Wonderful Berlin - Michaela Beck - E-Book

Wonderful Berlin E-Book

Michaela Beck

4,8

Beschreibung

Norbert Fröhlich soll einen Amokläufer gestoppt haben. Doch weil er unter Schock steht, kann er sich an nichts erinnern. Gut, dass ein Kollege seine Heldentat bezeugen kann. Schlecht, dass eine Frau später behauptet, Fröhlich selbst sei der Amokläufer gewesen. Fröhlich versucht, seine Unschuld zu beweisen. Doch plötzlich blitzen Erinnerungen auf, die eine andere Sprache sprechen: Ist er doch der Täter und nicht der Held ...?

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In Berlin-Prenzlauer Berg aufgewachsen, ist Michaela Beck (1959) in ihrem Leben nicht gerade weit gekommen: Im Ballhaus-Ost, wo früher ihre Schulspeisung untergebracht war, geht sie heute zu Theateraufführungen. Zwei Kilometer weiter, im angrenzenden Berlin-Mitte, wohnt die diplomierte Architektin und Drehbuchautorin nun schon seit über dreißig Jahren und gehört dort, wie der Held ihres Krimis, zu den sehr selten gewordenen echten Berlinern.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase.com/lichtsicht

Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-86358-377-4

Originalausgabe

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Für Olaf. In Gedenken.

Sind Sie schon einmal ausgerastet?

Haben Sie schon einmal vor Wut weder aus noch ein gewusst?

Und haben Sie dann Ihre Wut an einem Unschuldigen ausgelassen?

Hatten Sie dabei das Gefühl, nicht mehr zu wissen, was Sie tun?

War es Ihnen egal, ob Sie jemanden dabei verletzen?

Oder haben Sie sich das alles nur vorgestellt?

PROLOG

Als Norbert Fröhlich die Augen wieder aufschlug, hatte sich sein ganzes Leben verändert. Obwohl er nur einen Wimpernschlag, so schien es ihm später, von seinem alten Leben entfernt war, würde er nie wieder in sein altes Leben zurückkönnen. Nie wieder der sein, der er eben noch gewesen war, selbst wenn er es wollte. Etwas war während des Wimpernschlags passiert. Was, daran konnte er sich nicht erinnern. Er wollte es wohl auch nicht. Noch nicht.

EINS

Als Norbert Fröhlich die Augen wieder aufschlug, lag er auf dem Rücken und schaute direkt in das sirrende Licht von Neonleuchten. Es war so grell, dass es alles überflutete und in den Augen schmerzte. Wo war er? Blinzelnd versuchte er, sich an das Licht zu gewöhnen, und bemerkte schließlich neben den Leuchtstoffröhren quadratische Deckenplatten, die an den Rändern dunkler waren als in der Mitte. Das kommt durch den Luftzug entlang der Fugen, hatte er einmal in einer Heimwerkerzeitschrift gelesen. Der Luftzug zieht den Dreck an.

Luft. Irgendetwas zwängte seine Brust zusammen. Etwas Schweres. Fühlte sich so ein Herzinfarkt an? Er war im passenden Alter. Etwas früh vielleicht, aber bei seinem Lebenswandel? Magda hatte es vorausgesagt. Weil er alles in sich reinfraß und nie über etwas redete.

Wenn er nur atmen könnte.

Fröhlich versuchte, sich zu bewegen, was nicht ging, und schaute auf seinen Brustkorb hinunter. Dort lag ein Mann und schlief, seinen kahlen Schädel direkt auf Fröhlichs Brust gebettet. Seinetwegen bekam er keine Luft. Ihm kam der Gedanke, dass er selbst der Mann auf seiner Brust war. Schädelform, Haaransatz, Lederjacke – das war er. Er schaute sich beim Sterben zu. Deshalb hatte er keine Schmerzen, nur das Atmen fiel ihm schwer. Panik erfasste ihn. Er wollte nicht sterben, nicht jetzt. Mit einem Stoß schubste er sein Selbst von seiner Brust, was schwerer ging, als er gedacht hatte. Der leblose Körper rollte von ihm herunter und gab das Gesicht frei: Das war nicht er. Er war nicht tot. Und plötzlich wusste Fröhlich, wo er sich befand: Er war auf der siebten Etage des Jobcenters, der Abteilung für die Anfangsbuchstaben F bis K. Dort hatte er einen Termin. Dorthin war er durch die Schwingtür gelangt. Das wusste er noch. Warum er aber jetzt rücklings auf dem Fußboden lag und dieser Mann neben ihm, wusste er nicht. Er musste einen Moment lang nicht aufgepasst haben und hatte wohl deshalb den Boden unter den Füßen verloren.

