Wörternetze chinesischer Deutschlernender - Yibo Min - E-Book

Wörternetze chinesischer Deutschlernender E-Book

Yibo Min

0,0

Beschreibung

Wohin wird die visuelle Aufmerksamkeit der Lernenden beim Selbstlernen gerichtet? In diesem Band geht es um das selbständige Wortschatzlernen mit den Medien Lehrbuch und digitale Lernplattform bei chinesischen DaF-Lernenden im außerschulischen Kontext. Dabei wird das Eyetracking eingesetzt, das bisher kaum im DaF-Bereich angewandt wurde. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Outputs und dem Blickverhalten. Allerdings lässt sich kein eindeutiger Lernvorteil eines Mediums für das Selbstlernen feststellen, obwohl die Lernenden den Eindruck hatten, dass sie effektiver mit dem Buch lernen würden. Außerdem werden Bilder in den Lernmaterialien nur bedingt betrachtet. Der Band diskutiert diese Ergebnisse und trägt damit zu einem besseren Verständnis des Lernendenverhaltens bei, wovon die Entwicklung lernförderlicher Materialien für das außerschulische Selbstlernen profitieren kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 774

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Yibo Min

Wörternetze chinesischer Deutschlernender

Eine empirische Eyetracking-Untersuchung zum Wortschatzlernen mit unterschiedlichen Medien von chinesischen DaF-Lernenden auf der Niveaustufe A2

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0175-7776

ISBN 978-3-381-10351-5 (Print)

ISBN 978-3-381-10353-9 (ePub)

Inhalt

Danksagung1 Einleitung2 Wörter und mentales Lexikon2.1 Wörter als sprachliche Zeichen2.2 Das mentale Lexikon2.2.1 Funktionsweise des mentalen Lexikons2.2.2 Aufbau des mentalen Lexikons und Struktur lexikalischer Einheiten2.2.3 Erwerb des L2-Lexikons und dessen Verhältnis zum L1-Lexikon2.2.4 Besonderheiten des mentalen Lexikons von chinesischen Deutschlernenden3 Wortschatz und Wortschatzlernen3.1 Bedeutungsdimensionen des Wortschatzes3.2 Wortspezifische Sinnrelationen und Wörternetze3.3 Wortschatzlehren und -lernen im Kontext der Fremdsprachendidaktik3.4 Besonderheiten des Wortschatzlernens in China4 Selbstlernen mit Medien4.1 Selbstlernen4.2 Medien beim Fremdsprachenlernen4.3 Stellenwert der digitalen Medien für das Selbstlernen (in China)5 Visuelle Wahrnehmung und Augenbewegung5.1 Wahrnehmung von visuellen Reizen und Augenbewegungen5.2 Eyetracking5.2.1 Technik des Eyetrackings5.2.2 Eyetracking-Technologie im fremdsprachendidaktischen Kontext6 Forschungsdesign und Datenerhebung6.1 Erhebungsinstrumente6.1.1 Schriftliche Befragung6.1.2 Videografie und Eyetracking-Geräte6.1.3 Retrospektives Lautes Denken6.2 Beteiligte an der Studie6.2.1 Probanden6.2.2 Eigene Rolle6.3 Vorgehensweise6.4 Materialien6.4.1 Buch6.4.2 Digitales Lernangebot7 Datenauswertung und -analyse7.1 Wörternetze7.2 Augenbewegungen beim Lernen mit unterschiedlichen Medien7.2.1 Erste Studie (Thema: Schule und Ausbildung)7.2.2 Zweite Studie (Thema: Freizeit und Urlaub)7.3 Schriftliche Befragung7.4 Zusammenführung der Ergebnisse7.4.1 Wörter in den Wörternetzen7.4.2 Augenbewegungen und ihr Verhältnis zu Einträgen der Wörternetze7.4.3 Selbstevaluation zum Selbstlernen7.4.4 Diskussion der Forschungsergebnisse8 Kritische Rückschau auf die Untersuchung9 Schluss und Ausblick10 LiteraturverzeichnisAnhängeA 1: EinverständniserklärungA 2: Persönliche Daten der TeilnehmendenA 3: Wörternetze der TeilnehmendenA 4: Video-Replays und ergänzende MaterialienA 5: Schriftliche Befragung und ErgebnisseA 6: Beispiele von Dialogen mit ChatGPT (Screenshots)A 7: Manuskript zum Video (Das Deutschlandlabor: Schule)A 8: Manuskript zum Video (Das Deutschlandlabor: Wandern)A 9: Manuskript zum Video (Das Deutschlandlabor: Urlaub)

Danksagung

Diese Studie wurde als Dissertationsprojekt im Jahr 2018 vom Institut für Germanistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen. Die vorliegende Arbeit stellt das Ergebnis des mehrjährigen Dissertationsprojekts dar. Von der Planung der explorativen Einzelarbeit über die Umsetzung und die Datenerhebung der Studie bis hin zu der Analyse der erhobenen Forschungsdaten bin ich als Verfasser auf viele unerwartete Schwierigkeiten in verschiedener Hinsicht in Corona-Pandemiezeiten gestoßen. Ohne die Hilfe und Unterstützung einer Vielzahl von Personen hätte dieses Projekt als Einzelarbeit nur schwer erfolgreich realisiert werden können.

An vorrangiger Stelle gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dietmar Rösler, mein ganz besonderer Dank für seine hervorragende Betreuung und seine Begutachtung der Arbeit. Ihm bin ich für viele konstruktive und inspirierende Gespräche mit wertvollen Ratschlägen im ganzen Forschungsprozess äußerst dankbar. Keine Worte reichen aus, um meinen tiefsten Dank für seine uneingeschränkte geduldige Bereitschaft und Ermutigung mit seinen aufmunternden Worten sowie auch für seine volle Unterstützung für meine Promotion in jeglicher Hinsicht ausdrücken zu können. Sein großes persönliches Engagement hat wesentlich zum Gelingen dieser Dissertation beigetragen.

Außerdem sei Frau Prof. Dr. Anja Voeste für ihre immerwährende Unterstützung, Ermutigung und auch für ihre kritischen Rückmeldungen mit konstruktiven Vorschlägen sowie für die Begutachtung der Arbeit von Herzen gedankt. Bei ihr möchte ich mich noch für ihr Interesse und für die inspirierenden Gespräche mit neuen Impulsen aus einem anderen Blickwinkel herzlich bedanken.

Des Weiteren danke ich auch meinen Untersuchungsteilnehmenden aus verschiedenen chinesischen Universitäten für ihr Vertrauen und ihre Neugierde ganz herzlich. Ohne ihre freiwillige Teilnahme wäre es nicht möglich gewesen, spannende Forschungsdaten für diese Untersuchung zu gewinnen.

Als explorative Arbeit im DaF-Bereich wird die Eyetracking-Technologie für das vorliegende Dissertationsprojekt eingesetzt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich daher bei dem Unternehmen Tobii AB herzlich dafür bedanken, dass das Unternehmen mir seine modernen Eyetracker bedingungslos zur Verfügung gestellt hat. Dabei bin ich besonders Herrn Xiaofeng Liang und Frau Meifei Zhong sowie allen ihren Kolleginnen und Kollegen von Tobii China für die Kooperation sowie die anhaltende technische Unterstützung dankbar.

Darüber hinaus möchte ich mich auch bei allen Mitgliedern der TechAG für ihre wertvollen Rückmeldungen und für den wissenschaftlichen Austausch bedanken, insbesondere bei Frau Dr. Tamara Zeyer für ihre fachlichen Anregungen und ihre unaufhörlichen Aufmunterungen sowie ihre stete Hilfsbereitschaft. Meinen Dank möchte ich ebenfalls Frau Dr. Almut Ketzer-Nöltge für ihre Unterstützung sowie Diskussionsbereitschaft und Frau Selmin Hayircil für ihre Ermunterung sowie Hilfestellung aussprechen. Bei Herrn Dr. Sebastian Kilsbach und Frau Yee Cheng Foo bedanke ich mich besonders für die Unterstützung hinsichtlich der Organisation der Disputation ganz herzlich.

Für kritisches Korrekturlesen danke ich Herrn Robert Matthiesen sehr herzlich. Bei Herrn Rolf L. Wagner möchte ich mich ebenfalls für seine kritische Durchsicht sowie auch für seine fortwährende Unterstützung und Aufmunterungen vom Herzen bedanken. Weiterhin gilt mein Dank auch meinen Freunden Herrn Dr. Yves Klinger, Herrn Daniel Neubert und Frau Dr. Julia Wollny für ihre Ermunterungen und auch Feedbacks aus der naturwissenschaftlichen Perspektive. Desgleichen danke ich auch Herrn David Joecks, Frau Mengqing Chen, Herrn Laurin Off, Frau Yu Cai, Frau Yiran Tu und Herrn Xiwei Liu sowie allen meinen Freunden für ihre Rücksichtnahme und verständnisvolle moralische Unterstützung.

Nicht zuletzt möchte ich mich aus tiefstem Herzen bei meinen Eltern und meiner ganzen Familie für ihre uneingeschränkte, liebevolle und vielseitige Unterstützung sowie Ermutigung während meiner Promotion bedanken, ohne die diese Dissertation nicht möglich gewesen wäre.

 

衷心感谢我的博士导师Dietmar Rösler教授和第二导师Anja Voeste教授、我的家人以

及朋友们的一路陪伴、鼓励与支持!

 

Gießen, im Juli 2022

Yibo Min

1Einleitung

Im Zeitalter der Globalisierung werden die Menschen international immer enger miteinander verbunden. Ein typisches Beispiel für das globalisierte Zeitalter ist die intensive Zusammenarbeit von Deutschland und China. Seit vielen Jahren kommunizieren die Menschen aus beiden Ländern aufgrund des stark anwachsenden Handels immer häufiger miteinander. Dabei manifestiert sich der intensive Austausch zwischen beiden Ländern heutzutage nicht nur in der wirtschaftlichen Kooperation, sondern auch in vielen anderen Bereichen, wie zum Beispiel in Technik, Kultur, Wissenschaft und Umwelt. Für die internationale Kommunikation spielen vor allem fremdsprachliche Kenntnisse eine zentrale Rolle, weil die Sprachkenntnisse einen verhandlungssicheren Gedankenaustausch mit den Menschen voraussetzen.

