Wolfsaugen - Pia Krämer - E-Book

Wolfsaugen E-Book

Pia Krämer

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Beschreibung

Vancouver 2016 Der Wolf ist zurück und dies bedeutet für Leo East, er muss die acht Auserwählten zu sich nach Kanada holen. Acht Jugendliche, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben, außer der Tatsache, dass sie Teil einer wichtigen Aufgabe geworden sind. Den Wolf zu finden und sich dabei nicht selbst zu verlieren, gestaltet sich deutlich schwieriger, wenn sich das System gegen einen stellt und man nicht mehr weiß, wem man überhaupt noch vertrauen kann.

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Danke, an alle, die immer an mich geglaubt und mich so

immer wieder neu motiviert haben.

Danke, an meinen kleinen Stern, der einfach das

Wichtigste in meinem Leben ist.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1: Die Auserwählten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil 2: Das Training

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil 3: Der Wald

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Prolog

Vancouver -

0:00 - 31.12.1999/1.1.2000

Es ist Jahrtausendwende und in der Nähe der Golden Ears sitzt ein grauer Wolf mit einem schwarzen Streifen auf dem Rücken. Er heult den Mond an, der zwischen dem Feuerwerk zu verschwinden scheint. Das Geheule dröhnt über den Wald in die Welt hinaus. Es verbreitet sich wie ein Klagegesang. Er ruft nach seinem Rudel, doch das ist verschwunden und keiner weiß wohin. Alle Wölfe aus Vancouver sind verschwunden, erst nur ein paar, doch es wurden immer mehr und mehr, die einfach verschwanden und schließlich war keiner mehr da, außer er. Selbst in anderen Städten nahe Vancouvers beginnt es bereits und in einigen anderen Regionen Kanadas gibt es erste Meldungen von ganzen Rudeln, die in den Wald rennen und nicht wieder auftauchen.

Das Feuerwerk über Vancouver erstrahlt in den knalligsten Farben und dennoch erscheint der Wald grau und trist. Kein anderes Tier ist in der Nähe des einsamen Wolfes und der Golden Ears Provincial Nationalpark wirkt verlassen und leer.

Das Tier erhebt sich langsam, starrt nach vorne und in seinen Augen spiegeln sich die Farben des Himmels wider. Langsam geht er ein paar Schritte, den Blick weiterhin starr nach vorne gerichtet. Er wird schneller und schneller. Die Schritte hallen durch den Wald, werden lauter und lauter. Der Wolf rennt an Bäumen und Sträuchern vorbei und dringt immer tiefer in die Wildnis des Nationalparks. Je weiter er rennt, desto mehr verschwindet das geheimnisvolle Glitzern in seinen Augen. Seine Augen wirken leer. Seine Pfoten wirbeln Staub auf und dieser hüllt ihn komplett ein. Er verschwindet in der Staubwolke, die sich kurz darauf auf den Waldboden legt und den Wolf scheinbar in Luft auflöst. Ganz langsam schiebt sich der Mond hinter die Wolken und es wird finster. Ein einzelner Rabe kreist über die Baumkronen und lässt ein Krächzen ertönen.

Nur das Feuerwerk schwebt noch über dem Wald.

Die Menschen sind glücklich und unbeschwert, doch noch ahnt keiner, was in ein paar Jahren geschehen wird.

Und als es in Vancouver Mitternacht ist und der letzte Wolf Vancouvers in den Wäldern verschwindet, werden in dieser Sekunde auf der ganzen Welt genau acht Kinder geboren – vier Jungen und vier Mädchen. Jedes einzelne dieser Kinder ist mit Fähigkeiten geprägt, die ihnen in der Zukunft helfen werden, aber an denen sie auch lernen müssen. Sie werden stark sein und sie werden kämpfen müssen gegen sich selbst, gegen ihre Ängste, gegen das Ungewisse.

Diese acht Kinder werden eine Aufgabe haben, denn sie sind wichtig für Vancouver, Kanada und die ganze Welt: Sie sind Wolfsjäger!

Teil 1: Die Auserwählten

1

Vancouver – 31.12.2015

„Du weißt, was heute für ein Tag ist, oder Leo?“, fragte sein Chef Mitch Williams und starrte ihn mit festem Blick an. Leo East starrte zurück. Ja, er wusste, was heute für ein Tag war. Er nickte seinem Chef zu, stand auf und verließ das Büro. Langsam ging er den Flur entlang. Am Ende des Ganges stand ein kleiner Tresor. Leo atmete noch einmal tief durch, ehe er die Kombination aus Buchstaben und Zahlen eingab. Mit einem lauten Quietschen ging die Tür des Tresors auf und offenbarte Leo eine kleine, silberne Kiste. Er holte Sie heraus und schloss den Tresor wieder. Nun war es also so weit. Die Kiste war leicht und fühlte sich kalt an. Er sah auf sie und strich langsam mit dem Daumen über die kalte Oberfläche. So verharrte er einen Augenblick.

„Leo?“, hinter ihm stand Kate Williams, die Tochter des Chefs. Sie starrte ebenfalls die Kiste in seiner Hand an und streichelte ihm dann sanft über den Rücken.

„Du schaffst das schon!“, flüsterte sie ihm zu, sah ihn kurz durch ihre braunen Rehaugen an und verschwand dann wieder hinter einer der Bürotüren.

Leo sah ihr hinterher, dann ging auch er in sein Büro und öffnete die silberne Kiste.

In ihr lagen acht Briefumschläge, alle waren mit unterschiedlichen Adressen beschriftet. Es fehlte nur noch eine letzte Unterschrift.

Als schließlich alle Briefe fertig waren, brachte Leo sie zu acht Boten. Diese standen bereits in einer Reihe vor dem Büro des Chefs. Sie trugen alle die gleiche Kleidung: eine dunkelblaue Jacke und eine dunkelblaue Cap. Hinter ihnen standen acht kleine, graue Rollkoffer. Die Boten waren bereit für Mitch und Leo weit zu reisen, nur um die Briefe an ihre Adressaten auszuliefern. Leo gab jedem einen Brief und ein Flugticket.

