Worin besteht mein Glaube - Lew Tolstoi - E-Book

Worin besteht mein Glaube E-Book

Lew Tolstoi

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Beschreibung

Worin besteht mein Glaube‹ ist eine philosophische Auseinandersetzung des Schriftstellers Lew Tolstoi mit Glauben und Religion. Er beschreibt darin seinen persönlichen Entwicklungsgang, die Beeinflussung seines Glaubens durch kirchliche Lehrer und setzt sich kritisch mit dem christlichen Glauben und der Bibel auseinander; beschreibt etwa Christi Lehre von den Gläubigen als unerreichbares Ideal, der als Wahn von den Ungläubigen aufgefasst wird, diskutiert den Gegensatz der christlichen und jüdischen Sittenlehre oder die Ausführbarkeit der christlichen Gebote.

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LUNATA

Worin besteht mein Glaube

Lew Tolstoi

Worin besteht mein Glaube

© 1885 Lew Tolstoi

Originaltitel V čem moja vera

Aus dem Russischen von Sophie Behr

Umschlagbild Pompeo Batoni

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Einführung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Einführung

Ich habe 55 Jahre in der Welt gelebt, und von diesen habe ich, mit Ausnahme der ersten 14–15 Jugendjahre, 35 Jahre als Nihilist gelebt und zwar in der wahren Bedeutung des Wortes, d. h. nicht als Sozialist und Revolutionär, wie dieses Wort gewöhnlich verstanden wird, sondern als Nihilist in dem Sinne einer vollständigen Abwesenheit jeglichen Glaubens.

Vor 5 Jahren kam mir der Glaube an die Lehre Christi – und mein Leben ward plötzlich ein anderes: ich wünschte nicht mehr, was ich bisher gewünscht, und was ich bisher nicht gewünscht, das wünschte ich jetzt. Was ich früher für gut gehalten, erschien mir schlecht, und was ich früher für schlecht gehalten, erschien mir gut. Es ging mir wie einem Menschen, der ausgeht um eine wichtige Sache zu erledigen und plötzlich unterwegs zu der Überzeugung kommt, die Sache sei ganz unnütz, und – umkehrt. Und alles, was rechts war – ward links, und alles, was links war – ward rechts. Das frühere Verlangen möglichst fern vom Hause zu sein ward zum Wunsche ihm möglichst nahe zu bleiben. Die Richtung meines Lebens, meine Wünsche wurden andere, und das Böse und das Gute wechselten ihre Plätze. Alles dies geschah, weil ich Christi Lehre anders verstand, als ich sie bisher aufgefasst hatte.

Nicht erläutern will ich Christi Lehre: ich will nur erzählen, wie ich das, was in ihr einfach, klar, verständlich, unzweifelhaft und an alle Menschen gerichtet ist, verstanden habe, und wie das, was ich verstanden, meine Seele umgewandelt und mir Ruhe und Glück gegeben hat.

Nicht erläutern will ich Christi Lehre. Eins aber möchte ich: die Erläuterung derselben verbieten.

Alle christlichen Kirchen haben stets anerkannt, dass alle Menschen, die unter einander ungleich an Gelehrsamkeit und Verstand – kluge und dumme – vor Gott gleich sind; dass Gottes Wahrheit allen zugänglich ist. Christus hat sogar gesagt, es läge in Gottes Willen, dass den Einfaltigen das offenbart werde, was den Verständigen verborgen bleibt.

Nicht alle können in die tiefsten Geheimnisse der Dogmatik, Homiletik, Patristik, Liturgik, Hermeneutik, Apologetik u. a. eingeweiht sein; alle aber können und müssen das verstehen, was Christus allen Millionen einfacher, unbedeutender, jetzt und einst lebender Menschen gesagt hat. Das alles also, was Christus allen diesen einfachen Leuten gesagt hat, denen noch nicht die Möglichkeit geboten war sich nach Erläuterungen seiner Lehre an Paulus, Clemens, Johannes Chrysostomus zu wenden, dasselbe hatte ich bisher nicht verstanden, jetzt aber verstehe ich es, und das ist es, was ich allen mitteilen will.

Der Räuber am Kreuze glaubte an Christus und ward erlöst. Wäre es wirklich schlecht und für irgend jemand schädlich gewesen, wenn der Missetäter nicht am Kreuze gestorben, sondern herabgestiegen wäre und den Menschen erzählt hätte, auf welche Weise er zu dem Glauben an Christus gelangt sei?

Auch ich habe, gleich dem Räuber am Kreuze, an Christi Lehre geglaubt und bin gleich ihm gerettet worden.

Und dieser Vergleich liegt nicht fern; er ist im Gegenteil der am nächsten liegende Ausdruck jenes Seelenzustandes der Verzweiflung und des Grauens vor dem Leben und vor dem Tode, in dem ich mich einst befand, und des Zustandes der Ruhe und des Glückes, in dem ich mich jetzt befinde.

Wie jener Missetäter, so war auch ich mir bewusst, dass ich schlecht gelebt und noch schlecht lebte, und ich sah, dass die Mehrzahl der Menschen um mich her ebenso lebte. Wie jener Räuber wusste auch ich, dass ich unglücklich sei und leide, und dass die Menschen um mich her auch unglücklich seien und litten; und ich sah keinen andern Ausweg in meiner Lage als den Tod. Wie jener Räuber an das Kreuz, so war auch ich durch eine gewisse Macht angenagelt an dies Leben des Leidens und des Bösen. Und wie nach allen sinnlosen Qualen und nach allem Bösen dieses Lebens die entsetzliche Finsternis des Todes jenes Räubers harrte, so harrte dieselbe auch meiner.

In alledem war ich dem Missetäter vollkommen gleich; der Unterschied jedoch zwischen ihm und mir bestand darin, dass er starb, ich aber noch lebte.

Der Missetäter konnte glauben, dass er dort, jenseits des Grabes, erlöst werde; ich aber konnte solches nicht glauben, da mir ausser dem Leben jenseits des Grabes noch das Leben hier bevorstand. Ich aber verstand dieses Leben nicht – mir graute davor. Da plötzlich vernahm ich das Wort Christi: ich begriff es, und Leben und Tod hörten auf mir als ein Böses zu erscheinen, und anstatt der Verzweiflung empfand ich die Freude und das Glück des Lebens, die der Tod nicht vernichten kann.

Könnte es wirklich jemand zum Schaden gereichen, wenn ich erzähle, wie solches in mir vor sich gegangen?

