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Die 13-jährige Anna lebt seit kurzem mit ihrer Mutter in einem kleinen Dorf. Zum Glück findet sie dicke Freunde wie Paul und Chiara. Die hat sie bitter nötig, denn in ihrer Schule gibt es üble Typen wie "Glatze" und "Bär", die ihr das Leben zur Hölle machen. Dazu kommt die unheimliche Begegnung mit einem Wolf. Gerüchte über einen alten Mann und dessen Wölfe führen Anna und ihre Freunde zu einem geheimnisvollen Fremden im Wald. Durch einen schweren Unfall, skrupellos herbeigeführt, verliert sie den Boden unter den Füßen. Ihr bleibt nur noch eine Hoffnung: die Hilfe des geheimnisvollen Fremden ...
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2017
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NEUBEGINN
EIN SCHWARZES UNGEHEUER
DER PARADIESVOGEL
TIGER
EINE UNHEIMLICHE BEGEGNUNG
DIE VERSCHWÖRUNG
DER ABSTURZ
EIN AUSSERGEWÖHNLICHER GEBURTSTAG
AUF SPURENSUCHE
DER „COUNTDOWN“ LÄUFT
WÖLFE
ABSCHIED
Anna saß in ihrem Korbsessel vor der Fensterbank. Sie schüttelte unwillig ihre langen hellblonden Locken und starrte nach draußen. Dicke Schneeflocken wie aus Watte fielen langsam zu Boden. Es dauerte nicht lange und die Wiese unter dem Fenster wechselte ihre Farbe von graugrün nach weiß.
„Wenigstens Schlitten oder Ski fahren kann ich bald in diesem gottverlassenen Nest!", dachte Anna. Sie stützte ihren Kopf mit beiden Händen, die Ellenbogen ruhten auf der Fensterbank.
Weihnachten war vorbei, die Ferien gingen langsam zu Ende.
In vier Tagen begann die Schule wieder. Für sie war es allerdings eine neue Schule, denn Annas Mutter hatte sich einfallen lassen, aufs Land zu ziehen. Anna fiel aus allen Wolken, als ihre Mutter ihr diesen Entschluss mitteilte. Anna hatte keinen Einfluss auf diese Entscheidung, sonst wären sie nie aus München weggezogen. Hier hatte sie ihren Judo Club, ihre Freundinnen und Freunde. Außerdem war in einer Großstadt immer etwas los. Wer Langeweile hatte, war selber schuld. Nun musste sie sich neue Freunde suchen. Judokurse gab es auch nicht, vielleicht in Fürstenfeldbruck oder Landsberg, aber die Fahrerei dorthin reizte sie nicht gerade. Natürlich wusste Anna, dass ihre Mutter nicht zu ihrem Vergnügen aufs Land gezogen war. Seit Annas Vater sie verlassen hatte, musste sie alleine mit allen Problemen fertig werden. In Kaltenberg, in der Nähe, wohnte Annas Oma und die Wohnungsmieten hier auf dem Land waren niedriger als in München. Als dann die Sparkasse eine neue Fachkraft suchte, meldete sich Frau Wächter, Annas Mutter, und sie erhielt prompt die Stelle. Nun halfen Jammern und Klagen auch nichts mehr. Anna musste sich in ihr Schicksal fügen und das Beste daraus machen.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken herausgerissen: „Anna, komm bitte mal her und hilf mir beim Hochtragen der vielen Kartons! Sie sind ziemlich schwer!" Anna hatte keine Lust dazu, aber es gab auch keine passende Ausrede. Außerdem brauchte ihre Mutter sie wirklich. Während diese nämlich relativ klein und nicht gerade stark war, gehörte Anna immer zu den größten Mädchen ihrer Klasse. Ihre Kräfte überstiegen bei weitem die der meisten Jungen ihres Alters. Ihre Muskeln verdankte sie dem wöchentlichen Judotraining und, wie ihre Mutter behauptete, ihrem Vater. Herr Wächter war groß und breit wie ein Kleiderschrank, jedenfalls in den Augen von Annas Mitschülern. Und das wollte schon etwas heißen.
