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»Ein tief bewegender Roman über Trauer und Identität. Gekonnt verwebt Jente Posthuma Tragik und Humor.« Jury International Booker Prize
Als Erstes denkt sie immer an ihren Zwillingsbruder: Wenn sie einen neuen Pullover für ihre Sammlung entdeckt. Wenn sie nicht weiß, wie sie ein schlecht laufendes Date elegant beenden kann. Wenn sie Sylvia Plath liest und Virginia Woolf. Oder als sie die einstürzenden Twin Towers in den Fernsehnachrichten sieht. Ihr Zwillingsbruder ist der Mensch, der immer da ist – erst im gemeinsamen Kinderzimmer, dann in der Wohnung auf der anderen Seite des Parks in Amsterdam. Doch plötzlich kommt der Tag, an dem er nicht mehr da ist.
»Auch Virginia Woolf hatte einen Pelzmantel angezogen, wusste ich. Sie füllte die Taschen mit Steinen und ertränkte sich in einem Fluss. Wie mein Bruder, aber das wusste ich damals noch nicht.«
Jente Posthuma schreibt in präzisen Miniaturen, voll sanfter Melancholie und überraschendem Humor von einer Trauer, die nicht weichen will und in jeder Faser des Körpers spürbar ist. Und sie erzählt, wie das Ringen um Verständnis die Nähe zum verlorenen Menschen noch vertiefen kann.
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als Erstes denkt sie immer an ihren Zwillingsbruder: Wenn sie einen neuen Pullover für ihre Sammlung entdeckt. Wenn sie nicht weiß, wie sie ein schlecht laufendes Date elegant beenden kann. Wenn sie Sylvia Plath liest und Virginia Woolf. Oder als sie im Fernsehen die einstürzenden Twin Towers sieht. Ihr Zwillingsbruder ist der Mensch, der immer da ist – erst im gemeinsamen Kinderzimmer, dann in der Wohnung auf der anderen Seite des Parks in Amsterdam. Doch plötzlich kommt der Tag, an dem er nicht mehr da ist.
Jente Posthuma schreibt in präzisen Vignetten, voll sanfter Melancholie und mit überraschendem Humor von nicht weichen wollender Trauer und einer Erschütterung, die in jeder Faser des Körpers spürbar ist. Und sie erzählt, wie das Ringen um Verständnis die Nähe zum verlorenen Menschen noch vertiefen kann.
Jente Posthuma, geboren 1974, ist eine niederländische Schriftstellerin, die für ihre oft scharfzüngige und lakonische, komische Prosa von Presse und Publikum gefeiert wird. Der Roman »Woran ich lieber nicht denke« war für den Literaturpreis der Europäischen Union nominiert und stand auf der Shortlist des International Booker Prize 2024. Jente Posthuma lebt in Amsterdam.
Andreas Ecke studierte Germanistik, Niederlandistik und Musikwissenschaft. Er übersetzt Literatur aus dem Niederländischen u. a. von Gerbrand Bakker, Ernest van der Kwast, Anne-Gine Goemans und Cees Nooteboom. 2016 erhielt er den Europäischen Übersetzerpreis.
Jente Posthuma
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Luchterhand
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Waar ik liever niet aan denk« bei Uitgeverij Pluim, Amsterdam.
Der Verlag dankt dem Nederlands Letterenfonds für die Förderung der Übersetzung.
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Copyright © der Originalausgabe 2020 Jente Posthuma
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: buxdesign | München unter Verwendung eines Motivs © von Johanna Bath
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-32840-5V002
www.luchterhand-literaturverlag.de
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Für Jampiejoris
und da wusste er, dass Roy ihn geliebt hatte und dass ihm das hätte reichen müssen. Nichts hatte er rechtzeitig begriffen.
David Vann, Im Schatten des Vaters (2010)
Waterboarding, sagte ich zu meiner Mutter. Jemand legt einem ein Tuch aufs Gesicht und schüttet ständig Wasser drauf. Das fühlt sich an wie Ertrinken. Das ist Ertrinken.
Und das wollt ihr machen, sagte sie.
Ja.
Meine Mutter seufzte. Bestimmt eine Idee von deinem Bruder.