Kurz darauf machten sich alle zusammen auf den Weg zum Flughafen. Die Boten suchten sich ihre Flüge heraus und machten sich für die lange Reise bereit.

Leo, Kate und Mitch begleiteten die Boten zu ihren Gates und verabschiedeten sie. Jeder wusste, dass sie mit etwas sehr Wichtigem wiederkommen mussten, doch keiner wusste, wie lange dies dauern würde.

Leo wurde nervös. Was wäre, wenn sie nicht zurückkommen würden? Was würde dann passieren? Er fuhr sich mit einer Hand durch die hellbraunen Haare und seufzte. Er hatte gewusst, was da auf ihn zukommen würde, aber jetzt, wo es so weit war, bekam er Zweifel. Was, wenn der Plan nicht aufgehen würden, was wenn alles anders als vorhergesehen werden würde?

„Leo? Du wirst doch jetzt keine kalten Füße bekommen. Du weißt, wie viel auf dem Spiel steht“, Mitch sah ihn herausfordernd an.

„Alles ist gut. Ich werde jetzt gehen und alles für die Rückkehr der Boten vorbereiten.“

Leo ging los, Mitch und Kate sahen ihm hinterher.

„Hoffen wir, dass er nicht den Kopf verliert“, murmelte Mitch und seufzte.

Als Leo wieder in seinem Büro saß, suchte er alles für seine neue Aufgabe heraus. In den letzten 16 Jahren hatte er so viel vorbereitet, ohne genau zu wissen, für was er sich bereit machte.

Er hatte die letzten 16 Jahre alles gegeben, um sich dieser Aufgabe zu widmen. Als Leo 20 Jahre alt gewesen war, hatten sie in ganz Vancouver nach unabhängigen Menschen für eine sehr bedeutende Aufgabe gesucht und er hatte sich freiwillig gemeldet. Er hatte Mitch direkt geholfen, ohne große Fragen zu stellen. Er war froh, endlich einen Platz und eine Aufgabe in dieser Welt gefunden zu haben. Leo war ausgebildet worden und hatte eine eigene Abteilung bekommen. Nun sollte er sein Wissen weiter geben. Er lebte für seinen Job, doch was wäre, wenn er einen ganz normalen Beruf gelernt und vielleicht eine Familie gegründet hätte.

Leo hatte Angst. Angst vor dem, was ihn erwarten würde, wenn er würde mit acht auserwählten Jugendlichen die Welt vor einem grausamen Schicksal bewahren sollte. Ein Schicksal, dessen Ausmaß keiner wirklich kannte. Er würde sie ausbilden und sie auf ihrer bevorstehenden Reise zu einem noch unbekannten Ort begleiten.

Er würde kämpfen und vielleicht sogar töten müssen und das war das, was ihm am meisten zu schaffen machte. Leo war immer ehrlich und sozial gewesen, er hatte nie einem Tier auch nur etwas angetan und jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er mit den Jugendlichen einen Wolf suchen sollte, und im schlimmsten Fall, musste er diesen Wolf zu ihrer eignen Sicherheit umbringen. Jedoch war dieses Tier kein normaler Wolf mehr. Es war eine Bestie, die laut den Medien am Nachmittag in der Stadt herumgeschlichen war. Das Tier hatte scharfe, hervorstehende Zähne, die Ohren waren größer als bei einem normalen Wolf und die Tatzen hatten überdimensional große Krallen.

Es war kein normaler Wolf mehr und jetzt schon verbreitete er Angst und Schrecken in den Medien. Die graue Bestie mit dem schwarzen Streifen auf dem Rücken unterschied noch etwas von dem alten Wolf: Die Augen waren vollkommen leer. Alles war weiß und mit dünnen, roten Adern durchzogen. Er wirkte gruselig und gefährlich, jedoch auch verletzbar und verunsichert.

Der Wolf war zurück und jeder stellte sich nur noch eine Frage: Werden die anderen Wölfe auch zurückkommen und werden sie sich genauso verändert haben?

Leo schaute durch sein Fenster auf die Stadt. Mittlerweile war es schon dunkel geworden und auf den Straßen liefen die Menschen hin und her. Sie erwarteten das große Feuerwerk und somit das Jahr 2016. Nur Leo wartete nicht darauf, dass es 2016 wurde, denn dann waren vier Schaltjahre vergangen, seit die Wölfe geflohen waren, und er wusste, im nächsten Jahr würde alles anders werden.

Der letzte Wolf war zurück und mit ihm würde sich alles verändern.

2

Washington D. C. – 01.01.2016

Als der erste Bote das Flughafengelände in Washington verließ, war es noch dunkel. Erst in ein paar Stunden würde die Sonne aufgehen. Der Bote machte sich auf den Weg zu dem nächsten Hotel. In den Straßen waren nur noch ein paar Leute unterwegs, die gut gelaunt und laut grölend den Jahreswechsel feierten. Im Hotel angekommen legte er sich in sein Bett und versuchte ein wenig zu schlafen, jedoch gelang es ihm nicht. Fast zwei Stunden wälzte er sich nur in seinem Bett herum und konnte kein Auge zu machen. Schließlich stand er auf, holte den Brief aus seiner Tasche und gab die Adresse in sein Handy ein. Die Straße befand sich nur ein paar Kilometer von seinem Hotel entfernt.

Der Bote schnappte sich seine Jacke, das Handy und den Brief, dann verließ er das Hotel und lief durch die Straßen Washingtons.

Als die Sonne etwa eine Stunde später aufging, stand der Bote vor einem hellblau gestrichenen Einfamilienhaus. Alles war still und die Bewohner schienen noch zu schlafen, dennoch musste er sie jetzt wecken. Es musste so schnell wie möglich gehen, denn Leo und vor allem Mitch würden sicher nicht lange auf ihre Schützlinge warten wollen.

Langsam ging er auf das Haus zu. Vor der Tür blieb er stehen und holte noch einmal tief Luft, ehe er klingelte. Lange Zeit passierte gar nichts, dann wurde ein Licht angemacht und ein Mann öffnete die Tür. Er hatte schwarzes Haar, welches wirr in alle Richtungen abstand.

„Morgen? Kann ich Ihnen helfen?“, murmelte der Mann und rieb sich verschlafen die blauen Augen.