1

Entwicklungsgang des Verfassers im Glauben

Darüber, weshalb ich früher Christi Lehre nicht verstanden und wie und warum ich sie später begriffen, habe ich zwei grosse Abhandlungen geschrieben: eine Kritik der dogmatischen Theologie und eine neue Übersetzung nebst einer Harmonie der 4 Evangelien mit Erläuterungen. In diesen Schriften bemühe ich mich, methodisch, Schritt vor Schritt, alles zu untersuchen, was den Menschen die Wahrheit verhüllt, und übersetze von neuem die 4 Evangelien, Vers für Vers vergleiche ich sie mit einander und vereinige sie zu einem Ganzen.

Diese Arbeit dauert bereits das sechste Jahr. Jedes Jahr, jeden Monat finde ich neue und immer neue Erklärungen und Bestätigungen des Grundgedankens; ich verbessere die teils durch Eile, teils durch ein Michhinreissenlassen in meine Arbeit eingeschlichenen Fehler, und indem ich sie verbessere, vervollständige ich das, was bereits gemacht ist. Wahrscheinlich wird mein Leben, dessen Dauer nur noch beschränkt ist, früher zu Ende gehen als diese Arbeit. Doch bin ich überzeugt, dass diese Arbeit eine notwendige ist, und tue deshalb, so lange ich lebe, was ich zu tun im Stande bin.

Solcherart ist meine langwierige äussere Arbeit an der Theologie und den Evangelien. Meine innere Arbeit jedoch, über die ich hier sprechen will, war eine ganz andere. Es war nicht ein methodisches Ergründen der Theologie und der Texte der Evangelien, – nein, es war ein momentanes Ausschliessen alles dessen, was den Sinn der Lehre verbarg, und eine plötzliche Erleuchtung der Wahrheit. Es war ein Ereignis, ähnlich dem, das einem Menschen widerfahren wäre, der nach der Bedeutung einer Masse kleiner, untereinandergeworfener Marmorstücke durch mühsames Zusammensetzen nach einer falschen Zeichnung suchen würde, wenn er dann plötzlich aus einem grösseren Stücke erraten würde, dass es eine ganz andere Bildsäule sei und, ein neues Bildwerk zusammenzustellen beginnend, anstatt der früheren Unzusammenhängigkeit der einzelnen Teile, an jedem Stücke, das durch alle Krümmungen seiner Brüche sich an andere Stücke schliessen und ein Ganzes bilden würde, die Bestätigung seines Gedankens sehen würde. Solches geschah mit mir. Und das ist es, was ich erzählen will.

Ich will erzählen, auf welche Weise ich zu der Erkenntnis der Lehre Christi den Schlüssel gefunden, der mir die Wahrheit eröffnet hat, so klar und einleuchtend, dass jeder Zweifel ausgeschlossen blieb.

Diese Entdeckung geschah folgendermaßen: Seit der frühesten Zeit, seit meiner Kindheit fast, als ich anfing das Evangelium allein zu lesen, hat mich in dem ganzen Evangelium am meisten jene Lehre Christi bewegt und gerührt, in welcher er Liebe, Demut, Erniedrigung seiner Selbst, Selbstaufopferung und Vergeltung des Bösen mit Gutem predigt – Dies blieb auch für mich stets der Inbegriff des christlichen Glaubens, das, was ich in ihm von Herzen liebte, das, um des Willen ich, nach Verzweiflung und Unglauben, jene Bedeutung als wahr erkannte, die das christliche Arbeitsvolk dem Leben gibt, und um des Willen ich mich demselben Glauben unterwarf, zu dem jenes Volk sich bekennt, d. h. der sogenannten orthodoxen Kirche. – Doch nachdem ich mich der Kirche unterworfen, erkannte ich bald, dass ich in den Lehren derselben nicht die Bestätigung der Erklärung jener Grundsätze des Christentums finden würde, die mir als das Wichtigste erschien; ich erkannte, dass dieses mir teure Wesen des Christentums in der Lehre der Kirche nicht die Hauptsache sei. Ich erkannte, dass das, was mir in Christi Lehre als das Wichtigste erschien, von der Kirche nicht als solches anerkannt wird. Die Kirche erkennt etwas anderes als das Wichtigste an. Anfangs legte ich dieser Eigentümlichkeit der kirchlichen Lehre keine Bedeutung bei. – »Was ist's weiter? – dachte ich – die Kirche erkennt einfach, ausser dem Sinne der Liebe, der Demut und Selbstaufopferung, noch einen anderen, dogmatischen, äusseren Sinn an. Mir ist dieser Sinn fremd; er stösst mich sogar ab; doch tut er weiter keinen Schaden.«

Jedoch, je länger ich lebte, mich der Lehre der Kirche unterwerfend, um so bemerkbarer ward es mir, dass diese Eigentümlichkeit der kirchlichen Lehre nicht so gleichgültig sei, wie sie mir anfangs erschien. Mich stiess die Kirche auch durch die Sonderbarkeiten ihrer Glaubenslehren ab, auch durch ihr Anerkennen und Gutheissen der Verfolgungen, der Verurteilungen und Kriege und auch durch das gegenseitige Verleugnen der Anhänger der verschiedenen Glaubenslehren; am meisten aber ward mein Zutrauen zu ihr erschüttert gerade durch ihre Gleichgültigkeit gegen das, was mir als der Kern der christlichen Lehre erschien, und dagegen ihre Vorliebe für das, was ich für Nebensache hielt. Ich fühlte, dass hier etwas nicht richtig sei. Was aber nicht richtig war, konnte ich durchaus nicht finden; ich konnte es nicht finden, weil die kirchliche Lehre nicht nur das nicht leugnete, was mir die Hauptsache in der Lehre Christi schien, sondern es vielmehr vollkommen anerkannte, jedoch so, dass diese »Hauptsache« in der Lehre Christi nicht mehr Hauptsache blieb. Ich konnte der Kirche nicht den Vorwurf machen, dass sie das Wichtigste verleugne; ihre Anerkennung jedoch dieses Wichtigsten war für mich eine unbefriedigende. Die Kirche gab mir nicht das, was ich von ihr erwartete.

