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Wolfswinter sind gnadenlos ... Hunger und Kälte ziehen durch die Straßen. Dunkle Gefahren folgen ihnen wie ein Rudel Wölfe. Ob es sich um das Raubtier handelt oder das Monster im Menschen – im härtesten Winter fallen alle Masken. Unsere Anthologie zeigt in sieben Kurzgeschichten, wozu Menschen fähig sind.
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Seitenzahl: 88
Veröffentlichungsjahr: 2024
Autor*innenkollektiv Winterworte
Anthologie
Wolfswinter: Geschichten vom Hunger
Immenwolf
Marie Meier
Witiko
Ariadne Geiling
Der Whisky
Nicole Hobusch
Homo homini lupus
C. F. Srebalus
Der heilige Mahahimal
Mika M. Krüger
Kleiner böser Wolf
Pêcheuse
Mimikri
T. N. Weiß
Content Notes
»Homo homini lupus.«
(Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf)
Wenn diese Anthologie das Licht der Welt erblickt, ist es Winter. Die Bäume haben ihr Laub von sich geworfen, der Himmel ist eine Melange aus Grautönen und an den Fenstern blühen Eisblumen. Das Zwielicht hält die Sonne fern und die Dunkelheit kommt früh. Manche machen es wie die Bären und rollen sich unter Decken zusammen, vielleicht mit einem wärmenden Buch in der Hand. Andere treibt es hinaus in die Parks und Wälder. Dort, wo im Frühjahr und Sommer noch Tiere ihre Tierdinge gemacht haben und Menschen ihren Menschensachen nachgegangen sind, ist es nun still.
Heutzutage verbinden wir diese Stille mit Besinnlichkeit. Wirft man jedoch einen Blick in die Vergangenheit, so hatte diese Jahreszeit eine ganz andere Bedeutung. Der Winter markierte bestenfalls eine Periode des Ausharrens, schlimmstenfalls aber Vergänglichkeit. So geht Ragnarök, dem Untergang der Welt, der dreijährige Fimbulwinter voraus. Vargavinter – Wolfswinter – ist ein anderes Wort für den längsten aller Winter; für den Anfang vom Ende.
In dieser Anthologie wollen wir uns dem Wolfswinter widmen – mal wortwörtlich, mal im übertragenen Sinne. In der Kälte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fragen sich unsere Protagonist*innen, ob ihr Winter eine Periode des Ausharrens ist oder das Ende. Dabei eint sie eines – der Hunger. Damit ist nicht unbedingt nur das Bedürfnis nach Nahrung gemeint: Im poetischen Sprachgebrauch ist hungern ein heftiges Verlangen. Unsere Figuren hungern nach Liebe, Anerkennung, Frieden und Gesundheit. Sie hungern nach Gleichberechtigung, nach finanzieller Stabilität und nach Glück. Und dieses Verlangen – dieses Hungern – macht etwas mit ihnen. Es verwandelt sie. Es zeigt, welches Tier sich hinter ihrer Menschenmaske verbirgt.
Dabei haben wir uns einem Tier besonders verschrieben: Der Wolf ist der Inbegriff des Winters und des Hungers. Seit jeher ist er als Menschenfresser verschrien, als Feind rotmanteliger Mädchen. Zur selben Zeit gibt es jedoch kaum ein Tier, das so eng mit dem Menschen verknüpft scheint – so eng, dass der Übergang von Wolf und Mensch oftmals fließend ist.
Und so wie Wolf und Mensch nur wie zwei Seiten derselben Münze wirken, sind in unserer Anthologie auch Mensch und Monster nur einen Kälteeinbruch voneinander entfernt. Nicht alle Geschichten, die wir erzählen, sind düster, doch keine verlässt das winterliche Zwielicht. Wer bestimmten Monstern und menschlichen Vergehen gern mit Vorsicht begegnen möchte, dem empfehlen wir, einen Blick in die Content Notes am Ende des Buches zu werfen.
Und letztlich bleibt uns nichts übrig, als euch wackeren Leser*innen einen weichen Sessel, eine wärmende Decke und viel Spaß zu wünschen.
Mit wölfisch-winterlichen Grüßen
Marie und Nicole
für das Autor*innenkollektiv Winterworte
Marie Meier
Im Wald lebt ein Wolf und er hat Hunger. Seine Augen lodern im Dickicht, von seinen Zähnen tropft Geifer. Wenn sich die Dunkelheit über das kleine Dorf legt, dann ist der Wolf bereits auf der Pirsch, um die Schwächsten unter ihnen zu reißen. Mit einem Nackenbiss macht er sie mürbe, dann zieht er sie in seine Höhle, um sie zu verspeisen.