„Guten Morgen. Es tut mir leid, dass ich Sie so früh stören muss, aber ich muss dringend mit ihrem Sohn sprechen.“

„Mit Andrew? Hat er was angestellt? Wer sind Sie überhaupt?“, der Mann schaute den Boten mit gerunzelter Stirn an.

„Nein, aber es ist wichtig. Ich muss mit ihm reden! Er wird heute 16, oder?“

Der Mann nickte nur, dann ging er beiseite und bat den Boten mit einer Handbewegung ins Haus. Sie gingen eine Treppe hoch und der Mann klopfte an eine Tür.

„Andy? Bist du wach?“

Es raschelte kurz, dann ging die Tür mit einem leisen Quietschen auf und ein Junge trat auf den Flur. Er sah seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich, dieselben wuscheligen, schwarzen Haare und stechend blaue Augen.

„Happy Birthday, mein Junge!“, der Mann nahm seinen Sohn in den Arm und drückte ihn herzlich.

„Danke. Wer ist das Dad?“, der Junge nickte zu dem Boten.

„Der Mann möchte mit dir sprechen. Wenn was ist, deine Mutter und ich sind unten und machen Frühstück.“

Das Zimmer des Jungen war sehr aufgeräumt, nur auf einem Schreibtisch stapelten sich ein paar Hefte und Ordner. In einem Bücherregal standen nur wenige Bücher und fast alle waren noch in Folie eingeschweißt.

„Liest du nicht gerne?“, der Bote deutete auf das Bücherregal.

„Ne, nicht so mein Ding“, murmelte der Junge und schaute zu Boden.

Der Bote ließ seinen Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen, dann zog er den Brief hervor.

„Der hier ist für dich. Es ist sehr wichtig, sowohl für dich als auch für uns in Vancouver, der Stadt, aus der ich komme. Gleich würde ich gerne noch einmal mit deinen Eltern sprechen“, er gab dem Jungen den Brief. Dieser sah ihn einen Moment an, dann gab er ihn dem Boten zurück.

„Ich glaube nicht, dass der für mich bestimmt ist.“

„Du bist doch Andrew Turner? Und du wurdest am 01.01.2000 hier in Washington geboren. Um genau drei Uhr morgens“, sagte der Bote und der Junge hob den Kopf.

„Woher wissen Sie das?“, Andrew sah den Boten misstrauisch an, stand dann auf und ging zur Tür, „Ich glaube, es wäre besser, wenn wir alles Weitere zusammen mit meinen Eltern besprechen.“

Der Frühstückstisch war schon gedeckt und in der Mitte des Tisches stand ein Kuchen mit bunten Streuseln und Zuckerperlen. Eine Frau mit roten Locken und einer bunten Schürze stand an einem Herd und machte gerade Spiegeleier. Als Andrew den Raum betrat, stellte sie den Herd aus und ging auf ihn zu.

„Alles Gute, mein Schatz! Jetzt bist du schon 16 Jahre alt!“, sie drückte ihn an sich und eine Träne kullerte ihr die Wange herunter. Dann gab sie ihm einen Kuss und setzte sich an den Tisch.

„Mum? Dad? Der Mann hier hat eine wichtige Nachricht für uns. Es steht in einem Brief, doch ich würde es besser finden, wenn ihr den Brief lest.“

Die Frau nickte ihm zu und musterte dann den Boten, dieser hielt ihr den Brief entgegen.

Langsam öffnete die Frau den Umschlag. Es kam ein Flugticket und ein Zettel zum Vorschein. Letzteren faltete sie vorsichtig auf und begann dann laut vorzulesen:

„Andrew Turner,

geboren am 01.01.2000 um 03:00 Uhr in Washington D.C.

Nach der Zeit in Vancouver wurdest du genau um Mitternacht zur Jahrtausendwende geboren. Laut einer Prophezeiung ist dies die Zeit von acht Jägern. Diese Jäger haben die Aufgabe, Vancouver vor einer großen Katastrophe zu bewahren und genau deswegen wurde dir dieser Bote geschickt.

Du wirst, so schnell es geht, mit dem Boten nach Vancouver fliegen, um dort mit einem ausgebildeten Lehrer für deine Aufgabe zu trainieren. Dein Flugticket liegt mit bei.

Die Schule wird von uns informiert und du wirst natürlich für den entsprechenden Zeitraum freigestellt.

Deine Aufgabe wird nicht leicht sein, sei dir dessen bewusst.

Bitte steh uns dennoch bei.

Mitch Williams & Leo East“

Es wurde still im Raum, nur eine alte Wanduhr tickte leise. Andrew brach das Schweigen.

„Ich mache es!“, sagte er mit fester Stimme.

„Andy, du kannst nicht einfach mit einem wildfremden Mann nach Vancouver reisen! Und das ohne zu wissen, was dich erwartet!“, meinte Andrews Vater laut und ballte die Hand zur Faust. Er sah den Boten an. Dann riss er seiner Frau den Brief aus der Hand und gab ihm den Boten zurück.

„Bitte gehen Sie jetzt!“, er packte den Boten am Kragen und schob ihn zur Tür raus.

„Dad! Ich möchte das machen. Seit meiner Geburt werde ich hier festgehalten und ich hatte nie die Möglichkeit wirklich aus Washington herauszukommen. Ich möchte diese Herausforderung annehmen und mit dem Mann nach Vancouver reisen!“, Andrew schaute seinen Vater direkt an. Dieser ließ den Boten nur widerwillig los und sah seine Frau fragend an. Sie saß am Tisch und schluchzte leise.

„Ich möchte, dass du glücklich bist. Aber ich will dich nicht verlieren!“, sie stand auf und schloss ihren Sohn in die Arme, „Was ist das eigentlich für eine Aufgabe?“

„Darüber darf ich noch nicht reden. Aber wir werden sie in einigen Briefen von der Situation in Vancouver unterrichten. Und ihr Sohn wird den besten Lehrer haben, er wird gut auf ihn aufpassen“, der Bote schaute erst Andrew, dann seine Eltern an.

Andrews Vater seufzte, dann ging er in einen kleinen Abstellraum und kam mit einem Koffer und einem Rucksack wieder.