Wir haben neulich einen Film über Guantanamo gesehen, erklärte ich. Und da hat er gesagt, ich soll ihn waterboarden. Er will wissen, wie das ist. Ich hab ihm gesagt, ich machs nur, wenn dus auch mit mir machst. So kam das.
Und, wie war es, fragte meine Mutter.
Wir haben es doch noch gar nicht gemacht!
Je älter sie wurde, desto weniger hörte meine Mutter noch zu.
Ach so, sagte sie. Gestern habe ich eine Serie gesehen, und eine meiner Lieblingsfiguren ist explodiert, deshalb habe ich schlecht geschlafen.
Wir durften ruhig bequem liegen, fanden wir, und so entschieden wir uns für mein Sofa. Mein Bruder wollte als Erster. Er lag auf dem Rücken, ein rot-weiß kariertes Geschirrtuch auf dem Gesicht. Ich stand mit einer Karaffe Wasser neben ihm.
Los gehts, sagte ich und goss Wasser auf das Tuch. Nach ein paar Sekunden zog sich mein Bruder das Tuch vom Gesicht und richtete sich auf.
Vielleicht müssen wir dich fesseln, sagte ich.
Mit einem meiner Strümpfe band ich ihm die Handgelenke hinter dem Rücken zusammen, und wir fingen noch einmal an. Nach einer halben Minute sollte ich das Tuch wegnehmen, hatten wir abgemacht, ich hatte einen Timer auf meinem Handy eingestellt. Mein Bruder keuchte und versuchte, seine Arme zu befreien. Jetzt ertrinkt er, dachte ich. Es dauerte lange, bis die halbe Minute vorbei war, und als ich das Tuch weggezogen hatte und er aufhörte zu husten, sagte er: Das reicht jetzt.
Ich wollte nichts um meine Handgelenke haben. Ich wollte mir das Tuch vom Gesicht ziehen können, wann immer es nötig war.
So geht das aber nicht, sagte mein Bruder. Er band den Strumpf um meine Handgelenke und legte mir das Tuch aufs Gesicht. Das Wasser lief mir in die Nase, ich bekam keine Luft. Ich versuchte, mich aufzurichten, stieß mit den Beinen etwas um. Als ich endlich saß, schüttelte ich das nasse Tuch ab und wand meine Hände los.
Mein Bruder reichte mir ein Papiertaschentuch, aber ich schüttelte den Kopf, atmete ein und aus, und noch einmal, und noch einmal. Kirchenglocken waren zu hören, der Alarm meines Handys ertönte.
Warum hast du mir nicht geholfen?
Sorry, sagte er.
Ich glaubte, mich übergeben zu müssen. Den Kopf über der Toilette wartete ich darauf, dass etwas kam, doch es kam nichts, und ich dachte daran, wie ich einmal einen Jungen mit nach Hause genommen und er meinen Kopf abwärtsgedrückt hatte. Immer weiter nach unten drückte er ihn, die Hände auf meinen Ohren, vielleicht dachte er, das würde mich irgendwie erregen, denn als ich mich mit den Händen von seinen Knien wegstemmen wollte, wurde sein Griff noch fester, und ich hörte nur noch das Hämmern meines Herzens. Und ich dachte daran, wie ich zum ersten Mal jemanden sagen hörte, ihm werde bange ums Herz. Es war meine Mutter. Sie sagte zu jemandem: Wenn ich an meine Tochter denke, wird mir etwas bange ums Herz, denn sie ist nicht gerade eine Schönheit. Um meinen Bruder machte sie sich keine Sorgen, auch nicht, als er ständig an seinen Haaren zupfte, sodass eine kahle Stelle entstand. Ich erinnere mich nicht, wann er mit dem Gezupfe aufhörte, aber nach einiger Zeit war es vorbei, und die kahle Stelle wuchs wieder zu.
Mein Sohn kann alles, sagte meine Mutter oft. Aus dem wird einmal was.
Nachdem mein Bruder bei einem Workshop wiedergeboren worden war, sagte er: Das Leben ist keine Linie, sondern ein Kreis. Man kann sterben und wieder von vorn anfangen.
Es war ein Workshop von Anhängern Oshos, die noch zwanzig Jahre nach dessen Tod einen spirituellen Lehrer in ihm sahen. Das war auch eine Bedeutung des Namens, den er sich zugelegt hatte.