Ich bin vom Nihilismus zur Kirche nur deshalb übergegangen, weil ich die Unmöglichkeit eines Lebens ohne Glauben und ohne Erkenntnis dessen, was, ausserhalb, meiner tierischen Instinkte, gut oder böse sei, einsah. Diese Erkenntnis glaubte ich im christlichen Glauben zu finden. Der christliche Glaube aber, wie er mir damals erschien, war nur eine gewisse, sehr unklare Stimmung, aus der keine bestimmten Pflichten und Regeln des Lebens entsprossen. Nach diesen Regeln also wandte ich mich an die Kirche. Die Kirche jedoch gab mir Regeln, die mich nicht im geringsten jener mir teuren christlichen Stimmung näher brachten, ja mich vielmehr von derselben entfernten. Und ich konnte ihnen nicht folgen. Ich bedurfte eines Lebens, das auf christliche Wahrheiten gegründet war, und nur ein solches war mir wert; die Kirche aber gab mir Lebensregeln, die den mir teuren Wahrheiten vollständig fremd waren. Die Regeln, die mir die Kirche gab: über den Glauben an die Dogmen, über die Erfüllung ihrer Gesetze, das Einhalten der Fasten und Gebete – die brauchte ich nicht; Regeln aber, die auf christliche Wahrheit gegründet gewesen wären, die gab sie mir nicht. Mehr als das: die kirchlichen Regeln schwächten, ja vernichteten sogar manchmal geradezu jene christliche Stimmung, die allein meinem Leben Wert verlieh. Am meisten verwirrte es mich, dass alles Böse der Menschen – die Verdammung des Einzelnen, die Verdammung ganzer Völker, die Verdammung anderer Glaubenslehren und die aus solchen Verdammungen entstehenden Verfolgungen und Kriege – alles das von der Kirche gerechtfertigt wurde. Christi Lehre von der Demut, der Nachsicht, der Vergebung aller Kränkungen, der Selbstverleugnung und Liebe wurde von der Kirche in Worten hochgepriesen und zugleich wurde in der Tat das gutgeheissen, was mit dieser Lehre nicht im Einklang stehen konnte.

War denn Christi Lehre eine solche, dass dergleichen Widersprüche bestehen mussten? Ich konnte das nicht glauben. Überdies war es mir stets sonderbar erschienen, dass die Kirche mit ihren Regeln über die Lehre Christi sich gerade auf solche Stellen stützte, die die undeutlichsten des Evangeliums waren, soweit mir dasselbe bekannt. Während die Dogmen und die aus denselben entstehenden Pflichten der Christen in einer vollkommen klaren und bestimmten Weise in dem Evangelium ausgesprochen waren, äusserte sich die Kirche in unklaren, mystischen, nebelhaften Ausdrücken über die Anwendung der Lehre. War es wirklich das, was Christus gewollt, als er uns seine Lehre predigte? Die Lösung meiner Zweifel konnte ich nur in den Evangelien finden. Und ich las sie und las sie immer wieder. Aus allen Evangelien trat mir stets als etwas Besonderes die Bergpredigt entgegen. Und sie war es, die ich am häufigsten las. Nirgends spricht Christus mit solcher Feierlichkeit wie hier, nirgends gibt er so viele sittliche, klare, verständliche, jedem gerade zum Herzen redende Regeln, nirgends spricht er zu einer grösseren Masse allerhand gewöhnlicher Leute. Wenn es überhaupt klare, bestimmte christliche Gesetze gibt, so müssen sie hier ausgesprochen worden sein. In diesen drei Kapiteln Matthäi habe ich die Lösung meiner Zweifel gesucht.

Viele, viele Male habe ich die Bergpredigt durchgelesen und jedesmal dasselbe dabei empfunden: Bewunderung und Rührung beim Lesen jener Verse – über das Hinhalten des Backens, das Weggeben des Hemdes, die Friedfertigkeit gegen alle, die Liebe zum Feinde – und stets dasselbe Gefühl der Unbefriedigung. Die an alle gerichteten Worte Gottes waren unbegreiflich. Es wurde eine geradezu unmögliche Entsagung verlangt, die das Leben selbst, wie ich es auffasste, zerstörte, und deshalb schien es mir, als könne ein vollständiges Entsagen nicht eine unumgängliche Bedingung zur Rettung sein. Sobald es aber eine notwendige Bedingung zur Rettung war, so gab es wiederum nichts Bestimmtes und Klares. Ich habe nicht allein die Bergpredigt gelesen, sondern auch alle Evangelien und alle theologischen Kommentare zu denselben. Die theologischen Erläuterungen des Inhalts, dass die Aussprüche der Bergpredigt Hinweise seien auf jene Vollkommenheit, nach welcher der Mensch streben solle, dass aber der gefallene Mensch durchaus sündhaft sei und nicht durch eigne Kraft jene Vollkommenheit zu erreichen vermöge, dass des Menschen Rettung im Glauben, im Gebete und in der Gnade läge – diese Erläuterungen befriedigten mich nicht.

Ich war damit nicht einverstanden, weil es mir immer sonderbar erschienen war, weshalb Christus, im voraus wissend, dass die Erfüllung seiner Lehre durch des Menschen eigene Kraft unmöglich sei, so klare und schöne Regeln aufgestellt habe, die sich geradezu auf jeden einzelnen Menschen bezogen? Wenn ich diese Regeln las, hat es mir stets geschienen, sie bezögen sich direkt auf mich und von mir allein werde deren Befolgung verlangt.

Wenn ich diese Regeln las, überkam mich stets eine freudige Gewissheit, ich könne sogleich, von dieser Stunde an, alles das tun, was verlangt wird. Und ich wollte es tun und versuchte es; kaum aber fühlte ich einen Kampf bei der Ausführung, so erinnerte ich mich unwillkürlich der kirchlichen Lehre darüber, dass der Mensch schwach sei und das nicht aus eignen Kräften vollbringen könne – und ich wurde schwach.

Man sagte mir, ich müsse glauben und beten. Ich aber fühlte, dass mein Glaube gering sei und dass ich deshalb nicht beten könne. Man sagte mir, ich müsse beten, Gott möge mir den Glauben geben, den Glauben, der das Beten lehrt, welches jenen Glauben gibt, welcher jenes Beten lehrt u. s. w. ohne Ende.

Aber Vernunft und Erfahrung zeigten mir die Unzulänglichkeit dieses Mittels. Mir schien stets, dass nur meine Bemühungen die Lehre Christi zu befolgen wirklich von Nutzen sein könnten.