„Ich hoffe, dass ich die Entscheidung nicht bereuen werde. Aber wenn das der Weg ist, den du gehen möchtest, dann will ich dir nicht im Weg stehen!“, er umarmte seinen Sohn und ließ sich dann wieder auf einen der Küchenstühle sinken.

Andrew schleppte den Koffer nach oben in sein Zimmer, der Bote blieb mit den Eltern in der Küche. Keiner sagte ein Wort, dann drehte sich der Bote so um, dass er die Eltern genau ansehen konnte. Er nickte ihnen zu und auch das Ehepaar Turner nickte. Daraufhin verschwand der Bote im Flur, um auf Andrew zu warten. Als dieser die Treppe herunterkam und den Koffer polternd hinter sich herzog, umarmte er noch ein letztes Mal seine Eltern und verschwand dann zur Tür. Der Bote reichte Andrews Vater die Hand, dieser nahm sie an und ihre Blicke trafen sich erneut. Der Mann vor dem Boten wusste, was er da tat, doch die Angst in seinem Blick war nicht zu übersehen. Andrews Mutter hingegen verschwand wieder in der Küche, teilte den Kuchen und legte zwei Stückchen in eine Dose. Diese gab sie dem Boten und sah ihn ebenfalls an. Doch ihr Blick war nicht ängstlich, er war traurig und dennoch stark. Der Bote nahm die Dose an und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Eine Stunde später saßen der Bote und Andrew im Flugzeug und warteten auf den Start. Zuvor hatten sie im Flughafengebäude gewartet und schweigend den Kuchen gegessen. Nun handelte es sich nur noch um ein paar Stunden, dann würde er mit Andrew Turner in Vancouver sein und sein Auftrag würde erfüllt sein.

Als das Flugzeug abhob, schaute Andrew aus dem Fenster und sah, wie die Stadt, die er noch nie verlassen hatte, unter ihm immer kleiner wurde und schließlich unter den Wolken verschwand. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde, aber er wusste, dass er dieses Abenteuer wagen wollte.

„Warum Jäger? Was soll das bedeuten? Jagen wir wirklich? Haben wir eine Reise gewonnen?“, brach Andrew nach einiger Zeit das Schweigen und wartete auf die Antwort des Boten.

„Ihr habt nichts gewonnen. Ihr wurdet vom Schicksal ausgewählt, eine wichtige Aufgabe zu lösen. Du wirst noch früh genug alle wichtigen Details erfahren“, antwortete der Bote und lächelte Andrew an. Dieser gab sich mit der Antwort vorerst zufrieden und holte einen MP3-Player aus seiner Tasche.

3

London – 01.01.16

Gegen Mittag landete das Flugzeug im verschneiten London. Der zugehörige Bote bestellte sich ein Taxi und ließ sich zu dem Adressaten des Briefes bringen. Als das Taxi hielt, stand er vor einem vergoldeten Tor. Hinter dem Tor führte eine breite Auffahrt zu einer großen Villa. Als der Bote ausstieg und auf das Tor zuging, knirschte der Schnee unter seinen Schuhen. Er versuchte das Tor zu öffnen, doch es war fest verschlossen. War das hier die richtige Adresse? Er holte den Brief raus und überprüfte die Anschrift. Doch hier war er richtig. Der Bote suchte nach einer Klingel und fand schließlich auch eine: Ein kleiner goldener Knopf befand sich am Rand des Tors, darüber waren eine kleine Kamera und ein Lautsprecher installiert.

„Guten Tag, mit wem spreche ich bitte?“, erklang eine helle Männerstimme.

„Ich komme aus Vancouver, Sir. Ich komme, um Mr. Jason Parker eine wichtige Nachricht zu überbringen“.

„Wer schickt Sie?“

„Mitch Williams und Leo East, Sir“

„Warten Sie bitte“

Wenig später kamen zwei Männer auf das Tor zu, öffneten dies und begrüßten den Boten. Daraufhin wurde er von den Männern durchsucht und er musste sich ausweisen.

Und dann endlich stand er in einer großen Eingangshalle und wartete auf Jason Parker. Das Haus war prunkvoll eingerichtet und alles war übertrieben sauber und es roch nach Putzmittel und Parfüm. Ein Mann in einem Anzug schritt am anderen Ende der Halle auf und ab und behielt den Boten im Blick.

„Sie haben eine Nachricht für mich?“, ein Junge mit kurzen, braunen Haaren und dunkelbraunen Augen, kam in die Halle. Er trug eine dunkle Jeans und ein hellblaues Hemd. Er hielt dem Boten die Hand hin.

„Ja, ich bin hier, um dir diesen Brief zu überbringen. Bitte lies ihn jetzt!“

Der Junge nahm den Brief entgegen und öffnete ihn. Dann überflog er den Text.

„Ich soll also nach Vancouver reisen? Wie lange soll diese Reise denn dauern, ich habe nämlich noch einige Termine, die ich unbedingt wahrnehmen muss“, er sah den Boten herausfordernd an.

„Das kann ich dir zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Es ist aber sehr wichtig, dass du mit nach Vancouver kommst“, erklärte der Bote und wartete auf die Antwort des Jungen.

„Warten Sie bitte hier. Ich werde einen Moment darüber nachdenken müssen“, der Junge verschwand in einem der angrenzenden Räume. Es war genau der Raum, vor dem der Mann im Anzug Wache hielt.

Erst nach einer Weile kam er wieder zu dem Boten in die Eingangshalle zurück.

„Ich habe mich entschieden. Ich werde diese Reise antreten, aber in einem Monat muss ich wieder hier sein“, der Junge hielt dem Boten einen Umschlag hin, „Und wir fliegen First-Class nach Vancouver!“

Eine Stunde verging, dann kam Jason endlich mit seinen Koffern zurück.

„Hast du eigentlich deine Eltern gefragt“, der Bote rollte die Koffer hinter ihm her, während sie die Einfahrt heruntergingen.

„Denen ist das egal. Ich war vor einigen Jahren schon einmal in Vancouver und sie wissen, dass ich es liebe zu reisen.“

„Du weißt aber, dass das hier keine Sightseeingtour sein wird. Du hast eine ernst zu nehmende Aufgabe“, der Bote musterte Jason.