Jedoch fällt das Deutschlernen den chinesischen Lernenden oft nicht leicht. Die Schwierigkeiten sind individuell unterschiedlich. Dabei ist das Problem mit dem deutschen Wortschatz bei vielen chinesischen Lernenden häufig anzutreffen. Ein möglicher Grund hierfür liegt darin, dass Chinesisch und Deutsch keine verwandten Sprachen sind. Es ist damit zu rechnen, dass die lexikalischen Kenntnisse der deutschen Sprache von chinesischen Lernenden nicht als einfach wahrgenommen werden. Daher ist der Wortschatz als komplexer Lerngegenstand anzusehen, weil viele schwer überwindbare Hindernisse für chinesische Lernende beim Wortschatzlernen in der Fremdsprache Deutsch bestehen. Da die Fertigkeiten im Sprachgebrauch im engen Zusammenhang mit dem Wortschatz stehen, kann das Wortschatzlernen nicht außer Acht gelassen werden. In diesem Zusammenhang ist es für die Fremdsprachendidaktik von wesentlicher Bedeutung, die didaktischen Konzepte für die Förderung der Aneignung der lexikalischen Kenntnisse ständig weiterzuentwickeln.

Im Hinblick auf die Wortschatzarbeit führen chinesische Deutschlernende nach ihrem Deutschunterricht noch verschiedene Wortschatzübungen durch. Beispielsweise wiederholen sie die Wörter, die in ihrem Lehrwerk gelistet werden. Hinzu kommen noch zusätzliche gedruckte Übungsmaterialien. Im Zuge der Digitalisierung verwenden einige Lernende auch initiativ digitale Medien, um ihre lexikalischen Kenntnisse zu erweitern. Es lässt sich sagen, dass die Deutschlernenden nach dem Unterricht beim Selbstlernen unterschiedliche Medien für das Wortschatzlernen verwenden können. Vor diesem Hintergrund ist es von Interesse, wie die chinesischen Deutschlernenden beim Wortschatzlernen mit einem analogen oder mit einem digitalen Medium die dort übermittelten Informationen wahrnehmen.

Hierzu wird eine empirische Untersuchung in der vorliegenden Arbeit durchgeführt. Dabei wird beobachtet und analysiert, wie die chinesischen Deutschlernenden beim außerschulischen Selbstlernen mit einem Buch und mit einem internetgestützten digitalen Lernangebot die Lerninhalte wahrnehmen und die deutschen Wörter lernen. Darüber hinaus wird darauf eingegangen, wie sich die Lernergebnisse der chinesischen Deutschlernenden nach dem Selbstlernen mit den beiden unterschiedlichen Medien als komplexe kognitive Handlung entwickeln.

In der empirischen Untersuchung geht es um das außerschulische selbstständige Wortschatzlernen mit einem Buch und mittels einer Online-Lernplattform. In der empirischen Studie werden alle Lernenden aufgefordert, Wörternetze zu einem bestimmten Thema selbstständig zu entwickeln. Diese Wörternetze werden als Output bzw. Lernprodukt des selbstgesteuerten Selbstlernen der Lernenden angesehen und sie werden inhaltlich analysiert. Hierbei stellt sich eine Frage, wie sich die Lernprodukte der chinesischen Lernenden nach dem außerschulischen Selbstlernen mit den beiden Medien darstellen. Im Hinblick auf den Lernprozess des Selbstlernens liegt in der vorliegenden Arbeit noch ein Fokus auf der Informationswahrnehmung. Dazu wird die Eyetracking-Technologie eingesetzt, damit die (visuelle) Wahrnehmung bzw. das Blickverhalten der chinesischen Lernenden bei ihrem Wortschatzlernen mit den beiden Medien visualisiert werden kann. Hierbei stellt sich die zweite Forschungsfrage und sie bezieht sich darauf, wie die chinesischen Lernenden beim außerschulischen Selbstlernen mit den beiden Medien die dort übermittelten Informationen wahrnehmen. Mit Hilfe der Eyetracker können die Augenbewegungen der Lernenden visualisiert werden. Es kann daher beobachtet werden, wohin die visuelle Aufmerksamkeit der Lernenden gerichtet wird, wenn sie beim Selbstlernen mit den beiden verschiedenen Medien die Übungen behandeln. Dabei wird beispielsweise beobachtet, wie die Texte und die Bilder von den Lernenden betrachtet werden. Da viele digitale Lernangebote den Lernenden Videos zur Verfügung stellen, ist es für diese Arbeit auch spannend, wie die Lernenden die Videos anschauen. Darüber hinaus werden die Augenbewegungen der Lernenden und ihre Lernprodukte also die Wörternetze, welche die Lernenden nach dem Selbstlernen produziert haben, zusammenhängend betrachtet. Hierbei bezieht sich die dritte Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit auf das Verhältnis zwischen der visuellen Aufmerksamkeit bzw. den Blickfixationen der Lernenden und den Einträgen in ihren Wörternetzen: Wie hängen die Augenbewegungen mit den Einträgen der von ihnen produzierten Wörternetzen zusammen?

Das Hauptziel der Arbeit besteht darin, die visuelle Wahrnehmung der chinesischen Lernenden bei ihrem außerschulischen Selbstlernen identifizieren zu können. Ein weiteres Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen den Augenbewegungen der Lernenden und ihren Wörternetzen zu untersuchen. Basierend darauf wird versucht, Handlungsvorschläge für das außerschulische Selbstlernen im Kontext der Fremdsprachendidaktik bzw. des Fachgebiets Deutsch als Fremdsprache zu entwickeln.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in fünf Teile. Zunächst werden der Wortschatz und die Wortschatzvermittlung behandelt (Kapitel 2 und Kapitel 3). Dabei wird über Wörter diskutiert und auf den Wortschatzerwerb eingegangen, wobei die spezifischen Eigenschaften der chinesischen Deutschlernenden in den beiden Kapiteln miteinbezogen werden. Als zweiter Teil der Arbeit werden weitere theoretische Grundlagen bezüglich des Themenbereiches „Selbstlernen mit (digitalen) Medien“ in Kapitel 4 beleuchtet. Dabei werden die digitalen Medien für das selbstgesteuerte Fremdsprachenlernen unter Bezugnahme auf die entsprechende Fachliteratur in den Blick genommen. Das Kapitel 5 thematisiert die Augenbewegungen und das Eyetracking. In diesem Kapitel wird zuerst die Wahrnehmung von visuellen Reizen beschrieben und im Anschluss daran die Eyetracking-Technologie sowie ihre Rolle im Kontext der Fremdsprachendidaktik erläutert. Der nächste Teil besteht aus zwei Kapiteln (Kapitel 6 und Kapitel 7) und er bezieht sich auf die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit. In diesem Teil werden zuerst Forschungsdesign und Datenerhebung dargestellt und danach werden die erhobenen Daten sowohl separat als auch zusammenhängend ausgewertet. In Kapitel 8 wird eine kritische Rückschau auf diese empirische Untersuchung vorgenommen und schließlich wird eine Zusammenfassung der zentralen Aspekte der vorliegenden Arbeit dargestellt. Dabei sollen basierend auf den erfassten Daten der Augenbewegungen nicht nur fremdsprachendidaktische Vorschläge (für chinesische Deutschlernende) zur Förderung des außerschulischen selbstständigen Wortschatzlernens, sondern auch ein Ausblick auf die spannenden Fragestellungen nachfolgender Untersuchungen mit dem Einsatz der Eyetracking-Technologie gegeben werden.

2Wörter und mentales Lexikon

Wie in der Einleitung erwähnt, wird das Wortschatzlernen mit einem gedruckten und einem digitalen Lernangebot in der vorliegenden Arbeit analysiert. Bevor die Ergebnisse der Nutzung beider Medien auf einzelne Aspekte des Wortschatzlernens bei chinesischen Deutschlernenden als ein Schwerpunkt der Arbeit dargestellt werden, sollen in diesem theoretisch orientierten Kapitel zunächst der Begriff des Wortes und des Wortschatzerwerbs in der Fremdsprache Deutsch als theoretische Basis fokussiert werden.

Die Wörter sind sehr wichtig, weil „keine menschliche Sprache ohne Wörter [auskommt] und keine sprachliche Einheit so viel öffentliches Interesse [genießt] wie das Wort“ (Meibauer et al. 2007: 15). In diesem Zusammenhang lässt sich sagen, dass der Bereich des Wortschatzlernens angesichts der großen Bedeutung von Wörtern für das Fremdsprachenlernen keinesfalls ignoriert oder unterschätzt werden sollte. Die fremdsprachliche Kompetenz eines Lernenden hängt zum großen Teil von der Beherrschung des Wortschatzes der zu erlernenden Sprache ab, denn alle sprachlichen Fertigkeiten stehen in einer engen Beziehung mit Wörtern.

In diesem Kapitel wird zuerst der Begriff „Wort“ definiert. Hierbei sollte zunächst angemerkt werden, dass es in dem empirischen Teil der vorliegenden Arbeit nicht um eine ausführliche linguistische Analyse geht, in welcher die Outputs der Lernenden in der Untersuchung sprachwissenschaftlich ausgewertet werden. Daher wird keine umfassende und ausführliche Diskussion über den Begriff „Wort“ aus der germanistischen linguistischen Perspektive als theoretische Grundlage vorgenommen.1 Stattdessen liegt der Fokus auf der Beziehung oder der Assoziation zwischen den Wörtern sowie dem gedanklichen Konzept von Menschen. Somit wird der Begriff „Wort“ hier aus der semiotischen Sicht behandelt, wobei die Wörter als sprachliche Zeichen angesehen werden und der Begriff „Wort“ mehr mit dem zugehörenden gedanklichen Konzept behandelt wird. In Kapitel 2.2 wird das mentale Lexikon dargestellt, in welchem die Wörter bzw. das lexikalische Wissen gespeichert werden, weil das mentale Lexikon sowohl in der Sprachrezeption als auch in der Sprachproduktion eine wichtige Rolle spielt. Indem die Operationsprinzipien des mentalen Lexikons beschrieben werden, kann erläutert werden, warum das mentale Lexikon für viele Sprachhandlungen relevant ist. Außerdem wird auch die Entwicklung des mentalen Lexikons beim Fremdsprachenlernen durch einige Modelle dargestellt. Dabei wird über manche Besonderheiten des mentalen Lexikons von chinesischen Deutschlernenden diskutiert (vgl. Kapitel 2.2.4). Die Diskussion basiert auf den erwähnten Theorien, was die nachkommenden Interpretationen und Analysen der Forschungsdaten unterstützen kann.

