Worte im Wasser - Ragna Veronika - E-Book

Worte im Wasser E-Book

Ragna Veronika

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Beschreibung

In den Tiefen unserer Ozeane leben die Kaura, eine von den Menschen bisher unentdeckte, zweite, uralte und weit entwickelte Zivilisation auf unserem Planeten. Von menschenähnlicher Gestalt, jedoch nur etwa von der Größe einer Kinderhand, besitzen sie anstelle von Hinterkopf und Haar ein langes, schlankes Schneckenhaus, welches ihnen aus der Stirn wächst. Routiniert unternehmen sie lange Flüge quer durch die Galaxie und besiedeln verschiedenste Planeten. Sie fertigen Repliken ihrer eigenen Körper und verlängern damit ihr Leben auf unbestimmte Zeit. Dennoch stehen sie vor einem schier unlösbaren Problem: Ihre gesamte Spezies und mit ihnen auch die menschliche wird von einer kosmischen Katastrophe bedroht, von der die Menschen jedoch nichts ahnen. Aber nur mit Hilfe eines Menschen könnte es gelingen, die Auslöschung beider Völker zu verhindern. Eriel, eigensinnig und willensstark, neun Jahre, aus Jerup in Dänemark, verbringt seine Freizeit im Wesentlichen allein am Strand. Dabei trifft er eines Tages auf einen winzigen Fremden, mit wassergefülltem Helm und einer gewundenen Gehäusehaube auf dem Kopf, der ihn zu erwarten scheint. Als bisher Erstem und Einzigem gelingt es Eriel, das Rätsel zu lösen, das die Kaura weltweit schon einigen Kindern am Strand gestellt haben. Daraufhin übermitteln sie ihm ihre Sprache und stellen seinen Mut und seinen Einfallsreichtum auf die Probe, indem sie ihn auffordern, zu ihnen in die Tiefe zu tauchen. Er bekommt von ihnen nicht nur Kiemen, sondern auch einen ihrer Körper, um ihnen tausende Meter hinab in die Tiefsee folgen zu können. Für Eriel beginnt eine atemberaubende Zeit, während derer er lernen muss, die Fahrzeuge und Raumschiffe der Kaura zu steuern, sich in ihrer fremdartigen Kultur zurecht zu finden und gemeinsam mit ihnen die Mission zu planen, die ihrer aller Leben retten soll. Dies bringt ihn an seine Leistungsgrenzen und beschenkt ihn mit einer außergewöhnlichen Freundschaft.

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Seitenzahl: 570

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Lange betrachtete ich das Gesicht meines Kindes, welches sich zu mir gesetzt hatte. Die silbrige Narbe, die sich durch die linke Augenbraue, die Wange hinab, bis über den Unterkiefer zog und die vor zwei Tagen noch nicht dagewesen war.

Zwei Tage.

„Ich werde dir nun alles erzählen“, sagte er leise. Das Laufen fiel ihm noch immer schwer, doch seine Hände vollführten einen anmutigen Tanz in der Luft, während er sprach. Er versuchte nicht mehr, es zu verbergen. Ich legte meinen Pinsel beiseite, griff nach einem Kugelschreiber und meinem Notizbuch.

Für alle Kinder,

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Der Fremde

2 Die Botschaft

3 Worte im Wasser

4 Namen

5 Die Glocke

6 Kiemen

7 Die Aufgabe

8 Tuuri

9 Der Kalmar

10 Die Replik

11 Der Rochen

12 Schultage

13 Die Stadt der Quallen

14 Das Versprechen

15 Das Flackern

16 Wahrheit und Einsicht

17 Aufbruch

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Liebe Leserin, liebe Leser,

Leseprobe

Impressum

PROLOG

Als Eriel erwachte, rieselte das erste helle Grau durch das Fensterglas in sein Zimmer und holte die Umrisse seiner Habseligkeiten aus der Dunkelheit. Im Badezimmer rauschte bereits das Wasser. Er fühlte sich erholt und erfrischt und wusste, dass er nicht zögern durfte. Anderenfalls würde er es vielleicht nicht schaffen, heute das Haus zu verlassen oder sie würden ihn zurückhalten wollen.

Entschlossen wühlte er sich aus seinen Decken, öffnete vorsichtig das Fenster und warf sein Bettzeug hinaus auf die bereifte Wiese. Darauf die Kiemen und das Bündel, was er sich gestern zurechtgelegt hatte. Auf seine leere Matratze kam ein Zettel:

Macht euch bitte nicht allzu viele Sorgen! Ich habe eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Wenn ich zurückkomme, werdet ihr stolz auf mich sein.

Er hängte sich ein ganz kleines Lederbeutelchen an einer Schnur um den Hals, welches er auf einem Mittelalterfest in Frederikshavn bekommen hatte. Zog seinen wärmsten Pullover und zwei Paar dicke Socken über, denn er wollte es nicht riskieren, noch einmal durch den Flur zur Garderobe zu laufen, um seine Winterkleidung zu holen. Solange sie ihn schlafend wähnten, würde er mit größerer Sicherheit unbehelligt bleiben.

So leise er konnte, kletterte er aus dem Fenster und drückte es von außen wieder zu. Schlug das Kopfkissen und  das übrige Gepäck in die Bettdecke ein, raffte sich das Ganze zu einem Knäuel unter den Arm und hastete auf kürzester Strecke über den Wiesenstreifen in den Schutz des Kiefernwaldes hinein. Bloß nicht noch einmal umsehen! Die Morgenluft brannte eisig in Hals und Lunge. Frierend lief er zwischen den Baumstämmen hindurch. Das gefrorene Moos knirschte unter seinen Sohlen und schon erreichte kalte Feuchtigkeit seine Zehen. Sein Bündel war unhandlich und die Strecke kam ihm länger vor als gewöhnlich. Hoffentlich folgten sie ihm nicht bereits!

Als er sein Versteck erreichte, schlüpfte er in seinen Neoprenanzug so schnell er konnte, schob seine Kleidung unter die Wurzeln und deckte sie mit Reisig ab. Lief dann mit all seinem Zeug ans Wasser, wo er zum ersten Mal innehielt und über die langgezogenen, flach auflaufenden Wellen schaute. Zwischen den Kiefern war die Finsternis zurückgeblieben und es war ganz klar und still. Die aufgehende Sonne mischte purpurfarbenes Licht ins Frostblau und weiter draußen über dem Meer hingen Schleier aus Schnee, die Wolken und Meer verbanden wie mit durchscheinenden Vorhängen aus Tüll.

War dies nun wirklich der Moment, an welchem er seine Welt verlassen würde? Konnte das tatsächlich möglich sein?

Aufgeregt zog er seine Flossen, Badekappe und Schwimmbrille an und verstaute sein Gepäck in dem wasserdichten Behälter, den sie ihm übergeben hatten. Dann kniete er sich noch einmal hin, ergriff eine Handvoll hellgrauen Sand, leicht feucht und weich, ließ ihn in das Beutelchen rieseln, welches er um den Hals trug und schob es unter seinen Neoprenanzug.

Gepäck und Kiemenbehälter unter den Armen stieg er anschließend schaudernd ins Wasser und watete nach draußen, bis ihm die flachen Wellen gegen die Hüften schwappten. Die Kiefern am Ufer erschienen schon fern und unwirklich.

Er hockte sich nieder, legte die Kiemen an, behielt aber den Kopf noch an der Luft. Ein letztes Mal schaute er sich um und versuchte, sich den Anblick seiner Umgebung einzuprägen. Die schmale, blasse Linie des Sandes mit den graugrünen Dünen und Bäumen dahinter, gegenüber die blauviolette Grenze zwischen Himmel und See. Der Geruch nach Salz und Tang. Das unendliche Rauschen, zerteilt vom Keifen der herrischen Möwen.

Eriel nahm Abschied von seinem Strand, von der Welt, in der er aufgewachsen war und, ohne dass ihm dies bewusst wurde, nahm er auch Abschied von seiner Kindheit. Er zog sich das Atemgerät noch einmal vom Gesicht und stieß einen Schrei aus, der lang und schneidend übers Kattegat flog. Die Kiefern fingen ihn in ihren Kronen und hielten ihn noch, als der Junge schon längst verschwunden war.

Dann füllte er seine Lungen tief mit der frostigen Luft. Verharrte kurz reglos, atmete aus, rückte die Maske vor Mund und Nase zurecht und tauchte ab.

1 DER FREMDE

Es war bereits später Vormittag und die Sonne stand hoch und gleißend überm Strand von Jerup. Eriel kniff die Augen zusammen und ließ sich auf die Knie fallen, um seiner Sammlung ein weiteres merkwürdiges Stück hinzu zu fügen. Der feuchte Sand des Spülsaums fühlte sich kühl und fest an. Muschelscherben stachen in seine bloße Haut.

Vor ein paar Tagen war er neun geworden und sie hatten auch hier am Strand gefeiert, seine Eltern und er. Seine Mutter hatte Kerzen in den Sand gesteckt, die der Wind immer wieder gelöscht hatte. Sein Vater hatte befürchtet, Sand auf den Kuchen zu bekommen, aber Eriel hatte es gefallen. So wie es ihm immer gefiel, am Strand zu sein.

Eriel sammelte Schneckengehäuse. Er war fasziniert von ihrer Vielfalt und Schönheit und dem Schrecken ihres Zerfalls. Daheim in seinen Schuhkartons bewahrte er sie in allen möglichen Formen und Farben. Einige fassten sich makellos glatt an und trugen die zarten Farben von Meer und Himmel. Manche jedoch zeigten sich rau und bleich, abgeschliffen von Sand und Schlick. Wieder andere von ihnen waren löchrig oder geborsten, sie gaben einen Blick frei auf ihr geheimnisvolles, dämmriges Inneres und er tastete mit den Fingern in die gewundenen Kammern, als könne er sie so sichtbar machen, die Spuren vergangenen Lebens.

