch im Kapitalismus nur als Mittel zu Produktionszwecken in den Blick. Deshalb ist der Sozialismus als »Drang zur sinnvollen Gestaltung und Umgestaltung des verzerrten Lebens« wenn auch nicht bewusst, so doch »substantiell religiös« (ebd.).

Heimanns Kapitalismusdeutung ist nur vor dem Hintergrund von Tillichs Begriff des Dämonischen verständlich. Tillich bestimmt das Dämonische als »Einheit von formschöpferischer und formzerstörender Kraft«19. Dieser Widerstreit findet nach Tillich im Kapitalismus seinen vollendeten gesellschaftlichen Ausdruck – verbindet er doch die historisch effektivste Form der Güterproduktion und Bedürfnisbefriedigung, die wir kennen, mit einer nie dagewesenen Intensität der Zerrüttung des individuellen und sozialen Lebens. Die Erkenntnis dieser Dialektik führt den Kampf gegen das Dämonische über die Alternative von revolutionärem Fortschrittsglauben und konservativem Bewahrungswillen hinaus zur »Anerkennung eines Gegenpositiven«, das nur »durch Schöpfung und Begnadung zu überwinden ist« (Tillich 1926/1963, 67). Den dämonischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft, der das kapitalistische Wirtschaftssystem hervorgebracht hat, nennt Tillich den »Geist der in sich ruhenden Endlichkeit« und setzt ihm den »gläubigen Realismus« entgegen, »der offen ist für das Ewige« (Tillich 1926, 17 f., 21).

Auch Heimann attestiert dem Kapitalismus, von Haus aus nicht lebensfeindlich zu sein. Unter bürgerlicher Hegemonie brachte er eine gigantische Entfaltung der persönlichen und sachlichen Produktivität; »aber freilich, er ist gefallen«20. Darin liegt die Dialektik von Gnade und Gericht: Der Kapitalismus hat sich gegen seinen Ursprung gekehrt und absolut gesetzt. Er hat seine Teilwahrheiten – eine von der Kraft irrationaler Mächte abstrahierende instrumentelle Vernunft und eine um die Mittel zu ihrer Verwirklichung entleerte Freiheit – als endgültige Offenbarung ausgegeben und damit die letzte Wahrheit verkannt: »Die letzte Wahrheit für jedes Einzelsein gegenüber dem unerschöpflichen Schoß des Ursprungs ist das Kreuz, die Bereitschaft, sich selbst aufzuheben.« (ebd., 161) Das »Kreuz« als Symbol der Liebe, d.h. der Bereitschaft jedes Einzelseins, sich selbst hinzugeben fürs Universelle eines alle einschließenden neuen Lebens, bringt Heimann immer wieder ins Spiel, um die Frage zu beantworten, worin der Sinn der symbolischen Ressourcen des Christentums für die soziale Bewegung besteht.21

Eine platte Instrumentalisierung des christlichen Zentralsymbols zu politischen Zwecken ist dies keineswegs – dient es doch gerade »der Bewahrung der Rangordnung zwischen dem Leben überhaupt und dem Sozialismus«: »Das im Kreuz symbolisierte Prinzip der Überwindung um des neuen Lebens willen umgreift jede wirklich wesenhafte Wendung des Lebens […] und bestätigt sie in ihrem historischen Recht; sie mahnt sie aber zugleich, ihres nur historischen Charakters eingedenk zu sein.« Es ist die christlich-realistische Unterscheidung zwischen Bedingtem und Unbedingtem, die sich im Gegensatz zu jeder Form des despotischen Glaubens an einen geschichtlichen Endzustand offenhält für die Kontingenz des Neuen. Ihr »entspricht die demokratische Elastizität der Institutionen, die für Unvorhergesehenes Raum lässt« (ebd., 252).

