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Ein Anti-Heimatroman von »Grimme«-Preisträger Peter Keglevic
Kraftvoll, archaisch, düster – ein Ausflug in die Abgründe der menschlichen Natur.
Ein enges Tal irgendwo in den Bergen: Die 15-jährige Agnes, die so gern ein »Autoschrauber« hätte werden wollen, muss erfahren, wie brutal das Leben sein kann. Wenn die eigene Familie verachtet wird. Wenn jeder jeden kennt und mit jedem eine Geschichte hat. Da stehen dem Missbrauch die Türen weit offen, da wird vertuscht und betrogen, denunziert und getötet, ohne dass der Himmel ein Einsehen hätte. Als der Vater totgeschlagen und die Mutter elendig verreckt ist, hat Agnes nur noch einen Gedanken: Sie muss die »Kleinen«, Bruder und Schwester, vor dem Heim retten, in dem sie einst gelitten hat.
Peter Keglevics dramatischer Roman über Agnes und ein namenloses Tal in den Alpen ist eine Geschichte von alttestamentarischer Wucht – so zärtlich und so brutal erzählt, wie das wohl nur ein Österreicher kann.
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2019
Kraftvoll, archaisch, düster – ein Anti-Heimatroman aus den österreichischen Alpen.
Ein enges Tal irgendwo in den Bergen: Die 15-jährige Agnes, die so gern ein »Autoschrauber« hätte werden wollen, muss erfahren, wie brutal das Leben sein kann. Wenn die eigene Familie verachtet wird. Wenn jeder jeden kennt und mit jedem eine Geschichte hat. Da stehen dem Missbrauch die Türen weit offen, da wird vertuscht und betrogen, denunziert und getötet, ohne dass der Himmel ein Einsehen hätte. Als der Vater totgeschlagen und die Mutter elendig verreckt ist, hat Agnes nur noch einen Gedanken: Sie muss die »Kleinen«, Bruder und Schwester, vor dem Heim retten, in dem sie einst gelitten hat.
Peter Keglevics dramatischer Roman über Agnes und ein namenloses Tal in den Alpen ist eine Geschichte von alttestamentarischer Wucht – so zärtlich und so brutal erzählt, wie das wohl nur ein Österreicher kann.
PETERKEGLEVIC, geboren 1950 in Salzburg und gelernter Buchhändler, ist ein TV- und Filmregisseur, ausgezeichnet u. a. mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis. Das Leben in der abgeschiedenen, ländlichen Provinz gehört immer wieder zu seinen Themen (»Das Geheimnis im Wald«, 2008; »Die Fremde und das Dorf«, 2014; »Treibjagd«, 2017). Nach »Ich war Hitlers Trauzeuge« ist »Wolfsegg« sein zweiter Roman.
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PETER KEGLEVIC
WOLFSEGG
Roman
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-24427-9V002
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Bewahre uns der Himmel vor dem »Verstehen«. Es nimmt unserm Zorn die Kraft, unserm Hass die Würde, unserer Rache die Lust und unserer Erinnerung die Seligkeit.
Arthur Schnitzler
Nebel liegt über dem Geröll und den Grasmatten, jedes Geräusch klingt, als wäre es in Watte gepackt. Kleine Lärchen und zerzauste Legföhren wachsen aus den Felsrippen und Bachrinnen dort oben an der Baumgrenze. Preiselbeeren und Wermut dämpfen die Schritte des Mädchens. Es huscht lautlos über Almrosen und ein Meer von weiß blühendem Knöterich. Als wäre über Nacht Schnee gefallen. Wie eine Natter schlängelt es sich durchs Gebüsch, ohne Äste zu streifen. Dann verharrt es und lauscht. Oben, nicht weit entfernt, werden Steine losgetreten und kollern bergab. Bergdohlen schreien ihr vertrautes Schirrk!, Schirrk! Rasch folgt das Mädchen dem Flüchtenden, den Bockdrilling im Anschlag. Nach wenigen Schritten hat es der Nebel verschluckt. Kein Geräusch ist zu hören. Auch die Dohlen sind verstummt.
Dann fällt ein Schuss.
Es war der letzte Mittwoch im Mai, und der Vormittag war mit Tests und Aufgaben ausgefüllt. Logik, Persönlichkeit, Intelligenz. Jetzt stand auf der Schultafel das Aufsatzthema: Ich. Meine Familie. Meine Wünsche.
Die Berufsberaterin vom Arbeitsamt sah die Schüler eindringlich an. Acht Jungen und sieben Mädchen, fünfzehn bis siebzehn Jahre alt. Es war eine kleine Abschlussklasse dieses Jahr.
»Schreiben Sie ehrlich auf, was Sie denken. Nehmen Sie kein Blatt vor den Mund. Je ehrlicher Sie sich, Ihr Umfeld und Ihre Wünsche beschreiben, desto leichter fällt es uns, Sie einem Beruf zuzuführen, der zu Ihnen passt. Sie haben fünfundvierzig Minuten Zeit. Schreiben Sie: jetzt.«
Die Berufsberaterin bediente einen Tischgong. Einige legten los, als wollten sie endlich alles abschütteln. Andere grübelten mit schiefem Mund und geblähten Nasenlöchern.
Das Mädchen, das allein in der letzten Reihe saß, starrte eine Weile vor sich hin. Dann begann es zu schreiben:
Ich heiße Agnes, nach der heiligen Agnes, was die Reine heißt, wie meine Mutter mir erklärt hat. Insgeheim nenn ich mich aber Nessie. Wie das Ungeheuer, das plötzlich aus seinem See hochsteigt und alle zu Tode erschreckt. So wünsche ich mich manchmal auch. Aber meine Mutter will nicht, dass wir Kinder, die Karoline, der Lorenz und ich, Spitznamen haben … In der Schule rufen sie mich trotzdem Nessie oder auch Agi, was sich aber oft wie Maggi anhört … In fünf Monaten, Ende Oktober, werde ich sechzehn.
Agnes war schmal mit knochigen Schultern, klein und wog vielleicht so viel wie eine Zwölfjährige. Ihr widerspenstig gelocktes Haar war dunkelbraun.
Sie blinzelte mehrmals, ihre Gedanken schwammen fort. Die Klassenfahrt nach Wien. Darüber hätte sie gerne geschrieben. Letzten April. Es war der obligatorische Ausflug in die Hauptstadt, den jede Schulklasse aus den Bundesländern hinter sich bringen musste. Parlament, Burgtheater, Schloss Schönbrunn. Großartig war das gewesen. Die Kapuzinergruft, in der die Habsburger in bombastischen steinernen und bronzenen Särgen lagen, hatte sie am meisten beeindruckt. Dass diese ohne Herz und ohne Eingeweide in der ewigen Ruhe eingemauert waren – das war spektakulär. Für zwei Euro hatte sich Agnes eine Broschüre gekauft, in der alles geschrieben stand. Herz und Eingeweide waren den Kaiserlichen nach dem Tod herausgeschnitten worden, ohne Rücksicht, ob sie ein gutes oder ein schlechtes Leben geführt hatten. Die Organe wurden in Seidentücher gehüllt, in Silberbehältnissen in Spiritus eingelegt, die dann zugelötet wurden. So standen nun die Herzen im Herzgrüftl, einer Nische der Loretokapelle, wie Mamas eingekochte Marmelade und das Russenkraut im Kellerregal.