Ein Gesicht beugte sich über ihn. Ein fleischiges, aufgedunsenes Gesicht, das ihn an jemanden erinnerte und das ihn besorgt betrachtete. »Was machst du denn hier?«, sagte der Mund erstaunt, und Fröhlich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es sich bei dem Gesicht um das von Maiendörfer handeln könnte, auch wenn er es ganz anders in Erinnerung hatte. Gesichter verändern sich, wenn sie sich über einen beugen, verlieren all ihre Spannkraft. Bekannte Gesichtszüge wirken weich und schlaff. Das hatte er oft beobachtet, selbst Magda war kaum wiederzuerkennen, wenn sie sich über ihn beugte und küsste.

»Ich weiß nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß und fühlte sich verpflichtet, auch etwas zu fragen: »Und du, Christoph? Was machst du hier?«

Warum es ihn in diesem Augenblick, als er rücklings auf dem Flur lag, interessierte, was Maiendörfer im Jobcenter tat, hätte er nicht sagen können. Vielleicht hatte er für einen winzigen Moment gehofft, dass den immer erfolgreichen, den immer vom Glück verfolgten Maiendörfer nun auch das Pech ereilt hatte, ihm der Glücksfaden endlich einmal gerissen war und sie nun beide wieder ein bisschen gleicher waren, nur ein bisschen, so wie früher.

»Bist du verletzt?«, fragte Maiendörfer, ohne auf Fröhlichs Frage einzugehen, und begann, ihn von Kopf bis Fuß abzutasten.

Fröhlich ließ es geschehen, worüber er sich wunderte. Gleichzeitig empfand er Mitleid mit Maiendörfer, der das hier nie verkraften würde. Nicht die Gehässigkeiten der Sachbearbeiterinnen und nicht diesen Gestank nach Angst und Schweiß und armen Leuten. Nie könnte Maiendörfer das ertragen, und eine große Traurigkeit stieg in Fröhlich hoch, die sich völlig unerwartet in einem Schluchzer tief in seiner Brust und dann in einem ganz unmännlichen Flennen entlud, für das er sich vor Maiendörfer sofort zu schämen begann. Noch mehr als für seinen niederträchtigen Wunsch, Maiendörfer mit sich gleichmachen zu wollen. Maiendörfer war nicht wie er, würde nie sein wie er, der war immer auf der richtigen Seite, der hatte immer Glück.

Deshalb heulte Fröhlich, heulte so, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte, heulte »Rotzblasen und Wasser«, wie es bei ihm zu Hause geheißen hatte, und konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Ein richtiger Weinkrampf schüttelte ihn, längst kamen schon keine Tränen mehr, und wie seine Oma damals ließ ihn auch Maiendörfer nicht nur einfach heulen, sondern hielt dabei seine Hand und machte wie seine Oma damals dieses beruhigende »tsch, tsch«. Das tat unendlich gut, und langsam wurde er still, ganz still, bis er vor Erschöpfung einschlief.

Als er wieder zu sich kam, hatte er den unangenehmen Geruch nach Desinfektionsmittel in der Nase. Der schien von der groben braunen Decke zu kommen, die nun über ihm ausgebreitet lag. Erst dann nahm er die Geräusche um sich wahr: Hinter sich hörte er Maiendörfer Anweisungen geben, und jemand in grünen Hosen stieg über ihn hinweg. Zwei Meter von ihm entfernt hockten zwischen umgeworfenen Stühlen drei Männer in weißen Kitteln um einen Mann herum und bellten sich Kommandos zu. Einer von ihnen setzte Metallplatten in kurzen Abständen auf die nackte Brust des Mannes, wodurch sein Oberkörper jedes Mal einen Hüpfer machte.