Das was er jetzt entdeckt hatte war anders. Anders als alles, was er bisher gefunden hatte. Es war dieses Funkeln gewesen, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, ein kleiner blinkender Spiegel des Sonnenlichtes mitten in einem breiten Streifen aus Kalkschalen und Tangresten. Für einen Augenblick hielt er ihn für eine Glasmurmel, bis er erkannte, dass es  nur Wasser war. Ein großer Tropfen Wasser, der in einem feinen kugelförmigen Netz gefangen war. Dass es nicht auslief!

Eriel betrachtete die Wasserkugel mit einer Mischung aus Staunen und Ratlosigkeit. Das Netz bestand aus hauchdünnen elfenbeinfarbenen Fäden, deren Knüpfmuster ihn an Korallen erinnerte. Das seltsame Gebilde schien am Kopfende einer Turmschnecke befestigt. Turritella communis dachte Eriel gewohnheitsmäßig, doch das konnte nicht sein.

Denn nun sah er auch die kleine Gestalt, deren Kopf in der Kugel steckte. Sie hockte zunächst, erhob sich dann und schwankte dabei. Wie ein ganz kleiner Astronaut – menschenähnlich von der Statur. Die gemusterte Wasserkugel bildete seinen Helm, in dem sich ein winziges Gesichtchen erahnen ließ. Anstelle von Haaren und Hinterkopf wuchs ihm das Schneckengehäuse aus der Stirn, welches ihm weit über den Rücken hinab bis fast zu den  Füßen  ragte,  wie  ein, wie … Eriel fiel kein passender Vergleich ein. Wie eine sehr langeKapuze vielleicht.

Das kleine Geschöpf schien schwer an dieser Last zu tragen. Es sah aus, als könne es sich darunter kaum aufrecht halten.

Eriel beugte sich noch tiefer herab. Das Wesen hob schützend die Arme über den Kopf. Duckte sich. Betroffen zog Eriel seine Hände zurück, die berühren wollten, was seine Augen einfach nicht glauben konnten. Sicher hatte es Angst. Er durfte es nicht erschrecken. Er schob sich ein Stück zurück und verharrte dann reglos, hielt beinahe den Atem an.

Der zierliche Fremde ließ die Arme sinken, hockte sich vorsichtig hin, ohne das Gesicht von ihm abzuwenden und ergriff einen Holzspan, der sich im Tang verfangen hatte. Er schob die Muschelschalen vor sich beiseite und glättete den Sand. Mit ausgestrecktem Arm zeichnete er einen ganz kleinen Kreis auf den feuchten Untergrund, dann einen zweiten darum und noch einen. Die nächsten drei, die folgten, lagen weiter auseinander, dann kamen noch zwei wieder in kleinerem Abstand.

Das Wesen zog die Ringe langsam und sehr sorgfältig. Die Sonnenstrahlen stachen senkrecht vom Himmel. Das weiche Rauschen der sich brechenden Wellen hinter ihnen kam so gleichmäßig wie die wachsenden Linien im Sand. Eriel schaute wie verzaubert dem fremdartigen Zeichner zu. Für den letzten Kreis griff der Kleine nach einem Stück Schwertmuschel und zog ihn damit breiter als die vorherigen, wie einen Rahmen um sie herum.

Schließlich erhob er  sich mühsam und blickte sich suchend um. Dann griff er nach einem der zahllosen Turmschneckengehäuse, die hier lagen, verlassen wie alle, die Eriel bisher aufgelesen hatte. Er versuchte sie anzuheben, was ihm große Schwierigkeiten zu bereiten schien, war sie doch auch nur wenig kleiner als jene, die er bereits trug. Behutsam streckte Eriel die Finger aus und das Wesen wich zurück. Eriel nahm das Schneckengehäuse und hielt inne. Der Fremde deutete auf den innersten Kreis in der Mitte seines Bildes. Vorsichtig, darauf bedacht, nichts zu verwischen, stellte Eriel das Gehäuse aufrecht an die geforderte Stelle und drückte es sacht in den Sand. Wie ein kleiner Elfenbeinturm, schoss es ihm unwillkürlich durch den Sinn. Die Sonne malte einen kurzen, spitzen Schatten daneben. Er erreichte nicht einmal den Rand der Zeichnung.

Eriel schaute versonnen auf das eigenartige Kunstwerk und neben ihm fiel das Wesen auf den feuchten Sand. Streckte kraftlos die Arme in Richtung Meer. Eriel erschrak. Würde es etwa sterben? Bestimmt musste es zurück ins Wasser. Geschützt durch seinen wassergefüllten Helm konnte es sicher dennoch nur begrenzte Zeit an der Luft überleben.

Eriel griff nun doch zu und nahm den Kleinen, der so zerbrechlich wirkte und sich nicht mehr wehrte, vorsichtig in die Hände. Dann rannte er mit ihm durch die Brandung   bis dahin, wo das Wasser immer noch nur knietief, aber viel ruhiger war.

Vor einer Weile hatte er ein silbriges Fischchen im Spülsaum gefunden, das noch zappelte. Um es zu retten, hatte er es von da aus ins Wasser zurück geworfen. Die sich brechenden Wellen hatten es hin und her geschleudert, ohne das es sich aus deren Sog hatte befreien können und Eriel, der es nicht noch einmal zu fassen bekam, hatte ihm nicht mehr helfen können.

Dieses Mal wusste er es besser und tauchte die Hände mit dem seltsamen Geschöpf darauf langsam ins Meer. Das Wesen rappelte sich auf, glitt von seinen Fingern und war im nächsten Moment unter Wasser verschwunden. Das Schneckengehäuse schimmerte noch einmal kurz unter der Oberfläche wie ein kleiner weißer Pfeil, dann verlor Eriel es aus den Augen. Er beugte sich tief hinab und drehte sich im Kreis, schließlich tauchte er das Gesicht ins Wasser und riss die Augen auf, schaute und schaute bis ihm die Luft ausging, aber vergeblich. Enttäuscht stand er noch eine Weile an der Stelle. Seine Füße versanken im Sand und das Salzwasser schwappte träge um seine Beine. Die Sonne glühte und wieder einmal hatte er keinen Sonnenhut dabei, obwohl ihn die Mutter schon hunderte Male daran erinnert hatte.

Als er sich schließlich wieder Richtung Strand wandte, empfand er ein eigenartiges Gefühl des Verlustes. Er hätte gern ein wenig geweint, fand den Anlass aber nicht angemessen. Denn was hatte er verloren?

Nichts, gar nichts.

Aber als er  dort im  Sand gekniet hatte und auf die Geste des Wasserwesens hin das Schneckengehäuse in die gezeichneten Ringe gestellt hatte, da hatte er sich plötzlich gefühlt, als wäre ihm Bedeutung verliehen worden, als würde er nun Teil von etwas Außergewöhnlichem und Wichtigem werden.

Doch nun war es einfach verschwunden. Und Eriel wusste nicht, was er von seiner Begegnung halten sollte. Wusste nicht, was das merkwürdige Kunstwerk bedeutete und hatte keine magische Aufgabe bekommen.

Er war wieder nur noch ein Junge, der am Strand leere Gehäuse aufsammelte. Der nutzlose Junge, der mit seinen Eigenarten anderen Scherereien machte. Noch einmal blieb er nachdenklich vor den gezeichneten Kreisen stehen und betrachtete sie lange. Bedauerte, weder Stift noch Papier einstecken zu haben, um sich aufzeichnen zu können, was die kommende Flut schon bald wieder ausradieren würde. Zu Hause wollte er sich sofort eine Skizze anfertigen. Er würde sich beeilen müssen mit dem Heimweg, damit er die genaue Anordnung der Ringe nicht vergaß. Eriel prägte sich die Abstände ein. Ein winziger Kreis, nein, ein Schneckenturm! Dann ein kleiner Abstand, ein kleiner Abstand, ein kleiner, großer, großer, großer, kleiner, kleiner, kleiner, gefolgt von dem breiten  Schlussring. Eigentlich war es ganz einfach.

Was hatte das zu bedeuten?

Hatte es etwas zu bedeuten? Eriel rannte im Takt der Worte durch die Dünen. Das harte, graugrüne Gras, das den Sand festhalten sollte, peitschte seine Beine.

Klein, klein, klein.

Er strich sich die losen, blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wie immer hatte sie ihm der Seewind aus dem Zopf gerissen, den die Mutter ihm morgens sorgfältig geflochten hatte. Eriel trug die Haare lang wie ein Mädchen, denn das Schneiden erfüllte ihn mit Schrecken. Das ratschende Geräusch, das sie von sich gaben, wenn die Schere sie durchtrennte, das Flirren, mit dem sie zu Boden schwebten – unerträglich. Er schüttelte sich wie das Gras im ewigen Wind.

Groß, groß, groß.

Das sandige Grasmeer mischte sich mit dornigem Gestrüpp, klein, klein, klein, und wandelte sich schließlich in Kiefernwald, die Stämme schief und verkrümmt. Seine Füße folgten automatisch dem schmalen Pfad bis zu dem schlichten Holzhaus, in das seine Mutter sich verliebt hatte und in das der Vater ihr gefolgt war, so wie er ihr immer folgte. Eriel mochte das Federn des Nadelbettes unter den bloßen Füßen.

Leichtfüßig übersprang er das raue Holz der zwei Stufen vorm Eingang, trug dabei zwei Fuß voll Kiefernnadeln mit in den engen Vorraum, dessen Tür fast immer offenstand, und eilte durch den kühlen, dämmrigen Flur in sein Zimmer.