Und nun, nach vielem, vielem vergeblichen Suchen und Erforschen dessen, was darüber geschrieben worden war zum Beweise der Göttlichkeit dieser Lehre und zum Beweise ihrer Nichtgöttlichkeit, nach vielen Zweifeln und Leiden war ich wieder allein geblieben mit meinem Herzen und mit dem geheimnissvollen Buche vor mir. Ich konnte diesem Buche nicht die Bedeutung geben, die andere ihm gaben, und vermochte ihm weder eine andere beizulegen noch mich von ihm loszusagen. Und erst nachdem ich alles Zutrauen verloren in alle Erklärungen der gelehrten Kritik sowohl wie in alle Erläuterungen der gelehrten Theologie, und sie alle von mir geworfen nach dem Ausspruch Christi: so Ihr mich nicht aufnehmet wie die Kinder, kommt ihr nicht ins Himmelreich ..., da erst begriff ich plötzlich das, was ich bisher nicht begreifen konnte. Und ich begriff es nicht durch künstliches, scharfsinniges Zersetzen, Vergleichen, Erklären; im Gegenteil, es wurde mir alles offenbar dadurch, dass ich alle Erklärungen vergass. Die Stelle, die für mich zum Schlüssel des Ganzen wurde, war die Stelle aus dem 5. Kapitel Matthäi, Vers 38, 89: »Ihr habt gehöret, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. – Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel« ... Plötzlich, zum erstenmal verstand ich diesen Vers gerade und einfach. Ich verstand, dass Christus gerade das sagt, was er sagt. Und sofort war es mir, nicht als sei etwas Neues entstanden, sondern als sei alles abgefallen, was die Wahrheit verdunkelt, und die Wahrheit erstand vor mir in ihrer ganzen Bedeutung. »Ihr habt gehöret, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.« Diese Worte erschienen mir plötzlich ganz neu, als hätte ich sie nie vorher gelesen.

Wenn ich früher diese Worte las, liess ich stets, wie in einer eigentümlichen Befangenheit, die Worte: »Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel«, unbeachtet Ganz als ob diese Worte gar nicht da wären, oder als hätten sie gar keine bestimmte Bedeutung.

Später, in meinen Gesprächen mit vielen, vielen Christen, denen das Evangelium bekannt war, habe ich oft Gelegenheit gehabt bezüglich dieser Worte dieselbe Bemerkung zu machen. Dieser Worte erinnerte sich niemand, und oft geschah es, wenn die Rede auf diese Stelle kam, dass die Christen das Evangelium zur Hand nahmen um nachzuschlagen, ob auch diese Worte darin ständen. So hatte auch ich diese Worte übersehen und erst von den folgenden Worten zu begreifen begonnen: »So dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar«... u.s.w. Und immer sah ich in diesen Worten eine Forderung, zu leiden und zu entsagen, wie es der menschlichen Natur gar nicht eigen ist. Dennoch rührten mich diese Worte. Ich fühlte, es müsse herrlich sein sie zu befolgen. Ich fühlte aber auch, dass ich nie im Stande sein würde sie zu befolgen nur um sie zu befolgen, d.h. um zu leiden. Ich sagte mir: Gut, ich biete den Backen, – man wird mich ein zweites Mal schlagen; ich werde alles weggeben, – man wird alles von mir nehmen. Ich werde kein Leben haben. Mir ist aber das Leben gegeben; warum soll ich es denn verlieren? Das kann Christus nicht gewollt haben. Früher sagte ich mir das, weil ich voraussetzte, dass Christus mit diesen Worten die Leiden und Entbehrungen preist und sie preisend übertreibt und deshalb nicht genau und klar spricht; jetzt aber, nachdem ich die Worte »widerstrebet nicht dem Übel« verstanden, ist es mir klar geworden, dass Christus nichts übertreibt und keine Leiden fordert um der Leiden willen; dass er das, was er sagt, nur sehr bestimmt und klar ausspricht. Er sagt: Widerstrebet nicht dem Übel; und indem ihr so tut, wisset im voraus, dass sich Menschen finden können, die, nachdem sie euch einen Streich auf den rechten Backen gegeben, euch, wenn sie auf keinen Widerstand stossen, auch auf den linken schlagen werden; die nachdem sie euch das Hemd genommen, euch auch den Mantel nehmen werden; die, nachdem sie eure Arbeit ausgenützt, euch zwingen werden noch mehr zu arbeiten; die immer nehmen werden ohne je zurückzugeben ... Und nun, wenn das so sein wird, selbst dann sollt ihr nicht widerstreben dem Übel. Denen, die euch schlagen und beleidigen werden, sollt ihr dennoch Gutes erweisen. – Und nachdem ich diese Worte so verstanden hatte wie sie gesagt waren, ward mir sofort alles klar, was mir bis dahin dunkel gewesen, und was mir übertrieben erschienen, erschien mir jetzt vollkommen genau. Ich begriff zum erstenmal, dass der Schwerpunkt des ganzen Gedankens in den Worten liegt: »widerstrebet nicht dem Übel«, und dass das Nachfolgende nur eine Erklärung des ersten Satzes ist. Ich begriff, dass Christus durchaus nicht verlangt, dass man den Backen biete und den Mantel hergäbe nur um des Leidens willen; dass er aber verlangt, dass wir dem Übel nicht widerstreben, und sagt, dass wir dabei vielleicht auch zu leiden haben werden. Gleichwie ein Vater, der seinen Sohn auf eine weite Reise schickt, ihm nicht befiehlt die Nächte zu wachen, zu hungern, zu frieren, durchnässt zu werden, wenn er zu ihm sagt: »Geh' deines Weges, und wenn du auch Kälte und Nässe ertragen solltest, so gehe dennoch.« – Christus sagt nicht: bietet den Backen, leidet; sondern er sagt: widerstrebet nicht dem Übel und was euch auch zustossen möge, widerstrebet nicht dem Übel. Diese Worte: widerstrebet nicht dem Übel – oder dem Bösen –, in ihrem geraden Sinne aufgefasst, wurden für mich zum wirklichen Schlüssel, der mir alles erschloss. Und ich wunderte mich, wie ich so einfache, bestimmte Worte so verkehrt hatte auffassen können. Euch ist gesagt: Zahn um Zahn; ich aber sage: widerstrebe nicht dem Übel oder dem Bösen, und was dir auch die Bösen antun sollten, ertrage, gib, aber widerstrebe nicht dem Übel oder dem Bösen. Was kann klarer, verständlicher und unzweifelhafter sein als dies? Und ich brauchte diese Worte nur einfach und gerade aufzufassen wie sie gesagt waren, und sofort wurde mir in der ganzen Lehre Christi, nicht nur in der Bergpredigt, sondern auch in allen Evangelien, alles verständlich, was verworren gewesen, und alles einig, was bisher widersprechend war; und die Hauptsache, die unnütz erschienen, ward zur Notwendigkeit. Alles verschmolz in ein Ganzes und das eine bestätigte unzweifelhaft das andere, wie die Stücke einer zerschlagenen Bildsäule, die so zusammengefügt worden, wie sie es sein mussten.