„Anna, wenn du mir nicht sofort hilfst, gibt es heute kein Abendessen mehr, verstanden?" Anna erhob sich aus ihrem gemütlichen Korbsessel und marschierte die Treppe hinunter.
Frau Wächter hatte schon alle Kartons sortiert. Sie legte gerade eine Verschnaufpause ein und atmete tief durch. Annas Blick fiel zuerst auf die Kartons und danach auf ihre Mutter. Als sie diese schon etwas müde und erschöpft so dastehen sah, lief sie auf sie zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr: „Würdest du einmal die Woche Muskeltraining machen, so wie ich, hätten wir die Arbeit in zehn Minuten geschafft! Aber weil ich dich liebe, helfe ich dir auch solange bis wir fertig sind!" Frau Wächter lächelte ihre Anna an: „So ganz Unrecht hast du nicht. Es täte außerdem meiner Figur gut." Dabei schaute sie zuerst wohlwollend ihre schlanke Tochter und dann missbilligend ihre eigenen rundlichen Körperformen an.
Nun ging es aber richtig los und nach knapp zwei Stunden hatten sie alle Kisten in die entsprechenden Zimmer verteilt und einige sogar schon ausgeräumt. Zum Abendessen gab es Spaghetti mit Tomatensoße und Annas Lieblingsjoghurt. Hm! Der Duft von dampfenden Nudeln und frisch geriebenem Parmesankäse zog durch die kleine Wohnung und Anna verlangte Nachschlag. „Hast du dir schon alle Bücher und Hefte besorgt, die du brauchst?" Frau Wächter drängte darauf, dass alles Wichtige erledigt war, bevor sie am siebten Januar ihre neue Stelle in der Sparkasse antrat. „Ich habe noch nicht alles, aber morgen gehen Oma und ich einkaufen." „Zum Glück gibt es in diesem Dorf keine Hüte zu kaufen! Das hoffe ich jedenfalls!", erwiderte ihre Mutter und holte zwei Schälchen mit Erdbeerjoghurt aus der Küche, auf die sie eine kleine Sahnehaube gespritzt hatte.
Annas größte Sammelleidenschaft gehörte Hüten und Mützen aller Art. Natürlich mussten es ausgefallene Modelle sein, die zu ihr passten. Da ihre Freunde und Verwandten diese Leidenschaft kannten, entstanden innerhalb einiger Jahre wahre Berge von Hüten und Kopfbedeckungen aller Art in Annas Zimmer.
Anna hatte ihre Mutter sehr lieb. Die Beziehung zum Vater kühlte stark ab, als er sich nach der Trennung kaum noch für sie interessierte. Eine neue, junge Frau trat in sein Leben. Seitdem konnte Anna froh sein, wenn sie von ihm zu Weihnachten und zum Geburtstag ein Paket erhielt. Ansonsten besuchte sie ihn einmal im Jahr oder sie verbrachten einige Tage als Kurzurlaub miteinander an einem See oder in den Bergen. Angeblich fraß ihn sein Beruf als Flugkapitän bei der Lufthansa auf.
Die kommenden Tage schlichen so langsam wie dicke Weinbergschnecken dahin. Dann war es endlich soweit. Der erste Schultag in der neuen Schule begann. Die neuen Bücher und Hefte wanderten schon am Abend zuvor in den Ranzen und Anna konnte vor Aufregung und Erwartung kaum schlafen. Wie würde die Klasse sie aufnehmen? Waren die Lehrer erträglich? Konnte sie Freunde gewinnen? Wenn sie schon weder Bruder noch Schwester hatte, so waren Freunde umso wichtiger. Noch nicht einmal einen Hasen oder eine Katze durfte sie haben! Trat sie mit dieser Bitte an ihre Mutter heran, kam prompt die Gegenfrage: „Und wer kümmert sich um das Tier, wenn wir beide nicht zu Hause sind oder in Urlaub fahren wollen? Und wie viel Zeit bleibt dir neben deinen Judokursen und Schularbeiten? Es würde alles an mir hängen bleiben!"
Immer die gleichen Sprüche! Manchmal konnten Eltern sehr nervend und anstrengend sein.