Als die Mutter kurze Zeit später nach ihm sah, fand sie ihn am Schreibtisch. Er zeichnete Kreise auf ein Stück Papier und hob kaum den Kopf. Sie lächelte nachsichtig und ließ ihn wieder allein. Draußen brannte noch immer die Sonne und der Wald knisterte trocken.

Eriel saß still, lauschte und dachte nach.

Zufall.

Es war nichts als Zufall gewesen, dass er es gesehen hatte. Es war aus dem Meer gestiegen, bevor er gekommen war.

Aber er war da gewesen, und sonst niemand. Also hatte das Zeichen doch ihm gegolten. War das Rätsel doch für ihn bestimmt.

Die Botschaft?

Etwas anderes wollte Eriel nicht gelten lassen.

Vielleicht hatten sie – er war sicher, dass es mehr als eines geben musste – ihn schon lange beobachtet. Vielleicht hatten sie ihn erwartet.

2 DIE BOTSCHAFT

Eriel erwachte zeitig am nächsten Morgen. Die Dämmerung streckte gerade ihre blassen Finger in den Kiefernwald. Das entfernte Rauschen des Meeres war zum Tosen angeschwollen. Von den Wipfeln der Bäume tropfte nächtlicher Regen.

Das Wetter änderte sich schnell am Kattegat.

Die Sommerferien hatten erst vor wenigen Tagen begonnen und er hätte ausschlafen können. Zumal er gestern Abend lange munter war und auch während der Nacht mehrmals wach gelegen hatte. Aber eigentlich schlief er nie sonderlich viel. Er schien zu jener Sorte von Jungen zu gehören, deren Gedanken in endlosen Kreisen durch die Dunkelheit wanderten, ohne je recht zur Ruhe zu kommen. Eriel schwang die Beine aus dem Bett, seufzte und tappte ins Bad. Danach schlüpfte er in T-Shirt und Shorts, holte seinen Rucksack und öffnete ihn auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er wählte einige Bücher aus dem Regal daneben aus und packte sie hinein. Dazu die Zeichnung mit den Kreisen, sowie weiteres Papier und Schreibzeug.

In der Küche trank er einige Schlucke Milch direkt aus dem Tetra Pak und nahm eine Packung Butterkekse aus dem Schrank mit den Vorräten. Die stopfte er noch mit in den Rucksack und trug ihn in den Vorraum. Dann holte er die Strandmuschel, die im Flur an der Wand lehnte. Ein leichtes Stoffpaket, wie eine überdimensionale kreisförmige Handtasche, die sich binnen Sekunden zu einem halbrunden, vorne offenen Zelt entfaltete. Seine Mutter hatte sie als Schutz vor der Sonne am Strand angeschafft, aber Eriel liebte es, sie auch bei Regen aufzuschlagen. Er saß darin und lauschte dem Trommeln der Wassertropfen und dem Rauschen des Meeres und ignorierte das Nörgeln der Eltern, wenn er das nasse, versandete Ding wieder ins Haus schleppte.

Er wäre schon fast hinaus in den Wald getreten, der seine Stämme nun im fahlen Licht des Morgens streckte. Da hielt er noch einmal inne, kehrte zurück in die Stube und nahm eine der grauen Fleecedecken vom Sofa, in die der Vater abends gern seine Beine wickelte.

Den Vater traf er auch noch auf dem Rückweg zur Haustür. Er kam gerade aus dem Schlafzimmer, um sich für die Arbeit fertig zu machen. “Schon wieder auf?“ murmelte er mit müder Stimme. „Viel Spaß am Strand. Aber lass die Mutter nicht zum Frühstücken allein!“ Eriel nickte. Sein Vater war ein stiller Mann. Er hatte Maschinenbau studiert und war bei einem großen Energiekonzern beschäftigt, der die Technik für Offshore Windparks entwickelte und produzierte. Er arbeitete viel und gewissenhaft und hielt sich daheim an das, was die Mutter vorschlug. Dafür unternahm er regelmäßig ausgedehnte Touren mit seinem Motorrad. Immer allein.

Eriel griff als letztes nach seinem Hausschlüssel und löste das große Stück Schwemmholz ab, welches mittels Karabiner am Schlüsselring befestigt war. Es passte in keine seiner Taschen und rang ihm daher bei jedem Gang vor die Tür die geforderte Aufmerksamkeit ab.

stand mit energischen weißen Großbuchstaben darauf. Es hatte auf dem Küchentisch zu liegen, wenn er ans Meer ging. Hatte er anderes vor, musste er Zettel schreiben. Seine Mutter hatte sich das ausgedacht, nachdem er immer wieder ohne Nachricht oder Verabschiedung verschwunden war. Sie hatte immer so ulkige Ideen.

Es war ihr nicht leicht gefallen, ihn allein nach draußen zu lassen, obwohl er schon neun war, aber sie brauchte ihren Schlaf und ihre Pausen und konnte nie Schritt halten mit der Intensität, mit der Eriel seinen Neigungen nachging.

Zunächst hatte sie die gleichen Worte auf einen dicken, rundlichen Stein geschrieben und diesen in einen seiner Sandalen gesteckt. Aber Eriel verabscheute Schuhe und eilte, wann immer es ihm gelang, barfuß aus dem Haus. Es hatte nicht funktioniert.

Genaugenommen verabscheute er jede Art von Kleidung. Es gab kaum einen Stoff, der ihn nicht kratzte oder piekte, sich in störende Falten legte oder bei der Berührung schauderhafte Geräusche machte. Nähte scheuerten, Bündchen schnitten ein, Knöpfe und Reißverschlüsse trieben ihn schier in den Wahnsinn. Dennoch sah er inzwischen ein, dass ein gewisses Mindestmaß an Kleidungsstücken notwendig war, um nicht ständig mit seinen Mitmenschen in Konflikte zu geraten.

Auch jetzt sprang er mit nackten Füßen zur Eingangstür hinaus, den Rucksack auf dem Rücken, Decke und Strandmuschel unter jeweils einen Arm geklemmt, die Haare noch zerrauft vom Vortag und der unruhigen Nacht.

Der Wald duftete nach Kiefernharz und Salz. Ein Eichelhäher stob zeternd aus dem Unterholz, als Eriel vorbeirannte. Als die Bäume sich lichteten, mischte sich Sand zwischen die Nadeln am Boden und bremste seinen Lauf. Schon etwas außer Atem hastete er die erste Düne hinauf und blieb abrupt stehen, als das spröde Gras auf der Kuppe endlich den Blick aufs Meer freigab.

Das Meer!

Es war hellgrau heute und sah aus, als hätte es die Mutter bereits mit Bleistift in ihr Skizzenbuch gezeichnet. Eriel wusste, dass es einer dieser Tage war, an denen sie einen harten, spitzen Bleistift wählen würde. Dichtgedrängte, hektische Wellen bissen den Strand. An einer Stelle des verhangenen Himmels hatte sich die Sonne durch die Wolken gekämpft und goss eine schmale Linie Aluminium übers Wasser. Ihr gegenüber am westlichen Horizont hing noch das Indigo der Nacht.

Eriel atmete tief ein und lief hinunter auf den flachen Streifen Sand, den die Regentropfen mit abermillionen winziger Kuhlen gemustert hatten. Er befreite die Strandmuschel aus ihrer Hülle, die sich augenblicklich herrisch entfaltete und sich sogleich anschicken wollte, mit dem frischen Wind davon zu fliegen. Aber Eriel, der ihr schon mehr als einmal nachgerannt war, hatte sie fest im Griff, warf Rucksack und Decke hinein, um sie zu beschweren und verankerte sie dann mit Heringen im Sand.

Als er sich das alles gerichtet hatte, begann er langsam die Wasserkante entlang zu gehen. Seine Augen suchten die Reste ab, die das Meer in der vergangenen Nacht an Land geworfen hatte.

Es würde nicht da sein.

Aber Eriel konnte es trotzdem nicht lassen. Er neigte den Kopf nach beiden Seiten, damit ihm kein noch so kleines Funkeln entging. Das Sonnenlicht war schwach an diesem Morgen. Aber da war nichts.

Du musst erst die Botschaft entschlüsseln!

Eriel versuchte, seine Enttäuschung zu ignorieren, und setzte sich in der Strandmuschel zurecht. Legte die Decke um die Schultern und packte seine Bücher aus. Die meisten Bücher, die er besaß, beschrieben das Weltall. Aber diese hatte er heute nicht dabei. Stattdessen eines über Labyrinthe und historische Kreisbilder. Eines über steinzeitliche Felszeichnungen. Und das dicke, schwere mit dem beeindruckenden Titel „Die größten Geheimnisse unserer Welt“. Eriel liebte symmetrische Bilder, er liebte Symbole und Labyrinthe. Kleine Zufluchtsstätten der Ordnung im überwältigenden Chaos des Lebens.

Nach einigem Blättern in dem Werk über Felszeichnungen fand er, was er suchte: die Abbildungen von uralten, in Stein geritzten und gehauenen Kreisen. Ring um Ring um Ring, jedes Kreissystem mit einer merkwürdigen Kuhle in der Mitte. Schon als kleiner Junge, lange bevor er lesen konnte, hatte er sie gern und ausgiebig betrachtet und sich die zahllosen Planetensysteme darunter vorgestellt, die es allein in der Milchstraße geben musste. Dass diese Idee Unfug war, hatte er erkannt, als ihm aufging, dass die Abstände zwischen den Kreisen immer gleich waren.