Jede noch so dialektische Artikulation des Unbedingten setzt allerdings eine historisch situierte Lebenslage, also eine – stets (selbst)kritisch zu relativierende – Position im Bedingten voraus.22 Deshalb trifft der allen geltende »Ruf zur Umkehr« die Gegner im Klassenkampf »je nach ihrer soziologischen Verstrickung« in differenzierter Weise (Heimann 1924, 151): Für den Bürger zielt er auf eine Haltung, die bis zur Preisgabe seiner Lebensform führen kann.23 Für das Proletariat dagegen gilt: Die »Lehre von der Schöpfung ist die Grundlage für die Lehre vom Kreuz. Darum hat es keinen Sinn, von dem noch unerfüllten Leben die Überwindung zu verlangen, die dem erfüllten Leben geboten ist.« (Heimann 1931e, 100) Im Fall des Proletariats läuft die Umkehrforderung auf die Überwindung einer aufs materielle Eigeninteresse fixierten Klassensolidarität hinaus. Der Fehler der materialistischen Theorie bestand für Heimann ja darin, den Umschlag in den Sozialismus von der Durchsetzung des blanken Klasseninteresses zu erwarten – in der Annahme, dass »es eine andere Kraft, als die des Interesses einfach nicht gebe« (Heimann 1924, 172). Gebrochen wird die Interessenherrschaft dadurch aber nicht: Gäbe es keine Klassen mehr, würde das Klasseninteresse zum Gruppeninteresse mutieren. Den Bann lösen könnte nur eine »verborgene Gegenkraft gegen das Interesse«, wie sie das Christentum und der universelle menschliche Anspruch auf Würde verkörpern (ebd., 172 f.). »Nur der echten Solidarität, der Verbundenheit zwischen den Menschen, nicht der Solidarität der Privatinteressen und Marktbündnisse kann die überwindende und befreiende Tat beschieden sein.« (Heimann 1926, 27)

Die Vermittlung des hier noch antithetisch gedachten Verhältnisses von Interesse und Idee erlaubt wenig später die realdialektische Methode, die von der Verkörperung der Idee in der sozialen Bewegung ausgeht. Ursprünglich – also vor aller Verkehrung ins Macht- und Gewinnstreben – ist ja »Interesse«, so Heimann jetzt, »nichts als der freilich überspitzte Name für den Lebenswillen, für den Trieb zur Selbstdarstellung, für die inwendige Kraft, die sich auch und gerade in den Institutionen der von ihr geformten Welt äußern will und soll«; und dies »aus der unmittelbaren Gegebenheit der proletarischen Existenz heraus« (Heimann 1931a, 176 f.; vgl. 215). Das bedeutet nicht, dass dem Proletariat (altmarxistisch) eine objektiv privilegierte geschichtliche Funktion zuzuschreiben wäre – zumal Heimann mit einer Erweiterung der sozialen Bewegung durch den proletarisierten Mittelstand rechnet.24 Jedenfalls ist die »bevorzugte Stellung« des Proletariats nicht darin begründet, dass »sein Interesse mit der sittlichen Idee zusammenfiele«, sondern dass es unter dem Kapitalismus »weniger Nutzen und mehr Leiden erfährt als andere Schichten« und »in den großen Sündenkomplex vielleicht etwas weniger tief verstrickt« ist (Heimann 1924, 175). Wenn dennoch das Bürgertum unter dem »Kreuz«, das Proletariat dagegen unter der »Gnade« steht, so deshalb, weil Letzteres das Schicksal des noch unerfüllten Lebens ohne sein eigenes Verdienst repräsentiert (Heimann 1931a, 193 f.).

5.Schluss

Die vorstehende Rekonstruktion hat den Weg von außen nach innen beschritten: von der historischen Kontextualisierung der Sozialpolitiktheorie Heimanns über deren dialektische Methodik hin zu ihrer religiösen Fundierung. Fragt man abschließend in umgekehrter Richtung nach der Bedeutung tiefer Hintergrundüberzeugungen für die konkreten Optionen der sozialen Theorie, so seien drei Aspekte hervorgehoben: Zunächst die biblische Geschichtsauffassung von der Vorläufigkeit und Einmaligkeit der historischen Ereignisfolge; sie verweist alle Gesellschaftsgestaltung auf den demokratischen Pfad permanenter Reform. Sodann die mythische Wahrheit von Schöpfung und Fall, die ihren Ausdruck findet in der doppelsinnigen, kreativ-destruktiven Deutung des Kapitalismus – mit der Folge, dass die Sozialpolitik als dessen Teil und Antikörper zugleich zu konzipieren ist. Schließlich das Bild des Menschen, der in der Sakralität seiner individuellen Würde zum schöpferischen Neubeginn aus Freiheit bestimmt ist, was die Kraft zum Abbau von Willkürherrschaft ebenso einschließt wie die Befähigung zur Überwindung des Eigeninteresses.

Literatur

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Im Dickicht korporatistischer Ordnungsmodelle. Der katholische Richtungsstreit im Weimarer Wohlfahrtsstaat