All dies trägt dazu bei, auf den Begriff des Wortes und seine Merkmale näher einzugehen. Zugleich wird die Wichtigkeit des Wortschatzes im fremdsprachendidaktischen Kontext durch die theoretische Darstellung hervorgehoben. Dies stellt einen Motivationsgrund für die Bestimmung des Themas der vorliegenden Arbeit dar.

2.1Wörter als sprachliche Zeichen

Aus der Perspektive der Semiotik kann eine Sprache als Zeichensystem charakterisiert werden. Als gemeinsame Merkmale aller Zeichen werden deren Wahrnehmbarkeit und deren Verweismöglichkeit angesehen. Basierend auf der Zeichentheorie von Peirce (2000) können alle Zeichen in drei grundlegende Subklassen eingeordnet werden und sie lassen sich als Index, Ikon oder Symbol kategorisieren (vgl. Peirce 2000: 205). Bei den indexikalischen Zeichen handelt es sich um Zeichen, die unausweichlich bzw. direkt mit dem bezeichneten Denotat verbunden sind. Mitunter besteht auch eine Folge-Relation zwischen Zeichen und Denotat (vgl. Nöth 2000: 185-192). Beispielsweise ist Fieber ein Anzeichen für eine Erkrankung und verrät, dass es jemandem nicht gut geht. Ikonische Zeichen stellen die zweite Zeichenart dar und zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie keine natürlichen, sondern künstliche Zeichen sind. Mittels derartiger Zeichen wird ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten etabliert. Zu dieser Zeichenklasse gehören zum Beispiel Fotos, graphische Darstellungen und lautmalerische Wörter (vgl. ebd.: 193-198). Zudem ist unverkennbar, dass ikonische Zeichen aufgrund ihrer künstlichen Beschaffenheit durch gesellschaftliche und kulturelle Faktoren beeinflusst werden können. Im Gegensatz zu den ersten beiden Zeichenarten kann das Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten anhand symbolischer Zeichen nicht ohne Weiteres und nicht auf der Basis visueller Darstellungen erschlossen werden. Symbole sind arbiträr und konventionell (vgl. ebd.: 178-184). Zu den bekanntesten Beispielen dieser Zeichengruppe zählen unter anderem mathematische Zeichen und viele menschliche Sprachen.

Für das Sprachzeichen schlug Saussure einen speziellen Zeichenbegriff – den bilateralen Zeichenbegriff – vor. Mittels dieses Zeichenbegriffs erklärt er die Funktionen und die spezifischen Eigenschaften von sprachlichen Zeichen. Er vertritt die Auffassung, dass sich ein Sprachzeichen aus dem Lautbild und der mit diesem Lautbild verbundenen Vorstellung zusammensetzt (vgl. Saussure 2001: 77). In seiner Theorie werden in diesem Zusammenhang die beiden Termini „Signifié“ und „Signifiant“ eingeführt, denen jeweils Bezeichnetes (Vorstellung, Signifikat) und Bezeichnendes (Lautbild, Signifikant) als deutsche Entsprechungen sind. Das bedeutet, dass mit dem Fachbegriff „Signifiant“ den Ausdruck der sprachlicher Zeichen fokussiert wird. Es geht um das Lautbild, das psychisch ein mentales Äquivalent für die Sprachverarbeitung und zugleich einen physikalischen Lautkörper darstellt (vgl. Römer 2019: 94). Der Fachbegriff „Signifié“ bezieht sich auf die Bedeutung der Sprachzeichen, die auch psychisch ist und im Langzeitgedächtnis behalten wird (vgl. ebd.). Die Bedeutung steht in einem Zusammenhang mit dem Denotat sowie der (gedanklichen) Vorstellung des Rezipienten im Hinblick auf das zu versprachlichende Objekt oder den zu versprachlichenden Sachverhalt (vgl. Linke et al. 2004: 30). Das Verhältnis zwischen ihnen stellt aber nicht ausschließlich eine 1:1-Zuordnung dar (vgl. Galliker 2013: 87). Als sprachliches Zeichen hat im Allgemeinen ein Wort in einer menschlichen Sprache eine Formseite und eine Inhaltsseite, was durch die folgende Abbildung (siehe Abb. 2-1) illustriert werden kann.

Abb. 2-1:

Bilaterales Zeichenmodell1

Dabei impliziert die Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens eine Bedeutung bzw. ein gedankliches Konzept. Dieses Konzept ist auf der Grundlage der Form des sprachlichen Zeichens wahrzunehmen, die akustisch oder graphisch zum Ausdruck gebracht wird. Aufgrund der Besonderheit symbolischer Zeichen besteht zwischen beiden Seiten des Zeichens kein logischer Zusammenhang, sondern die entsprechende Relation entsteht unter dem Einfluss der Konvention. Beispielsweise heißt das Wort für ein Gebäude, das den Menschen zum Wohnen dient, in der deutschen Sprache nicht „Gaus“ (/[gaʊ̯s]/), sondern „Haus“ (/[haʊ̯s]/). Die Entscheidung des Lautbildes kann aber durch einen logischen Zusammenhang schwer begründet werden. Ebenfalls ist dies bei Wörtern der chinesischen Sprache der Fall. Beispielweise ist es schwierig, durch logische Überlegungen abzuleiten, warum die Vorstellung von „Haus“ in der chinesischen Sprache durch das akustische Lautbild „fáng“ und durch die graphische Form „房“ präsentiert wird.2 Dieses Merkmal über die Korrelation beider Seiten sprachlicher Zeichen ist besonders bei solchen einfachen Wörtern in den beiden Sprachen anzutreffen. In diesem Zusammenhang hebt Elsen (2013) hervor, dass ein Wort zunächst aufgrund der Besonderheit seines symbolischen Zeichencharakters und unter Berücksichtigung der individuellen Denkweise des Menschen nicht immer ohne Weiteres analysiert werden kann. Insbesondere im Falle der Simplizia spielt der Aspekt der Arbitrarität in Bezug auf die beiden Seiten eines sprachlichen Zeichens eine entscheidende Rolle (vgl. Elsen 2013: 18). Bei Komposita wiederum, die sich beispielsweise aus zwei oder mehreren Simplizia zusammensetzen können, ergeben sich die Inhalte des jeweiligen komplexen Wortes im Idealfall aus der Summe der entsprechenden Teilbedeutungen der komponierten Lexeme. Beispielsweise lässt sich die Semantik des deutschen Wortes „Haustür“ sowohl im Hinblick auf die Ausdrucks- als auch auf die Inhaltsseite leicht erschließen, sofern dem Rezipienten die Wörter „Haus“ und „Tür“ vertraut sind. Dies ist bei dem chinesischen Wort „房 (fáng, Haus) 门 (mén, Tür)“ auch anzutreffen, welches die gleiche Vorstellung des deutschen Wortes „Haustür“ präsentiert. Jedoch ist dies bei Komposita nicht immer der Fall, wodurch sich im Einzelfall Verständnisschwierigkeiten ergeben können.

In der Praxis sind sprachliche Zeichen nicht ausschließlich auf innersprachlicher Ebene zu untersuchen, sondern für eine eingehende Analyse sprachlicher Zeichen soll basierend auf der Zeichentheorie de Saussures, als weitere Größe der Gegenstand bzw. der Referent in den Analyseprozess einbezogen werden (vgl. ebd.). Ein möglicher Erklärungsansatz dafür kann darin gesehen werden, dass sprachliche Zeichen im Rahmen des sprachlichen Handelns im Prinzip kein Selbstzweck sind bzw. nicht nur für sich selbst stehen, sondern eine Verweisfunktion übernehmen und das entsprechende gedankliche Bild (im Kopf des Rezipienten) aktivieren, wodurch eine Beziehung zu dem entsprechenden außersprachlichen Gegenstand oder Sachverhalt (in der Realität) hergestellt wird. Hierbei sind drei relevante Komponenten des sprachlichen Zeichens von Relevanz: der Zeichenausdruck, der Zeicheninhalt und der Referent. Das Verhältnis der drei Komponenten des sprachlichen Zeichens wird durch das semiotische Dreieck (Abb. 2-2) angezeigt (vgl. Ogden & Richards 1972: 11).