Osho, sagte mein Bruder. Den kennst du doch? Der sich früher Bhagwan nannte. Das bedeutet Gesegneter.
Natürlich kannte ich den. Er war als Chandra Mohan Jain zur Welt gekommen, in Indien ein ganz gewöhnlicher Name, und hatte als Kind von seinen Großeltern den Spitznamen Rajneesh bekommen, König der Nacht. Rajneesh ging oft zum nahe gelegenen Fluss, drückte andere Kinder unter Wasser, bis sie fast ertranken, und fragte anschließend, wie das gewesen sei. Als Bhagwan verkündete er: Hoffnung ist eine Droge. Nur diejenigen, die bereit sind zu sterben, werden das Leben der Liebe kennen. Wer Angst vor dem Sterben hat, wird nie in das Geheimnis der Liebe eindringen. Von den Leuten, die seinen Ashram in Poona aufsuchten, verlangte er Hingabe. Wenn du jetzt wegläufst, kannst du dein Leben genauso gut beenden, sagte er. Aus seiner Sicht war der Impuls zur Selbsttötung ein Zeichen wahrer Intelligenz und Sensibilität, es war der Wunsch, der Enge des Egos zu entkommen. Für denjenigen, der die Sinnlosigkeit von allem erkenne, sei Selbsttötung – oder völlige Hingabe – die einzige Alternative. So ungefähr stand es auf einer der Lieblingswebsites meines Bruders, in kurzen, seltsam abgerissenen, untereinanderstehenden Sätzen, wie in einem schlechten Gedicht.
Woran Osho 1990 starb, ist nicht klar, er wurde bereits nach wenigen Stunden eingeäschert. Kurz vor seinem Tod behauptete er, dass er 1985 in einem amerikanischen Gefängnis vergiftet worden sei. Manche vermuten, dass er lebensmüde war und sich deshalb von seinem Leibarzt eine tödliche Injektion verabreichen ließ.
Später war mein Bruder übrigens nicht mehr der Ansicht, das Leben sei ein Kreis. Wir stehen am Anfang einer Extremwetterperiode, sagte er. Von nun an wird es nur schlimmer.
Bei einer landesweiten Umfrage zur Zufriedenheit der Bevölkerung lag unser Geburtsort knapp über dem Durchschnitt. Oder knapp darunter, ich bin mir nicht mehr sicher. Auf jeden Fall habe ich gute Erinnerungen an unser Dorf. Mein Bruder nicht. Bis zuletzt wurde er wütend, wenn ich von dem Brunnen auf dem kleinen Platz sprach und von den Kindern, das kleinere nackt und das größere im Badeanzug, dem rosa Paillettenbikini, den mir meine Tante aus New York mitgebracht hatte.
In New York wurden 1990 – es war das Jahr, in dem mein Bruder und ich zehn wurden, das Jahr meines Paillettenbikinis – 2245 Morde verübt. Und 596 Suizide. Es war auch das Jahr, in dem ein paar Jungen am Brunnen es sich zur Gewohnheit machten, meinem Bruder die Badehose runterzuziehen und wegzunehmen, sodass er splitternackt nach Hause gehen musste.
In New York gibt es auch suizidlose Tage. Es sind keine Feiertage, sie werden nicht angekündigt. Der 12. Juli 1993 war ein selbstmordloser Tag in New York, lasen mein Bruder und ich am folgenden Tag auf Teletext. Wir waren gerade von dem Stück Brachland hinter dem Supermarkt zurückgekehrt, auf dem ein großer Kran stand. Der ist bestimmt fünfzig Meter hoch, sagte mein Bruder. Wie wär das wohl, wenn man da raufklettern würde, fragte ich, bis ganz oben. Wie weit könnte man da sehen. Hinter mir beschleunigte mit höllischem Lärm ein Motorrad, ich drehte mich um und sah einen Angestellten aus der Fleischabteilung davonrasen. Der Krach, den Motorräder machen, sagte mein Bruder manchmal, der wäre nicht nötig, der ist bloß Show. Als ich mich wieder zum Kran umdrehte, kletterte mein Bruder schon hinauf. Ich starrte bald auf den Boden, auf die Grasbüschel vor meinen Füßen, und das tat ich, bis mir der Nacken wehtat und mein Bruder mit einem kurzen Sprung wieder neben mir landete. Man kann die Stadt sehen, sagte er, und den Fluss, alle Biegungen bis zur Stadt.