Jonas Hagedorn

Der deutsche Wohlfahrtsstaat war und ist die institutionelle Antwort des Staates und intermediärer Akteure auf die – angesichts einer kapitalistischen (Markt-)Wirtschaft entstandenen und entstehenden – sozialen Risiken der Menschen. Sowohl die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als auch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege waren in Deutschland treibende Kräfte der Wohlfahrtsstaatsentwicklung und sind als Träger öffentlicher Aufgaben (Tarifpartnerschaft, selbstverwaltete Sozialversicherungen als öffentlich-rechtliche Körperschaften, Wohlfahrtskorporatismus etc.) aktiv an der Wohlfahrtsproduktion beteiligt. Auch wenn sie nicht den Staat repräsentieren, partizipieren sie doch seit jeher – teils in hohem Maße – an der Ausführung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben. Zwar ist es der Staat, der zur Schaffung sozialer Sicherheit verpflichtet ist. Gleichwohl muss er damit einhergehende Aufgaben nicht in Gänze selbst übernehmen, sondern kann sich bei der Erfüllung dieser Aufgaben auch auf intermediäre Akteure stützen. Diese wohlfahrtsstaatliche Beteiligung von Intermediären und diese Koproduktion haben in Deutschland eine lange Tradition. Denn der Staat begann sich Ende des 19. Jahrhunderts und dann besonders in der Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat zu verstehen und seine Aktivitäten entsprechend auszurichten,25 als zentrale, wohlfahrtsstaatlich elementare Felder sozialer Praxis z.B. von Wohlfahrtsverbänden – darunter kirchlichen Verbänden in konfessionellem Wettstreit – bereits besetzt waren.26

Der deutsche Wohlfahrtsstaat konstituierte sich demnach nicht zuletzt durch seine Verhältnisbestimmung zu und in Abstimmung mit den in diesen Feldern aktiven und miteinander konkurrierenden intermediären Akteuren. Da er eine »generelle Sozialbindung öffentlichen Handelns« impliziert und da von ihm erwartet wird, »die politische Überformung der Marktprozesse nach Maßstäben sozialer Gerechtigkeit« zu gewährleisten, geht er selbst mit einem »normativ gehaltvolle[n] Begriff« einher, der auf die Linderung von Not, die Schaffung sozialer Rechte und gerechter Strukturen sowie die Ausbalancierung sozialer Ungleichheitslagen abzielt.27 Den normativen Gehalt lieh er sich zunächst von intermediären Akteuren, adaptierte ihn, spiegelte ihn zurück und übertrug in der Folgezeit zunehmend öffentliche Aufgaben an jene Akteure. Karl Gabriel, dem dieser Beitrag gewidmet ist,28 hat neben der Säkularisierung als großem religionssoziologischen Forschungsgegenstand die (europäische) Wohlfahrtsstaatsentwicklung und den diesbezüglichen Beitrag der konfessionellen Wohlfahrtsverbände, insbesondere der Caritas in Deutschland, beforscht und – wie kein anderer Sozialethiker in den letzten Jahrzehnten – reflexiv begleitet.29

Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt der Frage nachgehen, welche Richtungen im Katholizismus an einer korporatistischen Grammatik, u.a. der intermediären Grammatik des deutschen Wohlfahrtsstaates, mitgeschrieben haben (1.). In einem zweiten Schritt werden die vertretenen Korporatismusmodelle näher beleuchtet und voneinander abgegrenzt (2.). Im Rahmen eines Ausblicks wird abschließend die Frage behandelt, warum der Wissensbestand des katholischen Solidarismus einer theoretischen Überprüfung in korporatistischer Absicht30 unterzogen werden sollte (3.).

1.Kapitalismuskritische Richtungen im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit

Nach dem Abklingen des noch in den 1910er-Jahren mit äußerster Vehemenz geführten Gewerkschaftsstreits (vgl. Hagedorn 2018, 76-89) flammte in den 1920er-Jahren im sozialen Katholizismus Deutschlands ein neuer Richtungsstreit auf, der die Ausrichtung korporatistischer Strukturen, mit denen auf die Verwerfungen kapitalistischer Wirtschaft reagiert werden sollte, betraf. Im sozialen Katholizismus der Weimarer Zeit prägten diesen Streit drei Richtungen: erstens die Anhänger der ›Wiener Richtungen‹, die die Zugewandtheit zur romantischen Ideenwelt und der Rekurs auf Karl Freiherr von Vogelsang (1818-1890) verbanden,31 zweitens die Gruppe der ›katholischen Sozialisten‹ und drittens die Gruppe der ›katholischen Solidaristen‹. Diese Dreigliederung sozialkatholischer Richtungen ist bereits Ende der 1920er-Jahre vorzufinden (vgl. Hagedorn 2018, 94). In der Katholizismusforschung und der wissenschaftlichen Literatur hat sie sich weitgehend durchgesetzt.32

1.1Die Wiener Richtungen

Unter der Bezeichnung ›Wiener Richtungen‹ werden die Strömungen im Sozialkatholizismus subsumiert, »die mehr oder weniger nach rückwärts schauende, an Romantik, Feudalismus und Stadtwirtschaft orientierte«33 Auffassungen vertraten. Der Untergang des Kaiserreichs, die Revolution, die Ausrufung der Republik und dann vor allem die Inflations- und Weltwirtschaftskrise führten zu einer Renaissance dieses Ideenspektrums. »Die fast vergessenen antikapitalistischen, ständisch-zünftlerischen Ideen der katholisch-sozialen Bewegung« des 19. Jahrhunderts »lebten wieder auf« (Gierse 1932, 130). Zu den untereinander teils stark divergierenden Wiener Richtungen zählt u.a. die von Othmar Spann in Wien vertretene Ganzheitslehre (Universalismus), die näher in den Blick genommen wird.