Abb. 2-2:

Semiotisches Dreieck3

So wird beispielsweise beim Lesen oder Hören des Wortes „Haus“ (/[haʊ̯s]/) seitens des Rezipienten, der über Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, das zum Wohnen dienende Gebäude assoziiert. Mithilfe dieser Vorstellung wird bei einer sprachlichen Handlung auf den betreffenden konkreten Referenten verwiesen, bei dem es sich um ein reales Haus handeln kann (jedoch ist auch ein Gespräch über ein in Zukunft geplantes Haus möglich). Auf der Grundlage des semiotischen Dreiecks kann die Mehrdimensionalität sprachlicher Zeichen anschaulich charakterisiert werden. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die Bedeutung eines Wortes unter verschiedenen Aspekten charakterisiert werden kann. Einerseits kann sie auf ein gedankliches Konzept verweisen, wobei dann von der jeweiligen Intension die Rede ist. Andererseits kann die Bedeutung eines Wortes mit allen einschlägigen Objekten korrespondieren, bezüglich deren der Zeichenausdruck eine Referenz besitzt. In diesem Falle steht die extensionale Bedeutung bzw. die Extension im Mittelpunkt des Interesses, was exemplarisch an dem Wort „Stuhl“ von Elsen (2013) illustriert wird:

Die intensionale Bedeutung von Stuhl kann mithilfe seiner Eigenschaften näher beschrieben werden, etwa „Sitzgelegenheit für eine Person, vier Beine, Rückenlehne, keine Armlehnen, nicht gepolstert“. Die Extension können wir bestimmen über die einzelnen Objekte, auf die das Wort sich bezieht, indem wir beispielsweise auf verschiedene Stühle zeigen. (Elsen 2013.: 19)

Daran ist zu erkennen, dass ein Wort neben einer sogenannten grundlegenden Bedeutung auch verschiedene erweiterte Bedeutungen hat, die je nach den Kontexten variieren. Auf der Basis des oben erwähnten Beispiels über das sprachliche Zeichen Stuhl ist zu erkennen, dass man von Intension spricht, wenn diskutiert wird, wie man ein Zeichen versteht bzw. interpretiert. Im Rahmen der Extension des sprachlichen Zeichens ist der bezeichnete Gegenstand mit der Wirklichkeit gleichzusetzen (vgl. Brun & Hirsch Hadorn 2018: 106f.). Hierbei kommt nicht nur die interne sprachsystematische Dimension in Betracht. Ergänzend wird der außersprachliche Bezug von sprachlichen Zeichen in die Analyse miteinbezogen, sodass das gedankliche Konzept des Gegenstandes oder des Sachverhalts und der Referent in der außersprachlichen Wirklichkeit approximativ differenziert werden. Zwar erweist sich das semiotische Dreieck als aufschlussreich für weiterführende Forschungen, jedoch kann diese Theorie noch modifiziert werden, wobei eine nähere Erläuterung hinsichtlich des Begriffs der Bedeutung bzw. der Intension erforderlich ist angesichts der Tatsache, dass sich diesbezügliche Theorien noch nicht in Einklang bringen lassen (vgl. ebd.: 107).

Anders als in der sprachwissenschaftlichen Forschung können Gedanken und die ihnen entsprechenden Gegenstände bzw. Sachverhalte gemeinsprachlich als identisch angesehen werden (vgl. Elsen 2013: 20). Im Allgemeinen setzt sich ein sprachliches Zeichen aus zwei Komponenten zusammen. Die beiden Komponenten sind das Formativ und die Bedeutung. Auf der Formativebene sind zwei untergeordnete Elemente zu unterscheiden, in deren Rahmen sich das sprachliche Zeichen akustisch bzw. visuell manifestiert. Wenn die Rede vom mündlichen bzw. lautlichen Aspekt eines sprachlichen Zeichens ist, spricht man vom Lautbild. Die Komponente auf der schriftlichen Ebene wird als Schriftbild bezeichnet. Beide Komponenten sprachlicher Zeichen (Formativ und Bedeutung) weisen eine psychisch relevante Eigenschaft auf unter Berücksichtigung der Tatsache, dass erstere Komponente einem mentalen Äquivalent für die Rezeption bzw. Produktion kommunikativen Handelns entspricht und dass durch letztere Komponente ein Gegenstand oder Sachverhalt der außersprachlichen Realität im Gedächtnis aktiviert wird (vgl. Römer & Matzke 2010: 63; Linke et al. 2004: 31). Des Weiteren kann im Rahmen der bereits angeführten Theorien und Beispiele davon ausgegangen werden, dass durch ein sprachliches Zeichen nur die Vorstellungen und Gedanken bezüglich des Denotats direkt und immanent fokussiert werden können. Das heißt, dass mit einem sprachlichen Zeichen nicht ein Gegenstand in der Wirklichkeit und die verbale Realisierung dieses Gegenstandes verbunden werden, sondern ein gedankliches Bild und ein Lautbild bei den Zeichenbenutzenden. In Verbindung mit den arbiträren und konventionellen Besonderheiten der Zuordnung der Ausdrucks- und der Inhaltsseite sprachlicher Zeichen ist von einer gewissen Subjektivität bei den Rezipienten auszugehen. Demnach kann geschlussfolgert werden, dass durch die Verwendung sprachlicher Zeichen aufgrund dieser speziellen Eigenschaften keine objektive und völlig reale Abbildung der Außenwelt verbalisierbar ist. Vielmehr werden die Erkenntnisse einer bestimmten Gesellschaft bzw. Gemeinschaft (als einer sprachlichen Gruppe) über diese Außenwelt widergespiegelt. Mit anderen Worten sind die sprachlichen Zeichen, die in einer menschlichen Sprache als Wörter angesehen und verwendet werden, nicht naturgegeben, sondern sie sind von der gesellschaftlichen Kultur und anderen menschlichen Einflüssen geprägt. Darauf ist beispielsweise die Tatsache zurückzuführen, dass ein identischer Gegenstand in der Realität von unterschiedlichen Menschengruppen aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven verschiedenartig erklärt, interpretiert und damit unterschiedlich assoziiert wird. Zum Beispiel ist es denkbar, dass sich die Assoziation in Bezug auf den Schul- und Studienalltag wegen der gesellschaftlichen Unterschiede und des Schulsystems zwischen Deutschland und China bei den Menschen aus den beiden Ländern voneinander unterscheiden kann. Zum Beispiel kann das sprachliche Zeichen „Studienalltag“ bei chinesischen Studierenden zwar mit dem anderen Wort bzw. sprachlichen Zeichen „Studentenwohnheim“, aber kaum mit dem Wort „WG“ oder „Wohnungssuche“ assoziiert werden. Der Grund dafür ist, dass die chinesischen Hochschulen grundsätzlich immer ihren Studierenden die Zulassung zum Studium zugleich mit einem Platz in einem Studentenwohnheim anbieten. Hinzu kommt, dass die Studierenden während ihres Studiums in der Regel im Studentenwohnheim wohnen. Somit brauchen die Studierenden in China sich nicht um die Unterkunft bzw. die Wohnung zu sorgen, egal wie weit der (frühere) Wohnort der Studierenden von ihrer Hochschule entfernt ist. In diesem Zusammenhang lässt sich sagen, dass das sprachliche Zeichen „Studienalltag“ oder „Studentenleben“ bei chinesischen und deutschen Studierenden zwar einen gleichen Gegenstand oder einen gleichen Sachverhalt in der außersprachlichen Wirklichkeit innehat, aber unterschiedliche Konnotationen im Rahmen eines gedanklichen Bildes. All dies kann zeigen, dass Wörter als sprachliche Zeichen hoch komplex sind. So besteht nicht nur eine Beziehung zwischen dem Lautbild und dem Inhalt sowie dem präsentierten Gegenstand im Rahmen eines einzelnen Wortes, sondern auch eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Wörtern, die durch das gedankliche Konzept hergestellt wird. Diese zwischenwörtliche Beziehung wird im nachfolgenden Kapitel ausführlich dargestellt. Weitere Beispiele im Hinblick auf die Assoziationen von Wörtern werden in Kapitel 7 gezeigt.

Beim Fremdsprachenlernen bedeutet das Wortschatzlernen somit nicht nur die sprachliche Aneignung der Wörter im Hinblick auf ihr Lautbild und ihr Schriftbild sowie ihre Bedeutung. Es gibt noch weitere mit den Wörtern verbundene Aspekte, die für das Wortschatzlernen oder die Aneignung einer Fremdsprache wichtig sind. Dazu zählen beispielsweise die Konnotation der Wörter und die Beziehung zwischen den Wörtern selbst. Durch das obige Beispiel über den Studienalltag lässt sich aus der didaktischen Perspektive erkennen, dass chinesische Deutschlernende zum Thema „Studium in Deutschland“ die sich auf die Wohnungssuche beziehenden Wörter erlernen sollten. In diesem Prozess können sie einerseits landeskundliche Kenntnisse über das Studentenleben in Deutschland gewinnen, andererseits sind sie durch das Wortschatzlernen in der Lage, mit der Situation im Hinblick auf die spätere Wohnungssuche für ihr zukünftiges Studium in Deutschland umzugehen. Dafür spricht die Annahme, dass die Beherrschung des Wortschatzes einer Fremdsprache den Gebrach dieser Sprache voraussetzt (vgl. Nezhad Masum 2012: 96). Hinzu kommt, dass der fehlende Wortschatz im Vergleich zur unvollständigen Beherrschung der grammatischen Kenntnisse leichter zu Problemen mit der Verständigung in der Kommunikation führen können (vgl. ebd.). Daraus ist die Wichtigkeit des Wortschatzes im Kontext der Fremdsprachendidaktik zu erkennen und dieser Aspekt wird in Kapitel 3 dargestellt. Im nächsten Teilkapitel wird der Begriff „Wort“ aus der psycholinguistischen Perspektive behandelt, damit die Komplexität des Wortes eingehend dargestellt wird, was die Sprachrezeption und die Sprachproduktion zum Ausgangspunkt nimmt.

2.2Das mentale Lexikon

Den Begriff „mentales Lexikon“ kann man aus zwei unterschiedlichen Perspektiven verstehen. Aus Sicht der allgemeinen Sprachwissenschaft wird das mentale Lexikon als „Gesamtheit des mental repräsentierten Wissens eines Sprachteilhabers über die Wörter seiner Sprache(n)“ (Nezahad Masum 2012: 24) angesehen. Ausgehend von anderen Fachgebieten stellt das mentale Lexikon eine Teilkomponente des kognitiven Systems dar. In dieser Komponente werden verschiedene lexikalische Informationen mental repräsentiert und zusammengeführt (vgl. ebd.: 24f.). Als Gemeinsamkeit der beiden Betrachtungsweisen ist zu erkennen, dass das mentale Lexikon den mentalen Bestand des lexikalischen Wissens darstellt und es alle lexikalischen Kenntnisse des Sprechenden miteinschließt, die in diversen sprachlichen Handlungen verwendet werden (vgl. Höhle 2012: 13). In der vorliegenden Arbeit wird das mentale Lexikon in Bezug auf die Sprachverarbeitung als Vermittler bzw. Mediator im kognitiven System angesehen, der in den Prozessen betreffend die Konzeptualisierung und die Enkodierung sowie die Dekodierung der grammatischen oder phonologischen Informationen etc. der sprachlichen Einheiten für die Sprachhandlungen eine Rolle spielt (vgl. Wei 2002: 693). In diesem Zusammenhang sind unter anderem folgende Fragen als theoretische Grundlage für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung: Auf welche Weise werden die Merkmale bzw. die Informationen von Wörtern im mentalen Lexikon repräsentiert? Wie werden diese lexikalischen Repräsentationen verbunden? Wie ist das mentale Lexikon organisiert? Wie vollzieht sich der lexikalische Zugriff im mentalen Lexikon, wenn man Wörter bzw. Sprachen rezipiert und produziert? Im nachfolgenden Kapitel wird der Themenkomplex des mentalen Lexikons ausführlich erläutert.