Rechts von Fröhlich lag Frau Bernhardt in einer, wie er fand, ganz unschicklichen Pose. Der Rock war ihr über die Schenkel nach oben gerutscht, und ein Bein war auf seltsam verrenkte Weise abgespreizt, sodass er nicht nur die Farbe von Frau Bernhardts Slip erkennen konnte, sondern auch, dass sich darauf in der Höhe ihrer Scham ein kleiner goldener Schlüssel befand. Er würde sich bei seinem nächsten Termin – wenn Frau Mehnert wieder ihre bohrenden Fragen stellte, ob er sich denn auch ausreichend nach Arbeit umgesehen habe – zusammenreißen müssen, um nicht zu Frau Bernhardt hinüberzuschauen und zu grinsen. Er würde versuchen müssen, nicht an den kleinen Schlüssel auf ihrem Slip zu denken und ernst zu bleiben. Frau Bernhardt, die Frau Mehnerts Vorgesetzte war, mochte es nicht, wenn man lachte. Sie fühlte sich immer sofort angegriffen, auch wenn man sie nur anlächelte. Sie wurde regelrecht unberechenbar, wenn sie sich verscheißert fühlte, womöglich forderte sie fürs nächste Mal noch mehr Bewerbungsnachweise oder verlegte gar »aus Versehen« seinen nächsten Antrag auf Weiterführung des Leistungsbezugs.

»Ist das nicht der Fröhlich?«, hörte er plötzlich hinter sich jemand sagen. Er drehte seinen Kopf nach hinten und sah Uwe Stübner mit seiner Kiste vor der Schwingtür stehen, flankiert von zwei Polizisten, die unbeteiligt geradeaus schauten, obwohl vor ihren Füßen ein zusammengekrümmter Mann lag. Wollten sie dem Mann denn nicht aufhelfen, wunderte sich Fröhlich, aber da kam Maiendörfer ins Bild und begann, mit Stübner zu flüstern. Maiendörfer war nicht aufgedunsen, das hatte nur so ausgesehen, er war rank und schlank wie früher, seine Gesichtszüge waren straff, sein immer noch volles Haar fiel knapp bis auf die Schultern, die breit und muskulös waren. Er war kaum gealtert in den Jahren und hatte immer noch dieses jungenhafte Aussehen, das ihnen damals so manche Türen geöffnet hatte. Dabei war Maiendörfer nur ein Jahr jünger als Fröhlich, achtundvierzig.

»Du machst ja Sachen«, rief ihm Stübner kopfschüttelnd über die Distanz zu und grinste. Fröhlich war sofort klar, was Maiendörfer ihm erzählt hatte: nämlich dass er geflennt hatte wie ein kleines Kind. Immer schon hatte Maiendörfer Momente der Vertrautheit zwischen ihnen verraten. Er konnte einfach nichts für sich behalten. Und genau deshalb war ihre Freundschaft damals in die Brüche gegangen. Fröhlich drehte sich angewidert um und setzte sich auf: Er musste hier weg.

»He, leg dich wieder hin!«

»Lass mich!« Fröhlich schob Maiendörfers Hand fort und wollte aufstehen.

»Norbert, du hast einen Schock, aber du bist nicht verletzt. Die Ärzte müssen sich erst um den da drüben kümmern, dann schaffen wir dich weg. Versprochen.« Damit drückte er Fröhlichs Schultern zurück auf den Boden, sanft, aber bestimmt. Fröhlich wollte sich dagegen wehren, er konnte es jedoch nicht, seine Knochen schienen mit einem Mal wie aus Gummi. Plötzlich überkam ihn ein heftiges Zittern, und im nächsten Moment kotzte er auch schon auf Maiendörfers italienische Schuhe.

»Doktor?!« Maiendörfers Stimme klang panisch. »Ich glaube, er kollabiert! Norbert?«