Agnes überlegte, wie sie das in ihrem Aufsatz unterbringen konnte, fand aber keine Lösung. Sie hätte auch gerne geschildert, wie sie sich auf der Heimfahrt im Bus schlafend gestellt hatte. Durch die Wimpern hatte sie beobachtet, wie in der Sitzreihe auf der anderen Seite der Hubsi der Margit die Hand unterm Kleid in die Unterhose geschoben hatte. Wenig später hatte er die Hand wieder herausgezogen, sich über die Sitzlehne zum Robert gebeugt und ihm den Zeigefinger unter die Nase gerieben. Gefeixt hatten die beiden. Margit hatte zu ihr hingeschaut und dabei ihren Monsterbusen zurechtgeschoben. Ich krieg jeden, hatte ihr Blick gesagt. Auch den Jo Weis! Darauf kannst du Gift nehmen! Das war das Schlimmste, was Agnes sich vorstellen konnte. Ihre Augenlider zuckten. Alle konnte Margit haben, aber nicht den Jo! Der Jo war für sie bestimmt. Bis in den Tod. Da war Agnes sich sicher. »Wusst ich doch, dass du dich schlafend stellst«, hatte Margit zu ihr herübergerufen, »du kleine Spannerin.«
Agnes beugte sich wieder über das fast leere Blatt und konzentrierte sich. Mit einem Mal fiel es ihr leicht, etwas niederzuschreiben.
Mein Bruder Lorenz ist zwölf und geht in die zweite Klasse Hauptschule. Meine Schwester Karoline ist sieben und geht in die erste Volksschulklasse. Manchmal, wenn ich nichts anderes zu tun hab, kümmere ich mich um die Geschwister und helfe ihnen bei den Schularbeiten. Oder spiel mit ihnen. Karo spielt am liebsten Vater-Mutter-Kind und ist dann immer die Mutter und ich muss das Kind sein …
Die Woche davor, am Mittwochmorgen, war Agnes mit dem Fahrrad den Schotterweg zur Bundesstraße hochgefahren. Hinten saß Lorenz auf dem Gepäckträger und vorne, auf dem Lenker, die kleine Schwester. Das letzte Stück war so steil, dass Lorenz abspringen und das Fahrrad mit anschieben musste. Es hatte schon über zwanzig Grad, dabei war es erst Mitte Mai, und der helle Schotter reflektierte so gleißend, dass sie mit zusammengekniffenen Augen oben ankamen.
Direkt an der Einfahrt zur Bundesstraße lag die Haltestelle für den Bus zwischen Eisenstein und Cronberg. Stumm hatten sie im Schatten des Holunderbusches gewartet, der über das Wartehäuschen wucherte, und Karoline hatte ihre Nase in die weißen Dolden gesteckt. »Hm, riecht nach Honig und Limonade!« Ein Pick-up mit Anhänger war von der Bundesstraße auf den Schotterweg zu ihnen hinunter abgebogen. Der Mobile Viehhändler stand an der Wagentür. Beunruhigt sah Agnes ihm nach. Als die Kleinen sie fragend ansahen, zuckte sie nur gleichgültig mit den Schultern.
Der Bus kam. Agnes fuhr Lorenz durchs Haar, was ihm vor den Schulkameraden, die durch die Scheibe feixten, peinlich war. Karoline küsste sie auf die Wange.
Der Bus fuhr ab, und Agnes rollte auf dem Schotter bergab. Ihr Zuhause war ein bescheidener Tagelöhnerhof, ein Stück außerhalb des Städtchens Eisenstein und abseits der Bundesstraße. Hinterwald hieß die Flur, und die dort unten wohnten wurden gern als Hinterwäldlerhingestellt. Wie die Waldners hinter vorgehaltener Hand.
Der Hof lag in der Senke am Bach, der hier eine weite Schleife zog und von Weiden gesäumt war. Im heißen Sommer war es ein angenehm kühler Fleck, im Herbst und im Winter ein klammes und eisiges Loch. Im Frühjahr stieg das Schmelzwasser oft bis an die Stufen des Hauses, vor zwei Jahren war es sogar bis in die Wohnküche geschwappt.
Ein kleines Wohnhaus, zwei Schuppen – einer fürs Holz und die Geräte, der andere für die Tiere. Sieben Ziegen, sechs Hühner, ein Hahn. Eine Sau.
Agnes sah, wie sich der Vater mit dem Viehhändler einig wurde. Handschlag. Der Viehhändler zählte die Scheine ab. Bedrückt sah Agnes zu, wie der Viehhändler drei Ziegen zum Anhänger zog. Stupsi, Crissi, Paula.
»Schau mich nicht so an! Woher soll’s denn kommen.« Der Vater hatte sie stehen gelassen und war ins Haus gegangen.
Mein Vater ist der schönste Mann im Tal. Er ist Förster und Jäger und versorgt für die Adelsfamilie Mosheim die riesigen Wälder, die sich vom Streitkogel bis zum Steinernen Meer erstrecken. Im Wald ist er für alles verantwortlich, für den Baumschlag, fürdie Setzlinge und für die Jagd. Wenn eine Jagd vorbereitet wird, dann betteln ihn alle an, dass er sie mitnimmt. Du, Wenzel, sagen sie, vergisst mich eh’ nicht! Jaja!, sagt er dann, ich weiß schon, auf wen ich mich verlassen kann! Immer ist er lustig mit uns und hat ein freundliches Gesicht, obwohl er so viel zu tun hat. Und mit mir redet er über die wichtigen Sachen, weil ich seine Große bin und schon alles versteh.
Der Viehhändler hatte versucht, die bockigen Ziegen auf dem Anhänger zu verfrachten.
»Ja, hilf halt!«
Agnes ging ihm zur Hand, kraulte den Ziegen den Hals, weil sie das mochten und auch gleich beruhigte.
Die Briefträgerin knatterte mit dem gelben Moped heran.
»Aha. Is’ schon so weit.« Sie kramte in der Tasche und reichte Agnes die Post. Gratiszeitung, Werbung. Und einen Brief, mit dem winkte die Briefträgerin wichtigtuerisch.
»Vom Arbeitsamt. Steht nie was Gutes drin.«
Agnes ging ins Haus. Die Wohnküche war der größte Raum. Hier hielten sie sich meistens auf. Am liebsten zwängten sie sich zu fünft auf das große, tiefe Sofa, das der Vater einmal vom Schloss mitgebracht hatte. Die von Mosheim hatten es aufs Osterfeuer werfen wollen. Dann tobten sie auf dem Sofa herum, bis schließlich der Vater sie alle im Arm hielt.
Die Schlafkammer der Kinder ging von der Wohnküche ab, das Schlafzimmer der Eltern auch. Ein kleines Bad. Das Klo. Unter der Küchendecke war die zugeklappte Luke zum winzigen Dachboden. In der Nacht, wenn alles still war, konnte Agnes dort oben die Siebenschläfer herumrennen hören. Einmal hatte sie leise die Luke geöffnet und mit der Taschenlampe hineingeleuchtet – von den Siebenschläfern natürlich keine Spur! Kaum lag sie aber wieder im Bett, ging dort oben die Party wieder richtig los.
Der Vater hatte das Frühstücksgeschirr in die Abwasch geräumt. Mit dem Kopf deutete er zum Badezimmer. Durch die halb offene Tür sah Agnes ihre Mutter vor dem Waschbecken sitzen. Unendlich langsam zog sie sich den Bademantel von der Schulter.
Agnes gab dem Vater den Brief. Er riss ihn gleich auf. Fragend sah sie ihn an. Der Vater wandte sich ab und setzte sich an den Tisch. Sein Rücken war wie ein zugefallener Kistendeckel.
Agnes ging ins Bad. Über dem Waschbecken wusch sie der Mutter die Haare. Die Mutter blieb ganz stumm, obwohl anfangs das Wasser viel zu kalt war.
Das sagt auch immer meine Mutter: Agnes, meine Große, auf dich ist Verlass. Wenn ich vier Wochen verreisen tät, würd’s keiner merken, weil du den Laden alleine schaukelst. Aber das sagt sie nur im Spaß, weil in Wirklichkeit könnten wir gar nicht ohne die Mutter. Schon weil sie uns aus tiefstem Herzen lieb hat und weil sie so lustig ist. Und weil niemand so gute Blaubeerküchl macht wie sie.