2.2.1Funktionsweise des mentalen Lexikons

Das mentale Lexikon wird als Wortspeicher im menschlichen Gehirn angesehen (vgl. Aitchison 1997: 44) und als „sprachlicher Wissensbestand im Langzeitgedächtnis“ (Dietrich & Gerwien 2017: 26) betrachtet. Wie in einem Wörterbuch werden im mentalen Lexikon permanent neue Wörter aufgenommen, die im Laufe des Spracherwerbs gelesen, gehört und gelernt werden. Im Rahmen dieses Prozesses werden die verschiedenen Wortmerkmale gespeichert. Generell fungiert das mentale Lexikon als internes Wörterbuch, in dem alle lexikalischen Einträge eines Lernenden gespeichert werden und zu einem bestimmten Zeitpunkt erforderlichenfalls gesucht bzw. „nachgeschlagen“ und auch bei Bedarf abgerufen werden können. Jedoch weist das sogenannte interne Wörterbuch im Vergleich zu einem realen Wörterbuch große Unterschiede auf. Zum Beispiel wird ein lexikalischer Zugriff im mentalen Lexikon nicht bewusst realisiert, sondern er wird im Prinzip automatisch aktiviert (vgl. Liu 2012: 68). Das mentale Lexikon verfügt über eine dynamische Organisationsstruktur und lässt sich beim Lernprozess des Sprachlernens erwerben und zugleich auch erweitern (vgl. Roche 2011: 397). Außerdem werden die Wörter im mentalen Lexikon nicht strikt alphabetisch sortiert, wobei Römer (2019) die Unterschiede zwischen einem schriftlich vorliegenden Lexikon und dem mentalen Lexikon wie folgt charakterisiert:

Das mentale Lexikon unterscheidet sich grundlegend von den Buchlexika in folgender Hinsicht:

- Das mentale Lexikon ist nicht alphabetisch geordnet, aber gut organisiert. Letzteres zeigt sich daran, dass Sprecher in Millisekunden Wörter erkennen. […].

- Das mentale Lexikon ist nicht begrenzt, sondern vielmehr ständig erweiterbar. Es umfasst qualitativ viel mehr als alle Buchlexika. Das mentale Lexikon ist deshalb nicht statisch, sondern dynamisch. (Römer 2019: 104)

Angesichts dieser Anordnung bzw. Organisation der gespeicherten Wörter gestaltet sich der Suchvorgang im mentalen Lexikon dementsprechend ebenfalls anders als in einem Lexikon, das in der Wirklichkeit in gedruckter Form vorliegt. In alltäglichen Situationen werden die gespeicherten Wörter in Abhängigkeit von unterschiedlichen Diskurszwecken adäquat abgerufen, damit zum Beispiel eine monologische oder dialogische Kommunikation in harmonischer Weise vonstattengehen kann. Vor der Erläuterung der Struktur des mentalen Lexikons ist daher zunächst zur Kenntnis zu nehmen, welche Rolle es spielt, dass die Sprache bzw. das Sprachsystem im Rahmen der Sprachrezeption und -produktion des Menschen ihren konkreten Niederschlag findet. Durch diese Erläuterung kann die Wichtigkeit des mentalen Lexikons, welches einen zentralen Punkt der theoretischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit darstellt, in alltäglichen sprachlichen Handlungen deutlich erkannt werden.

Da der Prozess der Sprachverarbeitung bisher zum größten Teil auf dem Gebiet der Sprachproduktion demonstriert wurde (vgl. Roche & Suñer 2017: 126), werden vor allem die kognitiven Vorgänge hinsichtlich der Produktion geschriebener und gesprochener Sprache in den Vordergrund gerückt. Im Rahmen der Sprachproduktion wird die Funktion erfüllt, dass die Sprechabsicht einer Person zum Ausdruck gebracht wird. Bevor sich ein Sprecher artikuliert, muss er über eine Intention verfügen, auf deren Basis die Inhalte des Sprechens determiniert werden. Die zu verbalisierenden Informationen werden beispielsweise an den aktuellen Kontext, die Situation und den Zweck der Kommunikation angepasst, was eine entscheidende Voraussetzung für die Überführung der Intention in eine lineare sprachliche Form darstellt, wobei die Berücksichtigung der Verwendungsregeln der Sprache von zentraler Relevanz ist. Sofern Fehler in der Äußerung auftreten und diese seitens des Sprechers registriert werden, können sie von ihm eigenständig korrigiert werden.

Abb. 2-3:

Levelts Modell zur Sprachproduktion

Die vorstehende Abbildung stellt ein modulares psycholinguistisches Modell von Willem J. M. Levelt dar (1991: 9). In diesem Modell wird der gesamte Prozess der Sprachproduktion in erster Linie in die folgenden Teilprozesse grob gegliedert: die Konzeptualisierung, die Formulierung, die Artikulation und das (Selbst-)Monitoring (vgl. ebd.: 8-14). Es ist erkennbar, dass das mentale Lexikon verschiedene lexikalische Informationen für die Umsetzung einer Sprechabsicht liefert. Entsprechend dem Modell werden dabei die lexikalischen Informationen vom mentalen Lexikon zur grammatischen und auch zur phonetischen Codierung abgerufen. In Kombination mit den semiotischen Theorien (vgl. Kapitel 2.1) lässt sich sagen, dass eher die Informationen hinsichtlich der Formseite der Wörter als sprachliche Zeichen im Prozess der Sprachproduktion mitwirken. Levelts Modell1 ist weit verbreitet und erweist sich im Hinblick auf weiterführende Forschungen zur Sprachverarbeitung als sehr aufschlussreich. Darüber hinaus gelangt dieses Modell auch in anderen einschlägigen Untersuchungsbereichen zur Anwendung (vgl. Müller 2013: 26).

Unter Berücksichtigung der Komplexität der Sprachproduktion können drei Arten von Handlungen bei der Sprachproduktion unterschieden werden: sprachferne, sprachnahe und direkt sprachliche Aktivitäten (vgl. Dietrich & Gerwien 2017: 113f.). Bei den sprachfernen Aktivitäten geht es noch nicht um die Inhalte einer Äußerung, sondern um die Kommunikationsbedingungen. Bei den sprachnahen Aktivitäten, die durch den Konzeptualisator bewältigt werden, steht die gedankliche Vorbereitung bzw. die Planung der Kommunikation im Zentrum. In den direkt sprachlichen Aktivitäten, die eine wesentliche Rolle bei der Formulierung und der Artikulation der Äußerung spielen, wird die abstrakte präverbale Struktur durch Abruf lexikalischen Wissens bzw. der erforderlichen Informationen hinsichtlich der Lemmata und Lexeme im mentalen Lexikon des Sprechenden in eine sprachliche Form überführt. Dennoch besitzt das zu verbalisierende Produkt nach den erwähnten Verarbeitungsschritten lediglich eine rein kognitive Repräsentation. Auf der kognitiven Ebene des Sprechenden ist die Existenz eines phonetischen Planes, welcher spezifische Anweisungen zur Realisierung der Artikulation enthält, von zentraler Relevanz. Im Anschluss daran verbalisiert der Sprecher nach der gegebenen Anweisung mithilfe seines artikulatorischen Systems und der entsprechenden Sprechorgane die geplanten Sprechinhalte, damit seine Äußerung akustisch rezipiert werden kann. Während des Verarbeitungsprozesses können Fehler auftreten. Bei der Selbstkontrolle und -korrektur spielt das Monitoring eine große Rolle, in dessen Verlauf unter anderem der Istzustand des zu generierenden verbalen Produktes in den jeweiligen Teilprozessen der Sprachproduktion mit dem entsprechenden Sollzustand verglichen wird. Zur Anpassung des verbalen Produktes an den aktuellen kommunikativen Kontext und an die Kommunikationssituation werden Fehler bzw. inadäquate Produkte notwendigenfalls korrigiert bzw. modifiziert (zu einer systematischen und detaillierten Darstellung im Hinblick auf die Sprachproduktion vgl. Levelt 1991; Dietrich & Gerwien 2017). Daran ist zu erkennen, dass das mentale Lexikon eine große Rolle bei der Wortproduktion spielt. In Verbindung mit dem konzeptuellen System wirkt es bei allen wichtigen Schritte des Prozesses mit. Im fremdsprachendidaktischen Kontext sollte daher die Entwicklung der lexikalischen Wissensbestände und des semantisch-konzeptuellen Systems der Lernenden berücksichtigt werden. Diese Entwicklung der Wissensbestände kann durch die Wahrnehmung und Aufnahme von Informationen beim Lernen gefördert werden. Dies stellt einen der Motivationsgründe für die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit dar.

Die Äußerung, die als sprachliches Signal akustisch wahrgenommen wird, stellt nicht nur das Endprodukt der Sprachproduktion dar, sondern sie erweist sich auch als Ansatzpunkt für das Sprachverstehen. Wie die Sprachproduktion an sich ist der gesamte Prozess der Sprachrezeption in Bezug auf gesprochene und geschriebene Sprache ebenfalls als komplexe kognitive Informationsverarbeitung zu verstehen. Dabei besteht der sprachliche Wahrnehmungs- und Verstehensprozess, der mit dem Schallereignis beginnt und mit der Sachverhaltsvorstellung endet, im Wesentlichen aus der lexikalischen Erkennung und dem Äußerungsverstehen (vgl. Dietrich & Gerwien 2017: 163f.). Sobald die rezipierte Äußerung ein Wort umfasst, beginnen die beiden Schritte, die sich jeweils aus mehreren Prozesselementen zusammensetzen (zur Lautwahrnehmung vgl. beispielsweise McMurray & Jongman 2011; Liberman & Whalen 2000).