„Konzentrische Kreise auf Steinen oder Felsen findet man in steinzeitlichen Anlagen auf der ganzen Welt.“ stand unter den Fotografien. „Vermutlich handelt es sich dabei um Altar- oder Orakelsteine, welche im Rahmen kultischer Handlungen zum Auffangen von Blut oder anderen Flüssigkeiten genutzt worden.“ Eriel kräuselte die Lippen und blickte missmutig aufs graue Meer hinaus. Damit war nichts anzufangen.

In dem Buch, welches die größten Geheimnisse lösen wollte, fand sich noch eine andere Erklärung: „Die steinernen Ringsysteme mit Näpfchen im Mittelpunkt sind aller Wahrscheinlichkeit nach als steinzeitliches Symbol für Wasser zu deuten. Denn wie stellt man Wasser dar? Die heute so häufig verwendete Wellenlinie ist eigentlich schon eine beträchtliche Abstraktion.

In genau dieser Form ist Wasser nirgendwo in der Natur sichtbar. Strenggenommen ist sie ein Schnitt durch eine bewegte Wasseroberfläche. Gruppen von konzentrischen Kreisen aber sind im Wasser zu erkennen, wenn Regentropfen in ein Gewässer fallen oder man einen Stein hineinwirft. Es ist also nicht allzu weit hergeholt, Kreise als Wassersymbole zu zeichnen. Die kleine Vertiefung in der Mitte könnte dabei den Auslöser, zum Beispiel den eintauchenden Stein darstellen.“

Ein Zeichen für Wasser? War es das, was der Fremde für ihn in den Sand gezeichnet hatte? Wollte er ihm seinen Lebensraum erklären? Aber das war ja ohnehin offensichtlich gewesen. Und wozu? Und sah man Regentropfen von unter der Wasseroberfläche überhaupt genauso wie von oben drauf geschaut? Würden Wesen, die unter Wasser lebten auf das gleiche Symbol kommen wie Menschen? Und selbst wenn, klärte das nicht die verschiedenen Abstände zwischen den Ringen, die der seltsame Künstler in den Sand gemalt hatte. Konnten die Abstände im Ringmuster von Regentropfen eigentlich unterschiedlich sein? Eriel war sich nicht sicher. Und das Schneckenhaus in der Mitte? Waren die Wesen mit ihren gewundenen Hauben – falls es viele gab – dann selber die Auslöser, besser gesagt, Verursacher der Wellen? Das war eine plausible Idee. Aber was für Wellen? Und zu welchem Zweck? Oder war es in diesem Fall doch ein Planetensystem? Fragen über Fragen.

Eriels Magen knurrte hörbar Protest. Die Butterkekse vermochten ihn nicht mehr zufrieden zu stellen. Sicher war die Mutter inzwischen auf. Sie würde ihm Kakao hinstellen und Käsebrötchen. Eriel packte die Bücher ein, sperrte die Strandmuschel mit geübten Griffen zurück in ihre Tasche, warf noch einen langen Blick über den Spülsaum und lief nach Hause zurück.

Ohne Antwort.

Die Mutter saß am Esstisch, als er eintrat. Ihre Rechte umklammerte den großen, farbverschmierten Kaffeebecher, mit der Linken blätterte sie in einem ihrer zahllosen Skizzenbücher. Ein Knie hatte sie hochgezogen bis unters Kinn. Sie sah merkwürdig einsam aus, doch im nächsten Moment straffte sie sich, lächelte Eriel an und fragte: „Na, welche Farbe hat das Meer heute Morgen?“

„Kann ich Bilder von Regentropfen ansehen?“ antwortete er, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Ich meine solche, wo sie ins Wasser fallen.“

„Jetzt wird erstmal gegessen“, entschied die Mutter. „Ich habe gewartet, bis du kommst.“ Sie erhob sich und trat an die Küchenzeile. Schmierte Brötchen und erwärmte Milch. Aber sie legte das Tablet zu Tellern und Tassen mit auf den Tisch.

Kurze Zeit später steckten sie beide kauend die Köpfe über dem Gerät zusammen. Der Vater würde das furchtbar finden, doch er war nicht hier.

Fasziniert klickten sie sich durch eine prachtvolle Bildergalerie von Tropfen. Tropfen, erstarrt im Fallen, gebannt für die Ewigkeit in der virtuellen Datensammlung in jedem Sekundenbruchteil während ihres Eintauchens in wassergefüllte Schalen, Pfützen und andere Gewässer. Geheimnisvolle, rundbauchige Türme, schimmernde Kronen, gerahmt von makellos aus der Wasseroberfläche modellierten Ringwällen.

Die Mutter geriet ins Schwärmen: „So was müsste ich auch einmal malen! Diese außergewöhnlichen Formen und die Farben dazu! Flaschengrün, cyanblau – da haben sie natürlich ordentlich nachgeholfen mit den Bildbearbeitungsprogrammen. Na, wenn schon. Und wie wundervoll durchsichtig diese Gebilde sind. Wie aus Glas geblasen.“

Eriel runzelte die Stirn. „Die Abstände zwischen den Kreiswellen – sind sie nun immer gleich oder nicht?“ So richtig eindeutig war es nicht zu sehen. Auf einigen Bildern schien es so, auf anderen dagegen nicht.

„Warum ist das wichtig?“ fragte die Mutter.

Er zog seine, mittlerweile etwas zerknitterte Zeichnung aus der Hosentasche, glättete sie und zeigte sie ihr. „Ich muss wissen, was das darstellt“, erklärte er. „Sind das irgendwelche Wellen oder etwas anderes? Es ist ein Rätsel.“

„Woher hast du diese Zeichnung?“ wollte sie wissen. Eriel schloss den Mund zu einem schmalen Strich. Im Gegensatz zu offenbar allen anderen Menschen um ihn herum, konnte er nicht lügen. Brachte einfach nichts über die  Lippen, was nicht der Wahrheit entsprach. Es ging nicht. Also hatte er gelernt zu schweigen.

„Vielleicht ist es ja auch eine Baumscheibe mit Jahresringen“, meinte die Mutter. Sie schwiegen eine Weile, dann schüttelte Eriel ungläubig den Kopf. Das passte doch nicht in dem Zusammenhang.

„Na, jedenfalls“, sprach sie weiter, „was die Eigenschaften von Wellen angeht, habe ich keine rechte Ahnung. Um das heraus zu finden, müsstest du wohl Herrn Paulsen besuchen gehen, den Physiklehrer.“ Ihr letzter Satz war natürlich scherzhaft gemeint, doch das wurde Eriel nicht klar.

Es hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt.

Das tat man nicht für ein Bild von Regentropfen oder Baumscheiben. Es musste eine wichtige Botschaft sein. Vielleicht auch eine Warnung. Wellen …ein Tsunami?

Eriel hasste Besuche. Noch dazu bei Fremden.

Aber es hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt.

Missmutig verließ er erneut das Haus. Lief dieses Mal in die andere Richtung durch den Wald bis in den nahegelegenen kleinen Ort hinein. Barfuß. Den Zettel mit den Kreisen wieder in der Tasche. Niedrige bunt gestrichene Häuser drängten sich beiderseits der gepflasterten Gassen. Die geziegelten Dächer tief über die schiefen Sprossenfenster gezogen, geduckt in Erwartung des nächsten Wintersturms. Vor den Wänden nickten Malven mit ihren zahllosen Köpfchen. Ein paar Straßen weiter wurden die Grundstücke großzügiger. Gepflegte Vorgärten mit Hortensien und Kletterrosen, hölzerne Terrassen mit sonnen sonnengebleichten Bänken bestimmten das Bild. Eriel verlangsamte seine Schritte. Aufkeimende Nervosität trieb Blüten in seinem Bauch. Sie öffneten ihre weißen Kelche und verströmten ihren betäubenden Pollen in seinem Körper. Sie löschten das fragile Schutzschild um seine Gedanken und das stets angriffsbereite Chaos der Welt flutete sein Inneres. Mit roboterhaften Bewegungen ging er weiter. Vielleicht war der Lehrer ja gar nicht zu Hause.

Doch Herr Paulsen, der ebenso Urlaub hatte wie seine Schüler, saß an seinem Klapptisch in seinem Garten und sortierte Angelzubehör in eine Transportbox mit zahllosen kleinen Fächern. Er war ein Mann mittleren Alters. Bärtig, gutmütig, jedoch in seiner Grundhaltung etwas resigniert nach einem mittlerweile fast zwanzig Jahre währenden Kampf gegen die Begriffsstutzigkeit seiner Schüler. Jetzt hob er den Kopf und sah seinem Besucher ein wenig verwundert, aber freundlich entgegen.

Eriel trat steifbeinig zu ihm an den Tisch und heftete seinen Blick auf das schillernde Sortiment an Blinkern vor ihm. Versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bekommen.

„Kann sich in einer Welle, die sich ringförmig ausbreitet die Länge zwischen den Wellenbergen ändern? Und wenn ja, wodurch wird das verursacht?“

„Dir auch einen schönen guten Tag, Eriel!“ antwortete der Lehrer mit hochgezogenen Augenbrauen. „Bittest du mich gerade um Nachhilfe in Physik? Aber das Fach hast du noch gar nicht, wenn ich recht informiert bin.“

„Ich muss wissen, was auf dem Bild zu sehen ist“, erwiderte Eriel unbeirrt und hielt ihm seinen Zettel entgegen.

„Kreise“, bemerkte Herr Paulsen trocken.

„Es ist eine Botschaft“, erklärte der Junge. „Jemand hat sie mir am Strand gezeichnet. Aber was bedeutet sie? Ich dachte, sie müsste mit Wasser zu tun haben, vielleicht mit Wellen. Und die Abstände zwischen den Ringen müssen irgendeinen Sinn haben.“

Der Lehrer betrachtete die Zeichnung belustigt.