„Beeile dich mit dem Frühstück! Wenn du mit den Skiern durch den Wald zur Schule fahren willst, wird es jetzt Zeit!" Frau Wächter schien heute genauso unruhig zu sein wie Anna. Machte sie sich etwa auch Sorgen darüber, wie ihre Tochter in der neuen Schule zurechtkommen würde? Oder war sie nervös, weil ihr erster Arbeitstag in der Sparkasse heute begann? Anna packte schnell ihre Brotzeit in den Ranzen, lief zu ihrer Mutter, legte von hinten liebevoll die Arme um sie und flötete ihr ins Ohr: „Mach dir bitte keine Sorgen! Und iss bitte nicht schon wieder meine letzte Schokolade auf! Denk daran: Wir sind stark. Wir schaffen das schon.“ Schokolade war für Annas Mutter Leidenschaft und Seelentröster zugleich. Suchten Sorgen und Kummer sie heim, stibitzte sie im Notfall auch Annas Süßigkeiten. Selbst das schlechte Gewissen, das sie anschließend überfiel, konnte sie nicht davon abhalten. Selbstverständlich ersetzte sie ihrer Tochter den entstandenen Verlust.
Frau Wächter drehte sich herum, drückte Anna fest an sich und gab ihr dann einen leichten Klaps auf den Po: „Nun aber hinaus mit dir!" Anna zog blitzschnell ihre Winterjacke an, setzte eine ihrer verrückten Fellmützen auf, warf sich den Ranzen über die Schulter und sauste davon. Sie traute ihren Augen kaum, als sie vor die Haustür trat und ihre Skier anlegte: ein fast zehn Zentimeter dicker, weißer Watteteppich aus Schnee bedeckte das Dorf. Die Autos schoben und kämpften sich langsam durch die verschneiten Straßen. Grau und allzeit bereit, noch größere Schneemassen aus seinen Schleusen zu entlassen, breitete sich der Himmel über den Häusern aus. Anna fuhr zuerst über die Dorfstraße, dann durch Wald und Feld, bis sie auf dem Parkplatz vor der Schule ankam.
Es war ein modernes Gymnasium mit angeschlossenem Internat, in der Nähe einer alten Kirche und eines Friedhofes. Anna spürte, wie ihr Herz heftig zu pochen begann. Sie löste die Skier, klopfte den Schnee ab und stellte sie an eine Seitenwand des Gebäudes. Hoffentlich waren sie heute Mittag noch da!
Einige Schüler liefen eilig an ihr vorbei. Bevor sich die Tür wieder schloss, konnte sie noch schnell hineinschlüpfen. „Kannst du mir sagen, wo die Klasse von Herrn Paulsen ist, die 7b?", fragte Anna einen schmächtig wirkenden Jungen mit roten Haaren. „Ja, die Treppe hoch und die zweite Tür rechts!" Er verschwand schnell in einem rechts abbiegenden Gang. Flotten Schrittes ging Anna die breite Treppe hinauf. Ein Mann, mittelgroß, mit braunen, sehr kurz geschnittenen Haaren und blauen Augen schien sie schon eine Weile beobachtet zu haben: „Bist du Anna Wächter?", fragte er und schaute sie erwartungsvoll und freundlich an.
Sein etwas volles Gesicht wirkte fröhlich und sein Blick flößte Vertrauen ein. „Ja!", nickte Anna. „Ich bin Herr Paulsen, dein Klassenlehrer. Willkommen in der 7b! Ich nehme dich jetzt mit hinein zur Rasselbande und stelle dich ihr vor. Oder willst du das selber tun?" Herr Paulsen öffnete die Tür zum Klassenzimmer, aus dem ihnen lautes Stimmengewirr entgegenschallte. Als die Schüler Herrn Paulsen und Anna entdeckten, herrschte urplötzlich angespannte Stille: „Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren!", rief Herr Paulsen gut gelaunt in die Klasse. „Darf ich Ihnen Ihre neue Mitschülerin Anna vorstellen?" „Wenn's unbedingt sein muss", ertönte eine Jungenstimme. Alles lachte und schaute zu dem vorlauten Bengel, der sich schon am frühen Morgen in den Vordergrund spielen musste. „Glatze, tust du mir bitte wenigstens heute den Gefallen und zeigst dich von deiner charmanten Seite?", fragte Herr Paulsen und schaute dabei einen schlanken Jungen mit großen, braunen Augen und Glatze - so sah es jedenfalls aus, da er seine dünnen blonden Haare millimeterkurz abgeschnitten hatte - durchdringend an. Glatze blieb ruhig, grinste nur noch, kratzte sich hinter dem rechten Ohr und musterte Anna sichtlich vergnügt. Herr Paulsen fuhr fort: „Glatze ist natürlich sein Spitzname. In Wirklichkeit heißt er Philipp. Übrigens habe ich die Erlaubnis ihn bei seinem "Kosenamen" zu nennen!" Alle lachten. Als Annas Blick und der des Jungen sich trafen, erschrak sie. Irgendwie flößte er ihr Angst ein. Kalt und stechend wirkten die Augen auf sie und beinahe unheimlich der gesamte Gesichtsausdruck mit den verkniffenen, schmalen Lippen.