Der gesamte Prozess der Worterkennung lässt sich im Allgemeinen in folgende Teilprozesse gliedern: initialer Kontakt, Selektion und Integration (vgl. Dahan & Magnuson 2006: 251f.). Während des Worterkennungsprozesses in seiner Gesamtheit wird eine kognitive Handlung ausgeführt. Da die Beobachtung der Worterkennung von Lernenden keinen Schwerpunkt dieser empirischen Untersuchung darstellt, werden die Worterkennungsprozesse in diesem Kapitel nicht ausführlich diskutiert.2 Für das Verstehen der Äußerung ist die Analyse der Satzstruktur (durch Parser3) zwar erforderlich, aber nicht ausreichend. Damit das Ziel der Erfassung der Äußerungsbedeutung erreicht werden kann, sind eine semantische Interpretation und die Einbeziehung der semantisch aktivierten Informationen bzw. lexikalischen Repräsentationen in die syntaktische Gliederung ebenfalls unerlässlich.

Abb. 2-4:

Das Modell der Sprachverarbeitung4

Sprachrezeption und -produktion können gemeinsam als Untersuchungsgegenstände des Themenkomplexes „Sprachverarbeitung“ analysiert werden aufgrund der Tatsache, dass beide Prozesse in Bezug auf die Wissensbestände eng miteinander verbunden sind. Zudem erweist sich das sprachliche Wissen, das sowohl gespeichert als auch abgerufen werden kann, im Hinblick auf beide Prozesse als dynamisch (vgl. Neumann 2013: 18). Für die beiden Prozesse wird ein Modell von Roche angeführt, mit dem das Sprachverstehen und die Sprachproduktion miteinander in Korrelation gesetzt werden (siehe Abb. 2-4). Auf der linken Seite des Modells befindet sich das Subsystem für das Sprachverstehen und auf der rechten Seite wird der Prozess der Sprachproduktion illustriert. Das Sprachverstehen vollzieht sich im Wesentlichen (jedoch nicht ausschließlich) als Bottom-up-Prozess. Die wahrnehmbare Sprache wird durch den Parser im Monitor registriert und in eine Nachricht transformiert. Danach geht sie als Input in das System ein, durch welches das Verstehen der Äußerung ermöglicht wird. Beispielsweise wird beim Hören in erster Linie mit der Wahrnehmung verschiedener Laute begonnen und nach der Identifizierung der Lauteinheiten kommen mehrere Teilsysteme in Gang. Dabei wird in dem Teilsystem, dem das mentale Lexikon zugänglich ist, der Prozess der Worterkennung initialisiert. Ein weiteres Teilsystem ist zuständig für die Analyse der syntaktischen Beziehungen zwischen den Wörtern und wiederum ein anderes Subsystem steht für die semantische Interpretation zur Verfügung. Zur Erfassung der akustisch wahrgenommenen Äußerungen tragen unter anderem das enzyklopädische Wissen, der Kontext und das Situationswissen entscheidend bei, insbesondere in dem Fall, dass ein Homonym oder ein Polysem in einem gegebenen Satz vorkommt. Hinsichtlich der Polysemie kann unter anderem der folgende Satz als anschauliches Beispiel betrachtet werden: Die Straße wird innerhalb von neun Wochen ausgebaut. Ohne Berücksichtigung von Kontext oder Diskurssituationswissen ist diese Äußerung nicht ohne Verzögerung eindeutig zu verstehen. Bezüglich des Kernstückes der Äußerung sind mindestens drei Interpretationen in Betracht zu ziehen, die im Folgenden kurz angedeutet werden sollen: (1) Die Straße wird (möglicherweise aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens) erweitert; (2) Die Straße wird (möglicherweise wegen ihres schlechten Zustandes) instandgesetzt; (3) Die Straße wird (möglicherweise zu einem Weg, der für andere Zwecke zur Verfügung stehen soll) umgestaltet. Durch Einbeziehung des Kontexts und des Situationswissens kann ein schneller Zugriff auf die jeweils passende Bedeutung der Äußerung gewährleistet werden, die im mentalen Lexikon gespeichert ist, oder es wird gegebenenfalls ein zügiger Ausschluss der unpassenden semantischen Aspekte vorgenommen. Zudem gilt dies auch für die Festlegung einer eventuell für den Beispielsatz relevanten temporalen Angabe bzw. für die Berücksichtigung zeitlicher Faktoren.

Anders als beim Sprachverstehen wird bei der Sprachproduktion, die im Wesentlichen (jedoch nicht ausschließlich) als Top-down-Prozess verläuft, ein abstraktes „inneres“ Konzept bzw. eine Sprechabsicht in ein konkretes und wahrnehmbares Konzept transformiert. Beispielsweise beginnt beim Sprechen die Sprachproduktion mit der Konzeptualisierung einer Nachricht. Hierbei werden die für die Verbalisierung relevanten Informationen selektiert und organisiert, was sowohl von der Konzeptualisierung als auch vom Sprachsignal beeinflusst werden kann. Da die Sprachproduktion prinzipiell von der Wahrnehmung der umweltspezifischen Kontextfaktoren abhängig ist, erfolgt darüber hinaus eine Verknüpfung dieser Konzeptualisierung mit dem aktuellen Situationswissen des Sprechenden. Hinzu kommen noch das Weltwissen und das prozedurale Wissen, in deren Rahmen unter anderem diverse Kenntnisse bezüglich spezifischer Diskursmuster und Sprachhandlungsprinzipien verankert sind. Der abstrakte Sprechplan stellt das Produkt des Konzeptualisierungsprozesses dar. Bei diesem Sprechplan handelt es sich um eine präverbale Nachricht, die als Input in die sich anschließenden Verarbeitungsprozesse eingeht. Für die erfolgreiche Umsetzung der Sprechabsicht in einen konkreten Sprechplan erweist sich das Modul des Formulators als zentral, durch welchen die präverbalen Strukturen der Nachricht in Sprache transformiert werden. Basierend auf dem Formulator, der über einen Zugang zum mentalen Lexikon verfügt, erfolgen die Aktivierung des lexikalischen Wissens und die Vorbereitung für die Selektion der Wörter bzw. für den lexikalischen Zugriff. Im Anschluss daran wird im Formulator die grammatische Kodierung vorgenommen, wobei syntaktische Spezifikationen der lexikalischen Repräsentationen aus dem mentalen Lexikon zur Generierung eines syntaktischen Rahmens aktiviert werden. Parallel dazu wird der Äußerungsplan generiert, in dessen Rahmen die präverbale Äußerung phonologisch kodiert wird. Im Prozess der phonologischen Kodierung wird allen zu verbalisierenden Elementen eine äußere Form zugewiesen, was unter anderem nicht nur die Phoneme, sondern auch die Intonation und die Flexion betrifft. Als Produkt dieser Prozesse wird im Formulator ein phonetischer Plan erzeugt, der schließlich im Artikulator in konkrete wahrnehmbare Sprache transformiert wird. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass alle Teilprozesse der Sprachproduktion permanent durch den Monitor kontrolliert werden. Basierend auf dem wahrgenommenen Sprachsignal gleicht der Monitor beim Sprachverstehen die Intention des Sprechenden mit den Elementen der zu verbalisierenden Äußerung ab. Des Weiteren wird sichergestellt, dass bei einem potenziellen Fehler im Ablauf, beispielsweise bei einem Widerspruch oder bei einer Abweichung zur Sprechabsicht, nach einer entsprechenden „Alarmierung“ eine Korrekturoperation in Gang gesetzt wird (eine ausführliche Darstellung vgl. Roche 2020: 81-88).

Das Modell kann als eine ausführlich erweiterte Darstellung im Hinblick auf die Sprachverarbeitung angesehen werden. Dabei werden verschiedene Wissensarten konkretisiert, die für eine sprachliche Handlung erforderlich sein könnten. Nach diesem Modell lässt sich ableiten, dass die Kommunikation einen zirkulären Prozess von Sprachrezeption und Sprachproduktion darstellt, wobei das mentale Lexikon an allen Teilprozessen der Sprachverarbeitung einschließlich der Konzeptualisierung miteinbezogen ist. Was auffällt, ist, dass eine Verbindung zwischen dem mentalen Lexikon und dem Konzeptualisator (in der Sprachproduktion) im Modell zu sehen ist. Basierend auf den oben erwähnten Modellen ist zusammenfassend zu erkennen, dass nicht nur semantisches Wissen von Wörtern an der Realisierung einer Sprechabsicht oder einer Wahrnehmung der sprachlichen Signale beteiligt ist und die Sprachverarbeitung eine hoch komplexe Strukturierung aufweist. Hierbei ist auffällig, dass das mentale Lexikon in der Sprachverarbeitung eine zentrale Funktion übernimmt. Die Relevanz des mentalen Lexikons in der Sprachverarbeitung ist durch die grafische Darstellung eindeutig veranschaulicht. Sowohl für die Sprachproduktion als auch für das Sprachverstehen ist der Zugriff auf das mentale Lexikon unerlässlich. Für die erfolgreiche Sprachverarbeitung ist auch eine Kombination des mentalen Lexikons mit vielen Kenntnissen in verschiedener Hinsicht erforderlich.

Nach der Darstellung der Funktionsweise des mentalen Lexikons wird somit der Aufbau des mentalen Lexikons in den Blick genommen (vgl. Kapitel 2.2.2). Im Anschluss daran wird die Integration der Einträge der zweiten Sprache in das mentale Lexikon in Verbindung mit dem gedanklichen Konzept beschrieben (vgl. Kapitel 2.2.3). Da es in der vorliegenden Arbeit um das Deutschlernen geht, werden dabei die Besonderheiten des mentalen Lexikons der chinesischen Deutschlernenden diskutiert (vgl. Kapitel 2.2.4), was die Analyse der Daten der vorliegenden empirischen Untersuchung über das Wortschatzlernen bei chinesischen Deutschlernenden untermauert (vgl. Kapitel 7).