Othmar Spann (1878-1950) wurde in der Zwischenkriegszeit zum maßgeblichen Exponenten der sozialromantischen Ideenwelt. Er wurde 1919 als Professor an die Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien berufen und trat mit wirtschaftstheoretisch-soziologischen und philosophischen Arbeiten in Erscheinung. Er konzipierte ein »universalistisches System«, ausgehend »von der Ganzheit als erster soziologischer Wirklichkeit« (Arnold 1932, 1296). Als das Primäre galt Spann die Ganzheit, die sich ausgliedert; auch der einzelne Mensch würde erst durch Ausgliederung zu existieren beginnen. »Das Ganze ist vor den Gliedern«34 wurde zu einem Merksatz seiner Lehre. Spann hielt »nur zwei letzte Sozialtheorien« für möglich: »die eine denkt die Gesellschaft als Summe von einzelnen« – ein atomistischer Ansatz –, »die andere als Ganzes, das sich in seine Teile ausgliedert«.35 Er wandte sich gegen das seiner Ansicht nach vom Einzelmenschen ausgehende Alternativsystem zur Ganzheitslehre, das er im Solidarismus vertreten sah.

Besondere Beachtung erlangte die vom katholischen Akademikerverband im Juni 1931 veranstaltete soziologische Tagung in Maria Laach, auf der Othmar Spann ein großes Podium geboten wurde und universalistischen Ideen »ein nicht unbeträchtlicher Einbruch in den reichsdeutschen Katholizismus«36 gelang. Mit den Referaten zur universalistischen Ideenwelt Spanns wollte der katholische Akademikerverband an »eine beachtenswerte Tradition« anknüpfen, an »eine Entwicklungslinie, die schon kraftvoll unter der Mitarbeit bester Köpfe seit den Tagen der Romantik sich vorwagte, bevor ein gutgemeinter, ›weltzugewandter‹ Anpassungskatholizismus mit stark staatssozialistisch angekränkelter sozialpolitischer Werkfreudigkeit an der geistigen Gesamthaltung des damaligen Sozialkatholizismus so viel verdarb« (Ruster 1932, 102).

An der Universität Wien präsentierte Spann in seinen Vorlesungen die Grundlagen eines autoritären korporativen Ständestaats, griff die demokratischen Grundlagen der jungen österreichischen Republik an und bahnte dem Austrofaschismus intellektuell den Weg.37 Auch richtete er seine Kritik gegen eine Sozialpolitik, der aufgrund der »Schöpfung neuer ständischer Körper zum Ersatz für die alten«38 eine Alibifunktion zukäme.

1.2Die Richtung der katholischen Sozialisten

Die katholischen Sozialisten traten in Deutschland mit der 1929 erstmals veröffentlichten Monatsschrift Das Rote Blatt der katholischen Sozialisten in Erscheinung. Herausgeber des Roten Blattes war Heinrich Mertens (1906-1968).39 Anders als die Vertreter der Wiener Richtungen waren die katholischen Sozialisten davon überzeugt, dass »eine[.] antikapitalistische[.] Volksbewegung auf der geistigen Grundlage der Sozialromantik«40 aussichtslos sei. Ein schlagkräftiger Antikapitalismus war ihrer Ansicht nach nur über die Marxʼsche Theorie vermittelbar: »Die proletarische Freiheitsbewegung mußte über Karl Marx« (Das Rote Blatt I, 1929, 69). Die Beschäftigung mit der Marxʼschen Theorie erfolgte hingegen nicht kritiklos. »So sehr wir der Marxʼschen Analyse des Kapitalismus zustimmten, – Marxisten, d.h. Anhänger des von Marx-Epigonen ausgebildeten Weltanschauungssystems, wurden wir nicht. Nur die Gewißheit, daß Sozialismus und Marxismus nicht wesentlich identisch sind und daß ihre tatsächliche Verknüpfung in der Vergangenheit sich heute löst, machte uns die Entscheidung zum Sozialismus möglich.« (ebd.)