„Anna, erzählst du uns etwas über dich?" So plötzlich aus den Gedanken gerissen, zuckte sie leicht zusammen und fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Anna wurde rot. Alle Schüleraugen waren auf sie gerichtet. Sowohl die Jungen als auch die Mädchen musterten die Neue aufmerksam. Ihre blonden Locken fielen etwas wild und ungebändigt über die Schultern. Sie trug heute eine blaue Jeans, der sie mit einer farbigen Bordüre an den Säumen und Tascheneinfassungen ihre persönliche Note gegeben hatte, ein kariertes, flauschiges Hemd und darüber ein einfarbiges, blaues Tuch, lässig übergeworfen. Die Mädchen kicherten: „Die neueste Mode trägt sie nicht gerade!" „Aber sie sieht tausendmal flotter und origineller aus als ihr alle zusammen!", zischte Paul ihnen entgegen. Er war recht groß, hatte braune Haare, blaue Augen und wirkte auf Anna sehr sympathisch. „Und grüne Augen wie Meeresalgen hat sie auch, vielleicht ist sie eine blonde Hexe und verzaubert euch!", kicherte Felix und war sofort wieder still, weil Herr Paulsen „Ruhe!", rief.
Anna warf ihre Haare zurück und begann zu erzählen, wie alt sie war und dass sie aus München hierherziehen musste. Anerkennend klopfte Herr Paulsen auf den Tisch, einige Schüler folgten ihm, dann forderte er Anna auf, sich neben ein dunkelhaariges Mädchen zu setzen, das schüchtern und allein an einem der Tische saß. „Wie heißt du?", fragte Anna. „Chiara", kam es leise zurück. Die Schulstunde verging rasch. Schrill ertönte das Pausenzeichen. Geräuschvoll verschwanden alle Bücher und Materialien in den Taschen. Als Anna aufstand, um hinauszugehen, hörte sie noch Chiara sagen: „Du kannst mich immer fragen, wenn du etwas wissen willst. Es ist nicht leicht, mitten im Schuljahr die Schule zu wechseln." „Danke!", rief Anna schnell.
Es folgten noch einige Unterrichtsstunden, unter anderem eine ihr ungeliebte Chemiestunde. Dann war der erste Schultag vorbei und alle Schüler der 7b machten sich auf den Heimweg. Zum Glück standen die Skier noch dort, wo Anna sie hingestellt hatte und so konnte die Rückfahrt beginnen. Es dämmerte bereits und der Schneeteppich hatte an Dicke noch zugenommen. Über dem Dorf war die Wolkendecke allerdings aufgerissen und von dort warf die untergehende rote Abendsonne noch ein paar warme, lachsfarbene Strahlen auf die weiße Schneedecke. Dort, wo sie hinfielen, glitzerte der Schnee wie ein mit Diamanten besticktes Tuch in allen Regenbogenfarben. „Schön!", dachte Anna während sie loslief. Nach einigen Minuten hörte sie bereits eine Stimme hinter sich: „Warte doch mal auf mich, Blondie! Ich möchte mit dir reden!" Anna zuckte innerlich zusammen, denn sie glaubte die Stimme zu kennen. Sie drehte sich kurz um: Tatsächlich! Es war Glatze! Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie lief schneller, ohne zu antworten. „Was ist los mit dir? Bist du stumm geworden? Bleib schon stehen! So ein hübsches Mädchen habe ich mir seit langem als Freundin gewünscht. Wir wären ein schönes Paar." „Lass mich in Ruhe! Ich suche mir meine Freunde selber aus! Außerdem mag ich es nicht, wenn man mich von hinten anquatscht!", rief Anna zurück und steigerte erneut ihr Tempo.