In dieser Predigt und in allen Evangelien, von allen Seiten wird dieselbe Lehre bestätigt: widerstrebet nicht dem Übel.

In dieser Predigt, wie an allen andern Stellen, überall stellt sich Christus seine Jünger, d. h. diejenigen Menschen, die seine Lehre über das Nichtwiderstreben dem Übel befolgen, als solche vor, die den Backen hinhalten und den Mantel hergeben: als Verfolgte, Geschlagene und Arme.

Überall sagt Christus wiederholt, dass, wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, wer nicht allem entsagt, d. h. wer nicht bereit ist alle Folgen der Erfüllung seiner Lehre über das Nichtwiderstreben dem Übel auf sich zu nehmen, – der könne nicht sein Jünger sein. Christus spricht zu seinen Jüngern: seid arm, seid bereit, indem ihr dem Übel nicht widerstrebt, Verfolgung, Leiden und Tod zu ertragen. Er selbst bereitet sich auf Leiden und Tod vor, ohne dem Übel zu widerstreben, und stirbt selbst, indem er verbietet dem Übel zu widerstreben, und seiner Lehre treu bleibend.

Alle seine ersten Jünger erfüllen dies Gesetz des Nichtwiderstrebens dem Übel und verbringen ihr ganzes Leben in Armut und Verfolgung und vergelten nie Böses mit Bösem.

Also sagte Christus das, was er sagte. Man kann behaupten, dass die fortwährende Erfüllung dieser Regel sehr schwer sei; man kann sich nicht einverstanden erklären damit, dass jeder Mensch durch die Befolgung dieser Regel selig werde; man kann, gleich den Ungläubigen, sagen, dass es töricht sei, dass Christus ein Schwärmer, ein Idealist gewesen, der unausführbare Regeln aufgestellt, die seine Jünger nur aus Torheit befolgt; aber keineswegs kann man ableugnen, dass Christus sehr klar und bestimmt genau das ausgesprochen hat, was er sagen wollte, nämlich: dass der Mensch, seiner Lehre nach, dem Übel nicht widerstreben solle, und dass folglich derjenige, der sich zu seiner Lehre bekehrt, dem Übel nicht widerstreben könne. Und dennoch verstehen weder die Gläubigen noch die Ungläubigen eine so einfache, klare Bedeutung der Worte Christi.

2

Fortsetzung. Von kirchlichen Lehren unbeeinflusste Würdigung der Bergpredigt zeigt als Grundlehre derselben das Gebot: »Widerstrebe nicht dem Übel!«

Nachdem ich begriffen, dass die Worte: widerstrebe nicht dem Übel, sagen wollen: widerstrebe nicht dem Übel, ward plötzlich meine bisherige Vorstellung von dem Sinne der Lehre Christi eine ganz andere und ich erschrak vor jenem, nicht gerade Nichtverstehen, aber doch ganz eigentümlichen Auffassung der Lehre, in der ich mich bisher befunden. Ich wusste, wir alle wissen, dass der Sinn der christlichen Lehre in der Liebe zu den Menschen besteht Die Worte: biete den Backen, liebe deine Feinde, sind der Ausdruck des innern Wesens des Christentums. Ich wusste das von Kindheit an; weshalb aber fasste ich diese einfachen Worte nicht einfach auf, sondern forschte in ihnen nach einer andern Bedeutung? Widerstrebe nicht dem Übel will heissen: widerstrebe niemals dem Bösen, d. h. tue nie einem anderen Gewalt an, d. h. begehe nie eine Handlung, die der Liebe entgegengesetzt wäre. Und wenn du dabei gekränkt wirst, so ertrage die Kränkung und tue dennoch nichts Gewaltsames gegen jenen. Er hat es so einfach und deutlich gesagt, wie es deutlicher nicht gesagt werden kann. Wie konnte denn ich, der ich glaube oder zu glauben mich bemühe, dass der solches gesagt – Gott sei; wie konnte denn ich sagen, dass es unmöglich sei aus eigenen Kräften danach zu handeln? Mein Herr wird mir sagen: geh', schlage Holz! und ich werde antworten: ich kann das aus eigenen Kräften nicht tun. Indem ich dies ausspreche, sage ich eines von beiden: entweder, dass ich den Worten meines Herrn keinen Glauben schenke oder dass ich nicht tun will, was mein Herr von mir fordert. Über das Gebot Gottes, das er uns zur Befolgung gegeben, von welchem er gesagt: »wer so tut und lehret, wird gross heissen im Himmelreich« u. s. w., von welchem er gesagt, dass nur die, so es erfüllen, das ewige Leben haben werden, über das Gebot, das er selbst befolgt und so klar und einfach ausgesprochen, dass an dessen Bedeutung kein Zweifel aufkommen kann – über dieses Gebot hatte ich, der ich nie versucht es zu befolgen, gesagt: dessen Erfüllung ist mir aus eigener Kraft unmöglich und es bedarf einer übernatürlichen Hilfe.