„So, so, eine Botschaft. Eine Botschaft, auch wenn sie nur aus Zeichen oder einem Symbol besteht, sollte sich immer in etwas Hörbares umwandeln lassen, nicht wahr? Du brauchst keinen Physiker, sondern einen Fachmann für Semiotik. Einen, der sich mit Zeichensystemen aller Art befasst.“

Eriel riss die Augen auf. „Natürlich, es muss hörbar sein!“ rief er aufgeregt. Der spöttische Unterton in der Stimme des Lehrers war ihm gänzlich entgangen.

„Es sind keine Wasserwellen, sondern Schallwellen! Jemand sendet Signale aus“ – (er sah einen Schneckenturm im Sand stehen) – „und die breiten sich gleichmäßig in alle Richtungen aus. Man könnte sie als Ringe darstellen.“

„Primitiv, aber durchaus denkbar. Und die Signaltöne werden in verschiedenen Abständen ausgesandt. Als Codierung sozusagen“, spann Herr Paulsen vergnügt den Faden weiter. „Lass mal schauen – kurz, kurz, kurz, lang, lang, lang, kurz, kurz, kurz – da könnte man doch glatt meinen …“ Er grinste.

„SOS!“ Eriel schrie fast. „Das Bild ist ein Morsecode! Sie rufen um Hilfe!“

Der Physiklehrer schüttelte amüsiert den Kopf.

„Du unterhältst mich prächtig, Eriel. Aber mal ehrlich, wer sollte sich einer so umständlichen Darstellung bedienen, wenn er einfach SOS schreiben könnte?“

Eriel hielt inne, nahm seinen Zettel wieder an sich und antwortete nachdenklich: „Jemand, der weder unsere Buchstaben, noch die zugehörigen Laute kennt.“

Das Lächeln in Herrn Paulsens Gesicht verschwand. „Es ist doch ein Spiel oder?“

Eriel schwieg, trat von einem nackten Fuß auf den anderen, drehte sich dann abrupt um und lief zum Gartentor. Der Mann am Tisch sah ihm irritiert nach. Kurz bevor er das Grundstück verließ, drehte sich der Junge noch einmal um. „Kann man Morsezeichen unter Wasser hören?“ rief er quer über den Rasen. „Wenn die Signalquelle unter der Wasseroberfläche liegt, dann schon“, rief Herr Paulsen zurück und sein Gast eilte davon.

Die  Frau  des  Lehrers  erschien   in  der Terrassentür. „War jemand hier?“ fragte sie und ließ ihren Blick durch den Garten schweifen.

„Der Eriel, mit merkwürdigen Fragen zu Wellen und ihren Abständen. Scheint bei irgendeinem leicht morbiden Pfadfinderspiel mitzumachen.“

„Wirklich? Das passt gar nicht zu ihm“, wunderte sich die Frau. Der Lehrer zuckte mit den Schultern. „Wird Zeit, dass die Malerin ihm mal ein paar Grundlagen in Sachen Höflichkeit vermittelt“, brummte er und wandte sich wieder seinem Angelzubehör zu.

3 WORTE IM WASSER

Es vergingen anderthalb Tage ehe Eriel wieder Gelegenheit fand, ans Meer zu laufen. Anderthalb Tage, während derer er zu Hause festgesessen hatte, besser gesagt, wie auf glühenden Kohlen gesessen hatte, ohne seiner Anspannung Luft machen zu können.

Vorgestern Nachmittag, nachdem er von Herrn Paulsen zurückgekehrt war, hatte die Mutter seine Hilfe im Garten eingefordert. Es war Freitag gewesen und Vaters Familie aus Aalborg hatte sich für Samstag eingeladen. Man wollte beisammen sitzen und grillen.

Die Mutter hatte vorsorglich das Gras gemäht und Eriel sollte es zusammenrechen. Eine Arbeit, die er eigentlich recht gern erledigte, wenn nicht gerade geheimnisvolle Meereswesen um Hilfe riefen. Normalerweise genoss er es, den Rechen in schönen geraden Bahnen über die Wiese zu ziehen. Er mochte den Anblick der sauber abgerechten, akkurat geschnittenen Streifen. Eine Ordnung stiftende, schlichte, wohlstrukturierte Arbeit.

An diesem Nachmittag fehlte ihm jedoch der nötige Gleichmut dafür. War es möglich, dass sie Morsesignale empfangen und sogar gedeutet hatten? Und sie nun ihrerseits verwendeten, um auf ihre Notsituation aufmerksam zu machen? Was mochte ihr Problem sein? Oder war dies alles nur an den Haaren herbeigezogener Unfug, ging seine Fantasie durch mit ihm? Und wenn es wirklich wahr sein sollte, was hatte er dann jetzt eigentlich zu tun? Eriel bürstete das Gras gereizt und unwillig.

Er fegte auch noch die Terrasse und harkte die trockenen Kiefernzapfen aus der Einfahrt. Die allgegenwärtigen Kiefernnadeln waren sowieso unbezwingbar. Währenddessen jätete die Mutter ihre Hochbeete aus und verschnitt die wilden Rosen an der Südseite des Hauses. Behutsam sammelte sie vergilbte Blütenblätter in ein Schälchen. Die Luft vibrierte vom Hämmern eines Spechtes. Eriel war ein Junge mit einem Hilferuf in der Hosentasche, der sich keinen Rat wusste.

Der Vater lobte seinen Fleiß, als er von der Arbeit kam, doch Eriel schaute an ihm vorbei zu den Kiefern, die das Grundstück umstanden und ihre Häupter spöttisch schüttelten.

Auch am folgenden Morgen konnte Eriel nicht ans Meer. Samstag und Sonntag durfte er früh nicht fortlaufen, das hatten die Eltern festgelegt. Die Tage wurden mit gemeinsamem Frühstücken begonnen. „Wir haben nur uns drei“, hatte die Mutter ihm wiederholt erklärt. „Aber auch eine kleine Familie braucht Pflege.“ Eriel war kein Kind, das gegen Regeln verstieß, zumindest so lange er seine Gedanken einigermaßen beisammen hatte.

Bereits am späteren Vormittag trafen Onkel und Tante ein und mit ihnen seine zwei Cousins. Laute kleine Raubeine, die in den Garten einfielen wie Sturm vorm Gewitter. Sie brachten ihren eigenen Fußball mit, seit ihnen klar geworden war, dass Eriel nicht nur keinen Ball besaß, sondern dass sich dieser befremdliche Zustand auch nie ändern würde. Eriel mochte keine Bälle. Er verabscheute dieses unberechenbare Umhergespringe und kleine Cousins, die das gleichfalls taten, ebenso. Er war froh, dass das Treffen im Garten stattfand und er die beiden nicht auch noch mit in sein Zimmer nehmen musste.

Immerhin brachte ihm die Tante ein Päckchen Magnetbausteine mit – darüber vergaß er einstweilen sogar den Zettel in seiner Hosentasche. Eriel, der den mahnenden Blick der Mutter auffing, bedankte sich steif, aber höflich.

„Ich werde meinen Leuchtturm dreieinhalb Reihen höher bauen können“, setzte er noch trocken hinzu und eilte mit seinem Schatz ins Haus. Magnetstäbchen und Kugeln. Eriel hatte schon hunderte davon, konstruierte immer kühnere Bauwerke mit ihnen und natürlich reichten sie niemals aus.

„Er wirkt immer so distanziert“, meinte die Tante in der Küche. „Freut er sich überhaupt?“

„Natürlich freut er sich“, antwortete die Malerin gereizt, mit Blick auf die beiden kleinen Jungen, die sich draußen auf dem Rasen vorm Fenster über ihrem Ball vor Lachen kugelten. „Er zeigt es nur nicht wie andere.“

Eriel konnte nicht lachen, jedenfalls nicht so, wie Kinder das gewöhnlich taten. Natürlich  hatte er ein Lachen, man konnte es hervorlocken, wenn man ihn kräftig kitzelte, aber andere Möglichkeiten ihm Raum zu verschaffen, gab es offenbar kaum. Als Baby hatte er gelächelt, wann ihm danach zumute war, aber niemals dann, wenn die Mutter ihm das ihre schenkte. Auf sein erstes richtiges Lachen hatte sie lange gewartet. Sein ganzes erstes Lebensjahr verging und noch einige Wochen dazu, dann rutschte ihr ein Topfdeckel aus Emaille aus den Händen, fiel zu Boden und kreiselte einige Augenblicke laut scheppernd auf den Fliesen. Da riss der kleine Junge juchzend die Arme in die Höhe und brach in ein perlendes, seliges Kinderlachen aus. Fassungslos und glücklich zeichnete die Mutter ein wasserblaues Kreuz in ihren Kalender, doch dann sollten wieder Monate vergehen, ehe sie ein weiteres notieren konnte.

Als er vier Jahre alt war, hatte Eriel selber erkannt, dass ihn etwas grundlegend unterschied von den Kindern um ihn herum. Eine Feststellung, die ihn mit eiskaltem, einsamen Schrecken erfüllte. Er wusste nicht wie man lacht und schon gar nicht wann. Regelmäßig, oft mehrmals täglich platzte es aus seinen Mitmenschen heraus und jedes Mal fielen alle Anwesenden mit ein. Alle, außer Eriel, der sich die Ursache nicht erklären konnte und dessen Lachen nicht aufwachen wollte. Der Junge ohne Lachen.

Es ängstigte ihn zutiefst, dass er es nicht verstand und  dass er offensichtlich nicht zu ihnen gehören konnte. Er reichte seiner Mutter kaum bis zur Hüfte, als eine uralte Furcht ihn befiel. Sie kam aus einer klammen Felsenhöhle gekrochen, in der ein Lagerfeuer flackernde Gespenster an die verrußten Wände malte und deren Bewohner sich vor nichts mehr grauten, als den kleinen beleuchteten Kreis der Ihren verlassen zu müssen und ins Dunkel zu treten. Ausgestoßen zu werden, weil man nicht in die Gemeinschaft passte.