Das aber hätte sie nicht sagen sollen. Glatze nahm seine ganze Energie zusammen und raste hinter ihr her. Anna spürte das und schaute sich nach ihm um. Oh weh! Er folgte ihr dicht auf den Fersen und hatte sie bald eingeholt. Sein Blick und seine Körperhaltung verrieten, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Was war also zu tun, wenn sie ihm schon nicht entwischen konnte?
Kurz entschlossen blieb sie stehen. Verdutzt fuhr Glatze an sie heran und stoppte: „Hast du es dir anders überlegt?", fragte er lakonisch und grinste über das ganze Gesicht. Gleichzeitig legte er seinen Arm um ihre Schultern. „Fass mich nicht an!", fauchte Anna wutentbrannt. „Zum letzten Mal! Hau endlich ab, sonst erlebst du etwas!" Glatze lachte laut los und wollte Anna gerade zu sich heranziehen, als er einen stechenden Schmerz im Oberschenkel verspürte. Er schrie heulend und mit verzerrtem Gesicht auf, griff sich mit beiden Händen an den verletzten Schenkel und brüllte: „Das wirst du mir büßen, du Miststück!"
Anna hatte in ihrer Not den Skistock genommen und ihn mit ziemlicher Wucht Glatze in den Oberschenkel gestoßen. Das tat gemein weh! Aber er hatte es sich selber zuzuschreiben. Blitzschnell ergriff sie danach die Flucht. Sie musste die Zeit nutzen, in der er mit seinen Schmerzen beschäftigt war. Ihre Rechnung ging auf. Außer Atem kam sie zu Hause an. Nachdem sie mit letzten Kräften die Skier im Keller verstaut hatte, rannte sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Sie öffnete die Tür und war froh, dass die Mutter noch nicht von ihrer Arbeit zurückgekommen war. Sollte sie mit ihr darüber reden? Wie würde sie darauf reagieren? Konnte sie ihr helfen oder machte sie sich nur unnötige Sorgen? Anna beschloss, zuerst einmal alleine nach einer Lösung zu suchen. Wenn sie doch schon Freunde in der Klasse hätte!
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: „Bin schnell einkaufen gegangen. Du kannst ja schon einen Salat machen. Wie du weißt, bleibt die Küche kalt, wenn ich arbeiten muss! Gruß Mama“. Richtig, Anna bekam nun wieder "Kantinenessen". Nur an den Wochenenden oder in den Ferien wurde daheim gekocht. Schnell erledigte sie die letzten Schulaufgaben. Dann putzte Anna Salat, stellte aus Öl, Essig, Kräutern und Gewürzen eine passende Soße her und goss sie über die frischen, grünen Blätter und roten Tomaten. Die Geschmacksprobe ergab das Urteil: Zufriedenstellend. Endlich hörte Anna ein ihr wohlbekanntes Geräusch. Das Türschloss öffnete sich mit einem leisen Klicken und die Mutter stand in der Tür. „Na, wie verlief dein erster Schultag, Anna?", fragte Frau Wächter gespannt und schaute ihre Tochter erwartungsvoll an.
„Schön ...", antwortete sie, schaute ihrer Mutter dabei aber nicht in die Augen. „Das klingt ja nach großer Begeisterung!", meinte Frau Wächter und stellte den Einkaufskorb auf den Küchentisch. Ihr Blick verriet, dass sie sich so ihre Gedanken dazu machte.