»Gehen Sie zur Seite! Hafmann? Vierhundert Milliliter Kochsalz.«

»Wo bleibt der andere Krankenwagen?«

»Der stirbt uns hier unter den Händen.«

Als Fröhlich das nächste Mal erwachte, war er auf eine Trage geschnallt, und ihm war kalt, obwohl ihn eine dieser golden glänzenden Wärmedecken umhüllte. Frau Bernhardt lag nun zu seiner Linken und war mit seiner braunen Decke zugedeckt, die sich an den Rändern mit einer dunklen Flüssigkeit vollgesogen hatte. Klar, dass sie seine Decke hatte. Sie war hier die Chefin, sie kam zuerst. Neben ihr stand ein kleines schwarzes Schild mit einer Zwei darauf. Es war eines von Uwe Stübners Zahlenkärtchen, die er in seiner Kiste aufbewahrte und für die nur er zuständig war. Ausgerechnet Stübner war Herr über die Zahlenkärtchen, musste Fröhlich unwillkürlich denken. Stübner, den alle nur Fünfundvierzig nannten. Er verdankte seinen Spitznamen dem Umstand, dass er nicht einmal das kleine Einmaleins beherrschte. Das hatte sich bereits auf der Polizeischule bei ihren abendlichen Trinkgelagen herausgestellt, bei denen sie immer »Bums« gespielt hatten. Bei diesem Spiel wurde, während sie am Tisch saßen und sich unterhielten, reihum gezählt, wobei man bei jeder Zahl, die durch sieben teilbar war oder eine sieben enthielt, »Bums« sagen musste. Wer das nicht tat, es vergaß oder bei einer falschen Zahl »Bums« sagte, musste die nächste Runde zahlen. So kam Fünfundvierzig zu seinem Spitznamen: weil er wieder und wieder bei fünfundvierzig »Bums« gerufen hatte und immer wieder aufs Neue vergaß, dass fünfundvierzig nicht durch sieben teilbar ist. An einem dieser Abende hatten sie auch einander versprochen, immer zusammenzubleiben, füreinander einzustehen, egal in welche Scheiße einer von ihnen geraten würde. Was daraus geworden war, sah man ja: Maiendörfer gab Anweisungen, Fünfundvierzig stellte seine Kärtchen auf, und er, Fröhlich? Er lag auf der Trage und durfte nicht nach Hause.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich durch!«

Fröhlich sah, wie sich eine junge Frau erst durch die Absperrung, dann vorbei an den Polizisten bis hin zu den Männern in den weißen Kitteln kämpfte und sich schließlich auf den Mann mit dem hüpfenden Brustkorb stürzte.

»Jan? Jan?«, schrie sie verzweifelt, während Maiendörfer versuchte, sie von dem Mann fernzuhalten.

»Er hört Sie nicht. Die Ärzte haben ihn in ein künstliches Koma versetzt, damit sie ihn transportieren können«, erklärte ihr Maiendörfer, nahm sie bei den Schultern und führte sie zur Seite, damit die Sanitäter den Mann hinaustragen konnten.

»Wird er es überleben?«, fragte die junge Frau voller Angst und schaute Maiendörfer fest in die Augen, als würde sie in keinem Fall nur seinen Worten trauen wollen. Maiendörfer hielt ihrem Blick stand.

Sie kann nicht wissen, dachte Fröhlich, dass Maiendörfer diesen Blick perfekt beherrscht, wartete aber trotzdem gespannt auf ihre Reaktion. Sie glaubte ihm, so wie ihm immer alle glaubten. Fröhlich hatte das noch nie verstanden. Wie machte Maiendörfer das nur? Was war sein Trick?

Plötzlich fühlte er, wie die junge Frau ihn fixierte. Helle, klare Augen, wahrscheinlich blau, die von dunklen Wimpern umsäumt waren. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, wandte sie sich ganz nebenbei an Maiendörfer und fragte ihn flüsternd etwas. Maiendörfer bejahte, und sofort sog sich ihr Blick an Fröhlich fest, wobei sich ihre Augen zu Schlitzen verengten. Dann machte sie einen Schritt in Richtung Fröhlich, aber da hatte Maiendörfer sie schon am Handgelenk, riss sie zurück und begann, auf sie einzureden.

Fröhlich schlug instinktiv die Augen nieder und bekam deshalb nicht mit, was Maiendörfer der jungen Frau zuflüsterte. Aber es musste etwas Schreckliches sein, denn als Fröhlich wieder aufschaute, hatte die junge Frau ihre Hände beschämt vors Gesicht geschlagen und fing an zu weinen. Maiendörfer legte tröstend den Arm um sie und führte sie hinaus. Maiendörfer, der Frauentröster. Er hatte sich kein bisschen verändert. Auch Magda hatte er getröstet, das hatte sie Fröhlich Jahre später erzählt, aber noch jetzt überkam Fröhlich beim bloßen Gedanken daran die kalte Wut.

Kurz darauf kamen die Weißkittel zurück und trugen Fröhlich von der Etage. Er wollte selbst gehen, aber sie erlaubten es ihm nicht. Auch seine Frage, was eigentlich passiert sei, beantworteten sie nicht.

»Sie werden sich noch früh genug daran erinnern«, sagte der Größere von ihnen und wechselte mit seinem Kollegen einen mitleidigen Blick. »Jetzt genießen Sie erst mal Ihren Schock.«

Der Fahrstuhl, auf den man sonst Stunden warten musste, stand bereits geöffnet da. Auch stieg niemand auf dem Weg zum Erdgeschoss zu. Überhaupt empfand Fröhlich das Haus als ungewöhnlich still, wie an einem Ruhetag. Und da musste er wieder an Frau Bernhardt denken und den Schlüssel auf ihrem Slip. Wie sie da so lag und sich ausruhte.