Im Unterschied zu den religiösen Sozialisten protestantischer Provenienz, die in keinen den Glauben in Abrede stellenden Konflikt mit ihrer Kirche gerieten, sondern allenfalls im politischen Diskurs zu rechtfertigen hatten, dass sie Sympathien für den sozialdemokratischen Reichsfeind des ehemals protestantisch-preußischen Staates hegten, war die Position der katholischen Sozialisten ungleich schwieriger. Mertens notierte: »Päpste und Bischöfe haben den Sozialismus als Irrlehre verurteilt. In manchen Ländern ist den Katholiken die Zugehörigkeit zu sozialistischen Organisationen streng verboten. Jeder Katholik, der trotzdem Sozialist wird, muß sich mit diesem Verhalten der kirchlichen Kreise auseinandersetzen.«41 Der Sozialismus der Zwischenkriegszeit war vielschichtig. Mertens sprach sich dafür aus, »die offensichtlichen religiös und ethisch begründeten innersozialistischen Bewegungen ernst zu nehmen«42. Man müsse, so Mertens, »die völlig veränderte Lage, in der wir Katholiken uns heute der sozialistischen Bewegung gegenüber befinden« (ebd.), anerkennen. Der Zusammenhang zwischen einer »areligiöse[n] Weltanschauung« und der sozialistischen Theoriebildung sei heute »schon soweit gelöst, daß es dickbändiger wissenschaftlicher Werke bedarf, um eine innere Einheit von Atheismus als Weltanschauung und Sozialismus als politisch-sozialer Bewegung wider alle Erfahrung zu beweisen. […] In der Arbeiterschaft wird die Einheit von Sozialismus und Atheismus nicht mehr geglaubt« (ebd.). Sowohl im Katholizismus als auch in der Sozialdemokratie blieben die katholischen Sozialisten allerdings Außenseiter und von den Debatten abgeschnitten. Zudem entzog die 1931 erschienene Enzyklika Quadragesimo anno (Nr. 116 und 120), so die übereinstimmende Auffassung der Zeitgenossen, den katholischen Sozialisten die argumentative Grundlage. Das publizistische Vorhaben der katholischen Sozialisten war kurzlebig. Seit 1931 veröffentlichte Heinrich Mertens in den Neuen Blättern für den Sozialismus, die von Eduard Heimann, Fritz Klatt und Paul Tillich herausgegeben wurden.

1.3Die katholisch-solidaristische Richtung

Der katholische Solidarismus ist ohne die Aufbrüche der französischen Soziologie im 19. Jahrhundert und ohne die Theorie des französischen Solidarismus mit seinem Fokus auf unentrinnbare Abhängigkeits- bzw. Solidaritätsverhältnisse zwischen den Menschen und die sich daraus ergebenen Verpflichtungsverhältnisse nicht zu verstehen.43 In Deutschland rezipierte Heinrich Pesch SJ (1854-1926) die soziologischen Solidaritätsgedanken von Émile Durkheim (1858-1917) und die republikanischen Solidarismuskonzepte von Autoren wie Alfred Fouillée (1838-1912), Charles Gide (1847-1932) und Léon Bourgeois (1851-1925) u.a. in seinem fünfbändigen Lehrbuch der Nationalökonomie, wobei er sie in das im Katholizismus dominante neuscholastisch-naturrechtliche Denkmuster einpasste.44 Ähnlich wie die französischen Solidaristen betonte auch Pesch die faktischen Abhängigkeits- bzw. Solidaritätsverhältnisse zwischen Menschen auf dem Niveau industriegesellschaftlicher Ausdifferenzierung und arbeitsteiliger Verdichtung von Wirtschaftsprozessen.45

Pesch avancierte zum Gründervater des katholischen Solidarismus, der nicht auf eine Restauration altständischer Gesellschaftsideale aus den Zeiten des Feudalismus, sondern auf konkrete Sozialpolitik auf dem Boden der nun einmal bestehenden industriekapitalistischen Verhältnisse zielte. Auf Pesch folgten ›in zweiter Generation‹ die Jesuiten Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning.46 Dadurch dass Gundlach und Nell-Breuning den Solidarismus weiterentwickelten, legten sie den Grundstein für diejenige Art katholischer Soziallehre, die sich als »christlich-soziale Einheitslinie«47 mit der Sozialenzyklika Quadragesimo anno zeitweise etablieren sollte. Der deutsche Solidarismus sollte über drei Jahrzehnte – von Quadragesimo anno (1931) bis Mater et magistra (1961) – den Anspruch erheben, ›die‹ katholische Soziallehre zu sein (vgl. Hagedorn 2018, 68). Für die »bedeutsame Fort- und Ausbildung des Solidarismus« (Jostock 1932, 156, Fn. 1) in der Weimarer Zeit waren u.a. die Aufsehen erregenden Artikel Gundlachs zu ›Klasse‹ und ›Klassenkampf‹ in der fünften Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft bedeutsam.48 Nell-Breuning wurde nicht nur zum maßgeblichen Verfasser der Enzyklika Quadragesimo anno, sondern hatte auch seit Mitte der 1920er-Jahre eine bemerkenswerte publizistische Aktivität entfaltet, die das anwendungsbezogene Profil des Solidarismus schärfte und gegen die Wiener Richtungen in Stellung brachte.