„Natürlich weiß ich das. Aber Sie müssen wissen, dass ich bisher jede Aufgabe erfolgreich lösen konnte. Ich kann einfach alles!“

Ein großer schwarzer Wagen fuhr vor und ein Fahrer stieg aus, um Jason und dem Boten die Türen zu öffnen. Jason stieg, ohne zu zögern ein und machte es sich bequem. Der Bote nahm neben ihm Platz und wirkte etwas fremd in dem protzigen Auto. Dann ging die Fahrt los.

„Wer sind die anderen, von denen im Brief die Rede ist?“, fragte Jason.

„Sie kommen aus der ganzen Welt und wurden zur gleichen Zeit wie du geboren. Ihr werdet in Vancouver aufeinandertreffen und dort zusammen arbeiten“, antwortete der Bote und sah Jason von der Seite an.

Dieser blickte jedoch nur aus dem Fenster und wirkte plötzlich etwas abwesend.

Machte er sich etwa doch Gedanken? Der Bote ließ ihn in Ruhe und lehnte sich zurück. Er hatte seine Aufgabe fast erfüllt, Jason musste nur noch in das Flugzeug einsteigen.

Am Flughafen angekommen, stiegen sie aus und liefen direkt zu ihrem Gate. Nur wenige Minuten später wurde dem Boten klar, dass es kein normaler first-class Flug werden sollte: Jason wurde von einem Flughafenbeamten zum Flugzeug und in einen Extra-Bereich des first-class-Bereichs gebracht. Der Bote trottete hinter ihm her.

„Alles Gute zum Geburtstag!“, sagte der Bote, nachdem sie sich hingesetzt hatten.

„Danke“, Jason nickte.

„Was ist mit deinen Eltern?“

„Das sagte ich doch bereits, ihnen ist es egal. Sie sind heute nicht in England gewesen. Sie haben viele Termine und so“, Jason öffnete einen Mini-Kühlschrank, zog eine Cola raus und öffnete sie mit einem lauten Plopp.

„Was machen deine Eltern eigentlich beruflich?“, der Bote schaute Jason erwartungsvoll an, dieser nahm erst mal einen großen Schluck von seiner Cola und drehte sich dann weg. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder dem Boten zu wendete.

„Meine Eltern besitzen viel Land hier in England und gehören einem Herzogtum an. Nur einem kleinen, aber einem Wichtigen. Irgendwie sind sie immer unterwegs und da kommt mir eine Reise gerade recht. Ich werde jetzt ein paar Filme schauen, bedienen Sie sich bitte“, antwortete Jason schließlich, dann nahm sich ein paar Kopfhörer aus seiner Tasche und stöpselte diese in einen Bildschirm, der gegenüber von seinem Sitz angebracht war. Nur ein paar Minuten später war er in einen Film vertieft. Schließlich lehnte sich auch der Bote entspannt nach hinten. Er hatte seinen Auftrag erledigt.

4

Paris – 01.01.2016

In Paris landete der Flieger nur ein paar Minuten später als das Flugzeug in London. Der Bote in Frankreich machte sich ebenfalls sofort auf die Suche nach seinem Schützling.

In einem Viertel in der Nähe des Eiffelturms, wurde er schließlich fündig. Hier wohnte Cecilie de Chantal. Der Bote klingelte und sofort wurde ihm die Tür geöffnet und ein kleines Mädchen stand vor ihm, sie hatte ihre braunen Haare in zwei Zöpfe geflochten. Sie blickte mit Kulleraugen zu ihm rauf und wiegte sich mit ihrem hellblauen Kleidchen hin und her.

„Sind Sie auch ein Gast von Cecilie?“, fragte sie und strahlte den Boten an.

„So ähnlich, ich bringe ihr eine Nachricht. Kann ich sie sprechen?“, der Bote kniete sich zu dem Mädchen hin. Dieses grinste kurz, dann lief es weg und kam wenig später mit einer Frau wieder. Die Frau trug eine edle Bluse und Jeans, hatte jedoch, anders als das kleine Mädchen, blonde Haare.

„Sie wollen meine Älteste sprechen? Worum geht es denn?“, fragte die Frau und lächelte freundlich.

„Ich überbringe ihr eine wichtige Nachricht. Sie muss so schnell es geht nach Vancouver reisen. Aber alle wichtigen Informationen finden Sie hier in diesem Brief“, er übergab den Brief. Die Frau las den Brief und wendete sich dann wieder an den Boten.

„Wie lange müsste sie in Vancouver sein?“, fragte sie und überflog den Brief erneut.

„Es ist noch unklar, wie lange sie in Vancouver bleiben wird“, erklärte der Bote. Die Frau schüttelte den Kopf und gab den Brief zurück.

„Es tut mir leid, aber meine Tochter kann nicht mitkommen. Sie hat eine starke Sehbehinderung und kann diese Herausforderung nicht annehmen. Sie ist auf Hilfe angewiesen und da können ihr die anderen Jugendlichen oder irgendein Trainer auch nicht helfen.“, sagte sie und sah den Boten durchdringend an.

„Bitte, wenn ich ohne sie nach Vancouver zurückkomme, bin ich nicht nur meinen Job los, sondern der gesamte Plan und die Mission können nicht durchgeführt werden!“, flehte der Bote die Frau vor ihm an.

„Kann das nicht irgendein anderes Mädchen machen? Warum ausgerechnet meine Tochter?“

„Sie wurde dazu auserwählt!“

„Jaja von dieser Prophezeiung. Aber glauben Sie mir, sie kann nicht! Was soll sie denn machen? Sie kann Ihnen nicht helfen!“, die Frau lächelte noch einmal schwach.

„Bitte!“, der Bote starrte sie an und für einen Moment schien es so, als wolle Cecilies Mutter noch etwas sagen, dann senkte sie den Blick.

„Es tut mir leid!“, mit diesen Worten schloss sie die Tür.