War es schön, fragte ich.
Es war vor allem weit, antwortete er.
Bevor wir an jenem Abend einschliefen, sagte er noch: Heute war auch ein selbstmordloser Tag.
In den Jahren 2000 bis 2015 ging die Anzahl der Morde in New York deutlich zurück, doch die der Suizide stieg. Die beliebtesten Suizidmethoden in New York sind Erhängen, Erdrosseln und Ersticken oder ein Sprung aus großer Höhe. Die Anzahl der Springer nimmt zwar ab, dennoch werden in New York immer noch mehr Suizide durch Sprung aus der Höhe begangen als im Rest der Vereinigten Staaten. Achtmal so viele, um genau zu sein.
Möglicherweise verdankt New York seine hohe Sprungrate der Wall Street, wo in Zeiten der Rezession hin und wieder ein Hedgefonds-Manager aus dem Fenster springt. Nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention des amerikanischen Gesundheitsministeriums liegt die Suizidwahrscheinlichkeit bei Wall-Street-Geschäftsleuten um vierzig Prozent über dem Durchschnitt. Es handele sich um von Natur aus stark wettbewerbsorientierte Perfektionisten, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren und immerzu mit ihren Kollegen vergleichen.
Mein Bruder nannte sich selbst Eins und mich Zwei, weil er eine Dreiviertelstunde vor mir geboren wurde, an einem brütend heißen Tag im August. Er betrachtete mich als seine kleine Schwester, bei der Geburt war er größer und schwerer als ich, im Bauch unserer Mutter nahm er fast den gesamten Platz ein. Ich lag hinter ihm, das linke Bein über meine linke Schulter geschlagen, so erzählte man es uns. Deshalb dauerte es eine Weile, bis ich herauskam. Eigentlich wurden wir erst einen Monat später erwartet, aber mein Bruder machte sich einfach schon mal auf den Weg, und da konnte ich nicht zurückbleiben.
Dass wir nicht in jeder Hinsicht gleich waren, habe ich lange für eine Art Behinderung gehalten, eine Folge unserer frühen Geburt, auch als ich längst den Unterschied zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen verstanden hatte. Im neunten Monat hätten wir uns noch mehr aneinander angleichen können.
Mein Bruder war beweglicher, sprach lauter, bekam heftigere Wutanfälle als ich. Er warf mit Sachen um sich, knallte Türen zu oder trat Dellen hinein. Danach schloss er sich in seinem Zimmer ein, und wenn er wieder nach unten kam, tat er, als wäre nichts gewesen. Meine Eltern mussten nur abwarten und hin und wieder etwas reparieren. Ich wollte von ihnen beachtet werden. Ich wollte getröstet werden, wenn ich Kummer hatte, und ihre Blicke durften nicht zur Zeitung oder zum Fernseher abschweifen. Das war in der Zeit, als ich meine Gefühle noch auf der Zunge trug und nicht wusste, dass das nicht erwünscht war.
Quälgeist war das Wort, das sie für mich gebrauchten. Meinen Bruder nannten sie naseweis. Er wusste immer alles ein klein bisschen besser als ich. Ich glaube, ich habe ihn niemals »Ach so?« sagen hören, wenn ich etwas erzählte. Oder: »Wow, das wusste ich nicht.« Meistens sagte er: »Weiß ich«, und wenn er etwas nicht wusste, sagte er nichts.
Der Nordturm wurde WTC 1 genannt, der Südturm entsprechend WTC 2. WTC 1 war 417 Meter hoch, WTC 2 zwei Meter niedriger. WTC 1 hatte eine Antenne auf dem Dach und wurde 1972 fertiggestellt, ein Jahr früher als WTC 2, der keine Antenne bekam. Für kurze Zeit war WTC 1 das höchste Gebäude der Welt, bevor 1973 in Chicago der 442 Meter hohe Sears Tower in den Himmel ragte. Das war bitter für WTC 1. Aber was ist schlimmer: Nur kurz das höchste Gebäude der Welt gewesen zu sein oder niemals das höchste Gebäude der Welt gewesen zu sein, weil der Turm neben einem immer eine Winzigkeit höher war?