Nicht zuletzt ist im Hinblick auf das Modell von Roche noch kennzeichnend, dass die Aktivierung des mentalen Lexikons ebenfalls berücksichtigt wird. Das mentale Lexikon wird aktiviert, nicht nur wenn eine Person ein passendes Wort für die zwischenmenschliche Kommunikation auswählt und das Wort richtig bzw. kontextgemäß verwendet. Entsprechend des Modells ist zu ersehen, dass das mentale Lexikon auch aktiviert wird, wenn ein Mensch in einer sprachlichen Handlung neben den Ohren durch seine anderen Sinnesorgane (Auge, Nase, Mund und Haut) Reize aus der Umgebung wahrnimmt und diese Reize anschließend an das Gehirn weitergeleitet werden. Zu den Reizen zählen visuell, olfaktorisch, gustatorisch oder taktil wahrgenommene Signale. Am Beispiel der visuellen Wahrnehmung lässt sich sagen, dass auf die Wissensbestände des mentalen Lexikons zugegriffen wird, wenn ein Mensch durch seine Augen die Umwelt wahrnimmt. Das muss nicht unbedingt in einer zwischenmenschlichen kommunikativen Situation passieren. Der Zugriff kann ein Abruf einer spezifischen Information aus dem mentalen Lexikon sein. Es ist auch denkbar, dass ein visuell wahrgenommener Reiz das mentale Lexikon eines Menschen aktiviert und der Reiz als eine Repräsentation in die Wissensbestände des mentalen Lexikons eingetragen wird. In der Sprachproduktion ruft der Konzeptualisator bei Bedarf nachträglich diesen Eintrag ab, um eine Sprechabsicht auf der gedanklichen Ebene zu generieren. Dies stellt die theoretische Grundlage für die empirische Untersuchung im Hinblick auf die Beobachtung der Augenbewegungen der Lernenden und ihre Wörternetze dar, welche das mentale Lexikon der Lernenden visualisieren können.

2.2.2Aufbau des mentalen Lexikons und Struktur lexikalischer Einheiten

Unter Berücksichtigung der obigen Darstellungen bezüglich der Sprachverarbeitung ist zu erkennen, dass der lexikalische Zugriff aus dem mentalen Lexikon bei der Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen eine zentrale Rolle spielt. Im Alltag lässt sich beobachten, dass eine Person als erfahrener Sprachbenutzer im Wesentlichen in der Lage ist, eine Vielzahl von Wörtern einer Sprache nicht nur unter einem einzelnen lexikalischen Aspekt, sondern unter diversen Aspekten angemessen zu verwenden. In diesem Zusammenhang ist deutlich zu erkennen, dass es nicht nur semantisches Wissen von Wörtern im mentalen Lexikon gibt, wie die oben angeführten Modelle zeigen. Angesichts dessen stellt sich hierbei eine Frage, die für die vorliegende Arbeit von großem Interesse ist: Aufgrund welcher strukturellen Charakteristika des mentalen Lexikons ist es möglich, dass verschiedene Kenntnisse und die lexikalischen Informationen im mentalen Lexikon zur Realisierung der Kodierungen und Dekodierungen sprachlicher Äußerungen adäquat abgerufen werden können?

Frühe Modelle des lexikalischen Zugriffs gehen auf den Frequenzeffekt (vgl. Oldfield & Wingfield 1965) zurück, wonach häufig gebrauchte Wörter schneller produziert und identifiziert werden können als weniger häufig verwendete Wörter. In Anbetracht der auf diesem Effekt basierenden Modellierung wird hinsichtlich der Struktur des mentalen Lexikons postuliert, dass die Wörter im mentalen Lexikon nach ihrer Verwendungshäufigkeit in einer Art Liste absteigend angeordnet sind.1 Dieser Vorstellung steht die Annahme gegenüber, dass das mentale Lexikon über eine netzwerkartige Struktur verfügt. In diesem Zusammenhang stellt jede Spezifikation eines Wortes einen Knoten dar, der mit anderen Knoten dieses Netzwerks in Verbindung steht. Unter Bezugnahme auf die Theorie über die Aktivierungsausbreitung kann ein Informationsfluss im Prozess der Sprachverarbeitung entlang der Verbindungen über die Knoten stattfinden.

Diese Modelle wurden von der Informationsweiterleitung im Gehirn inspiriert, bei der untereinander verbundene Nervenzellen mithilfe elektrischer Signale miteinander kommunizieren. In einem Netzwerkmodell stellt jeder Knoten eine Repräsentation eines Wortes oder einer Worteigenschaft dar. Entlang der Verbindungen kann Aktivierungsenergie fließen. Überschreitet die Aktivierungsenergie eines Knotens einen bestimmten Schwellenwert, so wird dieser Knoten ausgewählt. Das heißt, er steht nun zur weiteren Verarbeitung im Sprachproduktions- oder Sprachverstehensprozess zur Verfügung. In einigen dieser Modelle besitzen Knoten, die häufige Wörter repräsentieren, ein höheres Ruhepotenzial als Knoten, die seltene Wörter repräsentieren. Der Frequenzeffekt wird in diesen Modellen so erklärt, dass weniger Aktivierungsenergie nötig ist, um den Schwellenwert für ein hochfrequentes Wort zu überschreiten als für ein niedrigfrequentes Wort. (Spalek 2012: 57)

Da die inhaltliche Anordnung der Einträge des mentalen Lexikons anders strukturiert ist als die entsprechende Anordnung in Wörterbüchern, findet bei der Beschreibung des Aufbaus des mentalen Lexikons häufiger der fachliche Ausdruck „lexikalische Einheit“ anstatt des Ausdrucks „Wort“ Verwendung, wobei eine lexikalische Einheit einen Eintrag im mentalen Lexikon darstellt. Die von einer lexikalischen Einheit repräsentierten Informationen lassen sich zunächst in einer vertikalen Dimension in drei Repräsentationsebenen gliedern, was anhand der folgenden schematischen Darstellung veranschaulicht werden kann (Abb. 2-5).

Abb. 2-5:

Darstellung der vertikalen Gliederung einer lexikalischen Einheit im mentalen Lexikon2

Wenn das vorliegende Modell unter Berücksichtigung der semiotischen Theorie in Kombination mit den Modellen der Sprachverarbeitung betrachtet wird, wird ersichtlich, dass die Bedeutung eines Wortes und sein Ausdruck sowie der von ihm repräsentierte Gegenstand in diesem Modell über das mentale Lexikon weitgehend detailliert veranschaulicht werden. Für die Umsetzung einer Sprechabsicht entwickelt sich eine lexikalische Einheit auf der gedanklichen Ebene durch Konzeptualisierung und durch grammatische und phonetische Kodierung zu einem Wort. Durch die Grafik wird verdeutlicht, dass sich die konzeptuelle Ebene auf die (semantische) Bedeutung einer lexikalischen Einheit und auf die von der lexikalischen Einheit referierte Vorstellung bezieht. Auf der zweiten Ebene („Lemma-Ebene“) geht es um morphologische und syntaktische Informationen, also beispielsweise um Wortarten, Valenz von Verben oder die syntaktische Funktion, die ein Nomen im Satz übernimmt. Auf der dritten Ebene („Form-Ebene“) werden die lautlichen Informationen kodiert, die sowohl phonologische als auch orthographische Spezifikationen einer lexikalischen Einheit enthalten. Angesichts der Tatsache, dass alle lexikalischen Einheiten parallel dazu noch miteinander verknüpft werden, gelangt eine horizontale Vernetzung der lexikalischen Einheiten im gesamten mentalen Lexikon zur Anwendung (vgl. Dietrich & Gerwien 2017: 30), was zeigen kann, dass sich die holistische Struktur aller lexikalischen Einheiten als netzwerkartig erweist. Im Zusammenhang mit der Funktionsweise des mentalen Lexikons ist ferner anzumerken, dass ein Wort nicht als Gesamteinheit im mentalen Lexikon verankert wird. Dies bedeutet, dass sich die Informationen und Spezifikationen der verschiedenen Ebenen einer lexikalischen Einheit eng miteinander verbinden, jedoch parallel zueinander und separat in der Gedächtnisstruktur gespeichert werden. Basierend auf einer solchen Differenzierung ist zu erklären, warum eine lexikalische Einheit bei der Sprachproduktion oder der Sprachrezeption unter Umständen nicht vollständig bzw. nur partiell erfolgreich abgerufen wird. Im Rahmen experimenteller Befunde bezüglich der Unterscheidung von Form und Bedeutung wurden Beobachtungen an Patienten mit Hirnschädigungen angestellt. In einer entsprechenden Untersuchung konnte verifiziert werden, dass diese Patienten trotz der Registrierung der Bedeutung der betreffenden Objekte die entsprechenden Bezeichnungen nicht artikulieren konnten (vgl. Damasio et al. 1996). Ergänzend sind noch Beobachtungen an zerebral gesunden Personen zu berücksichtigen. In unterschiedlichen alltäglichen Sprechsituationen begegnet häufig der Umstand, dass bei zerebral gesunden Personen beispielsweise beim Sprechen ein bekanntes Wort „auf der Zunge liegt“, welches diese Personen semantisch ohne Schwierigkeiten interpretieren können und zu welchem sie sogar Synonyme oder Antonyme aufzuzählen befähigt sind. Dennoch sind sie nicht in der Lage, das betreffende Wort (vollständig) zu artikulieren. Dieses Phänomen wird in der Fachliteratur als TOT-Zustand bezeichnet (Englisch: tip of the tongue) (vgl. beispielsweise Brown & McNeill 1966; Ecke 2009). Dies kann im Hinblick auf die Wortproduktion möglichweise darauf hindeuten, dass eine lexikalische Einheit im mentalen Lexikon bei der Wahrnehmung nicht vollständig eingetragen worden ist (vgl. Brown & McNeill 1966: 335). Der TOT-Zustand ist bei bilingualen Personen (im Vergleich zu monolingualen Personen) häufiger anzutreffen (vgl. Ecke 2009: 192-195).