Mit einem »Kling« kamen sie im Erdgeschoss an. Die Fahrstuhltüren surrten zur Seite. Dann brach die Hölle über Fröhlich herein.

* * *

Es hätte nicht so weit kommen müssen, dachte Maiendörfer, als er ein letztes Mal, bevor die Leichenbestatter den Deckel des Metallsargs schlossen, auf Klaus Hempler schaute. Maiendörfer hatte den Mann im Foyer gesehen und war ihm instinktiv ausgewichen. Wie man das eben so machte, wenn man Leuten begegnete, die schlechte Luft verbreiteten, deren Aura einem verriet, dass man sie bloß nicht reizen sollte. Hätte er ihn in diesem Falle doch nur gereizt.

Maiendörfer war am Morgen zum Jobcenter Mitte gefahren und hatte schon auf der Fahrt dorthin die Aggressivität gespürt, die überall in der Stadt in der Luft zu liegen schien. Es gab solche Tage. Besonders in Berlin. Da boxten sich plötzlich Rentner in der S-Bahn mit Typen, denen sie vom Aussehen schon unterlegen waren. Da traten unbescholtene Familienväter anscheinend ohne Grund nach Obdachlosen. Da schubsten Jugendliche aus einer Laune heraus ihnen völlig unbekannte Menschen einfach vor die U-Bahn. Die Stadt machte sie aggressiv und erlaubte ihnen durch ihre Anonymität, ihre Aggressionen gegen jede und jeden auszuleben. Und heute war anscheinend wieder so ein Tag. Schon beim Einordnen am Alex hatte jemand Maiendörfer wild angehupt, ihm beim anschließenden Überholen einen Vogel gezeigt, und als Maiendörfer kurz darauf in der Karl-Marx-Allee auf einen frei werdenden Parkplatz zugesteuert war, hatte derselbe Mann ihm den Parkplatz weggeschnappt. War einfach von der anderen Seite in die Parklücke gefahren und hatte ihn frech und herausfordernd angegrinst. Vielleicht wäre der Mann, ebenso wie dieser Hempler, der nun in dem Metallsarg lag, ausgerastet, wenn Maiendörfer den Kampf um den Parkplatz gewonnen hätte. Vielleicht hätte er Maiendörfer zuerst brutal zusammengeschlagen, nur um sich ein bisschen Luft zu machen, und wäre dann, eine breite Blutspur hinter sich lassend, marodierend weitergezogen. Vielleicht.

Auch im Foyer des Jobcenters hatte an diesem Morgen eine aggressive Stimmung geherrscht. Genervte Leute, die versuchten, sich in dem Schilderwald zurechtzufinden, dazu eine überforderte Pförtnerin, die die immer gleichen Fragen nach dem Weg zu den verschiedenen Sachbearbeitern wie ein Automat beantwortete. Maiendörfer hatte das zweifelhafte Glück gehabt, sie nach einer Sachbearbeiterin zu fragen, nach der offensichtlich schon kurz vor ihm jemand gefragt hatte. Sie herrschte ihn sofort im Berliner Kasernenton an: »617, hab ick gesagt.«

Als er dann die überfüllte sechste Etage betrat und zum Raum 617 ging, ohne sich eine Wartenummer zu ziehen, brach im Wartebereich ein Tumult los. Eine aufgebrachte Mutter mit zwei Kleinkindern schrie, ob er sich vorstellen könne, warum sie hier alle warten würden, und da Maiendörfer sie ignorierte, fühlte sich ein bärenhafter Typ bemüßigt, sich ihm in den Weg zu stellen. Bevor der Bär handgreiflich werden konnte, hatte ihm Maiendörfer seinen Ausweis unter die Nase gehalten, was ihn sofort stoppte. Trotzdem half der Ausweis Maiendörfer nicht, in den Raum 617 zu gelangen, wo er eine Sachbearbeiterin zu einem Alibi befragen wollte. Jedenfalls vorläufig nicht: Nach seinem ersten Klopfen hatte jemand hinter der Tür sofort »Nein!« gebrüllt, und als Maiendörfer trotzdem versucht hatte, die Tür zu öffnen, da war die Tür von der anderen Seite wieder zugedrückt und einfach abgeschlossen worden. Da half kein Klopfen und kein Hämmern, auch als er rief, dass er von der Polizei sei und sie sofort zu öffnen hätten, tat sich nichts. Beschämt musste er abziehen und erntete obendrein ein kollektives hämisches Grinsen aus dem Wartebereich, was ihn davon abhielt zu warten, bis er dran war, oder sich gar eine Nummer zu ziehen. Stattdessen rauschte er wutentbrannt zurück ins Foyer, knallte der Pförtnerin seinen Ausweis unter die Nase und befahl ihr, ihn mit der Sachbearbeiterin aus 617 zu verbinden. Wenn man hier nur diesen Ton verstand, dann bitte, er konnte auch anders. Ein Missverständnis sei das, flötete die Sachbearbeiterin durch den Hörer entschuldigend und erzählte Maiendörfer, mit was für Tricks die Leute arbeiteten, nur um eher dranzukommen; ihn ließe sie natürlich sofort herein.