Gott ist zur Erde niedergestiegen um die Menschen zu erlösen. Die Erlösung besteht darin, dass die zweite Person der Dreieinigkeit, Gottes Sohn, für die Menschen gelitten, ihre Sünden vor Gott dem Vater abgebüsst und ihnen eine Kirche gegeben hat, in der jene Seligkeit ruht, die den Gläubigen zu teil wird; aber, ausser alledem, hat dieser Sohn Gottes den Menschen auch die Lehre und das Beispiel eines Lebens gegeben, das zur Rettung führt. Wie konnte ich denn sagen, die Lebensregel, die er so einfach und klar für alle ausgesprochen, sei so schwer zu befolgen, ja unmöglich zu erfüllen ohne übernatürliche Hilfe? – Er hat nicht nur das nicht gesagt, er hat ganz entschieden ausgesprochen: befolget das bestimmt und wer solches tut, der kommt ins Himmelreich. Und er hat nie geäussert, dass die Erfüllung schwer sei, er hat im Gegenteil gesagt: »mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht«. Johannes, sein Evangelist, hat gesagt: »seine Gebote sind nicht schwer«. Wie konnte ich denn sagen, dass das, was Gott zu vollführen befohlen, das, dessen Erfüllung er so genau bestimmt und wovon er gesagt, es sei leicht zu erfüllen, das, was er selbst als Mensch erfüllt und was seine ersten Jünger befolgt haben; wie konnte ich denn sagen, dass es so schwer sei, solches zu erfüllen, dass es sogar ohne übernatürliche Hilfe unmöglich sei? Wenn ein Mensch alle Kräfte seines Geistes anwenden würde um ein gegebenes Gesetz zu vernichten, was könnte dieser Mensch Wirksameres zur Vernichtung jenes Gesetzes sagen als das, dass dies Gesetz seinem Wesen nach unausführbar sei und dass die Ansicht des Gesetzgebers selbst über sein Gesetz die sei, dass dies Gesetz nicht erfüllt werden könne und dass zu dessen Erfüllung eine übernatürliche Hilfe erforderlich sei? – Dieses selbe aber dachte ich in Bezug auf das Gesetz: widerstrebet nicht dem Übel. Und ich begann mich zu entsinnen, wie und wann mir der sonderbare Gedanke gekommen, dass Christi Gebot zwar göttlich, dass es aber unmöglich sei es zu befolgen. Und nachdem ich meine Vergangenheit durchforscht, erkannte ich, dass dieser Gedanke nie in seiner ganzen Nacktheit vor mir erstanden sei (er hätte mich abgestossen), sondern dass ich, unbemerkt von mir selbst, ihn seit meiner frühesten Kindheit eingesogen und dass mein ganzes nachheriges Leben diese sonderbare Verirrung in mir nur bestärkt hatte. Von Kindheit an lehrte man mich, dass Christus und seine Lehre göttlich seien: zu gleicher Zeit aber lehrte man mich jene Einrichtungen achten, die durch Gewalt mich vor dem Bösen schützten; man lehrte mich diese Einrichtungen heilig halten. Man lehrte mich dem Bösen widerstreben und flösste mir die Meinung ein, es sei erniedrigend und beschämend sich dem Bösen zu unterwerfen und dadurch zu leiden; lobenswert aber sei es ihm zu widerstreben. Man lehrte mich zu richten und zu verdammen. Danach lehrte man mich den Krieg, d. h. man lehrte mich dem Bösen durch Tötung entgegenwirken, und das Kriegsheer, dessen Glied ich war, nannte man ein christlich-gesinntes und seine Tätigkeit wurde durch christlichen Segen geheiligt Ausserdem lehrte man mich von Kindheit an bis zu meinem Mannesalter das achten, was dem Gesetze Christi geradezu entgegen ist. Dem Beleidiger wehren, mit Gewalt persönliche Kränkung, sowie Kränkung der Familie oder des Volkes rächen; dies alles wurde nicht nur nicht verworfen, sondern es wurde nur im Gegenteil eingeprägt, dass alles das gut und durchaus nicht gegen Christi Gesetz sei.

Alles was mich umgab: die Ruhe, die Sicherheit meiner Person und meiner Familie, mein Eigentum, alles beruhte auf dem Gesetz, das Christus verworfen, dem Gesetze: Zahn um Zahn.

Die Kirchenlehrer lehrten, dass Christi Lehre eine göttliche, dass aber deren Erfüllung der menschlichen Schwäche wegen unmöglich sei, und dass nur die Gnade Christi zu deren Erfüllung verhelfen könne. Die weltlichen Lehrer und die ganze Einrichtung des Lebens bekannten schon geradezu die Unausführbarkeit, die Schwärmerei der Lehre Christi und lehrten mit Wort und Tat das, was dieser Lehre entgegen war. – Dieses Anerkennen der Unausführbarkeit der Lehre Gottes hatte sich derart, nach und nach, unbemerkt, in mich eingesogen und war mir zur Gewohnheit geworden und stimmte so vollständig mit meinen Begierden überein, dass ich früher nie den Widerspruch bemerkte, in dem ich mich befand. Ich sah nicht, dass es unmöglich sei zu einer und derselben Zeit sich zu Christus zu bekennen, dessen Grundlehre das Nichtwiderstreben dem Übel ist, und dabei ruhig und bewusst auf die Einrichtungen des Eigentums, der Gerichte, des Staates, des Kriegsheeres hinzuarbeiten – ein Leben herzustellen, das Christi Lehre entgegengesetzt ist, und zugleich zu diesem Christus zu beten, dass sein Gesetz vom Nichtwiderstreben dem Übel und von der Vergebung unter uns erfüllt werde. Mir kam noch nicht der Gedanke, der mir jetzt so klar ist, dass es viel einfacher wäre das Leben nach dem Gesetze Christi einzurichten und dagegen zu beten, es möchten Gerichte, Todesstrafen und Kriege bestehen, wenn sie für unser Wohl so unumgänglich notwendig seien.

Und ich ward inne, woher meine Verirrung entstanden. Sie entstand aus meinem Bekennen Christi in Werten und dem Verleugnen seiner in der Tat.

Der Grundsatz des Nichtwiderstrebens dem Übel ist ein Grundsatz, der die gesamte Lehre zu einem Ganzen verbindet, aber nur dann, wenn er kein bloßer Ausspruch, sondern eine zwingende Regel, ein Gesetz ist. Dieser Grundsatz ist wirklich der Schlüssel, der alles erschliesst, aber nur dann, wenn er in das Innere des Schlosses eindringt. Das Bekennen dieses Grundsatzes als eines Ausspruchs, dessen Erfüllung ohne übermenschliche Hilfe nicht möglich sei, ist eine Vernichtung der ganzen Lehre. – Wie kann eine Lehre, aus der die alles verbindende Grundidee ausgeschlossen wird, den Menschen anders als unmöglich erscheinen? Den Ungläubigen erscheint sie geradezu töricht und muss ihnen also scheinen.

Eine Maschine aufstellen, den Dampfkessel anheizen, sie in Gang setzen ohne den Treibriemen anzubringen: das ist es, was man mit Christi Lehre getan, als man anfing zu lehren, dass man ein guter Christ sein könne ohne das Gesetz über das Nichtwiderstreben dem Übel zu erfüllen.

Ich habe unlängst mit einem jüdischen Rabbiner das 5. Kapitel Matthäi gelesen. Fast bei jedem Satz sagte der Rabbiner: dies steht in der Bibel, dies steht im Talmud, und zeigte mir in der Bibel und im Talmud sehr ähnliche Aussprüche, wie wir sie in der Bergpredigt besitzen.