Früher schlief ich mit einem Poster von Continental Airlines über dem Bett, einer Abbildung der Twin Towers vor rötlichem Abendhimmel. Im Vergleich zu den Türmen hatte die Freiheitsstatue im Vordergrund nur Miniaturformat. Die Frauengestalt schien die Türme mit ihrer Fackel in Brand setzen zu wollen. Ich hatte das Poster auf dem Trödelmarkt gekauft, den ich jeden Samstag mit meinem Vater besuchte. Das Bild ist falsch, sagte mein Bruder, als ich damit nach Hause kam. In Wirklichkeit sind die Türme nicht gleich hoch.
Ich träumte davon, die Twin Towers aus der Nähe zu sehen. Ich musste nicht unbedingt hinein und schon gar nicht bis aufs Dach, wobei allerdings unten davorzustehen auch nicht ungefährlich war. Seit in der Stadt, nur sechzehn Kilometer von unserem Dorf entfernt, ein Popstar aus seinem Hotelfenster gesprungen war und unsere Mutter erklärt hatte, dass der Freitod einer Berühmtheit oft eine Welle von Selbstmorden auslöst, schauten wir immer nach oben, bevor wir an einem hohen Gebäude vorbeigingen, um zu sehen, ob jemand herunterspringen wollte.
Unsere Eltern waren Geologen, sie schauten oft auf den Boden. Beide arbeiteten am Geologischen Institut in der Stadt. Meine Mutter war Expertin für Erdrutsche, mein Vater führte mikroskopische Bodenuntersuchungen durch. Wenn irgendwo Sand abgegraben wurde, mussten mein Bruder und ich aufzählen, welche Bodenschichten wir sahen. In den Ferien in Schweden suchten wir ständig mit unseren Hacken nach mindestens dreihundertfünfzig Millionen Jahre alten Fossilien. Jüngeres war nach Ansicht unserer Eltern nicht der Mühe wert. Ich legte eine Sammlung von Mineralien und Fossilien an, nicht weil ich sie so schön fand, sondern weil auch meine Mutter welche sammelte. In allen ungenutzten Winkeln des Hauses stellte sie die interessantesten Exemplare aus. Alles Übrige lag in Kartons unter ihrem Bett, wo auch meine Sammlung landete, als ich sie leid war.
Mein Bruder sammelte Comic-Hefte und mein Vater alte Keksdosen. Eine Wand des Schuppens wurde vollständig von einem Regal voller Dosen eingenommen, in denen er seine Schrauben und Nägel aufbewahrte. Er ordnete die Dosen nicht nach dem Inhalt, sondern nach Farben, so wie die Erdschichten auf der geologischen Schautafel an der Wand gegenüber angeordnet waren, jede in einem anderen Erdton. Ich ging gern in den Schuppen, um die Farbreihen und den Rücken meines Vaters zu betrachten, während er Dosen öffnete, eine nach der anderen, auf der Suche nach dem richtigen Nagel. Mein Vater ging selbst gern in den Schuppen, wahrscheinlich auch wegen der Farben, denn ein Heimwerker war er nicht gerade. Er tat nur so, wie er auch den netten Vater spielte.
Wir entdeckten, dass wir auf Jungs standen, als wir acht waren und uns in Hans verliebten. Er hatte dunkelblondes Haar mit hellen Strähnchen und ein perfektes Gesicht. Mir hatten es vor allem seine Haare angetan, wie sie über seine grünen Augen fielen, und seine warme Stimme. Mein Bruder liebte seine Augen und seine weißen Zähne. Hans war Ansager im Fernsehen. Jeden Abend nach dem Essen durfte der Fernseher eingeschaltet werden, und wir konnten Hans sehen. Wenn ich Hans ansah und er mich, fühlte ich mich nicht als Mädchen, sondern als Frau.
Hans geht nicht mit Frauen, sagte mein Bruder eines Tages. Wir lagen bäuchlings auf dem Teppichboden und sahen Hans. Er ist homosexuell, ergänzte mein Bruder ein kleines bisschen lauter als nötig. Mutter hatte ihm das gesagt. Ich rief nach ihr, aber sie kam nicht. Ich ging in die Küche, wo sie mit Spülen beschäftigt war, und fragte sie nach Hans.