Ich spüre seinen Blick, wenn ich Rähmchen, Pfeifen und Wabenzangen zurück in die Regale lege, und ich spüre ihn, wenn ich die Späne zusammenkehre, die vom Zimmern der neuen Bienenstöcke übriggeblieben sind. Wenn ich schließlich die Werkstatttür hinter mir zufallen lasse, dann ist mir, als ob sich sein Atem in meinen Nackenhaaren fängt. Seine Zähne streichen über mein Genick und ich erschaudere.
Ich atme dreimal tief durch, dann drehe ich mich um. Statt zotteligem Pelz und Bernsteinaugen entdecke ich die lungernde Gestalt eines Mannes, der mir munter entgegenzwinkert. Er verströmt ein ruhiges Selbstbewusstsein – wie ein stolzes Tier, das nie den Kopf vor einem anderen beugen würde.
»Ich soll den Honig abholen.« Idan deutet auf den altersschwachen Transporter hinter sich. »Für das neue Hotel. Ihr seid mit dem Schleudern der Läppertracht fertiggeworden, oder?«
Ich betrachte über seine Schulter hinweg die Fahrerkabine des Lieferwagens. Ein Plüschwolf hängt am Rückspiegel und dreht sich in einem Wind, den nur er spürt. Idan taxiert mich und ich sehe weg.
»Vater will dich nicht auf dem Hof, Idan Katz.« Meine Stimme ist schwach, mein Einspruch spröde, doch Idans Ohren sind gut. Er hatte nie Schwierigkeiten, mich zu verstehen.
»Letztes Mal hast du kistenweise Honig über den Hof schleppen müssen, weil dein Alter verrückt ist, Hauke.« Er gähnt und entblößt dabei eine Reihe weißer Zähne. Dann schiebt er ein Lächeln auf seine Lippen. »Gib mir schon die Gläser, damit ich zurückfahren kann.«
Widerstand keimt in mir auf, doch der Reflex, meinen Vater zu verteidigen, ist nicht stark genug, um sich bis zu meinem Mund vorzuarbeiten. Das ist meistens so: Wo Idan Katz ein stolzes Tier ist, das für sich einsteht, fühle ich mich wie ein Schaf, das beim kleinsten Gebell das Weite sucht.
Ich schließe die Scheune auf, in der die metallenen Kessel stehen, in denen ich am Vortag den Herbsthonig geschleudert habe. Es riecht nach Bienenwachs.
Idans Blick fällt auf ein leeres Bienenhaus – eines von vieren. »Habt ihr noch immer Schädlinge? Hat dein Vater deshalb die Bestellung des Hotels angenommen? Ich meine, die Bezahlung ist räudig und –«
»Da vorn sind die Kisten. Hilf mir tragen, Katz.«
Schweigsam verladen wir die Transportkisten, in denen die Honiggläser für den hoteleigenen Souvenirshop klimpern. Als Idan nach den Spanngurten greift, um die Ladung zu sichern, berühren sich unsere Schultern. Ich kräusele die Nase. Er riecht nach trockener Erde, Immergrün und Gefahr. Er riecht nach dem letzten Sommer.
»Pass auf dich auf, Hauke«, verabschiedet er sich. Sein Transporter spuckt eine Wolke aus Abgasen in die heranbrechende Nacht, dann verschwindet das Auto knatternd auf der Landstraße. Ich sehe ihm nach und spüre seinen Blick im Rückspiegel. Aus dem Wald jenseits der stoppeligen Felder höre ich ein Knurren. Es klingt hungrig. – Hungriger noch als letzten Sommer.
Schwärme von Pferdebremsen tyrannisierten das Vieh und die Äpfel vertrockneten an den Bäumen. Es war der Sommer, in dem die ersten verschwanden. Junge Leute waren das, allesamt. Der Wolf, so sagten die Alten, suchte sie aus, weil sie noch nicht die Schläue und Reife ihrer Eltern und Großeltern besaßen. Ganz gezielt lauerte er ihnen auf, um sie auf Nimmerwiedersehen in seine Höhle zu verschleppen. Ich wusste das – genau wie ich wusste, was die Alten sagten: Hauke, sagten sie, würde der nächste sein.
Ein Heulen riss mich aus dem Schlaf. Erst dachte ich, es sei ein Hund, dann schweiften meine Gedanken zum Wald. Der Sog war da – so wie jede Nacht seit ein paar Jahren. Und wie in so vielen Nächten davor gab ich nach. Mein Kopf war leer, als ich meine Hose und mein Shirt anzog. Grillen schrillten, und Bienen grollten in den Stöcken, die wir am Rand der Felder aufgestellt hatten. Der Wald ragte wie eine schwarzgrüne Mauer vor mir auf. Ich leuchtete hinein und ein Paar Bernsteinaugen leuchtete zurück.