„Und wie war es bei dir in der Sparkasse?", erkundigte sich Anna, nicht ganz bei der Sache. „Freundlich und hilfsbereit sind die meisten Kollegen und der Chef macht auf mich einen sympathischen Eindruck." „Prima!", kam es zurück. Der Abend ging rasch vorbei. Anna war müde und ging zu Bett. Sie plante, sich so schnell wie möglich nach Judokursen umzusehen. Immerhin trug sie schon den gelben Gürtel. Den schwarzen Gürtel zu erkämpfen das war ihr größtes Ziel. Der heutige Tag hatte bestätigt, dass man sich wehren können muss. Anna drückte auf den Knopf ihrer Nachttischlampe. Nachdem die Dunkelheit sie eingehüllt hatte, kreisten ihre Gedanken erneut um ihren Zusammenstoß mit Glatze. Was erwartete sie morgen in der Schule? Würde Glatze sich an ihr rächen?
Anna schlief sehr unruhig. Dunkle Gestalten, die sie verfolgten, hässliche Gesichter, zu Fratzen verzerrt und ein schwarzer Abgrund, in den sie hineinfiel. So sahen die Träume aus, die Anna heimsuchten. Schweißgebadet wachte sie danach viel zu früh auf. Die warme Dusche tat ihr jetzt richtig gut und beruhigte sie ein wenig. Frau Wächter wunderte sich, dass Anna schon so zeitig am Frühstückstisch saß. „Anna, heute kannst du nicht mit den Skiern zur Schule fahren. Alle Wege und Bürgersteige wurden bereits gestreut. Solch eine Schneemenge wie gestern gibt es nur selten. Da du mit dem Frühstücken gleich fertig bist, nehme ich dich mit dem Auto mit, einverstanden?" „Na klar", murmelte Anna mit vollem Mund und fünf Minuten später brachen sie auf. Frau Wächter spürte, dass mit ihrer sonst redseligen Tochter etwas nicht stimmte, aber sie wusste nicht, ob es klug war, sie vor Schulbeginn auszufragen. Deshalb blieb es recht still in dem kleinen VW bis Anna die Tür zuschlug und auf das Schulgebäude zulief.
In der Klasse ging es schon lebhaft zu. Chiara winkte ihr plötzlich zu und flüsterte ihr, als sie Platz genommen hatte, ins Ohr: „Die Jungen tuscheln geheimnisvoll miteinander! Glatze schaut finster und aufgeregt in die Runde. Er brütet bestimmt wieder eine Gemeinheit aus. Jetzt starren sie dich an, Anna! Hast du eine Ahnung, was hier los ist?"
Tatsächlich! Eine kleine Gruppe von Jungen hatte sich um Glatze geschart und musterte nun Anna. Wenn Blicke töten könnten, läge Annas Körper in diesem Moment leblos am Boden. So abgrundtief böse schaute Glatze sie an. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, als sich ihre Blicke trafen. Dann sagte sie zu Chiara: „Ja, ich weiß, was los ist. In der Pause erzähle ich es dir." „Oh weh, Anna, leg dich bloß nicht mit Glatze an! Der ist unberechenbar und hat noch einen passenden Freund in der Parallelklasse! Zusammen sind die oft der Schrecken der Schule. Leider wurden sie bisher noch nicht auf frischer Tat erwischt und die betroffenen Schüler halten die Klappe. Sie haben Angst vor Glatzes Rache. Er soll auch Druckmittel haben, sie zum Schweigen zu bringen. So lassen sie sich tyrannisieren und erpressen.“ „Ich habe mich gestern mit ihm angelegt. In der Pause erzähle ich dir alles! Pst ...! Herr Paulsen kommt!" Anna legte den Finger auf die Lippen und blickte zur Tür, hatte aber die vor Schreck aufgerissenen, großen, braunen Augen von Chiara noch wahrgenommen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, doch zum Glück mussten sich alle Schüler in der kommenden Stunde dem Unterrichtsstoff zuwenden.
Als das Pausenzeichen ertönte, so laut klang es Anna noch nie in den Ohren, schlug ihr Herz wieder schneller. Chiara zog sie sofort am Arm hinaus. Sie fieberte dem Gespräch mit Anna entgegen, dass das Geheimnis endlich lüften würde. Draußen kühlte die frische Schneeluft die erhitzten Gemüter ein wenig ab. Die beiden Mädchen zogen sich in eine ruhige Ecke des Schulhofes zurück. Chiara hörte mit großen, ängstlichen Augen zu, was die Neue gleich am ersten Tag Aufregendes erlebt und gewagt hatte.