Dünn, knochig und durchsichtig hatte der nackte Rücken ausgesehen und auch der Hals der Mutter. Wie bei den Hühnern, die vom Federling befallen waren. Aber erst als sich die Mutter das Abtrockenhandtuch zum Turban knotete, sah Agnes, wie elend es ihr ging.
Der Blick der Mutter ging zu der halb offenen Tür. Der Vater saß noch immer wie versteinert am Tisch.
»Wenzel?«
Hatte er die Mutter nicht gehört? Nach einer Weile richtete er sich auf.
»Ich muss raus.« Er riss die Jacke von der Garderobe und stürmte wortlos davon.
Die Mutter nahm den Brief, der auf dem Küchentisch lag. »ArbeitsMarktService.«
Mit hastiger Stimme las sie. »Wie Sie aus beiliegender Kopie entnehmen können, teilt uns die Bundesversicherungsanstalt mit, dass in dem von Ihnen genannten Zeitraum vom angeführten Arbeitgeber keine Sozial- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge abgeführt wurden, sowie wir keinen Beleg dafür finden konnten, dass Sie überhaupt in einem wie auch immer gearteten Angestellten- oder Arbeitsverhältnis standen. Wir sind somit nicht in der Lage, das von Ihnen geforderte Arbeitslosengeld anzuweisen, weil Sie nach Aktenlage keinerlei Anspruch darauf haben. Mit freundlichen Grüßen …«
Am nächsten Tag, zeitig in der Früh, waren sie mit dem Bus durch die schmalen Wiesen gefahren, vorbei an den steilen, dunklen Hängen zu beiden Seiten auf die Öffnung des Tals zu. Agnes und die Mutter waren hinter dem Fahrer gesessen und hatten sich stumm an den Händen gehalten.
Einmal im Monat vergessen wir aber jede Verpflichtung. Dann fahren die Mutter und ich nach Cronberg. Entweder bummeln wir durch die Roseggerstraße und schauen Schaufenster oder wir gehen ins Café Dobler und essen jeder eine Malakoff mit viel Schlag. Wenn’s regnet, gehen wir ins Stadtkino. Das letzte Mal gab’s Rio 2 – Dschungelfieber, in 3D. Das war so irre, dass du wirklich denkst, du bist mitten im Urwald …
In der onkologischen Abteilung des Krankenhauses hatte die Mutter, wie jede dritte Woche, die Chemotherapie bekommen. Sie hatte einen Port oberhalb der Brust, weil die Venen am Arm vertrocknet waren. In den Port legte Schwester Rose die Infusion für die Zytostatika. Mit zehn Frauen saß die Mutter im lindgrün gestrichenen Raum, dessen Vorderfront bis zum Boden verglast war. Sie saß als Letzte in der Reihe, abgewandt, damit sie nicht zu den anderen schauen musste. Die ließen die Prozedur kahlköpfig oder mit scheckigen Kopftüchern über sich ergehen. Eine hatte eine Perücke aufgesetzt, die sich permanent elektrisch auflud. »Zigeunerin am Starkstromkabel! Wie im Fasching«, hatte es die Mutter, selbst mit kahlem Kopf, beim Abendessen einmal beschrieben. Am Anfang ihrer Tröpflerkarriere hatte sie noch mit den anderen Frauen gesprochen, hatte mit ihnen Einzelheiten ihrer Krankheit ausgetauscht, die Sorgen und den Kummer beweint. Aber dann kam die eine nicht mehr und dann die andere; aber neue kamen immer wieder nach, als gelte es, einen Drachen zu füttern. Neuerdings stopfte die Mutter sofort die Kopfhörer des kleinen Radios, das ihr der Vater vor zwei Monaten geschenkt hatte, in die Ohren. Seitdem hörte sie, wie Agnes wusste, Opern. Am liebsten die von Puccini, Tosca, La Bohème, Madame Butterfly, denn dort starben die wunderbarsten Frauen wie die Fliegen. Tosca, Mimì,Madame Butterfly.
Agnes saß mit anderen Angehörigen im Warteraum, der zum Korridor hin offen war, und sah ab und an nach der Mutter. Die meisten, die mit ihr warteten, waren alt und verhärmt. Agnes konnte nicht erkennen, wer krank war, wer gesund. Auf dem Gang wurden Betten und Rollstühle mit Patienten vorbeigeschoben. Die Infusionsständer und die Flaschen daran schepperten wie das rostige Windspiel unten im Park. Die Gummiclogs der Krankenschwestern und Pfleger quietschten dazu auf dem hellblauen Linoleum und folgten den roten Fußspuren, die auf den Boden geklebt waren. Als wäre da einer mit blutigen Füßen vorangegangen.
»Waldner? Du bist mit der Mama hier?!« Schwester Rose war herangetreten.
Agnes nickte.
»Ihr seids wieder fünf Tag zu spät. So wird das nix! Versteht ihr das nicht? Die Chemo muss regelmäßig rein, sonst nimmt der Tumor sie nicht ernst! Ist das so schwer?«
Agnes schüttelte den Kopf. »Bei uns geht’s im Augenblick … durcheinander.«
»Ich sag’s dir, weil bei deiner Mama geht’s da rein und beim andern Ohr wieder raus. Regelmäßig! Alle drei Wochen!« Die Schwester reichte Agnes die Unterlagen. »Behandlungsbestätigung. Rezept. Neuer Termin.«
Dann waren die vier Stunden vorbei. Die Mutter kam am Ende des Korridors aus dem Behandlungsraum und ging durch den schattigen Gang, der auf dem Hinweg noch in der Sonne gelegen hatte.
Agnes beobachtete, wie erschöpft und mutlos die Mutter war. Wortlos verließen sie das Krankenhaus und gingen in die Apotheke. Dann standen sie stumm, Agnes eine pralle Tüte mit Medikamenten in der Hand, und warteten an der Bushaltestelle am Hauptplatz. Sie sahen zu, wie eine Bühne aufgebaut wurde und eine Männerstimme die Musikanlage testete. Eins, zwei! Eins, zwei!, hallte es über den Platz. Ganz Cronberg war plakatiert: Christina Stürmer live! Am Abend würde sie hier auftreten. Agnes mochte die Sängerin, kannte sie aus dem Radio und Fernsehen, hatte sie aber noch nie in echt gehört. Was wirklich bleibt. Nie genug.Engel fliegen einsam!
Ein roter BMW fuhr an ihnen vorbei, bremste scharf und stieß wieder zurück. Das Fenster an der Beifahrerseite fuhr herunter.
»Wollt’s mitfahren?«
Die Mutter zuckte zusammen. Sie kniff den Mund zu einem Strich und schüttelte den Kopf.
»Ah, geh. Jetzt sei nicht so stur!«
Der Fahrer stieg aus und riss die Beifahrertür sowie die hintere Tür auf.
Der Scholtysek. Mit Vornamen hieß er Sigi, aber niemand rief ihn so. Für alle war er nur der Scholtysek. Er war um die vierzig und galt in der Gegend als fesch. Letzten Fasching war er als Elvis gegangen: hinten Entenschwanz, vorne hatte sich das Haar zu einer riesigen Tolle aufgeschwungen. Übrig geblieben waren die Koteletten, die bis übers Unterkiefer wucherten.
»Jetzt werds ihr mit dem Bus herumzuckeln, wenn’s bequem auch geht!«
Ein paar Wartende schauten neugierig, wie Scholtysek mit einer älteren Frau scherzte. »Gell, Sie würd’n sich von mir schon heimfahr’n lassen?«
Die Frau lachte laut. »Klar, sofort! Und den Einkauf könnten’s mir gleich in’ dritten Stock tragen!«
»Nächstes Mal gern. Nur, heut bin ich leider schon ausgebucht!« Er nahm die Mutter am Arm und schob sie zum Auto. Agnes sah, die Mutter hatte nicht die Kraft oder den Mut, sich dagegenzustemmen. Sie stieg ein. Wie ein Vorzeigekavalier schlug Scholtysek die Beifahrertüre zu. Agnes krabbelte auf den Rücksitz, sie spürte, wie heftig ihr Herz schlug.