Der Bote klingelte noch einmal, doch keiner machte ihm auf. Nach längerem Warten gab er auf und verschwand. Eine Zeit lang strich er durch die Gassen und Straßen von Paris. Doch letztendlich stand er wieder vor der Wohnungstür von Cecilie. Er starrte eine Weile einfach nur auf das Haus, unschlüssig, wie er nun handeln sollte, um Cecilies Mutter zu überzeugen. Schließlich trat er wieder vor und klingelte zum dritten Mal an diesem Tag an der Tür von Familie de Chantal. Diesmal öffnete ihm direkt Cecilies Mutter, doch als sie den Boten sah, wollte sie direkt wieder verschwinden.

„Bitte warten Sie! Unser Trainer ist dafür ausgebildet und wir werden auch mit der Behinderung ihrer Tochter klarkommen. Ohne sie kann es sein, dass bald etwas Schlimmes in Vancouver passieren wird! Wir brauchen sie und ich glaube, Sie würden sie gehen lassen, doch Sie haben Angst, dass sie selbst damit nicht klarkommt“, der Bote redete schnell und hielt die Tür dabei fest, damit die Frau diese nicht direkt schließen konnte. Während er sprach, schaute er der Französin fest in die Augen.

Seufzend ging die Frau beiseite und ließ den Boten rein.

„Ja, natürlich habe ich Angst. Sie ist meine Tochter. Aber Sie können ja mit ihr selbst einmal reden. Ich muss mir das aber alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Und bitte verstehen Sie meine endgültige Entscheidung!“

In dem Zimmer von Cecilie gab es keine Bücher, Bilder oder Poster. Dafür gab es eine große Musikanlage und eine gigantische Sammlung von CDs und Hörbüchern. Auch sämtliche Schulbücher gab es im Audio-Format. Cecilie saß mit ihrer kleinen Schwester auf ihrem Bett und unterhielt sich mit ihr. Sie hatte braune, glatte Haare, die ihr nur bis zum Kinn gingen. Ihre Augen wurden von einer großen Sonnenbrille versteckt gehalten.

„Cecilie? Ich bin hier, weil ich eine Nachricht für dich habe“, der Bote war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte.

„Bitte reden Sie weiter“, die sanfte und dennoch starke Stimme des zierlichen Mädchens drang zu ihm.

„Du und sieben weitere Jugendliche aus der ganzen Welt wurden genau zur Jahrtausendwende geboren. Zumindest nach der Zeit in Vancouver. Und laut einer Prophezeiung seid ihr die Auserwählten, die eine Aufgabe haben und zusammen nach Vancouver reisen müssen. Deine Mutter meint, du solltest diese Reise eher nicht antreten“, für einen Moment schaute er das Mädchen an und er hatte das Gefühl, auch sie würde direkt zu ihm blicken.

Cecilie stand auf und ging selbstsicher zur Tür.

„Warten Sie bitte“, sie verschwand aus dem Zimmer und man konnte hören, wie sie sich mit ihrer Mutter unterhielt.

„Gibt es eine Möglichkeit, mit meiner Tochter Kontakt zu haben?“, Cecilies Mutter kam wieder in das Zimmer, ihre Augen waren rot und verquollen, sie hatte wohl geweint.

„Wir werden regelmäßig Briefe schreiben und sie können auch miteinander telefonieren und in Kontakt stehen“, antwortete der Bote.

„Okay, dann haben wir uns entschieden. Sie wird mitfliegen, sollte es ihr jedoch nicht gut gehen oder sie mit etwas nicht klarkommen, dann möchte ich, dass sie sofort zurück nach Paris kommt! Egal, wie wichtig das alles ist. Ihr Leben ist in meinen Augen wichtiger, ansonsten werden sie gewaltige Probleme haben!“, Cecilies Mutter sah den Boten ernst an. Dieser nickte ihr zu.

Wenig später stand Cecilie mit einem Koffer und einer Reisetasche im Flur und verabschiedete sich von ihrer Schwester und ihrer Mutter.

Dann ging sie mit dem Boten aus dem Haus und wartete auf das Taxi.

„Warum kommst du jetzt doch mit?“, fragte der Bote.

„Ich wollte immer normal sein, so wie alle anderen auch. Ich habe eine normale Schule besucht und habe sämtliche Herausforderungen im Leben angenommen und geschafft. Ich möchte auch diese hier annehmen. Ich möchte nicht nur, weil ich anders bin, jemanden in Stich lassen oder jemandem ein Problem bereiten. Ich weiß nicht, was auf mich zukommen wird und Sie werden es mir wahrscheinlich nicht verraten, aber ich bin nicht dumm. Ich bin vielleicht fast blind, aber das ist mir egal, ich bin auch so stark genug.“

Cecilie wirkte so sicher, als sie sprach. Sie schien wirklich eine Kämpferin zu sein.

Auch am Flughafen bewegt sie sich selbstsicher und wie selbstverständlich durch die Menschenmassen und zu dem Flieger hin. Als wäre sie ganz normal und das bewunderte den Boten. Fast vergaß er dadurch, sich über seinen eigenen Erfolg zu freuen.

5

Warschau – 01.01.2016

Am Nachmittag landete schließlich Bote Nummer vier in Warschau. Zu Fuß machte er sich direkt auf den Weg. Nach einer dreiviertel Stunde kam er in eine kleine, ärmliche Siedlung am Rande der Stadt. Vor einem grauen Hochhaus blieb er stehen. An der Fassade zogen sich mehrere Risse durch den Putz. Das war also das Zuhause von Paul Kozlowski. Er suchte nach einer Klingel. Nachdem er diese betätigt hatte, surrte es kurz und die Tür sprang einen Spalt auf. Dann trat er in das Mehrfamilienhaus ein. Im Flur war es eiskalt und von überall her drangen laute Stimmen zu ihm. Der Aufzug war mit einem Absperrband versehen. Auf Polnisch stand etwas darauf, was der Bote nicht verstehen konnte. Er lief bis in den siebten Stock zu Fuß. Die Tür zu der Wohnung stand schon offen und eine alte, gebrechliche Frau stand vor der Tür und musterte den Boten verunsichert.

„Kann ich Ihnen helfen?“, die Frau wirkte ängstlich.