Als wir jedoch zu dem Verse gelangten: widerstrebet nicht dem Übel, sagte er nicht: auch das steht im Talmud, sondern fragte mich nur spöttisch: »Und die Christen erfüllen dies? bieten sie den andern Backen?« – Ich konnte nichts darauf erwidern, umso mehr als ich wusste, dass die Christen um dieselbe Zeit nicht nur ihren Backen nicht darboten, sondern die Juden auf beide Backen schlugen. Es war mir aber interessant zu wissen ob etwas Ähnliches sich in der Bibel oder im Talmud befinde, und ich fragte ihn danach. – Er sagte: »Nein, das steht nicht drin; sagt mir aber, ob die Christen dieses Gesetz erfüllen?« – Mit dieser Frage sagte er mir, dass das Bestehen einer Regel im christlichen Gesetze, die nicht nur von niemand befolgt, sondern von den Christen selbst als unausführbar anerkannt wird, ein Eingestehen der Unvernunft und Nutzlosigkeit dieser Regel ist. Und ich konnte ihm nichts darauf erwidern.

Nachdem ich jetzt den wahren Sinn des Gesetzes verstanden, sehe ich klar jenen sonderbaren Widerspruch, in dem ich mich mit mir selbst befand, indem ich Christus als Gott und seine Lehre als eine göttliche anerkannte und dennoch mein Leben ganz im Gegensatz zu dieser Lehre eingerichtet hatte. Was blieb anderes zu tun übrig, als seine Lehre für unausführbar zu erklären? In Worten erkannte ich die Heiligkeit der Lehre Christi an, in der Tat aber bekannte ich eine durchaus nicht christliche Lehre; ich erkannte Grundsätze an und unterwarf mich Einrichtungen, die mein Leben von allen Seiten umringten und durchaus unchristlich waren.

In dem ganzen alten Testament heisst es, dass alles Unglück des jüdischen Volks dadurch entstanden sei, dass das Volk an falsche Götter und nicht an den wahren Gott geglaubt. Samuel beschuldigt das Volk im ersten Buch, Kap. 8 und 12, dass es zu allen seinen früheren Abtrünnigkeiten gegen Gott noch eine neue hinzugefügt: an Stelle Gottes, der sein König gewesen, habe es den Menschen zum Könige erkoren, der, seiner Meinung nach, es erretten werde. »Und gebet nicht dem Eitlen nach – spricht Samuel zum Volk 12, 21 – denn es nützet nicht und kann euch nicht erretten, weil es ein (tohu) eitel Ding ist.« Um nicht mit eurem König unterzugehen, haltet euch an Gott allein.

Dieser Glaube an das »Eitle«, das »tohu«, an leere Götzenbilder, war es, der mir die Wahrheit verhüllte. Auf dem Wege zur Wahrheit, ihr Licht vor mir verbergend, stand vor mir das »tohu«, von dem mich loszusagen ich nicht die Kraft hatte.

In diesen Tagen ging ich durch die Borowitzky-Pforte; in derselben sass ein Greis, ein bis an die Ohren in Lumpen gehüllter, verkrüppelter Bettler. Ich zog meine Börse um ihm ein Almosen zu geben. In diesem Augenblicke kam vom Berge, aus dem Kreml, ein flotter, junger, rotwangiger Bursche gelaufen, ein Grenadier im Krons-Schafspelz. Als der Bettler den Soldaten gewahrte, sprang er erschreckt auf und lief hinkend hinunter zum Alexandergarten. Der Grenadier wollte ihm anfangs nacheilen, holte ihn jedoch nicht sofort ein, blieb stehen und ergoss sich in Scheltworten über den Bettler, weil dieser gegen das Verbot in der Pforte gesessen. Ich erwartete den Grenadier in der Pforte. Als er in meine Nähe kam, fragte ich ihn, ob er lesen könne? – Jawohl; weshalb? – Hast du das Evangelium gelesen? – Jawohl. – Hast du auch gelesen: »und wer den Hungrigen sättigt« – ich sagte die Stelle her. Er kannte sie und hörte mich an. Und ich sah, dass er stutzte. Zwei Vorübergehende blieben horchend stehen. Dem Grenadier tat es augenscheinlich weh zu fühlen, dass er, gewissenhaft seine Pflicht erfüllend, indem er das Volk von einem Orte jagte, von dem es fortzujagen befohlen war – plötzlich sich im Unrecht sah. Er war verwirrt und suchte augenscheinlich nach einer Ausrede. Plötzlich leuchteten seine klugen schwarzen Augen auf; er wandte sich zur Seite, als wolle er gehen. – »Und das Kriegsreglement, hast du's gelesen?« fragte er mich. – Ich verneinte es. – »Dann sprich auch nicht«, sagte der Grenadier, den Kopf selbstbewusst aufwerfend, hüllte sich in seinen Schafspelz und ging mit kühnen Sehritten auf seinen Platz zurück.

Dies war der einzige Mensch in meinem ganzen Leben, der streng logisch jene ewige Frage gelöst, die bei den Einrichtungen unseres Gemeinwohls mir stets vor Augen stand und die jedem Menschen vorschwebt, der sich einen Christen nennt.

3

Zwang der Gesamtheit gegen den Einzelnen zur Teilnahme an Krieg und Gericht

Man sagt mit Unrecht, dass die christliche Lehre nur die Erlösung des einzelnen im Auge habe und sich nicht auf allgemeine Fragen und Staatsangelegenheiten beziehe. Dies ist nur eine kühne und unbegründete Behauptung einer ganz augenscheinlichen Unwahrheit, die bei dem ersten ernsten Nachdenken darüber zunichte wird. Gut, sagte ich zu mir: ich werde nicht widerstreben dem Übel, ich werde, als einzelner Mensch, meinen Backen hinhalten; es kommt aber der Feind, oder die Völker werden verfolgt und ich werde berufen am Kampfe gegen die Bösen teilzunehmen, um sie zu töten. Und ich muss unvermeidlich die Frage lösen: worin besteht der Dienst Gottes und worin der Dienst des »tohu«? – Soll ich mich am Kriege beteiligen oder nicht? – Ich bin Bauer; man wählt mich zum Ältesten, zum Richter, zum Geschworenen; man zwingt mich zu schwören, zu richten, zu strafen – was soll ich tun? Wieder habe ich zu wählen zwischen dem Gesetze Gottes und dem Gesetze der Menschen. – Ich bin Mönch, lebe im Kloster; die Bauern haben unsern Heuschlag genommen; man schickt mich um am Kampfe gegen die Bösen teilzunehmen – um das Gericht gegen die Bauern anzurufen. Wieder habe ich zu wählen. Kein einziger Mensch kann der Entscheidung dieser Frage entgehen. Ich spreche schon gar nicht von unserem Stande, dessen ganze Tätigkeit fast nur im Widerstreben den Bösen besteht: Militär- und Gerichtspersonen, Administratoren; aber es gibt auch nicht den einfachsten Privatmann, dem nicht die Entscheidung zwischen dem Dienste Gottes und der Erfüllung seiner Gebote und dem Dienste des »tohu«, d. i. den Staatseinrichtungen bevorstände. Mein persönliches Leben ist mit dem allgemeinen Staatsleben verflochten und dieses fordert von mir eine nichtchristliche Tätigkeit, die dem Gebote Christi ganz entgegengesetzt ist. Jetzt, bei der allgemeinen Wehrpflicht und der Beteiligung aller am Gerichte als Geschworene, tritt dieses Dilemma mit auffallender Schärfe einem jeden entgegen. Jeder Mensch muss tödliche Waffen zur Hand nehmen, eine Flinte, ein Messer, und wenn auch nicht töten, so muss er doch die Flinte laden und das Messer schärfen, d. h. er soll zum Töten bereit sein. Jeder Bürger soll im Gerichte erscheinen und sich am Richten und Strafen beteiligen, d. h. jeder soll sich von der Lehre Christi des Nichtwiderstrebens dem Übel lossagen, und das nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat.