Homosexuell, sagte sie. Er hat einen Freund.
Ich rannte ins Wohnzimmer zurück.
Er hat schon jemanden, sagte ich möglichst gleichgültig zu meinem Bruder.
Es vergingen noch einmal acht Jahre, bevor mein Bruder unserer Mutter mitteilte, dass er auf Jungen stand, was für mich so selbstverständlich war, dass sein feierlicher Ton mir absurd vorkam. Mein Bruder war die Norm und ich die Abweichung. Deshalb begriff ich nicht, warum meine Mutter so komisch reagierte, als wäre ihr etwas genommen worden. Ist nicht schlimm, sagte sie. Mehr nicht. Genau wie damals, als ich einen seltenen Kropolithen aus ihrer Sammlung zerbrochen hatte und sie sich das ganze Wochenende im Arbeitszimmer über ihren Schreibtisch beugte, wo sie die Stücke mit Spezialkleber zusammenfügte.
Vielleicht lag es an seiner unermüdlichen Besserwisserei, vielleicht an seinem Desinteresse an dem einzigen Mädchen in unserer Klasse, das schon Brüste hatte, jedenfalls wandten sich in der vierten Grundschulklasse, kurz nach den Weihnachtsferien, die Freunde meines Bruders von ihm ab. Sie beschimpften ihn, brachten aus den umliegenden Wäldchen gefrorene Hundehaufen mit und legten sie in den Kasten seiner Schulbank. Wenn wir nach Hause gingen, traten sie ihn oder stellten ihm ein Bein. Warum trittst du nicht zurück, fragte ich meinen Bruder regelmäßig, doch dann zuckte er mit den Schultern.
Nach einem knappen Jahr, im Dezember, hörte das Mobbing auf. Wir wussten nicht, warum, auch mein Bruder nicht. Unsere Mutter sagte, wir sollten es einfach als ein Naturphänomen betrachten, wie einen Sturm, der aufkommt und wieder abflaut. Dann kann man sich leichter damit abfinden. Und mit der angerichteten Zerstörung.
Am Tag, an dem die Twin Towers einstürzten, sah ich gerade die Wiederholung einer Talkshow, als die Sendung plötzlich für Eilmeldungen unterbrochen wurde. Ein Flugzeug bohrte sich in einen der Türme, und ich dachte an meinen Bruder, weil ich immer an meinen Bruder denke, wenn etwas Bedeutsames geschieht.
Als wir achtzehn wurden, waren wir zusammen in die Stadt gezogen. Wir hatten beide eine Wohnung am Park, mein Bruder östlich und ich westlich davon, dreihundert Meter von seiner entfernt, unmittelbar am Haupteingang. Mein Bruder erklärte alle Eingänge des Parks für gleich wichtig.
Zum ersten Mal wohnten wir allein. Allerdings aß ich fünfmal in der Woche bei ihm, weil ich nun einmal nicht gern kochte. Dafür konnte er mir jederzeit seine schmutzige Wäsche bringen. Ich studierte Englisch und hatte einen Nebenjob in einem Secondhandladen. Er studierte ebenfalls Englisch und arbeitete in einer Schwulenbar. Dort gefiel es ihm so gut, dass er nach ein paar Monaten sein Studium abbrach und eine Vollzeitstelle in der Bar annahm.
Als ich ihn anrief, wusste er schon Bescheid.
Der Turm, sagte ich. Hast dus gesehen?
Während wir sprachen, flog eine Maschine in den zweiten Turm. Den ganzen übrigen Nachmittag sahen wir fern, die Telefone am Ohr, schalteten von Sender zu Sender.
Das ist furchtbar, sagte mein Bruder immer wieder. Da springen Menschen in die Tiefe. Sie springen.
Er weinte, und ich schwieg erschrocken, denn mein Bruder weinte sonst nie.