„Ich suche nach einem Paul Kozlowski, wohnt er hier? Ich muss dringend mit ihm reden.“

„Paul ist mein Enkel. Was wollen Sie von ihm? Sind Sie vom Jugendamt?“, die Frau fing an zu zittern und stützte sich an dem Türrahmen ab.

„Keine Panik, ich bin nicht vom Amt. Bitte lassen Sie mich rein, dann kann ich alles erklären. Es ist wirklich dringend“, in dieser Sekunde öffnete sich eine Tür hinter der alten Frau und ein kleiner, blonder Junge kam heraus.

„Was ist los, Oma?“, als der Junge den Boten erblickte, zuckte er zusammen. Seine hellgrünen Augen weiteten sich.

„Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Du bist Paul, oder?“

Der Junge nickte und beruhigte sich etwas.

„Kommen Sie bitte herein“, der Junge nahm seine Großmutter an der Hand und half ihr durch die Wohnung. An der Seite im Flur standen Umzugskartons und mehrere Kisten.

In einer kleinen Küche stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Alles sah alt und grau aus, nur ein Blumenstrauß auf dem Tisch brachte etwas Farbe in die Küche.

Paul half seiner Oma, sich hinzusetzten, dann drehte er sich wieder zu dem Boten um.

„Was wollen Sie von mir?“, die Stimme des Jungen war stark und dennoch wirkte er unsicher.

„Ich bin hier, um dir diesen Brief zu geben. Ich würde dich bitten, ihn jetzt zu lesen. Und du musst dich dann auch schnell entscheiden!“, der Bote hielt Paul den Brief hin und Paul nahm ihn vorsichtig in die Hand. Dann öffnete er den Umschlag, setzte sich neben seine Oma und las.

„Ich habe mich entschieden: Ich werde nicht mitkommen. Meine Großmutter braucht mich hier und ich kann Sie einfach nicht alleine lassen. Es tut mir leid!“, meinte Paul und streichelte sanft die gebrechliche Hand seiner Oma.

„Ich verstehe deine Entscheidung. Aber bitte überdenke es noch mal. Es geht um so viel.“, der Bote schaute von Paul zu seiner Oma und wieder zurück.

„Ich kann nicht, das hier ist für mich viel wichtiger. Und das ist mein letztes Wort!“, schnaubte Paul, stand auf und ging zur Wohnungstür, „Bitte gehen Sie jetzt!“

Draußen fiel sanft der Schnee auf die Straßen und es war kälter geworden. Der Bote war verzweifelt, er hatte es nicht geschafft, Paul zu überzeugen. Er hatte in Pauls Augen eine Angst und eine Kraft gesehen, die ihm sagte, dass er seine Großmutter unter keinen Umständen verlassen würde. Was sollte er jetzt tun? Er konnte nicht ohne Paul nach Vancouver zurückkehren. Doch er wollte auch nicht nach dem ersten Versuch direkt aufgeben. Er musste es irgendwie schaffen, doch zu dem Jungen hindurch zu dringen. Er sah sich um, sah eine Kneipe am Ende der Straße und steuerte diese an.

Obwohl es noch nicht einmal Abend war, war die Kneipe gut besucht und schon ein paar der Gäste waren angetrunken und lachten laut. Der Raum war dunkel und der Qualm von Zigaretten machte die Sicht ein wenig diesig. Es roch nach Alkohol und Zigaretten. In einer Ecke war noch ein kleiner Tisch frei, an dem der Bote Platz nahm. Er stand direkt an einem Fenster, von dem aus er auf das Wohnhaus von Paul blicken konnte.

Eine etwas dickliche Kellnerin kam und der Bote bestellte nur eine Cola. Als die Bedienung wieder verschwunden war, holte er sein Handy aus der Jackentasche. Sollte er Leo direkt anrufen und ihm von seiner Lage berichten oder sollte er es erst noch einmal probieren?

Seine Cola kam. Er hatte sich noch immer nicht entschieden. Was sollte er tun?

Schließlich trank er seine Cola in nur einem Zug aus, bezahlte und verließ die Kneipe wieder.

Draußen wurde es schon dunkel und es schneite immer heftiger.

Er trat auf die Straße und verharrte einen Moment vor dem grauen Mehrfamilienhaus. Er musste noch einmal mit Paul reden.

Der Bote wollte gerade wieder an der Tür klingeln, als ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene um die Ecke in die Straße fuhr und vor dem Haus zum Stehen kam. Die Tür sprang auf und zwei Sanitäter sprangen aus dem Wagen.

Der Bote sprang zur Seite, damit die Sanitäter an der Tür klingeln konnten, welche ihnen direkt geöffnet wurde. Sie rannten durch das kalte, graue Treppenhaus nach oben.

Der Bote stand vor der offenen Haustür und starrte das Treppenhaus hinauf. Er hörte, wie die Sanitäter die Treppen hoch sprinteten und erst nach einer Weile stoppten. Auch der Bote folgte ihnen nun langsam die Treppe hoch.

Im siebten Stock waren alle drei Türen weit geöffnet und vor zwei Wohnungstüren standen mehrere Leute und gafften erst den Boten blöd an und dann auf die dritte Tür im Flur.

Die dritte Tür war die von Paul Kozlowski und seiner Großmutter.

Ein Mann murmelte etwas und alle anderen nickten ihm zustimmend zu und flüsterten weiter miteinander. Der Bote verdrehte die Augen.

„Sind Sie vom Jugendamt?“, fragte eine junge Frau in gebrochenem Englisch und sah den Boten arrogant an.

Dieser drehte sich nur wortlos um und betrat die Wohnung von Paul.

„Was machen Sie hier?“, Paul kam ihm im Flur entgegen, starrte ihn entsetzt an und schluchzte leise. In der kleinen Küche sah der Bote Pauls Großmutter auf dem Boden liegen, neben ihr hockten die Sanitäter.

„Was ist passiert? Kann ich helfen?“

„Sie können nicht helfen! Sie sind doch eh nur hier, um mich zu überzeugen, dass ich mit Ihnen mitkomme. Ich sage Ihnen, ich gehe nicht mit nach Vancouver. Nicht so lange meine Großmutter mich braucht!“, die Stimme des Jungen bebte vor Wut. Er drehte sich um und ging zu den Sanitätern zurück.