Der kleine Eriel versuchte zu verbergen, dass er anders war. Er begann die Menschen nachzuahmen, wenn sie lachten, indem er künstliche Lachgeräusche produzierte, wenn sie sich herzlich um ihn herum ausschütteten. Unter seinen mechanischen und nie die richtige Lautstärke treffenden Tönen erstarb jedes Gelächter binnen weniger Augenblicke und verwandelte sich in beunruhigtes Erstaunen.

Die Mutter erinnerte sich an ein Mittagessen mit der Großfamilie, als bei Tisch ein Scherz gemacht wurde, dessen Inhalt sie längst vergessen hatte. Sie saß ihrem Sohn schräg gegenüber und einen Atemzug lang sah sie das Entsetzen im Gesicht ihres Kindes, als alle lauthals und unbeschwert zu lachen begannen. Es war einer jener Momente, die sich unauslöschbar ins Gedächtnis schrieben, dann stieß er ein blechernes, falsches Lachen aus und brachte so alle Umsitzenden zum Schweigen. Und damit auch wirklich jeder begriff, dass er, Eriel, es auch lustig fand, fügte er in der ratlosen Stille mit Nachdruck hinzu: „Darüber musste er aber lachen!“

Eriel sprach meist in der dritten Person von sich selbst, als er noch klein war. Die Bedeutung von ich  wurde ihm erst während seiner Vorschulzeit klar.

„Wenn dein Kind seine Kunstlache anschaltet, ist es mir richtig unheimlich“, sagte die Tante einmal in dieser Zeit. Jener Zeit, in der Eriel im Kindergarten entweder mit leerem Blick irgendwo im Raum gestanden hatte oder in der Garderobe wie ein Wolf heulte. So laut, dass man es im ganzen Gebäude hörte und so fern jeder menschlichen Tonlage, dass der Mutter ein Schauder über den Rücken lief, wenn sie die Einrichtung betrat, um ihn abzuholen, und es hörte. Dann eilte sie die Treppen hinauf, erfüllt von einem einzigen Gedanken: Bitte, lass es nicht mein Kind sein, das da so geisterhaft schreit! Aber es war doch ihr Kind. Jedes Mal ihres. Es waren schwere Tage gewesen und dann waren sie wochenlang daheim geblieben, weil außerhalb der eigenen vier Wände nichts mehr ging.

Und langsam, ganz langsam und behutsam gelang es ihr, die Furcht von ihm zu nehmen und ihn akzeptieren zu lernen, dass er ein anderer Junge war. Sie versuchte ihm zu vermitteln, dass er etwas Besonderes war und dass er dadurch auch einmal etwas Außergewöhnliches würde schaffen können und das man für so etwas immer einen Preis bezahlen musste. Eriel bezahlte mit seinem Lachen  und mit seinem Unverständnis, was das Verhalten der Menschen betraf.

Die Mutter hoffe, dass sich seine Furcht irgendwann in Tapferkeit verwandeln würde und wärmte sich an dem Gedanken, dass das Schicksal für ihr seltsames Kind vielleicht eine bedeutende Aufgabe bestimmt hatte.

Nebenbei gab sie ihm praktische Tipps, wie zum Beispiel, dass es weitaus unauffälliger war, nicht mitzulachen, als unecht zu lachen.

Und als Eriel fast sechs war, brauchte er kein künstliches Lachen mehr, um den Humor der anderen ohne innere Panikanfälle zu überstehen. Dafür erklärte er der Mutter, dass er in Wirklichkeit von einem fremden Planeten stamme und eigentlich gar kein Mensch sei. Sie erläuterte ihm daraufhin, wie die kleinen Kinder gemacht wurden, doch er blieb eigensinnig und meinte, in einer skurrilen Mischung aus Wissen und kindlicher Fantasie: „Wer weiß, wie meine Außerirdischen-DNA in den Beutel in deinem Bauch gekommen ist.“

„Du bist aber dennoch mein Kind“, gestand sie ihm mit fester Stimme zu. „Das Kind, das ich liebe.“

Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie nun, gut drei Jahre später, vor der Anrichte vorm Küchenfenster stand, Kartoffeln für Salat schnippelte und die zwei kichernden Jungen draußen auf der Wiese beobachtete. Und obwohl sie sich niemals vorstellen konnte, dass ihr Kind ein anderes sein könnte als es war, obwohl sie es niemals würde ändern wollen, fühlte sie dennoch jedes Mal einen Stich im Herzen, wenn sie andere Kinder lachen hörte.

Als das Essen angerichtet war, wurden die Kinder zu Tisch gerufen. Eriel stakste auf Zehenspitzen zu seinem Platz und setzte sich mit steinerner Miene. So viele Augenpaare und der Lärm der Gespräche. Es gelang ihm nie, ihnen zu folgen. Wie liederliche Fetzen wirbelten die Worte um seinen Kopf.

Schließlich schob man ihn an den Rand der Terrasse, wo er als Schiedsrichter für das Fußballspiel der kleinen Jungen fungieren sollte. Eine Aufgabe, die er nur unzulänglich erfüllte, denn mitten in all dem Trubel fiel ihm plötzlich ein, was er am Meer zu tun hatte.

Er musste die gezeichnete Botschaft wieder hörbar machen. Nur so konnte er zeigen, dass er verstanden hatte. Wenn man es sachlich betrachtete, wurde zum aktuellen Zeitpunkt vermutlich gar nichts weiter von ihm erwartet.

Oh, er musste so dringend ans Meer! Doch sie ließen ihn nicht. Den ganzen Nachmittag nicht und den Abend nicht und am nächsten Morgen bis nach dem Frühstück auch nicht. Was, wenn er schon zu spät kommen würde? Der Fremde hatte ihn um Hilfe gerufen – IHN – und Eriel wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn wieder zu sehen. Er quälte sich mit dem Gedanken, ihn zu enttäuschen. Bestimmt würde er ihn erwarten. Erwarten, dass er zurückkam und in irgendeiner Form das Richtige tat. Und vielleicht hatte er sich inzwischen einen anderen Jungen ausgewählt, einen der nicht endlos auf einem Familientreffen ausharren musste.

Fast hätte er sich, schlaflos wie meistens, noch in der Nacht aus dem Haus geschlichen, doch die schlichte Angst, das Wesen in der Dunkelheit am Strand einfach nicht sehen zu können, hielt ihn schließlich davon ab. Es war eine schwarze mondlose Nacht. Am Himmel war schon wieder eine dichte Wolkendecke heraufgezogen.

Immerhin regnete es dann auch ganz erbärmlich am nächsten Morgen und das erfüllte Eriel mit einer gewissen Genugtuung, als er endlich, nach Erfüllung aller sozialen Pflichten, durch den Strandwald rannte. Nachdem sie ihn gestern so angestrengt und von seiner dringenden Aufgabe abgehalten hatten, würden ihn die Menschen heute wenigstens nicht auch noch am Strand heimsuchen. Keine Selbstverständlichkeit an einem Sonntag, doch etwas Einsamkeit kam Eriel sehr gelegen, als er nun endlich mit klatschnassen Haaren und Shorts den Spülsaum erreichte, ausgerüstet mit einem Blecheimer, Mutters großer Suppenkelle, sowie Schwimmbrille und Schnorchel. Die beiden letzteren Dinge verabscheute er eigentlich zutiefst, dennoch war ihm klar, dass sie ihm heute durchaus nützlich sein konnten.

Das Meer war so tiefgrau und strukturlos wie der Himmel. Der Regen hatte den Wind vertrieben und den Horizont  fast vollständig fortgewaschen. Schwer und kalt prasselten die Tropfen auf Eriels nackten Oberkörper. Er zitterte vor Anspannung und Aufregung.

Ein paar Minuten stand er reglos am Wasser, die Zehen schon vom Meer umspült. Obwohl er schon hunderte Male hier an dieser Stelle ins Watt getreten war, hatte er heute das Gefühl an der Schwelle einer neuen Welt zu stehen oder vielleicht zumindest an ein fremdes Tor zu klopfen, um dahinter jemanden zu treffen, der für ihn alles verändern würde.

Eriel atmete tief ein und schmeckte die salzige Luft auf der Zunge. Noch konnte er umkehren und nach Hause gehen und alles würde bleiben wie es immer gewesen war. Aber Eriel kehrte nicht um. Er fasste den Griff des Eimers fester und watete ins Wasser hinein. Die Kelle schlug klirrend an die Wand des Blechgefäßes, als die Wellen dagegen schwappten. Jetzt noch nicht! Eriel hielt den Eimer höher. Er hatte keine Ahnung, wie weit er hinauslaufen sollte. Zumindest der Eimer sollte aber komplett unter die Wasseroberfläche tauchen können, dachte er bei sich, unsicher, ob das mit dem Schall sonst auch richtig funktionieren würde. Knietief kam ihm zu wenig vor, doch das Wattenmeer war schier endlos flach hier vor Jerup. Als das Meerwasser endlich an seinen triefenden Shorts leckte, war das Land hinter ihm nur noch ein verschwommener, moosgrüner Pinselstrich inmitten von nassem Grau. Der Regen nahm Eriel die Sicht und löschte alles aus, was jenseits des Wassers noch existieren mochte. Übrig blieb nur die lästige Tauchausrüstung, die er sich nun mühsam über den Kopf zerrte und um den Hals hängen ließ, um die Hände frei zu haben. Und sein Morsegerät. Eriel schämte sich regelrecht für sein kindisches Treiben, als er mit einer Hand den Eimer im Wasser versenkte und mit der anderen die Kelle eintauchte und ausholte. Was ihm zu Hause in seinem Zimmer als praktische Lösung vorgekommen war, erschien hier draußen in der rauschenden, übermächtigen Weite einfach absurd.