Das rote Auto fuhr los, und jäh verschwanden Cronberg und das offene, helle Tal in ihrem Rücken, die rote Kühlerhaube hielt auf die massiven Bergrücken und Wälder zu, angesogen wie die Kompassnadel von einem starken Magneten.
Scholtysek ertrug das Schweigen nicht lange. »Na, wo warts, ihr zwei Hübschen? Einkaufen? Und dann habts nur ein Sackerl von der Apotheken? Ist wer krank bei euch?«
»Es ist sehr kulant, dass du uns fährst«, sagte die Mutter. »Aber zum Erzählen fällt mir im Augenblick nix ein. Wenn du uns bei der Post in Eisenstein absetzen tätst.« Die Mutter sah stur geradeaus.
»Tschuldigung, war ja nur eine Frage, wie unter zivilisierte Leut’.«
Eine Weile hielt das Schweigen. Agnes schloss die Augen, und für einen Augenblick spürte sie, wie das Auto jede Bodenhaftung verlor und abhob. Wie schön wäre es, heute Abend bei dem Konzert zu sein; sie würde ganz vorne am Absperrgitter stehen, und Christina Stürmer würde sie entdecken und nur für sie singen. Und wir gehen den Weg von hier, Seite an Seite ein Leben lang, für immer …
»Aber wahrscheinlich bin ich dir nicht zivilisiert genug.«
»Wenn du’s sagst.«
Das saß. Über den Rückspiegel sah Agnes, wie Scholtyseks charmantes Getue aus seinem Gesicht bröckelte. Wie trockener Schlamm vom Gummistiefel.
Die Hänge zu beiden Seiten drängten sich immer enger aneinander. Ab und zu sah Scholtysek zur Mutter, die blickte aber ungerührt geradeaus, wie die Sphinx von Gizeh, die Agnes aus dem Geografiebuch kannte. Agnes freute sich, wie aufrecht die Mutter dasaß und dem Mann keinen Millimeter nachgab.
Da, wo der Schotterweg zu ihrem Haus abging, entdeckte Scholtysek ihren Blick im Rückspiegel. Seine Augen sahen kalt und gemein aus. Agnes schloss die Augen, aber auch durch die Lider konnte sie diesen Blick immer noch spüren, und das Pochen ihres Herzens im Hals und im Kopf.
Scholtysek hielt abrupt direkt vor der Post. Die Mutter und Agnes stiegen dank- und grußlos aus und gingen zum Eingang. Scholtysek ließ das Fenster herunter und rief ihnen nach. »Herzlichen Dank fürs Mitnehmen! Es war die schönste und unterhaltsamste Fahrt meines Lebens!« Mit quietschenden Reifen raste er davon.
Agnes und die Mutter sahen sich kurz an. Sie konnten ein Grinsen nicht unterdrücken.
»Warum bist du ihn denn so angegangen? War doch nett, dass er uns mitgenommen hat.«
»Der Scholtysek … der kann auch anders.«
»Wie anders?«
»Anders halt!«
Sie standen vor dem Geldautomaten, und Agnes drehte sich weg, damit die Mutter unbeobachtet die Geheimzahl eingeben konnte.
»Woher weißt du das? Kennst du ihn denn?«
»Ich weiß es eben!« Die Mutter warf Agnes einen scharfen Blick zu, und Agnes hielt den Mund. Die Mutter nahm das Geld aus dem Automaten, zählte es nach und steckte es in die Geldbörse.
Im SPAR fuhren sie mit dem vollen Einkaufswagen an die Kasse. Reis, Nudeln, Mehl hatten sie in so großen Mengen eingekauft, als würde morgen ein Krieg ausbrechen. Auch Zucker, Linsen, Haferflocken – alles in Großpackungen. Mit einer Eselsgeduld zog die Kassiererin die Ware über den Scanner und tippte, falls nötig, in die Kasse.
»Muss wieder für eine Zeit lang reichen.«
»Ja, genau.«
Und während Agnes den Einkauf in einem Bananenkarton verstaute, drehte sich die Mutter plötzlich zu ihr um, hielt inne, als lauschte sie einer Eingebung, und sagte dann heftig: »Das ist alles vergangen und dort soll’s auch bleiben.«
Zum Abendessen gab es Krautfleckerl. Das angebratene Weißkraut, der gestoßene Kümmel und die angegossene Rindsbrühe – keine echte, sondern eine aus Suppenwürfeln – verbreiteten einen derart appetitlichen Duft, dass alle den Hals reckten, als Agnes auftrug.
»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast«, beteten sie gemeinsam. Die Familie saß um den Tisch, und obwohl es mitten in der Woche war, lag ein weißes Tischtuch auf. Die Mutter stieß dem Lorenz den Zeigefinger in den Rücken, weil der mit herabhängenden Schultern auf dem Stuhl hockte. Sofort streckte er sich durch und sagte leise: »Tut mir leid, Mama.«
Schweigend aßen sie. Lorenz und Karoline sahen immer wieder voller Erwartung zur Mutter. Die tat aber so, als bemerkte sie es nicht. Auch Agnes blickte wie abwesend und aß Gabel für Gabel, als gelte es, sich für den Winterschlaf Fett anzufressen.
Plötzlich rückte die Mutter ungemütlich auf dem Stuhl hin und her und fasste sich unter der Weste an die Seite. Sie stöhnte. »Was drückt mich denn da so?« Keiner sah, wie die Mutter unter dem Tisch Agnes, die sich kaum noch das Lachen verhalten konnte, mit dem Fuß anstieß. Dann zauberte sie die Überraschung hervor: einen Spielzeugtraktor für Lorenz und ein weiß-gelbes Sommerkleid für die Puppe von Karoline.
Die Kleinen juchzten. Wenzel schüttelte den Kopf – auch er war auf die Schauspielerei seiner Frau reingefallen. Karoline holte ihre kohlrabenschwarze Lieblingspuppe, die im Puppenwagen neben dem großen Mosheimer Sofa wohnte, und zog sie gleich zur Sommerfrische an. Lorenz verlor sich in der Detailansicht des roten Traktors.
Nach einer Weile sah der Vater zur Mutter hin. »Wie war’s?«
»Wie immer.«
»Die Oberschwester hat g’schimpft, weil wir den Termin versäumt haben«, sagte Agnes.
Der Vater sah sie an, als wäre es auch ihre Schuld. »Dann schaust du ab jetzt drauf. Trag’s im Kalender ein und sag’s rechtzeitig, wann’s wieder so weit ist.«
Agnes nickte. Sie wollte noch sagen, dass sie es eh letzte Woche angemahnt hatte, aber die Mutter gab ihr einen Wink mit den Augen. »Ja, ich trag’s gleich ein«, sagte sie.
Lorenz war begeistert von seinem Geschenk. »Der Massey Ferguson und der John Deere sind die geilsten Traktoren«, plapperte er. »Schau, wie lässig die Trittbretter ins Führerhaus reinführen!«
Entspannt lehnte sich die Mutter zurück. »Der Scholtysek hat uns nach Hause gefahren.«
Kurz sah es so aus, als hätte der Vater es nicht gehört. Dann räusperte er sich. »Aha.«
»Er hat uns an der Bushaltestelle gesehen und so lange genervt, bis wir eingestiegen sind.«
Der Vater blickte zur Mutter. Sie blickte zu ihm. Agnes lehnte sich an die Mutter, spürte den schnellen Puls der Halsschlagader, die ihrem Gesicht ganz nah war.