Vaters Mundwinkel deuten zum gefliesten Küchenboden. Seine Kiefer mahlen aufeinander und untermauern das Schweigen, das seit einigen Minuten mit uns zusammen am Tisch sitzt. Mutter hat Kartoffeln in Schmalz und Zwiebeln ausgebraten, dazu gibt es Spiegeleier. Beek stochert mit der einen Hand in seinem Essen, mit der anderen kratzt er sich das Kinn, das neuerdings die ersten Bartstoppeln trägt.
»Ist doch egal, wenn der Katz auf dem Hof war. Ist ja nicht so, als ob er was klauen würde, Papa.«
Die Gabel meines Vaters kratzt über das Geschirr und in meinen Schläfen braut sich der Kopfschmerz zu einer ausgewachsenen Migräne zusammen.
»Das weißt du nicht«, schnappt mein Vater. »Das weiß man bei einem Katz doch nie. Die ganze Familie ist verdächtig.« Er deutet mit der Gabel auf meine Mutter, die ertappt innehält und ein Stück kleiner wird. »Tante Gisela hat erzählt, dass bei ihnen noch immer Schafe verschwinden. Jede Woche eins. Und wenn’s mal nur bei den Schafen geblieben wäre –« Er unterbricht sich und richtet sein Augenmerk auf mich, als wäre ich daran schuld. Wie meine Mutter schrumpfe ich unter dem Blick meines Vaters zusammen. »Seit die Familie Katz ins Dorf gezogen ist, verkommt alles.«
Drei Jahre ist das her. Ich schlucke den Geschmack von Limonade und Angst herunter. Tante Giselas Herde würde nicht einmal ein Jahr reichen, wenn der Wolf jede Woche ein Schaf rauben würde. Darum geht es aber auch gar nicht, wie alle am Tisch wissen.
»Der Wolf holt alle zwei oder drei Monate ein Schaf, Papa.« Ein Funken Stolz keimt in mir auf. Meine Stimme ist zwar leiser als mir lieb wäre, aber doch laut genug, um meinen Vater noch wütender zu machen.
»Hältst du mich für blöd?« Auf seiner Stirn schwillt eine rote Ader. »Ich weiß, was ich weiß.« Er versucht, sich zu beherrschen, doch es fällt ihm schwer. Er lässt den Wolf fallen und besinnt sich auf das, was er am besten versteht: »Unsere Dorfgemeinde ist wie ein Bienenstock, Hauke. Alles und jeder hat seinen Platz. – Als die Katz kamen, begann das Unheil. Erst das Verschwinden, dann die Schafe, dann auch noch der Immenwolf.«
Mein Vater ist furchtlos, doch wenn er vom Gemeinen Bienenkäfer spricht, dem Immenwolf, senkt er stets die Stimme, als fürchte er, ihn sonst anzulocken. Unnötig, möchte man meinen, denn schon jetzt ist der Immenwolf auf der Jagd.
Beek ist mutiger als ich – mutiger oder dümmer. »Also denkst du, dass die Familie Katz alle Wölfe sind? Oder nachts zu unseren Bienenstöcken schleichen, um dort Schädlinge auszusetzen? Glaubst du das wirklich?«
Vater schlägt ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Synchron stehen Mutter und ich auf. Beek verzieht keine Miene, doch seine Lippen zittern verdächtig. Mein Vater starrt auf seinen jüngsten Sohn, dann auf seine Hand. Er schnaubt.
»Du bist ein Kiffer – ein Kiffer mit krankem Kopf«, kläfft er meinen Bruder an. »Dich trifft’s doch sicher auch bald. Weil du nämlich schwach bist.« Dann fliegt sein Blick zu mir. »Aber du, Hauke, du bist der Schwächste. Ein flüsternder, rückgratloser Idiot. Ich will dir diesen Hof vermachen und du schaffst es nicht einmal, die Parasiten vom Grundstück zu halten. Der Katz tut, was er will, und der Immenwolf labt sich an unseren Bienen. Schämen solltest du dich. Schämen, Hauke!«
Mein Vater nimmt sein Bierglas und verlässt die Küche. Aus der Kehle meiner Mutter dringt ein langgezogenes Schluchzen, dann birgt sie das Gesicht in den Händen. Sie weint still, so wie sie es immer getan hat, und ich weiß, dass sie keinen Trost möchte – keinen Trost, keine Polizei, keine Anzeige, keine Therapie. Was sie stattdessen will, weiß ich nicht. Keiner von uns weiß das.