Mittlerweile waren auch die Jungen an ihrem Versammlungsort angekommen. Es war die Jungentoilette. Dort roch es zwar etwas streng, aber dafür war man hier für eine Weile ungestört. Glatze wollte außerdem zeigen, zu welcher Brutalität die Neue fähig war. Sein Freund aus der 7a tauchte auf, als die Berichterstattung schon in vollem Gange war.
Er war groß, wirkte breit, plump und tapsig wie ein Bär. Auf seinem Kopf kräuselten sich braune Locken und er schaute aus dunklen Augen finster in die Versammlung hinein.
„Hallo, Bär!", begrüßte ihn Glatze. „Willst du mal sehen, wie mich die Neue in unserer Klasse zugerichtet hat?" Er öffnete seine Hose und ließ sie bis zu der Stelle hinuntergleiten, an der Anna ihn mit dem Skistock verletzt hatte. Ein Wundverband wurde sichtbar. Glatze wickelte ihn ab. Die Jungen schauten erschrocken auf das, was darunter zum Vorschein kam: eine recht tiefe Stichwunde, die zwar nicht mehr blutete, aber mit Sicherheit äußerst schmerzhaft war und ein rot bis lila blau verfärbter Bluterguss, der die Wunde einrahmte. „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Der werden wir es zeigen!", entfuhr es Bär, der eigentlich Ralf hieß. „Es sieht wirklich schlimm aus", sagte Paul. „Bisher haben wir allerdings nur Glatzes Geschichte gehört. Wer garantiert uns, dass es genauso war? Wir kennen Glatze! Er ist kein hilfloses Unschuldslamm, oder?" Die Jungen murmelten, Paul habe vielleicht Recht. Glatze funkelte Paul mit bösen Blicken an: „Hältst du etwa zu dieser blonden Hexe? Hast du dich vielleicht in sie verliebt?" Er lachte hässlich und wollte Paul grob anfassen. Bär aber hielt ihn zurück: „Lass ihn nur. Wir brauchen ihn nicht, um dieses Problem zu lösen. Wer von euch anderen hält zu uns?" Provozierend schaute er sich im Kreis um. Für einige Sekunden herrschte Totenstille.
Die meisten Jungen zögerten mit einer Antwort, weil sie Angst hatten, sich auf Pauls Seite und gegen Glatze zu stellen. Bär und Glatze waren ein gefährliches und unberechenbares Paar. Schließlich ergriff Felix das Wort. Er war zwar ziemlich klein, aber mutig. Er warf seinen blonden Schopf zurück und fixierte Glatze mit seinen blaugrauen Augen: „Paul hat Recht. Ich glaube auch nicht, dass Anna ohne Grund zugestoßen hat. Wir müssen ihr eine Chance geben und hören, was sie dazu zu sagen hat! Zweitens macht es keinen Sinn, Probleme mit Gewalt lösen zu wollen. Dann geht es immer so weiter, bis wir bald alle im Krankenhaus liegen. Wozu haben wir eigentlich unseren Kopf?'' „Ganz schön altklug der Kleine!", brummte Bär. „Oder feige?", fragte Glatze listig wie ein Fuchs.
„Das müssen wir uns nicht anhören!", schaltete sich Paul ein und machte Anstalten zu gehen.
Felix und die anderen Jungen folgten ihm. Bär und Glatze aber blieben noch einige Minuten zurück und beratschlagten, wie sie Anna die passende Lektion erteilen konnten. Am Ende der Pause trafen alle Schüler der 7b wieder im Klassenraum ein. Die Atmosphäre knisterte. Plötzlich bückte sich Paul, hob etwas auf und legte es vor Anna auf den Tisch: „Das gehört, glaube ich, dir!", sagte er und nahm wieder seinen Platz ein. Anna stutzte und überflog den Zettel: „Möchte mit dir über Glatze sprechen. Gibt große Unruhe unter den Jungen. Treffe dich nach der Schule bei der Sparkasse, Paul."
Anna ließ den Zettel in ihrer Hosentasche verschwinden und tat so, als handelte es sich um einen belanglosen Schmierzettel. Natürlich würde sie Paul treffen. Sorgenvoll schaute sie auf die Uhr. Zeit verging manchmal sehr langsam.