»Bequemer als mit’m Bus«, sagte der Vater schließlich, schob den leeren Teller von sich und ging hinaus.
Die Mutter lächelte. »Der Wenzel ist kein großer Freund vom Scholtysek.«
Vielleicht war ja der Vater auf den Scholtysek eifersüchtig. Vielleicht hatte er mit dem Scholtysek um die Mutter kämpfen müssen. Fragend sah Agnes die Mutter an. Doch die verschwand wieder im Palast des Schweigens, so, als wären die paar Sätze, die sie gesprochen hatte, ihre Tagesration gewesen.
Agnes riss sich aus der Erinnerung und schaute auf die Tafel. Ich. Meine Familie. Meine Wünsche stand da noch immer.
Wünsche? Ja, sie hatte sich gewünscht, dass der Jo Weis auf der Klassenfahrt dabei wäre. Eine halbe Stunde hatten sie im Bus mit der Abfahrt gewartet. Die Klassenlehrerin, Frau Heugl, hatte wild herumtelefoniert, bis hektische Flecken wie Feuerlilien aus ihrem Dekolleté herausgewuchert waren. Aber Jo war nicht aufgetaucht. Agnes hatte es geahnt, aber insgeheim hatte sie gehofft, dass er es sich anders überlegt. »Typisch!«, rief Leo aus der letzten Sitzreihe, und Vinzent antwortete wie sein Echo: »Ein unzuverlässiger Hunne halt.« Hartnäckig hielt sich nämlich das Gerücht, dass Jos Familie von den Hunnen abstamme, die vor Jahrhunderten mordend und brandschatzend durch die hiesige Gegend bis zur Donau und Theiß gezogen waren. Hunne! Mongole! Ein Türke halt! Nicht etwa, weil Jo ein flaches Gesicht mit Schlitzaugen und vorspringenden Backenknochen gehabt hätte – nein, im Gegenteil, er sah aus wie die anderen Burschen im Tal. Aber seine Eltern kamen aus Russland, der Vater, so erzählte man, habe einmal beim Tierverwerter Rieder Hammelhoden bestellt und später geschwärmt, wie gut sie ihm und seiner Familie aufgebraten geschmeckt hätten. Die Eier vom Hammel! Das geht ja gar nicht! Jos Beteuerung, in seinem Leben noch nie so was gegessen zu haben, hatte nichts geholfen. So war das Gerücht zur Gewissheit geworden: Die Weißlinge sind Nachfahren von Hunnen, denn nur Hunnen fressen Hammelhoden und rohes Pferdefleisch.
Dabei hatte Agnes es sich so sehr gewünscht, dass Jo mit in Wien gewesen wäre. Vielleicht wären sie im gleichen Waggon des Riesenrads über den Prater geschwebt. Vielleicht hätten sie in der Albertina stumm nebeneinander gestanden und ihre Handrücken hätten sich berührt. Vielleicht …
Agnes’ Blick verlor sich, fand dann aber einen Ast, an dem er sich festhalten konnte, bevor er auf Nimmerwiedersehen ins Weltall geschleudert worden wäre.
Es war ein Weidenast an einem heißen Sommertag letztes Jahr gewesen. Die Familie hatte sich im Schatten der Weiden niedergelassen, dort, wo der Eiserbach eine Kurve macht und das sprudelnde Wasser Sand ans Ufer gespült hat. Den Sonntagnachmittag hat der Liebe Gott nur für den Spaß geschaffen, hatte der Vater gesagt. Für Agnes. Karoline. Lorenz. Für Vater und Mutter. Ihnen gehörte der Tag.
Sie rannten in den Bach, sprangen von dem runden Felsen und tauchten in die Gumpe, dieses riesige ausgewaschene Wasserbecken, das ihr luxuriöser Swimmingpool war. Sie schrien und lachten und spritzten und drückten sich runter bis auf den Grund, dass die Forellen auseinanderstoben. Dann lagen sie erschöpft auf Decken und der Luftmatratze und dösten.
Agnes sah die Sonne durch die Blätter der Weide funkeln, sie hob die Hand und spreizte die Finger, um die gleißenden Strahlen wie durch Radspeichen sickern zu lassen. Die Wassertropfen auf ihrer Haut glitzerten und rannen dann als Silberadern am Arm hinunter. Sie stützte sich auf und sah, dass Vater und Mutter sich küssten. Zärtlich und voller Hingabe. Ihre Hände streichelten einander und ihre Beine umwickelten sich wie ein Zopf.
Auch Lorenz und Karoline hatten die Eltern beobachtet, so staunend und ehrfurchtsvoll, als wären sie Zeugen von etwas Unerklärlichem.
»Schluss! Die Zeit ist abgelaufen!« Die Berufsberaterin schlug wieder auf den kleinen Tischgong, mehrmals, wild und ungeduldig, als gäbe es Alarm. »Beenden Sie den Satz und schließen Sie das Heft! Was Sie bis jetzt nicht geschrieben haben, werden Sie nimmermehr schreiben!«
Agnes sah auf ihr Heft.
Meine Wünsche sind … Mehr stand da nicht. Sie klappte das Heft zu.
*
Zwei Tage später, an einem Freitag, mussten die Schüler nochmals nach Cronberg, um zwischen neun und elf ihre Berufsempfehlungen zu erhalten.
Im Besprechungsraum der Wirtschaftskammer wurde Agnes’ Heft wieder aufgeschlagen. »Ihre Familie ist ja wie aus dem Bilderbuch. Schön und gut. Aber …« Die Berufsberaterin, die sich als Margreiter vorgestellt hatte, tippte auf das kläglich einsame Meine Wünsche sind … »Da steht nichts. Kein einziger Wunsch. Haben Sie keine Wünsche?« Die Berufsberaterin saß mit drei Kollegen hinter dem Kommissionstisch, und Agnes saß davor wie eine Angeklagte vor ihren Richtern.
»Nun? Wunschlos glücklich?«, insistierte die Berufsberaterin. »Was möchten Sie denn am liebsten werden?«
Doch, da gab es etwas! Auch wenn es die meisten nicht verstehen wollten und abfällig schnaubten, sobald Agnes es erwähnte. »Ich hätte gern was mit Motoren.«
Irritiert sahen sich die vier an. Hatten sie sich verhört? Herr Leitner, ein Berufsschullehrer, der außen links saß, sah Agnes nachsichtig an. »Mit Motoren … Was genau meinst denn damit?«
»Mit Motoren halt. Benziner. Diesel. Zweitakter, Viertakter. Ich hab schon unsere Kettensäge repariert, wo die Kurbelwelle hin war …«
»Aber geh! Du bist doch ein … Sie sind doch eine junge Frau!«, ging die Berufsberaterin dazwischen.
»Da findet sich bestimmt etwas Passenderes! Und die Motoren überlassen wir den Burschen, sollen die sich die ölverschmierten Finger holen«, sekundierte der Herr Leitner.
Das Gremium steckte die Köpfe zusammen. Tuschelte. Sie sortierten die Angebote für Lehrstellen, mischten sie nochmals und spielten sie dann aus, wie Karten beim Schnapsen.
Misstrauisch beobachtete Agnes, wie sich die Kommission auf ihr Schicksal einigte. Gangl! Ja, genau. Die Beraterin hat’s Gangl! angesagt und alle Stiche gemacht. Sie wandte sich mit der gewählten Unterlage Agnes zu und strahlte. »Das passt, als hätt man’s für Sie erfunden! Die Lagerhaus-Genossenschaft der Raiffeisenkasse sucht – stellen Sie sich vor, bei Ihnen um die Ecke – einen Lehrling, männlich oder weiblich!«
»Aber ich will doch …«, versuchte Agnes, sich Gehör zu verschaffen.
»Dann entscheiden wir’s jetzt: einen weiblichen Lehrling für die Raika!« Die Beraterin hielt die Unterlagen so knapp über den Tisch, dass Agnes aufstehen musste, um sie entgegenzunehmen.