Nach diesen ersten Einordnungen soll im Folgenden geklärt werden, welche kapitalismuskritischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungsmodelle die drei Richtungen im Einzelnen verfolgten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass alle drei vorgestellten Richtungen ihre Kapitalismuskritik mit korporatistischen Vorstellungen der Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft verbanden.

2.Der Geist des Korporatismus – und die katholischen Richtungen

Zur Differenzierung der jeweiligen korporatistischen Verständnisse wird zum einen auf den Grad des zugestandenen Autonomieanspruchs der Gewerkschaften und Korporationen sowie auf den Grad der Selbstbeschränkung des Staates eingegangen; zum anderen wird der Grad der Parteien- und Parlamentarismus-Akzeptanz bestimmt.

2.1Das Korporatismuskonzept des katholischen Universalismus

Spann beschrieb die Welt als ein organisches Gebilde, »in dem jedes einzelne Glied nur in Bezug auf die ihm vorgeordnete Ganzheit adäquat bestimmt werden« könne.49 Dem organischen Ganzen, der hierarchisch gegliederten sozialen Einheit gab er dabei den Vorrang vor dem Individuum. Er entwickelte einen Stufenbau der Wirtschaft, wobei in einem ersten Prozess die Weltwirtschaft Volkswirtschaften ausgliederte. Die Ausgliederung erfolgte schließlich über Wirtschaftsverbände, Betriebe bis hinunter zum Einzelwirtschafter.50 Dem Handeln des Menschen sprach Spann Autonomie ab; vielmehr sei der Einzelne »durch die ihm vorgeordnete Ganzheit bestimmt: als Arbeiter durch den Betrieb, der Betrieb durch die wirtschaftlichen Verbände usw.« (Köster 2011, 185). Auch eine Eigenständigkeit von Kultursachgebieten war konzeptionell nicht vorgesehen. Von einem Autonomieanspruch intermediärer Akteure war entsprechend keine Rede. Vielmehr waren die ständischen Körperschaften, von denen Spann und andere Vertreter des Universalismus sprachen, nicht eigenständige bottom-up-Korporationen und Träger echter Selbstverwaltung, sondern weisungsgebundene, in einer Hierarchie befindliche top-down-Glieder. Der Staat »[unterwirft] alles seiner Oberleitung und betreuenden Führung«; mit einem solchen »neuen autoritären Staate« könne und solle »eine neue, ständisch geordnete Wirtschaft entstehen«.51 Gewerkschaften wie Parteien wurden mit äußerster Skepsis behandelt (vgl. Spann 1921, 105). Spanns Schüler – wie Walter Heinrich – sprachen folgerichtig von einem »völligen Umbau« der Gewerkschaften von »klassenkämpferischen Verbänden« zu »Abteilungen (Sektionen) der Berufsverbände«, einem Umbau, für den »das der nationalsozialistischen Bewegung wesenhaft entsprechende ständische Gedankengut« zielgebend sei.52 Zur Demokratie bestanden größtmögliche Distanz und offene Aversion: »Wer Individualist ist, Mechanisierung und Gleichheit wirklich will, kann Demokrat sein, wer aber den Kulturstaat will, wer ein Geistiges vom Staate verlangt, kann nicht mehr Demokrat sein. Es kann ihm nicht mehr gleichgültig bleiben, ob die Masse ihre Stimme erhebt oder nicht, er kann die gleiche Abstimmung aller nicht mehr wollen. Der Universalist, der im Staate eine Organisation des geistigen Lebens sieht, muß die fruchtbarste Vergemeinschaftung wollen, die Herrschaft der Besten, nicht die gleiche Herrschaft aller, nicht die Herrschaft der Menge.« (Spann 1921, 118)53 Wortführer des katholischen Akademikerverbandes wie Franz Landmesser teilten diese Auffassung (vgl. Hagedorn 2018, 160).