Etwas abgekühlt, hatte er dann vor dem Fahrstuhl gestanden, um zurück auf die sechste Etage zu fahren, als hinter ihm Stimmen laut wurden. Eine Frau schimpfte einem Mann hinterher, der steif und breitbeinig, als würde er unter Strom stehen, mit versteinerter Miene vom Eingang kam und offenbar nach ihrem Kinderwagen getreten hatte, wie dem Geschrei der Mutter zu entnehmen war. Das war Hempler gewesen. Doch niemand hatte etwas unternommen. Niemand hatte ihn gestoppt. Im Gegenteil. Als Hempler, der nun in einem Metallsarg lag, unverdrossen auf den Fahrstuhl zugesteuert war, hatten alle einschließlich Maiendörfer einen Schritt zur Seite gemacht, und Hempler stieg ein, obwohl noch nicht alle ausgestiegen waren. Auch die ankommenden Leute verkniffen sich, etwas zu sagen. Hemplers aggressiver Gesichtsausdruck ließ sie alle verstummen.

Hätte Maiendörfer doch da nur etwas unternommen, diesen Hempler angesprochen. Selbst wenn er dabei seine Zähne riskiert hätte. Was war schon ein fehlender Schneidezahn gegen vier Menschenleben? In jedem Fall wäre dann dieser Hempler nicht bis auf die siebte Etage gelangt und hätte dort seinen Frust abgeladen. Maiendörfer hatte es in der Hand gehabt, diesen Mann zu stoppen, und hatte es nicht getan. Stattdessen war er wieder auf die sechste Etage gegangen, hatte selbst hämisch in den Warteraum gegrinst und sich im Raum 617 zwischen Kuchenplatte und Familienfotos – auch Sachbearbeiterinnen in einem Jobcenter stand eine Pause zu – das Alibi eines Verdächtigen bestätigen lassen.

ZWEI

»Ist er das? Ist er das?«

Als Fröhlich in der Nacht in seinem Krankenzimmer schweißgebadet erwachte, brauchte er einen Moment, um sich zurechtzufinden. Noch immer klangen ihm die Worte der Reportermeute in den Ohren, vor der ihn die Sanitäter und die vor dem Jobcenter stehenden Polizisten zu schützen versucht hatten. Einem dieser Typen war es dennoch gelungen, ihm sein Mikrofon direkt unter die Nase zu halten.

»Wie fühlt man sich, so ein Massaker überlebt zu haben?«

Selbst wenn Fröhlich gewollt oder gar Zeit dazu gehabt hätte, ihm wäre auf diese Frage keine Antwort eingefallen.

»Massaker.« Er formte das Wort lautlos mit den Lippen. Es kam ihm bekannt vor. Er hatte das Wort schon einmal gehört. Nur die Bedeutung dazu wollte ihm nicht einfallen. Das war der Fehler der meisten Reporter. Sie benutzten zu viele Fremdwörter, die kein Mensch verstand, und wunderten sich dann, wenn sie keine Antwort bekamen. Auf der Polizeischule hatte Fröhlich gelernt, sich in Wort und Ton auf die zu Befragenden einzustellen. Damit hatte er am Anfang seiner Karriere großen Erfolg gehabt. Selbst Maiendörfer war ihm darin unterlegen gewesen. Leider hatte Fröhlich diese Technik bei Magda aus irgendeinem Grund nie zur Verfügung gestanden. Zu Beginn schon, aber später redeten sie nur noch aneinander vorbei, konnten nicht einmal mehr die Fragen des anderen verstehen.

Magda. Massaker.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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