Doch er war hier und er war kein Junge, der unbeendet ließ, was er begonnen hatte. Er prüfte noch einmal den Stand seiner Füße auf dem weichen Grund. Es durfte nichts schiefgehen! Ein verpatzter Schlag und das Signal würde nicht mehr verständlich sein und die Aufmerksamkeit, die Eriel sich erhoffte vielleicht nicht erwecken.

Endlich schlug er kraftvoll mit der Kelle gegen den Eimer, dreimal rasch hintereinander, erschrocken, wie sehr sich das Meerwasser gegen den Schwung der Kelle wehrte, wie es knisternd und sprudelnd Blasen bildete und wie dumpf und schwächlich die erzeugten Töne klangen. Aber er ließ sich nicht beirren und schickte drei Schläge mit längeren Pausen hinterher, gefolgt von drei weiteren in rascher Folge.

Ob unter Wasser überhaupt etwas davon deutlich zu hören war? Eriel war nicht überzeugt. Er ließ einige Zeit verstreichen und wiederholte sein Signal. Wartete wieder   und schlug erneut auf den Eimer. Nichts geschah. Wie oft sollte er es versuchen? Brauchte der winzige Fremde Zeit, um ihn zu erreichen? Hörte er ihn überhaupt? Wollte er sich überhaupt noch einmal bemerkbar machen? Und die schlimmste aller Fragen: Gab es ihn tatsächlich oder war er in Wahrheit doch nur seiner Fantasie entsprungen? In der regenverschleierten, bleigrau schraffierten Ödnis des Wattenmeeres war sich Eriel seiner selbst nicht mehr sicher. Wieder und wieder schlug er unter Wasser auf den Eimer. Wollte nicht aufgeben und verfluchte doch gleichzeitig seine Torheit, die ihn zu diesem Unsinn anstiftete. Er begann zu frösteln und konnte nicht wissen, welche fieberhafte Geschäftigkeit die Schläge seiner Kelle unter Wasser auslösten.

Ihre Kontaktstation, wie sie das transportable Lager nannten, welches eigens nur dazu diente, eine Verbindung aufzubauen zu einem von jenen, die an der Luft lebten, war nur wenige Meter von der Signalquelle entfernt. Sie nahmen sich nicht die Zeit zu überprüfen, ob der Notruf, den sie empfingen, tatsächlich für sie bestimmt war und ob er von demjenigen stammte, für den der Weitblickende am Strand gezeichnet hatte. Weder der Ort des Signals noch die seltsamen, für sie nicht definierbaren Instrumente der Geräuscherzeugung entsprachen dem gewöhnlich beobachteten Verhalten der Luftatmer.

Sie hatten noch nie eine Rückmeldung auf ihr in den Sand geritztes Zeichen bekommen. Wenn dies das erste Mal war, durften sie ihre Chance auf keinen Fall vergeuden. Vielleicht war jetzt der Moment, in dem diese Tonfolge einmal nicht bedeutete: Ich brauche Hilfe! Sondern: Ich habe verstanden. Und im Falle eines Irrtums war es allemal eine nützliche Übung für eine zigfach durchdachte Situation, deren Verlauf doch nur schwer einschätzbar war.

Mit fliegenden Händen griffen sie nach ihrer Ausrüstung für jenseits der Wassergrenze. Am wichtigsten waren ihre Helme. Sie waren aus besonders stabilem Muschelkalk gefertigt, hundertfach durchbrochen von einer feinen wabenähnlichen Netzstruktur, die ihnen leidliche Sicht auf ihre Außenwelt gewährte. Dabei waren die Löcher im Muster so klein gehalten, dass das Wasser im Inneren der Helme, genug Oberflächenspannung an ihnen aufbauen konnte, um nicht auszulaufen.

Sie waren zu viert, der Weitblickende und drei der tapfersten Wegbereiter des Volkes. Eilig hakten sie Helme und Sicherheitssysteme in die Halteösen an ihren Speicherröhren und schwammen zum Gefäß der Worte, welches sich gut vertäut neben den beiden Wohn- und Lagerkuppeln befand.

Das Gefäß der Worte.

Es war etwa einen Fuß lang, mit zwei spitz auslaufenden Enden und einer rundbauchigen Mitte und somit eher geformt wie ein Boot, als ein Behälter zum Transport von Informationen. Wie fast alles was sie herstellten, war es ebenfalls aus Kalk gemacht und seine Oberfläche, innen wie außen, bildete die tief gebänderte Struktur nach, die vielen Korallenarten eigen ist.

Das Wasser liebte solche kunstvoll und vielfältig gemusterten Flächen, es schmiegte sich in die Formen, kreiselte und bewegte sich in ihnen und bewahrte dort bereitwillig auf, was man ihm eingab an Wissen, Erinnerungen und Gefühlen.

Jenes Gefäß, dessen steinbewährte Verankerungen im sandigen Boden die Vier nun lösten, besaß drei Kammern im Inneren, eine jede versehen mit einer fest verschlossenen Öffnung. Eine an jedem der spitzen Enden und eine in der Mitte. Die beiden äußeren waren Luftkammern, die gleich für den benötigten Auftrieb sorgen würden. In der mittleren befand sich die kostbare Fracht, die für den Luftatmer bestimmt war:

Ihre Sprache.

Ihre Sprache, gespeichert zwischen Millionen hauchdünner Schichten hexagonal angeordneter Flüssigkristalle aus Wasser.

Nach den Überlegungen des Weitblickenden musste ihr erstes Ziel der Aufbau einer reibungslosen Verständigung sein. Wie sonst sollte der Luftatmer begreifen, wovon ihr aller Leben abhängen würde? Sie mussten ihm zuerst ihre Worte bringen. Dafür hatten sie das Gefäß konstruiert, sowie eine exakt gleiche, aber winzige Kopie davon, bestimmt für die Größe ihrer so viel kleineren Hände. Der Weitblickende wollte dem Fremden über der Wasseroberfläche damit vorführen, was er mit dem geheimnisvollen Behältnis tun sollte.

Sie umfassten jeder eines der vier Halteseile und ließen sich von ihnen mit nach oben tragen, als das Gefäß zur Grenze zwischen Wasser und Luft stieg, diese wie ein Korken hochschnellend überwand, um schließlich auf den Wellen zu schwimmen. Oben angekommen, halfen sie sich gegenseitig beim Aufsetzen der schweren Helme. Die Oberfläche des Meeres war von Regentropfen geprickelt, als sie mühsam und voll innerer Anspannung mit ihren Köpfen die äußerste Haut des Wassers durchstießen.

Eriel erstarrte mitten in seinem bestimmt einhundertsten SOS-Signal und blinzelte. Ließ die Kelle los und wischte sich den Regen aus den Augen. Täuschte er sich oder war gerade dort, wenige Meter schräg vor ihm, etwas aus dem Meer getaucht? Doch, da war es wieder! Ein weißliches Oval, nicht größer als ein Spielzeugschiff. Die Wellen gaben den Blick darauf abwechselnd frei und verdeckten ihn wieder. Es konnte alles Mögliche sein. Vermutlich nur ein altes Stück Styropor, das irgendwo über Bord gegangen war.

Eriels Herzschlag beschleunigte sich dennoch, als er hastig darauf zu watete. Schon bald konnte er sehen, dass es sich wohl  nicht um Abfall handelte. Seine Fantasie  hatte ihm ein Boot ausgemalt, in dem das Wesen ihn erwarten würde, doch es schien eher eine Art Gefäß zu sein, vielleicht eine merkwürdige Kanne. Eriel blieb direkt davor stehen und blickte verwundert auf das seltsame Objekt. Obwohl es sicher künstlich hergestellt worden war, sah es mehr aus wie etwas, dass am Meeresgrund gewachsen war. Er beugte fasziniert den Kopf hinab, scheute sich jedoch, es zu berühren, als er zwei – nein, vier – hell schimmernde Perlen dicht daneben auf der Wasseroberfläche entdeckte.

Sie waren gekommen.

Sie hatten ihn gehört und waren gekommen.

Aufgeregt schaute Eriel zu, wie einer von ihnen seine zierlichen Arme aus dem Wasser reckte und mit einem winzigen Päckchen hantierte, das sich darauf zu einer schwimmenden Plattform entfaltete, etwa so groß wie Eriels zwei Handflächen. Ein zweiter zog und stemmte sich hinauf und kniete sich auf die schwankende Fläche. Das Gehäuse auf seiner Rückseite glänzte im Regen. Die anderen drei hielten sich an den Rändern des Floßes fest.

Einen Moment lang betrachteten sie sich schweigend, die kleinen Bewohner des Meeres und der große Junge, dem die Tropfen wie Tränen über den Körper rannen. Dann legte sich der kniende Winzling beide Hände auf die Brust und streckte sie gleich darauf  weit geöffnet dem Großen entgegen. Eriel, wie verzaubert, ahmte die Geste nach, um ein Vielfaches vergrößert.

Aus dem Wasser reichte man dem Wesen auf der Plattform etwas zu und Eriel, obwohl frierend, ging in die Hocke und verschwand bis zur Brust im Meer, um sein Gesicht näher an die Kleinen heranbringen zu können. Nun konnte er sehen, dass der Gegenstand, welchen man ihm entgegen hielt, eine Miniatur des Großen war, der neben ihnen auf dem Wasser schaukelte.