Der erste Pullover, den ich von meinem eigenen Geld kaufte, war aus isländischer Wolle und schön warm, aber nicht so weich wie einige der Pullover, die ich später kaufen sollte, als ich im Secondhandladen arbeitete und eine Wand meines Schlafzimmers allmählich hinter einer Schicht Wolle verschwand. An dieser Wand brachte ich vom Boden bis zur Decke Regalbretter an und belud sie mit Stapeln von Pullovern, wie die Keksdosen meines Vaters nach Farben sortiert. Als ich siebenundzwanzig war, besaß ich hundertzweiundvierzig Pullover, und es wurde Zeit, in Therapie zu gehen. Was willst du mit so vielen, fragten meine Freunde. Es ist eine Sammlung, sagte ich dann. Ich hatte keine Haustiere; wenn ich nichts zu tun hatte, streichelte ich meine Pullover.
Im Laden suchte ich auch für meinen Bruder fast all seine Sachen aus. Nur seine Unterwäsche, Socken und Tanktops kaufte er selbst. Wenn wir zusammen in unseren Pullovern über die Straße gingen, waren wir französische Filmstars, Leute drehten sich nach uns um. Das war, bevor er einen dicken Bauch und Tränensäcke bekam.
Nach ein paar Monaten Therapie, kurz vor den Weihnachtsferien, überlegte ich, ob ich Elza, meiner Therapeutin, zum Jahreswechsel etwas schenken sollte. Streng genommen arbeitete sie für mich, aber ich war nicht ihre Chefin. Ich beschloss, ihr zwei gleiche Pullover für ihre Enkelinnen mitzubringen, Zwillinge mit großen, ernsten Augen, denen ich manchmal in der Diele begegnete.
Elza war zweiundsechzig und gerade in den Ruhestand gegangen, als meine Therapie bei ihr begann. Zu Hause praktizierte sie noch. Meine Arbeit ist nie zu Ende, sagte sie. Und nach dem Erstgespräch: Ich kann Ihnen helfen, ein positiveres Selbstbild zu entwickeln, aber Sie haben einen weiten Weg vor sich. (Inzwischen bin ich eine ihrer letzten drei Klientinnen. Den anderen beiden begegne ich nie. Ich weiß nicht, ob ich einen weiteren Weg vor mir habe als sie.)
Als ich ihr die Pullover gab, saßen wir oben in ihrem Arbeitszimmer, während die Zwillinge unten im Wohnzimmer spielten, beaufsichtigt von ihrer anderen Oma. Elza und ihre Frau kümmerten sich tagsüber um ihre Enkelinnen, bis sie alt genug für die Schule waren.
Die sind aber schön, sagte Elza.
Für die Mädchen, sagte ich.
Sie legte sich die Pullover auf den Schoß und strich mit der Hand über die Wolle. Während unseres Gesprächs blieben die Hand und die Pullover auf ihrem Schoß liegen.
Als ich dreizehn wurde, war ich einen Meter dreiundachtzig und nahm auf Anraten meiner Mutter und des Internisten Hormone ein, die mein Wachstum hemmen sollten. Mein Bruder brauchte nichts einzunehmen. Er war größer als ich, aber zu ihm sagte nie jemand: Mensch, bist du groß. Oder: Dürfen wir fragen, wie groß du bist, wir haben nämlich gewettet. Ich versuchte, auf jede mögliche Weise zu schrumpfen. Ich war sportlich, und das Lernen fiel mir leicht, aber ich sorgte dafür, dass ich in der Schule in keinem Fach besonders glänzte, denn so hatte ich mehr Freunde. Wenn ich einmal sehr fröhlich und bei irgendetwas der Mittelpunkt gewesen war, schämte ich mich hinterher. Mein Bruder fand gerade dann Anerkennung, wenn er sich ins Rampenlicht rückte, vor allem im Sportunterricht, weshalb er jeden Morgen eine Stunde früher aufstand als ich, um Sit-ups und Hantelübungen zu machen. Während ich mir alle Mühe gab zu schrumpfen, wurde er immer breiter. Bis zu unserem letzten Schuljahr war er so ein Schrank geworden, dass der Klassenlehrer eine Führungspersönlichkeit in ihm sah und ihn bat, die Finanzierung unserer Abschlussfeier in die Hand zu nehmen. Von dem Geld, das mein Bruder einsammelte, kaufte er eine riesige Discokugel, wonach gerade noch genug für zehn XXL-Beutel Chips übrig war, sodass alle ihre Getränke selbst mitbringen mussten. Der Klassenlehrer ins