Der Bote stand draußen auf der Straße und starrte die Tür des Mehrfamilienhauses an.

Einige Minuten später öffnete sich diese, und die Sanitäter kamen heraus, holten eine Trage und verschwanden wieder in dem grauen Wohnhaus.

Der Bote stapfte ungeduldig im Schnee auf und ab. Die Kneipe gegenüber füllte sich langsam immer mehr und laute Stimmen und Gelächter drangen auf die Straße. Der Wind wirbelte den Schnee auf und pustete ihn in das Gesicht des Boten.

Es wirkte unheimlich hier draußen. Doch wie würde es erst werden, wenn er es nicht schaffte, Paul mit nach Vancouver zu nehmen.

Die Tür ging auf und die Sanitäter kamen heraus: Sie trugen Pauls Großmutter auf der Trage. Paul ging hinter ihnen her. Seine Großmutter wurde in den Rettungswagen geschoben und die Türen wurden zu geklappt. Paul wollte noch einsteigen, wurde jedoch nur grob zur Seite geschoben, dann stiegen die Sanitäter ein und ließen den Jungen auf der Straße stehen. Paul stand im Schnee und blickte dem davonfahrenden Rettungswagen hinterher. Er starrte immer noch auf die Straße, als man die Sirenen schon nicht mehr hören konnte.

Erst Minuten später drehte er sich langsam um und erblickte den Boten auf der anderen Straßenseite. Er sah ihn verzweifelt an und ging dann mit hängendem Kopf zurück ins Haus.

Der Bote sah sich um, er wollte Paul jetzt nicht noch weiter nerven. Er rief mit dem Handy ein Taxi und wartete dann. Er hatte seine Mission nicht erfüllt.

Als das Taxi kam, stieg er ein und gab dem Fahrer die Adresse eines Hotels. Langsam fuhr das Taxi los, wie auch in der Kneipe, roch es nach Zigaretten und Alkohol. Der Fahrer trug schwarze, kaputte Kleidung und summte leise ein Lied vor sich hin. Er fuhr so langsam, dass man zu Fuß schneller gewesen wäre.

Plötzlich hörte der Bote eine Stimme. Er sah aus dem Fenster und sah Paul mit einem Rucksack auf dem Rücken neben dem Taxi laufen.

„Halten Sie an!“

Das Taxi kam unmittelbar zum Stehen und Paul stieg ein. Der Bote sah ihn fragend an.

„Oma ist tot. Was hält mich denn jetzt noch hier?“, sagte er und würdigte den Boten keines Blickes.

Schweigend fuhren sie weiter.

6

Berlin – 01.01.2016

Zur gleichen Zeit wie in Warschau landete auch in Berlin der Flieger aus Vancouver. Der Bote fuhr in ein Internet-Café und recherchierte nach seinem Schützling. Melissa Schmidt war ein normales Mädchen, welches sich in der Schule sehr für Hilfsprojekte engagierte. Mehr konnte er nicht über sie erfahren.

Er machte sich schließlich auf den Weg zu ihr.

An ihrer Haustür hingen ein paar bunte Luftballons und eine Geburtstagsgirlande. Es roch nach frisch gebackenem Kuchen und nach Schnee. Als er klingelte, öffnete ein blondes Mädchen ihm die Tür.

Sie drehte sich um und schüttelte mit dem Kopf. Hinter ihr huschten einige andere Mädchen weg.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte das Mädchen und lächelte ihn freundlich an.

„Du bist Melissa Schmidt, oder?“

Sie nickte.

„Darf ich hereinkommen?“

Sie nickte wieder und er trat ein. Hinter ihr tauchten ihre Eltern auf. Eine schmale, große Frau mit ebenso blonden Haaren wie Melissa, hielt ein Handtuch in der Hand und wischte sich gerade die Hände daran ab. Ein Mann, etwas kleiner als die Frau, strich sich mit großen Händen über seinen Schnauzbart. Beide musterten den Boten verwundert.

„Sind Sie von der Hilfsorganisation, bei der ich mich beworben habe? Ich dachte, wir stehen per E-Mail in Kontakt? Habe ich das Praktikum bekommen?“, plapperte Melissa aufgeregt los und bat den Boten in das Wohnzimmer. Ihre Eltern folgten ihnen. In einem kleinen Kamin knisterte ein Feuer und auf einem Tisch standen mehrere Snacks und Getränke. Eine riesige 16 aus pinker Pappe hing an einem hohen Bücherregal.

„Alles Gute zum Geburtstag! Und nein, ich komme nicht von einer Hilfsorganisation. Aber von so etwas Ähnlichem. Ich komme aus Vancouver und habe einen Brief für dich“, der Bote gab Melissa den Brief und sie las ihn sich durch.

„Wie geil! Das ist besser als jede Praktikumsstelle, bei der ich mich beworben habe! Auch noch im Ausland. Mama, Papa, lest euch das mal durch“, rief sie und gab ihren Eltern den Brief.

Dann verschwand das Mädchen aufgeregt in einem anderen Raum.

Ihre Eltern lasen sich den Brief mehrmals durch, als Melissa wiederkam, sahen sie abwechselnd zu ihr und zu dem Boten.

„Sicher, dass das das Richtige für dich ist, Schatz?“, fragte ihre Mutter und gab Melissa den Brief zurück.

„Ich helfe mit anderen Jugendlichen zusammen und es ist im Ausland! Es ist perfekt für mich“, Melissas Entschluss stand fest.

„Wann geht es denn los? Und wie lange würde es dauern? Was ist das für eine Hilfsorganisation?“, fragte Melissas Vater nervös und strich sich erneut über den Bart.

„Ihre Tochter müsste schon heute mitkommen. Und ich kann Ihnen noch nicht sagen, wie lange diese Reise dauern wird. Unsere Organisation hilft Kanada vor einem Schicksal, von dem man noch nicht sagen kann, welches Ausmaß es nehmen könnte. Tut mir leid, aber mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen!“, der Bote sah, dass die Eltern zweifelten. Nur Melissa war sich immer noch sicher.

„Ich bin jetzt 16. Bitte! Ich werde euch doch immer schreiben oder anrufen“, flehte Melissa ihre Eltern an.