Der Weitblickende zeigte auf die schwimmende Kanne und auf den Jungen und Eriel nahm sie schließlich vorsichtig und etwas widerstrebend in die Hand. Sie fühlte sich an wie das Stück Koralle, das die Mutter zur Zierde im Badezimmer liegen hatte.

Dann zog der Winzling den Stopfen aus der mittleren Öffnung seines Gefäßes und bedeutete Eriel, das Gleiche zu tun. Behutsam löste er ebenfalls den Verschluss und spähte neugierig in das dunkle Loch, ohne etwas erkennen zu können. Der Winzling hob seine Kanne mit beiden Händen vors Gesicht als ob er einen Schluck nehmen würde. Eriel prallte zurück. Er sollte das trinken? Wozu? Was würde dann mit ihm geschehen? Märchen von Zaubertränken und deren Auswirkungen schossen ihm durch den Kopf. Vielleicht war der Inhalt des Gefäßes auch einfach nur giftig. Eriel schüttelte den Kopf. Erhob sich und setzte die Kanne zurück aufs Wasser.

Da hob der Kleine flehend die Hände, gestikulierte, demonstrierte wieder und wieder den Vorgang des Trinkens. Eriel rang mit sich. Er hatte Angst, doch ihm war bewusst, dass das Abenteuer, welches er herbeigesehnt hatte, an dieser Stelle beendet war, wenn er sich nicht überwand. Schließlich schlug der Weitblickende die Hände vors Gesicht und krümmte sich auf seinem Floß zusammen. Eriel schluckte und die Tropfen auf seinen Wangen begannen sich mit echten Tränen zu vermischen. Schluchzend griff er nach der Kanne. Seine Zähne schlugen laut klappernd aufeinander, als er sie zum Mund führte. Er schloss die Augen und trank. Es schmeckte nach Wasser.

Einfaches, klares Süßwasser.

Eriel setzte ab und lauschte in sich hinein. Kein Schmerz, keine spürbare Verwandlung. „Trink weiter!“ signalisierten die Hände des Kleinen, der den Kopf wieder gehoben hatte. „Trink alles aus!“ sprachen die Hände.

Und Eriel trank und verstand.

Die winzigen Finger beschrieben einen grazilen Tanz in der Luft. Eriel riss die Augen auf, brachte sein Gesicht ganz dicht heran und verfolgte ihn gebannt.

„Wir sind sehr erfreut, dass du die Botschaft der Kreise lesen konntest“, sagten sie. „Wir haben lange nach jemandem wie dir gesucht.“

Ein Gefühl von Begeisterung und Glück durchströmte ihn. Er konnte die Sprache ihrer Hände verstehen, mühelos, als hätte er sie schon immer beherrscht! Das Wissen war im Wasser der Kanne gewesen. Konnte er sie auch sprechen? Eriel hob seine Hände und betrachtete sie nachdenklich. Formulierte im Kopf die erste Frage, die ihm einfiel und seine Finger wussten, was zu tun war. Noch etwas langsam und etwas ungelenk, aber dennoch verständlich, begannen sie die Zeichen der Wasserwesen zu bilden.

„War das ein Zaubertrank?“ fragte Eriel und es schien ihm, als würde er unter dem Helm ein Lächeln über das feine Gesichtchen seines Gegenübers huschen sehen.

„Kein Zauber“, sprachen dessen Hände, „nur ein Transfer von Informationen. Das Wasser vermag alles zu speichern und entsprechend weiter zu geben.“

„Es war schwierig, das Rätsel der Botschaft zu lösen“, ließ Eriel seine Finger sagen. „Warum habt ihr das Gefäß mit der Sprache nicht gleich mit zum Strand gebracht?“

„Das wäre uns zu auffällig gewesen, junger Freund. Wir vermeiden es, unsere Dinge in den Lebensraum von euch Luftatmern zu bringen.“

„Aber ich dachte, es wäre sehr wichtig, einen von uns zu euch zu rufen, weil ihr unsere Hilfe braucht. Was wäre gewesen, wenn ich die Nachricht in den Kreisen nicht erkannt hätte?“

„Dann wärst du nicht der Richtige gewesen, für die Aufgabe, die vor uns liegt“, antwortete das Wasserwesen schlicht.

„Wer seid ihr überhaupt?“ fragte Eriel stirnrunzelnd.

„Wir sind die, die im Wasser leben“, sagte der Kleine und verbeugte sich höflich. „Hier auf der Erde und an anderen Orten in den Weiten des Alls. Ich bin der, der weit blickt, und dies“, er wies auf die anderen im Wasser, „sind diejenigen, die die Wege dafür finden.“

„Das sind doch keine richtigen Namen!“ meinte der Junge, der beinahe doch nicht der Rechte gewesen wäre, ein wenig trotzig. “Ich heiße Eriel.“ Seinen Namen konnte er nur laut aussprechen. Für ihn hatten die Hände kein Zeichen.

Der Weitblickende neigte nachdenklich den behelmten Kopf. „Für uns sind diese Bezeichnungen völlig ausreichend. Aber du darfst gern weitere Namen für uns wählen, wenn du dies für nötig erachtest.“

Eriel nickte und fragte neugierig: „Hört ihr mich denn auch oder seht ihr nur, was die Hände sagen? Versteht ihr unsere Sprache?“

„Wir hören euch und die immer größer werdende Menge von Geräuschen, die ihr produziert, seit hunderten von Jahren. Doch wir verstehen eure vielen Sprachen nicht. Uns fehlen die Bilder von über der Oberfläche, um sie zu entschlüsseln.“

„Aber wie könnt ihr dann - “ Eriel ließ die Hände sinken, „morsen?“

Das Wasserwesen auf dem schwankenden Floß schaute verständnislos. Inzwischen hatte der Regen nachgelassen und der Himmel erhellte sich ein wenig.

„Die Zeichenreihe“, versuchte Eriel zu erklären, „dididit, dahdahdah, dididit. SOS. Woher wisst ihr, dass es ein Notsignal ist?“

„Wann immer eines eurer Schiffe diese Tonfolge ausgesandt hat, kamen in Folge entweder weitere Schiffe oder Fluggeräte hinzu und holten die Luftatmer von Bord oder zogen das Schiff fort. Oder es kam niemand und das Schiff sank mitsamt den Luftatmern zu uns herab und sie alle starben. Meistens geschah dies bei heftig bewegter Meeresoberfläche. Die Schlussfolgerung, dass es sich um einen Hilferuf handelt, lag also nahe. Wir beschlossen, ihn für unser Bilderrätsel zum Kontaktaufbau zu verwenden.“

Das erschien dem Jungen mit den regennassen Haaren einleuchtend und er entschloss sich, weiter zu fragen: „Was soll ich denn nun eigentlich für euch tun?“

„Etwas für uns und etwas für euch Luftatmer“, antwortete der Weitblickende ernst.

„Es ist eine schwierige Aufgabe. Wenn du es schaffst, nicht nur ein Stück ins Watt zu laufen, sondern uns tief unter Wasser auf dem Meeresboden zu besuchen   - nur du allein – dann werde ich dir von dieser Aufgabe erzählen.“

Eriels Herzschlag beschleunigte sich. Er merkte wieder, wie sehr er fror.

„Warum? Warum soll ich zum Grund tauchen, bevor du es mir sagst?“

„Du hast bewiesen, dass du Rätsel lösen kannst. Vermutlich weißt du viel von deiner Welt. Du erscheinst mir neugierig und hartnäckig. Zeige mir nun, dass du auch einfallsreich und tapfer sein kannst. Diese Eigenschaften   wirst du brauchen, um die Aufgabe zu bewältigen.“

Eriel ließ die Schultern hängen. Er hatte sich selbst noch nie besonders mutig gefunden. Dennoch fragte er: „Aber woran soll ich erkennen, wo die richtige Stelle zum Tauchen ist? Das Meer sieht überall gleich aus, wenn man mit einem Boot rausfährt.“ Was kleine Jungen allein auch niemals tun sollten, dachte er weiter bei sich mit der nachdrücklichen Stimme seiner Mutter.

„Überlege gut, was du tun könntest!“ sprach der Kleine mit besorgtem Blick zum Himmel, an welchem die Sonne ein schmales Fenster zwischen den Wolken gefunden hatte.

„Bereite dich sorgfältig vor! Nimm dir die Zeit, die du brauchst, aber vergeude sie nicht! Wir werden da draußen auf dich warten“, er wies mit der Hand Richtung Horizont. „Komme in der Nacht und wir werden das Meer leuchten lassen an jener Stelle, wo du tauchen sollst.“

„Ich werde es versuchen“, antwortete der zitternde Junge kleinlaut. „Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“

„Neige dich zu mir“, bedeutete der Weitblickende und streckte die Arme aus. Eriel brachte sein Gesicht ganz dicht an ihn heran. Das Wasserwesen erhob sich schwerfällig und berührte seine Wange mit winzigen kühlen Händen.

„Bitte“, sprachen seine Finger dann vor Eriels Augen. „Für unser aller Leben!“

Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Nun müssen wir uns für heute verabschieden. Die Sonne gewinnt den Kampf mit den Wolken. Gleich wird sie dich wärmen und uns bedrohlich werden. Bis bald, junger Freund, geschenkt seien dir Weisheit und Stärke.“

Darauf ließ er sich ins Wasser gleiten und einen Augenblick später waren sie alle vier mitsamt der schwimmenden Plattform verschwunden. Nur das seltsame Gefäß schaukelte noch auf den Wellen. Eriel erhob sich, ergriff es mit klammen Händen und wandte sich dem Uferstreifen zu, der nun wieder deutlich an Farbe und Kontur gewonnen hatte. Bald würden die ersten Spaziergänger am Strand eintreffen.