Die Frage des Grenadiers: das Evangelium oder das Kriegsreglement? das Gesetz Gottes oder das Gesetz der Menschen? steht jetzt und stand zu Samuelis Zeiten vor der Menschheit. Sie stand auch vor Christus und vor seinen Jüngern. Sie steht auch vor denen, die jetzt Christen sein wollen, und stand auch vor mir.

Das Gesetz Gottes mit seiner Lehre von der Liebe, der Demut, der Selbstaufopferung hatte stets auch früher mein Herz gerührt und mich angezogen. Jedoch von allen Seiten, in der Geschichte, in den vergangenen sowohl wie in den gegenwärtig mich umgebenden Ereignissen und in meinem eignen Leben sah ich ein meinem Herzen, meinem Gewissen, meiner Vernunft widersprechendes Gesetz, das aber meinen tierischen Instinkten schmeichelte. Ich fühlte, dass wenn ich Christi Gesetz folgen würde, ich allein dastände und es mir schlecht ergehen könne: ich könnte verfolgt und betrübt werden – das, was Christus gesagt hat. Wenn ich aber dem menschlichen Gesetze folgte, würde ich ruhig und gesichert sein und aller Scharfsinn des menschlichen Geistes stände mir zu Gebote um mein Gewissen zu beruhigen. Ich würde lachen und mich freuen – dasselbe, was Christus sagt. Ich fühlte das alles und deshalb vermied ich es mich in die Bedeutung des Gesetzes Christi zu vertiefen und bemühte mich vielmehr es so aufzufassen, dass es mich nicht verhindern sollte mein tierisches Leben weiter zu führen. In solchem Sinne jedoch konnte es nicht aufgefasst werden, und deshalb verstand ich es gar nicht.

In diesem Nichtverstehen ging ich bis zu einer mir jetzt unbegreiflichen Verfinsterung. Als Beispiel dafür will ich meine frühere Auffassung der Worte: richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet (Matth. 7, 1), anführen. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt (Luk. 6, 37). Das Bestehen der Gerichte, an denen ich teilnahm und die mein Eigentum und meine persönliche Sicherheit schützten, erschien mir als etwas so zweifellos Heiliges, Gottes Gesetze nicht Beeinträchtigendes, dass mir nie der Gedanke kam, dieser Satz könne etwas anderes bedeuten als das, dass man seinen Nächsten nicht mit Worten verdammen solle. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass Christus diese Worte auf die Gerichte beziehen könne: auf das Landgericht, das Kriminalgericht, das Kreis- und Friedensgericht und auf die verschiedenen Senate und Departements. Erst nachdem ich die Worte: widerstrebet nicht dem Übel, im geraden Sinne begriffen hatte, erst dann entstand in mir die Frage darüber, wie Christus sich zu allen diesen Gerichten und Departements verhalten möge. Und einsehend, dass er sie verwerfen müsse, fragte ich mich: sollten jene Worte nicht nur heissen: richtet euren Nächsten nicht in Worten, sondern auch: verurteilet ihn nicht durch die Tat, richtet euren Nächsten nicht nach euren menschlichen Gesetzen, durch eure Gerichte –?

Im Evangelium Luk. Kap. 6 Vers 37–49 stehen diese Worte unmittelbar nach der Lehre über das Nichtwiderstreben dem Übel und über das Vergelten des Bösen mit Gutem. Unmittelbar nach den Worten: seid barmherzig, gleichwie euer Vater im Himmel, – heisst es: richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet; verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt. Heisst das nicht, ausser der Verdammung des Nächsten, dass wir keine Gerichte bilden und nicht durch solche unseren Nächsten verurteilen sollen? – fragte ich mich jetzt. Und ich brauchte mir nur diese Frage zu stellen, damit mein Herz und meine Vernunft mir sofort eine bejahende Antwort erteilten.

Ich weiss wie eine solche Auffassung dieser Worte anfangs betroffen macht. Auch auf mich machte sie diesen Eindruck. Um zu zeigen wie weit entfernt ich von einer solchen Auffassung war, will ich eine beschämende Torheit eingestehen. Lange nachher – nachdem ich bereits gläubig geworden und das Evangelium als ein göttliches Buch las, sprach ich bei Begegnungen mit meinen Freunden, Prokuroren, Richtern, scherzend: und ihr richtet noch immer und es ist doch gesagt: richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet Ich war so überzeugt, dass diese Worte nichts anderes bedeuten könnten, als das Verbot des Verleumdens, dass ich mir gar nicht bewusst war welch' eine Heiligtumspötterei ich beging, indem ich solches sagte. Ich war so weit gekommen, dass ich, in der Überzeugung, diese klaren Worte hätten eine andere als ihre wahre Bedeutung sie scherzend in dieser ihrer wahren Bedeutung aussprach.

Ich will ausführlich erzählen, wie in mir jeder Zweifel vernichtet ward darüber, dass diese Worte nicht anders aufgefasst werden könnten, als in dem Sinne, dass Christus die Errichtung aller menschlichen Gerichte verbiete, und dass er mit diesen Worten nichts anderes habe sagen können.

Das, was mich wunderte, nachdem ich das Gesetz über das Nichtwiderstreben dem Übel in seiner geraden Bedeutung aufgefasst, war, dass die menschlichen Gerichte nicht nur mit demselben nicht übereinstimmen, sondern ihm gerade entgegengesetzt sind, gleichwie sie mit der ganzen Lehre im Widerspruch stehen, und dass deshalb Christus, wenn er an diese Gerichte gedacht hätte, sie hätte verwerfen müssen.