Abbildung 2-5 zeigt zudem, dass das Lautbild eines sprachlichen Zeichens bzw. die Informationen zum grafischen und lautlichen Gehalt einer lexikalischen Einheit auf der Form-Ebene kodiert werden. Auf dieser Ebene lassen sich die lexikalischen Informationen abrufen, die bei der phonologischen Kodierung im Prozess der Sprachproduktion oder bei der phonologischen Dekodierung im Prozess der Sprachrezeption zum Tragen kommen. Diese Informationen beziehen sich hauptsächlich auf den morphologischen Aufbau eines Wortes, die silbische Form und die lautlichen Segmente, die bei Bedarf abgerufen werden können. Auf der Lemma-Ebene der lexikalischen Einheiten in dem mentalen Lexikon finden sich die lexikalischen Informationen, die relevant für Arbeitsschritte in Bezug auf die grammatische Kodierung oder Dekodierung im Prozess der Sprachverarbeitung sind. Mit diesen Informationen sind Sprachbenutzende daher in der Lage, nicht nur einen grammatisch korrekten Satz zu generieren, sondern es ist auch möglich, einen grammatischen Fehler in einem Satz identifizieren zu können. Die syntaktischen Informationen schließen in erster Linie die Wortkategorie ein, wozu auch die Informationen zählen, die in einer engen Verbindung mit den Informationen der Form-Ebene stehen und Einfluss auf die Wortform ausüben. Auf der sogenannten konzeptuellen Ebene lassen sich hauptsächlich semantische Informationen der lexikalischen Einheiten abrufen, auf deren Basis jeweils spezifische Relationen zwischen Sprache und Welt angedeutet werden können. Hierbei kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Wörter bzw. die lexikalischen Einheiten im mentalen Lexikon nicht nur auf konkrete Gegenstände referieren können, sondern auch dazu beitragen, (hoch) abstrakte Sachverhalte in der Wirklichkeit bzw. im Weltwissen zu bezeichnen. All dies konvergiert mit der Vorstellung über Wörter als sprachliche Zeichen, was bedeutet, dass die Bedeutungen der Wörter bzw. die semantischen Informationen der lexikalischen Einheiten grundlegend für die Referenz auf außersprachliche Begriffe sind und sich sogar eine identische lexikalische Einheit in unterschiedlichen Kontexten semantisch um nur eine Nuance unterscheiden kann.

In diesem Zusammenhang ist angesichts der netzwerkartigen Struktur der Gesamtheit lexikalischer Einheiten im mentalen Lexikon unter der holistischen Perspektive davon auszugehen, dass eine lexikalische Einheit als Ansatzpunkt bei der Sprachverarbeitung vielfältige Verbindungen mit anderen Knoten im kognitiven Wissensnetzwerk eingehen kann, was zu unterschiedlichen semantischen Interpretationen der betreffenden Einheit führen kann. Da in verschiedenen Sprachen die semantischen Charakteristika außersprachlicher Objekte und Sachverhalte in unterschiedlicher Weise kodiert sind (vgl. Dietrich & Gerwien 2017: 37), kann angenommen werden, dass ein gleiches Konzept bzw. ein identischer Sachverhalt in zwei Sprachen auf unterschiedliche Weise ausgedrückt wird. Beispielsweise wird eine elektronische Rechenanlage als Gegenstand, der im Deutschen mit einem einfachen Wort „Computer“ zum Ausdruck gebracht wird, im Chinesischen mit einem aus zwei Schriftzeichen bestehenden sprachlichen Ausdruck bezeichnet: 电(diàn)脑(nǎo). Dieser Ausdruck ist bei wörtlicher deutscher Übersetzung mit dem Ausdruck „elektronisches Gehirn“ wiederzugeben. Komplikationen können sich in diesem Bereich in Bezug auf die Kollokationen von Wörtern ergeben, was im Folgenden mit zwei einfachen Beispielen in den Sprachen Deutsch und Chinesisch anschaulich verdeutlicht werden kann. Zum Thema „Essen und Trinken“ wird die deutsche Äußerung „Suppe essen“ im Chinesischen mit der Phrase „喝(hē)汤(tāng) [Suppe trinken]“ verbalisiert. Als weiteres Beispiel ist das Verb für eine visuelle Wahrnehmung im Chinesisch „看(kàn)“ zu nennen. Das chinesische Verb wird generell als Entsprechung des Wortes „schauen“ oder „sehen“ betrachtet. Ein Beispiel stellt die Phrase „看(kàn)手(shǒu)机(jī)“ mit dem Verb „看(kàn)“ dar, deren direkte Übersetzung „Handy schauen“ ist. Allerdings ist die Verwendung der direkten Übersetzung nicht deckungsgleich. Dazu wäre die Formulierung „auf das Handy schauen“ genauer und authentischer, wobei das Verb „schauen“ als ein intransitives Verb verwendet wird. Basierend darauf kommt noch die chinesische Phrase „看(kàn)消(xiāo)息(xi) [Nachrichten]3“ als ein weiteres Beispiel hinzu, die ins Deutsche „Nachrichten (auf dem Handy) sehen“ wörtlich übersetzt werden kann. Jedoch sollte hierbei entsprechend dem Sprachgebrauch das deutsche Verb „lesen“ anstatt des Verbs „sehen“ verwendet werden. Das deutsche Verb „lesen“ wird allerdings in den meisten Fällen durch ein anderes chinesisches Äquivalent [„读(dú)“] verstanden. Im chinesischen Äquivalent „读(dú)“ liegt im Vergleich mit dem „看(kàn)“ eher eine analytische Handlung verborgen. Daher bezieht sich die Phrase „读(dú)消(xiāo)息(xi)“ darauf, dass man die exakten Inhalte der Nachrichten zu begreifen versucht. Im Vergleich dazu wird durch die Phrase „看(kàn)消(xiāo)息(xi)“ generell ein Lesevorgang (oder in manchen Situationen das Verstehen der allgemeinen Inhalte) beschrieben. In diesem Zusammenhang kann die deutsche Phrase „Nachrichten lesen“ nicht direkt übersetzt werden. Obwohl die direkte Verwendung der entsprechenden Äquivalente den Fluss der Kommunikation nicht stark beeinträchtigen könnte, ist für die chinesischen Deutschlernenden deutlich zu erkennen, dass das ausschließliche Aneignen der Bedeutung der Wörter für die sprachlichen Handlungen, besonders für die Sprachproduktion, nicht ausreichend ist.

Anhand dieser Beispiele kann angenommen werden, dass verschiedene Verbindungen zwischen den lexikalischen Einheiten zweier Sprachen im mentalen Lexikon bestehen könnten. Solche Verbindungen können den Menschen bei den sprachlichen Handlungen in einer zweiten Sprache oder in der Fremdsprache helfen, außerdem können einige Verbindungen in manchen Fällen auch leicht zu Sprachfehlern führen. Daher ist es von Interesse, wie kompliziert das bilinguale oder mehrsprachige mentale Lexikon im Gehirn aufgebaut ist, was im Folgenden erläutert wird. Dabei wird das Verhältnis zwischen den lexikalischen Einträgen aus zwei oder mehreren Sprachen diskutiert, was die theoretische Grundlage für das Design und die Analyse der empirischen Forschung darstellt (Kapitel 6 und 7).

2.2.3Erwerb des L2-Lexikons und dessen Verhältnis zum L1-Lexikon

Wie in Kapitel 2.2.1 beschrieben, spielt das mentale Lexikon in der Sprachverarbeitung eine zentrale Rolle, deshalb stellt sein Erwerb in der Spracherwerbsforschung ein wichtiges Thema dar. Zur theoretischen Analyse und zur Beobachtung des Lexikonerwerbs mit diesem Themenkomplex werden diverse Forschungen durchgeführt (vgl. beispielsweise Stork 2003; Pavlenko 2009; Kersten 2010; Nezhad Masum 2012), durch deren Resultate ein wichtiger Beitrag zu weiterführenden Untersuchungen der Grundlagen der Wortschatzarbeit geleistet werden, insbesondere im fremdsprachlichen didaktischen Kontext. Angesichts der Tatsache, dass eine Fremdsprache in den meisten Fällen nach dem Erwerb der Erstsprache bzw. Muttersprache erlernt wird, ist es daher unerlässlich, vor der Erläuterung des Wortschatzerwerbs in der L2 bzw. Zweit- oder Fremdsprache zunächst kurz auf den Erstspracherwerb bzw. den kindlichen Spracherwerb im Falle der Einsprachigkeit einzugehen.

Beim kindlichen Spracherwerb wird die Erstsprache im Grunde primär akustisch wahrgenommen, was dazu führt, dass die phonologischen Komponenten der Wörter zuerst mental aufgenommen und gespeichert werden. Gemeinhin werden die Wortformen seitens der Kinder beispielsweise mit Unterstützung ihrer Eltern aus dem rezipierten Lautkontinuum isoliert, wodurch allmählich stabile phonologische Repräsentationen der Wörter im mentalen Lexikon aufgebaut werden. Mit zunehmendem Alter entwickelt sich das logische Denken und aufgrund der fortschreitenden analytischen Fähigkeit können die Wörter und ihre jeweiligen Wortbedeutungen bei mehrmaliger Registrierung bzw. Wahrnehmung mental zugeordnet werden. Im nächsten Schritt des L1-Erwerbs erfolgt die Aneignung der dazugehöriger syntagmatischen Verwendungsweisen der Wörter. Basierend darauf besteht die Möglichkeit, dass eine sogenannte Sprechabsicht in einen aus mehreren Wörtern bestehenden sprachlichen Ausdruck transformiert wird. In Bezug auf die Wortform ist hervorzuheben, dass die graphematischen Repräsentationen im mentalen Lexikon mit dem Schriftspracherwerb bei den Kindern aufgebaut werden können. Die Verbindungen zwischen den graphematischen Informationen der lexikalischen Einheiten und den Wortbedeutungen sind auf verschiedene Arten herstellbar, zum Beispiel durch Lesen, durch Nutzung des Kontexts oder durch Text-Bild-Zusammenhänge.