2.2Das Korporatismuskonzept des katholischen Sozialismus

Konträr zu den faschistischen Positionen im Universalismus wurden im Roten Blatt der katholischen Sozialisten sozialistische Wirtschaftsordnungsvorstellungen rezipiert, darunter die von Fritz Naphtali redigierte, 1928 erschienene programmatische Schrift des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel54, die – so Heinrich Mertens – »auf keinem Bücherbrett eines katholischen Sozialisten fehlen« durfte (Das Rote Blatt I, 1929, 5). Der 1925 einsetzenden Bündelung wirtschaftsdemokratischer Überlegungen und der Entwicklung eines kohärenten wirtschaftsdemokratischen Konzepts innerhalb des ADGB und der Sozialdemokratie waren Enttäuschungen vorausgegangen, die etwa die Zusammenarbeit mit den Arbeitgeberverbänden, die Aufweichung der Regelarbeitszeit des Achtstundentags oder die Torpedierung des Betriebsrätegesetzes betrafen.55 Einen besonderen Rückschlag für die Arbeiterbewegung bedeutete das Scheitern der am 15. November 1918 von Carl Legien und Hugo Stinnes ins Leben gerufenen Zentralarbeitsgemeinschaft.

Das von Naphtali erarbeitete und von Mertens in den sozialen Katholizismus hinein gespiegelte Wirtschaftsdemokratiekonzept konnotiert den Staat positiv. Der Text behandelt den Staat nicht mehr allein als Komplizen der herrschenden bürgerlichen Klasse, sondern fordert dazu auf, ihn zur Erreichung des Sozialismus in Dienst zu nehmen. Statt der revolutionären Überwindung des Staates, statt Bestrebungen, einen Systemwechsel in Frontstellung zur kapitalistischen Wirtschaftsweise einzuleiten, dominieren in der Schrift Vorstellungen, systemkonform-›innerkapitalistisch‹ zum Sozialismus vorzustoßen – ein deutlicher Bruch mit der Marxʼschen Lehre. Pointiert formulierte Naphtali, die Struktur des Kapitalismus selbst sei veränderlich, und der Kapitalismus könne, »bevor er gebrochen wird, auch gebogen werden« (Naphtali 1928, 12).56 Es sei – so rechtfertigten die christlichen wie freien Gewerkschaften im Deutschland der 1920er-Jahre ihren ›innerkapitalistischen‹ und zugleich kapitalismuskritischen Kurs – besser, »mit Hirn und Finger mitten in der Wirtschaft zu stecken, als mit der geballten Faust draußen zu stehen«57.

Mit dem Wirtschaftsdemokratiekonzept verbanden der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratie einerseits das Ziel, die privatkapitalistisch-unternehmerische Verfügungsfreiheit über die Produktionsmittel einzuhegen. Dabei spielten sogenannte wirtschaftliche Selbstverwaltungskörper eine wichtige Rolle; sie bedeuteten »Zusammenfassungen der Wirtschaftseinheiten (Unternehmungen) oder der in ihnen tätigen Menschen eines Wirtschaftszweiges zum Zwecke der Ausübung wirtschaftlicher Führungsbefugnisse«; und diese Ausübung sollte »im Rahmen einer von der Gesamtheit, repräsentiert durch den Staat, bestimmten Zielsetzung« erfolgen (Naphtali 1928, 36). Stets sollte dem Staat in den genannten Strukturen eine exponierte Stellung zukommen. Die Demokratisierung der Wirtschaft beschrieb Naphtali folglich nicht als ›Prozess von unten‹, sondern als ›Strukturierung von oben‹.58 Andererseits wurde auf eine Ausweitung des nicht-kapitalistischen Sektors in der Wirtschaft abgestellt. Eine Stärkung und Etablierung von nicht-kapitalistisch orientierten Unternehmungen, u.a. bedarfswirtschaftlich ausgerichteten Betrieben in öffentlicher Hand, sollten erreicht werden.

Der Autonomieanspruch der wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörper ist – der Konzeption nach – gering einzuschätzen; mit wirtschaftlicher Selbstverwaltung wurde assoziiert, »dass wirtschaftliche Verwaltungsbefugnisse den unmittelbar an der Wirtschaft Beteiligten zur Ausübung übertragen werden« (Naphtali 1928, 36). »Fragen der Wirtschaftsführung« müssten »zu Fragen des Staates werden« (ebd., 22). Mit gleicher Stoßrichtung wird an anderer Stelle formuliert, »echte Selbstverwaltung« sei »eine Übertragung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Hoheitsrechte durch beauftragte, der Staatsaufsicht unterstehende Körperschaften« (ebd., 145). Die etatistische Ausrichtung tritt im Text auffällig zutage. Die Selbstbeschränkung des Staates gegenüber intermediären Trägern öffentlicher Aufgaben ist gering. Gewerkschaften waren, Naphtali zufolge, entscheidende Akteure auf dem Weg der Demokratisierung der Wirtschaft. Sie sollten eine wichtige Rolle dabei spielen, die privatkapitalistisch-unternehmerische Verfügungsmacht über die Produktionsmittel zu brechen und nicht-kapitalistische Wirtschaftsfelder auszuweiten. Politische Demokratie und Parlamentarismus wurden als Chance beschrieben und positiv konnotiert.