»Mach was draus!«, sagte die Frau, die rechts außen saß und die bisher nichts gesagt hatte.
Perplex stand Agnes da und nestelte an den Unterlagen, die immer schwerer wurden und sie in einen Abgrund zu ziehen drohten.
»Glückwunsch! Gratuliere!!«, brummte Leitner, und alle packten ihre Unterlagen zusammen. Wohin jetzt mittagessen gehen? In den Schwarzen Adler? Ruhetag! Stimmt. Zum Schmied? Brückenwirt?
»Aber ich wollt’ doch was mit Motoren. Was mit Technik.«
Die Diskussion ums Mittagessen erstarb. Ungläubig sahen die vier Agnes an.
»Dir ist schon klar, dass wir uns hier den Arsch aufreißen, um für jeden von euch einen Beruf zu finden, der goldenen Boden hat und eine Zukunft! Dass wir uns in unserer Freizeit und unentgeltlich hier hinsetzen und diskutieren und beraten, damit ihr undankbaren Kinder nicht auf der Straße endet …« Leitners Stimme war leise, aber bestimmt.
»Ist gut, Luki, du hast ja recht, aber die Waldner hat’s nicht so gemeint. Gell?« Die Beraterin sah Agnes eindringlich an, bis die schließlich nickte.
»Eben. Bist doch ein kluges Mädchen. Und so ein großes Lagerhaus hat bestimmt auch was mit Technik!«
Sie trat jetzt so nah vor Agnes hin, dass diese das großporige Gesicht wie unter einem Vergrößerungsglas sah: eine löchrige Landschaft, zugeweht von Make-up und Puder. Die Beraterin drückte Agnes’ Hände, welche die Unterlagen umfassten, ganz fest. Fast tat es weh. »Das sind die Dokumente für deine Zukunft, und vergiss nicht, die Registriernummer beim neuen Arbeitgeber vorzulegen!«
»Zum Riegler!«, bestimmte der Leitner. Die Kommission verließ den Besprechungsraum.
Agnes war wütend, dass sie sich nicht hatte durchsetzen können. Voller Zuversicht hatte sie in der Früh das Haus verlassen, hatte sich im blauen Overall in der Werkstattgrube die Dichtung einer Ölwanne austauschen sehen, und jetzt hatte man mir nichts, dir nichts über ihr Leben entschieden. Sie saß in der Toilettenkabine noch eine Weile auf dem Klo und wartete, bis sie sicher war, dass ihre Mitschüler das Gebäude verlassen hatten. »Und, wirst jetzt Schrauber?«, hätten die sonst gefragt und mit Spott nicht gespart. »Du, Agnes, übernimmst jetzt die Reparaturwerkstätte in Cronberg? Oder die in Landis?«
Agnes schlurfte den Korridor hinunter zum Treppenaufgang, vorbei an den Werbeplakaten der Wirtschaftskammer, auf denen sich strahlende, schöne junge Menschen Fragen stellten: Wo stehe ich? Was kann ich? Wohin will ich? Konnten das ihre Klassenkameraden beantworten? Hatten die eine Lehrstelle ihrer Wahl bekommen?
»Agnes? Agnes Waldner?«
Bevor Agnes aufblickte und die Frau, die ihr entgegenkam, ansah, erkannte sie die Stimme: Frau Hartmann. Wie hätte sie diesen Ton vergessen können? Sonja Hartmann vom Jugendamt, Erziehungs- und Familienberatung.
»Vor ein paar Tagen hab ich an dich denken müssen.«
Sie war um die fünfzig und hatte, wie die böse Stiefmutter im Märchen, Haare, schwarz wie Ebenholz, eine Haut, weiß wie Schnee, und einen Mund, rot wie Blut. Agnes’ Herz schlug so heftig in Hals und Kopf wie neulich im Auto von Scholtysek. Vergebens versuchte sie, das Zittern zu unterdrücken, das aus ihrem tiefsten Inneren an die Oberfläche kroch, und wie früher im Heim gingen ein paar Tropfen Urin in die Unterhose.
Sonja Hartmann und Agnes standen sich gegenüber und sahen sich ungläubig an. Beide hatten sie gehofft, sich nie wieder zu begegnen. Einmal, so erinnerte sich Sonja Hartmann, hatte sie Agnes wütend ums Kinn gefasst, so, als wollte sie sie erwürgen. Und einmal … ja, daran wollte sie sich jetzt lieber nicht erinnern.
»Kennst mich nicht mehr?«, fragte Sonja Hartmann.
Agnes nickte. Alles lag sieben Jahre zurück, aber kein Tag verging, ohne dass sie sich irgendwie erinnerte. Wenn auch nur ziemlich verwaschen. Zu fassen bekam sie nichts. Aber angenehm war es nicht. Doch manchmal fragte sie sich vor dem Spiegel, ob sie vielleicht deshalb so kleine Brüste hatte. Vielleicht hinkte sie deshalb in ihrer Entwicklung der Margit hinterher.
Sonja Hartmann hatte nicht erwartet, der kleinen Waldner hier, in ihrem Revier, zu begegnen. War das Bestimmung? Ein Zeichen? Wollte die was von ihr? Wollte die etwa zur Ombudsfrau? Zum Bürgermeister Margreiter? Zum Landrat Dr. Kissel? Wollte die sie anschwärzen? Mit den alten Geschichten? Da wäre sie bei Kissel ja genau richtig. Sie grinste. Sie war jetzt die maßgebliche Person im Jugendamt für den ganzen Bezirk, da konnte sie keine Beschwerden brauchen.
»Was machst denn hier? Wieder Probleme zu Haus?«
Agnes schüttelte den Kopf. Sie brachte kein Wort heraus. Es fühlte sich im Mund gerade so an, als bliese sich ihre Zunge zu einem Ballon auf.
»Was ist? Ich hab dich was gefragt – oder sprichst nicht mit mir?«
»Berufsberatung«, hauchte Agnes.
»Was? Ich hör dich nicht.«
»Berufsberatung.« Diesmal war die Stimme lauter.
Sonja Hartmann brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass die Anwesenheit des Mädchens nicht ihr galt. Sie atmete auf. »Verstehe. Wie alt bist denn schon?«
»Bald sechzehn.«
Sonja Hartmann musterte Agnes. Die sieht ja fast so aus wie damals, dachte sie. Wie ein Kind. Normalerweise, die Mädchen von heute, mit sechzehn … Ja, das war damals nicht besonders glücklich gelaufen. Aber die Geschichte war auch von Anfang an so verbockt! Da war eins zum anderen gekommen. Nein, da konnte sie nichts dafür. Wie lange war das jetzt her? Zehn Jahre? Länger? Oder kürzer? Mein Gott, wie die Zeit davonrennt!
»Und wo gehst hin?«
»Vielleicht zur Raika. Lagerhaus.«
»Na ja, ist eh nicht schlecht. Mach was draus!«
Sonja Hartmann ließ Agnes stehen und ging zum Treppenhaus, schnell, bevor sie doch noch an eine höhere Bestimmung zu glauben begann. Vor einigen Tagen war der Ordner Wallner auf ihrem Schreibtisch gelandet, und sie hatte tatsächlich Waldner gelesen. Sofort war ihr Agnes durch den Kopf gegangen. Was aus der geworden ist, hatte sie sich gefragt und war, nachdem sie die Verwechslung der Namen erkannt hatte, kurz in Versuchung gewesen, sich den Waldner-Ordner bringen zu lassen. Sie ließ es aber bleiben, denn, so sagte sie sich, was begraben ist, soll begraben bleiben – und der Fall Agnes Waldner war tief begraben. Und doch, jetzt lief die ihr direkt in die Arme! War das eine, wie die neue Psychologin, die gerade erst ihr Studium beendet hatte, dauernd zu sagen pflegte: eine sich selbst erfüllende Prophezeiung?
Agnes rannte, als könnte sie so ihrem Schicksal entkommen. Sie rannte aus der Wirtschaftskammer, die Hofgasse hinunter, über den Hauptplatz, an der Kirche vorbei, die der heiligen Katharina geweiht war, die, als Helferin bei Zungenleiden und Sprachschwierigkeiten, ihr aber heute nicht besonders geholfen hatte. Schließlich rannte Agnes auf der Bundesstraße aus der Stadt.
Zwei Kilometer. Drei. Fünf. Sie rannte so lange, bis es in ihrem Kopf wieder still und leer war. Dann ging sie. Bis nach Hause waren es noch zwanzig Kilometer, aber sie würde die Zeit brauchen, um zu sich zurückzufinden. Jeder Schritt ein neuer, eigener Gedanke. Diese Gedanken würde sie aufeinandertürmen und mit Nut und Feder verbinden, wie das Ständerwerk einer Scheune – dann ergab alles wieder einen Sinn.
Ein paar Autos verlangsamten ihre Fahrt, die Männer lehnten sich aus dem offenen Fenster und boten an, sie mitzunehmen, aber Agnes schüttelte den Kopf. »Dann nicht!« Die Abgewiesenen legten den Gang ein und beschleunigten so hart, dass Agnes dachte, jetzt sollten sie aber schalten, sonst zahlt es ihnen die Zylinderkopfdichtung heim.
Und dann: Die Puch 50 Racing von Jo erkannte sie, noch bevor sie in der Kurve hinter ihr auftauchte. Die geänderte Übersetzung – ein größeres 13er-Ritzel – und der ausgetauschte 17er-Vergaser waren unüberhörbar und trieben das Moped zu einer unerlaubten Höchstgeschwindigkeit an. 85, 87 Stundenkilometer ließen sich machen, mit Rückenwind auch 90, aber man musste beim Bremsen aufpassen, denn da waren normale Trommelbremsen dran und keine Scheibenbremsen, die man viel besser dosieren konnte. Einmal waren sie alle vor der Schule um Jos Moped herumgestanden und hatten diskutiert, wie man es noch schneller machen konnte. Vom 36er-Kettenrad, Tuning-Auspuff oder einem größeren Zylinderkit wurde alles erörtert, als Agnes sagte: »Du kannst auch den Zylinder um zwei Millimeter höher legen, dann den Kolben einseitig kürzen und den Zylinderkopf abdrehen.« Weil alle sie anschauten, als hätte sie was Schweinisches gesagt, erklärte sie schnell: »Wegen der Kompression, ihr Deppen.« Da hatte der Fredi gelacht: »Wie bei meiner Oma, die hat auch Kompression und trägt Kompressionsstrümpfe!«
Seitdem hatte Agnes ihren Ruf weg. »Fräulein Mechanikerin, ich möcht meinen Kolben nicht kürzen, sondern stramm verlängern.« »Frau Schrauber, mein Zylinderkopf glüht, was mach ich denn nur dagegen? Muss ich ihn nicht sofort in eine schmierige Öffnung stecken?« »Hoffentlich verliert er dann nicht zu viel Öl!«
Jo bretterte, schrill wie eine Kreissäge, an Agnes vorbei, bremste dann aber hart ab. Das Hinterteil der Puch schlenkerte wild. Warum hält er bloß, fragte sich Agnes, will er mich gar aufsitzen lassen?
Ich wünsche mir, einmal auf der Puch Racing hinter dem Jo zu sitzen. Ich würde mich ganz nah an ihn schmiegen, die Arme vor seinem Bauch verschränken und Brust und Wange an seinen Rücken legen. Jedes Mal, wenn er schaltet, würde ich durch das T-Shirt die Bewegung seiner Muskeln spüren, die so zucken, als würden sie eine Nachricht morsen. Meine Oberschenkel würden unter seinen liegen, und meine Knie würden in seine Kniekehlen einrasten. Und wenn sich Jo in die Kurve legt, würde ich seine Bewegung synchron mitmachen, wie der Schatten die Bewegung seines Besitzers mitmacht …
»Hast den Bus verpasst?«
Agnes nickte. »Genau.«
»Willst mitfahren?«
»Ja. Wennst mich mitnimmst.«
Kurz deutete sein Kopf nach hinten. Agnes schwang sich auf die mit schwarzem Isolierband geflickte Sitzbank, und ehe sie noch die Arme um ihn legen konnte, fuhr er los.
Drei Tage später, an einem Montag Anfang Juni, radelte Agnes durch die Hügel der Tallandschaft in Richtung Cronberg. Es war der erste warme Frühsommertag, und obwohl der Streitkogel und die Flanken des Steinernen Meersnoch dick mit Schnee bedeckt waren, reichten die eisig kalten Fallwinde nicht mehr bis ins Tal hinab. Die Wiesen standen hoch und voll blühender Vielfalt, die Böschungen waren mit Lupinen zugewachsen, und wenn Agnes die Augen zusammenkniff, dann verschwammen die Kerzen zu Wellen eines violett-roten Meeres mit gelben und weißen Segeln.
Nach zwei Kilometern bog sie von der Bundesstraße ab und radelte vor den Haupteingang der Raiffeisengenossenschaft/Agrar. Sie sollte sich beim Standortleiter vorstellen und die Registriernummer der Berufsberatung abgeben, um nach den Sommerferien die Lehre anzutreten. Fast zwei Monate würde sie noch für sich haben, bevor der Ernst des Lebens,wie die Klassenlehrerin Heugl immer warnte, eintreten würde. Mehr oder weniger für sich, denn sie würde sich hauptsächlich um die Mutter kümmern, die Geschwister im Zaum halten, den Vater entlasten. Vielleicht würde sich noch einmal eine Spritztour mit Jo ergeben. Seit der Fahrt am Freitag verlor sich Agnes in Fantasien. Sie brauchte sich in Gedanken nur in die lang gezogene Kurve hinter dem Erlenbruch legen, und schon spürte sie sich mit Jo in einem Einklang, von dem Christina Stürmer sang. Ich hör auf mein Herz! Ich will den Verstand verlieren …
Ein schrilles Piepsen holte sie zurück, das Haupttor zur Lagerhalle fuhr auf. Die fünf Angestellten, die davor gewartet hatten, traten die Zigaretten aus, spuckten ins Gebüsch oder auf den Boden und gingen hinein. Agnes kannte sie vom Sehen, wie sie alle in der Gegend irgendwie kannte. Jeder war mit jedem um drei Ecken verwandt oder verschwägert. Wie Rudi und Heinz, die beide zur entfernten buckligen Verwandtschaft der Mutter gehörten, wie der Vater sagte, wenn er sie ärgern wollte. Die beiden hatten sich angestoßen, als Agnes herangefahren war, und hatten ihr Blicke zugeworfen. Sie waren im zweiten Lehrjahr. In der Schule waren beide Sitzenbleiber gewesen. Immer gluckten sie zusammen, und weil Heinz ein Brocken war und Rudi ein schmales Handtuch, rief man sie schon immer Dick und Doof. Aber sich selbst nahmen sie gänzlich anders wahr: Sie waren Frauenversteher und Herzensbrecher. Und sie prahlten immerzu, sie könnten am Lachen und Kichern der Mädchen heraushören, ob diese noch Jungfrauen seien.
Warum muss ich immer die Idioten abbekommen, fragte sich Agnes, als sie das Fahrrad in den Ständer schob und abschloss. Kann es nicht einmal eine positive Überraschung geben?
Die Hochregale der Halle waren bis unter die Decke gut gefüllt. Agnes’ Augen glitten über die Beschriftung. Saatgut, Futtermittel, Pflanzenschutz, Düngemittel, Baustoffe. Zwischen den Regalen lief der Hubwagen auf einer Schiene, der bis ins höchste Regalfach gesteuert werden konnte, um dort das gewünschte Produkt herauszuziehen und nach unten zu fahren.