2.3Das Korporatismuskonzept des katholischen Solidarismus

Ende der 1920er-Jahre versuchten die Solidaristen, die überkommene berufsständische Ordnungsvorstellung der katholisch-sozialromantischen Tradition zu modernisieren, und sie versuchten nach der Veröffentlichung der Enzyklika Quadragesimo anno, den in das päpstliche Rundschreiben eingetragenen leistungsgemeinschaftlichen Gliederungsvorschlag in die Debatten um die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen. Vor den solidaristischen Modernisierungsbemühungen der 1920er-Jahre, die in den Staatslexikon-Artikeln Gundlachs zu ›Klasse‹ und ›Klassenkampf‹ kulminierten, wurde die berufsständische Ordnung – verbunden mit organizistischer Rhetorik – vor allem als soziale Restauration verstanden, die bereits den Versuch eines konstruktiven Debattenbeitrags auf dem Niveau einer ausdifferenzierten Gesellschaft und hocharbeitsteiligen Wirtschaft vereitelte. Davon unbenommen propagierten sozialromantische, aber auch – wie oben dargestellt – offen faschistische Stimmen mit der berufsständischen Ordnung die Möglichkeit der Überwindung radikaler Vereinzelung und die Rückkehr zu einer übersichtlichen Gemeinschaftlichkeit.

Die Stoßrichtung der Solidaristen war eine andere: Für die ›zweite Generation‹ des Solidarismus stand fest, dass es darum gehen müsse, die von Klassen durchzogene Gesellschaft in einem ersten Schritt intellektuell zu erfassen und sie in einem zweiten Schritt durch leistungsgemeinschaftliche Gliederung – freiheitlich-korporatistisch – umzugestalten. Den Vorstellungen einer antagonistischen Klassengesellschaft und eines revolutionären Klassenkampfes stellten die Solidaristen – den gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Verfechtern einer Wirtschaftsdemokratie ähnlich – ihren Vorschlag einer wirtschaftsgesellschaftlichen Evolution hin zu einer korporatistischen Ordnung entgegen, die auf intermediären Akteuren, darunter den Tarifpartnern, aber auch auf öffentlich-rechtlichen Körperschaften basierte.59 Mit der berufsständischen Ordnung wurde das Ziel verbunden, von der »Auseinandersetzung zwischen den Klassen zur einträchtigen Zusammenarbeit der Stände« zu gelangen, wie Eugenio Pacelli auf dem Katholikentag 1929 in Freiburg i.Br. proklamiert hatte.60 Aus Sicht der Solidaristen sperrte sich ihr Verständnis von Selbstverwaltung nicht gegen staatliche Aufsicht, wohl aber gegen staatliche Weisungsbefugnis. »[D]er Berufstand besitzt echte Selbstverwaltung, d.h. wie bei der echten gemeindlichen Selbstverwaltung handelt es sich um öffentlich-rechtliche Machtvollkommenheit aus eigenem Recht, nicht kraft Delegation seitens des Staates, wohl aber in Ein- und Unterordnung unter das Staatsganze.«61 Ein hoher Autonomieanspruch wird geltend gemacht. Gleichzeitig ist der Staat, der »nicht so sehr in, als über den Dingen« steht, ein Staat der »Selbstbeschränkung«.62

Wegbereiter für eine berufsständische Ordnung sollte »in hervorragendem Maße« die typische »Klassenorganisation« (Nell-Breuning 1931c, 45), die Gewerkschaft, sein. »Die ›Klassen‹ […] können zwar nicht Bauelemente des Gesellschaftskörpers sein, wohl aber die Träger der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, aus der eine rechte Gesellschaftsordnung hervorgehen soll« (ebd.). Privat-rechtliche Akteure gehen entsprechend als Wegbereiter der Neuordnung über in öffentlich-rechtliche Körperschaften. Anders als beim Konzept der Wirtschaftsdemokratie, dem Nell-Breuning vorwarf, statt einer Demokratisierung die »Politisierung der Wirtschaft« (Nell-Breuning 1947, 74) voranzutreiben, wurde von solidaristischer Seite der durch eine leistungsgemeinschaftliche Gliederung herbeigeführte Effekt der Entpolitisierung der Wirtschaft betont.63

In der Endphase der Weimarer Republik fand sich auf den im Rahmen des Volksvereins für das katholische Deutschland ausgerichteten und die berufsständische Ordnung thematisierenden Tagungen in Essen und M.Gladbach64