Agnes schaute kurz am Auslagerungsbereich Düngemittel zu, wie der Gabelstapler die Bestellung übernahm, und ging dann weiter zur rundum verglasten Bürobox, die in der Mitte der Halle stand.
Sie trat durch die offenstehende Tür. Zuerst dachte sie, es wäre niemand da, aber dann registrierte sie eine Bewegung im hinteren Winkel des Büros. Dort stand einer im dunkelgrünen Arbeitskittel der Genossenschaft und hantierte an der Kaffeemaschine. Agnes klopfte schüchtern an die Glasscheibe. »Entschuldigung …«
»Gleich … dieses Klump! Verrecktes!«
Agnes lief es kalt über den Rücken, und als sich der Mann umdrehte und aus der Ecke trat, war er es wirklich: der Scholtysek.
Auch er war perplex und sah sie ungläubig an.
»Was machst’n hier? Was willst?«
Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass das Mädchen alleine hier war. Dann sah er Agnes wieder an. »Was du willst, frag ich?«
Da war wieder dieser Blick, der sie während der Autofahrt über den Rückspiegel getroffen hatte. Sie stammelte: »Ich … ich komm … Sie arbeiten hier?«
»Wenn’st nichts dagegen hast – ich bin jetzt der Standortleiter.«
Agnes verkrampfte. Scholtysek strich die Haartolle nach hinten. Er grinste. Dann trat er direkt vor sie und schaute sie ungeniert an. Als wäre er Elvis Presley in Las Vegas. Das Original. Im grünen Arbeitskittel der Raika.
»Ganz die Mutter. Immer was Impertinentes im Gesicht. Was gibt’s?«
Agnes bekam kein Wort heraus. Scholtysek nahm ihr die Papiere aus der Hand.
»Aha. Registriernummer von der Berufsberatung. Sieht aus, als würd’st Lehrling bei uns werden woll’n.«
Agnes nickte unsicher. Der kann auch anders, hatte die Mutter gesagt.
Scholtysek lächelte. »Schön, dass du wenigstens nickst. Ich dacht schon, ich wär dir auch nicht zivilisiert genug! Wie deiner Mutter. Aber lassen wir das. Wirst also Einzelhandelskaufmann. Drei Lehrjahre, einmal pro Woche Berufsschule …«
»Aber mich interessiert alles mit Technik und Motor!«, fiel Agnes ihm ins Wort und war selbst überrascht, dass sie das fertigbrachte. »Ich will nicht Einzelhandelskaufmann, ich möcht Landmaschinenmechaniker lernen.«
Ansatzlos gab Scholtysek ihr eine Ohrfeige. Agnes hielt die brennende Wange und sah ihn fassungslos an. Er taxierte sie. Gesicht. Brüste. Schoß. Durchsichtig wie ein Fliegenflügel kam sie sich vor. Hätte sie doch heute kein Kleid angezogen!
»Damit wir uns verstehen. Wer mit mir kooperiert, hat’s leichter im Leben. Wer mir dumm kommt …« Die Drohung hing unmissverständlich in der Luft. Der kann auch anders. Jetzt wusste sie es.
Scholtysek sah nach draußen, wo Rudi vor der Bürobox stand und wahrscheinlich schon die längste Zeit zugeschaut hatte. Er winkte ihn herein.
»Chef?«
»Sie ist der neue Lehrling. Gib ihr eine Arbeitshose, zeig ihr Umkleide, Lager … Sie soll dann in Haus, Hof und Garten anfangen.«
Agnes sah erschrocken auf. »Aber …«
»Was aber?!«
Agnes schluckte die Angst hinunter, wie sie damals im Heim ihr Erbrochenes hatte hinunterschlucken müssen. »Die Lehrzeit fängt doch erst im Herbst an«, sagte sie leise.
»Was? Ich versteh nicht! Etwas lauter, bitte! Oder machst du die arrogante Frau Mama nach?«
»Die Lehrzeit fängt erst im Herbst an«, sagte Agnes bestimmt.
Scholtysek trat nah vor sie. Sie konnte seine Wut riechen. Scharf. Wie Ammoniak. Und da war noch was in diesem Geruch. Aber bevor es ihr einfiel, duckte sie sich. Bestimmt hätte er nochmals zugeschlagen, wenn nicht Rudi in der Tür herumgestanden hätte und nicht wusste, ob er sich verkrümeln oder Zeuge bleiben sollte.
»Ich sag dir was, Fräulein Superschlau! Deine Lehrzeit beginnt heute. Jetzt. In dieser Sekunde.«
Er tippte auf eine Passage eines der Papiere, die er ihr abgenommen hatte, und hielt ihr das Blatt direkt vors Gesicht.
»Hier. Was steht hier?«
Agnes sah nichts. So nah vor den Augen tanzten die Buchstaben.
»Was ist? Bist vielleicht ein Analphabet? Kannst nicht lesen?« Er spielte den Fassungslosen für Rudi. »Ja gibt’s denn so was? Heutzutage. Na, bei der Familie kein Wunder! Nach außen immer ein Riesentamtam, als wären’s gekrönte Häupter, und dann können’s nicht einmal lesen. Komm her!« Er winkte Rudi heran. »Lies vor.«
»Aber ich …«
»Vorlesen!«
Über jede Silbe stolpernd, las Rudi vor. »Den ge-nau-en Be-ginn der Lehr-zeit gilt es mit dem Leh-r-her-ren …«
Scholtysek verdrehte ob des Gestammels die Augen, riss Rudi das Papier wieder aus den Fingern und las den Satz zu Ende. »… abzustimmen und sich seinen Notwendigkeiten unterzuordnen!«
Er hielt die Seite hoch, wie das Los mit dem Tombola-Hauptgewinn. »Mitgekriegt? MitdemLehrherrenabzustimmenundsichseinenNotwendigkeitenunterzuordnen!Mir fehlen im Augenblick drei Angestellte«, fuhr er Agnes an. »Sommergrippe, Brechdurchfall und beim Edi hat’s den Verdacht auf Tollwut. Diese Arschlöcher! Krankmelden! Jetzt, in der Hauptsaison! Deswegen packt jetzt jeder hier an, kapiert? Rudi, Abgang!«
»Alles klaro, Chef!«
Rudi fasste Agnes am Arm und zog sie mit sich.
Scholtysek sah ihnen durch die Scheibe nach, bis sie hinter den ausgestellten Eggen und Heuwendern verschwunden waren. Dann schlug er Agnes’ Unterlagen auf. Agnes Waldner, fast sechzehn. Vater: Wenzel. Mutter: Marie. Dass jetzt alles so massiv zurückkommt, wunderte er sich. So unvorhergesehen. Erinnerungen, die schon längst begraben waren. Hatte er damals tatsächlich den letzten Schuss versemmelt? Oder hatte der aufkommende Wind das Wasser gekräuselt?
Als Agnes und Rudi außer Sichtweite waren, sagte der: »Widersprich einfach nicht. Dann kommst am besten mit ihm klar.« Im Umkleideraum wühlte er in einem Karton, zog ein eingeschweißtes Paket heraus und warf es Agnes zu. »Firmenuniform. S ist die kleinste Größe, müsste passen … Weil, wenn’s nicht nach seinem Kopf geht, dann wird er fuchsteufelswild.« Er klopfte auf einen offen stehenden Spind und klappte die Tür mit einem Fußtritt zu. »Dein Spind. Den Schlüssel behältst du … immer. Ich heiß Rudy. Du?«
»Ich weiß, dass du Rudi heißt, du warst eine Klasse über mir …«, antwortete sie.
»Ja, aber hinten nicht mehr mit i, sondern mit y, klingt gleich anders, amerikanisch.«
»Super.«