Wortrausch - Mareike Milz - E-Book

Wortrausch E-Book

Mareike Milz

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Beschreibung

Der kontrollierte Gutmensch trifft auf das leichtfüßige Arschloch, die Egozentrikerin auf den Altruisten und der suchend Abhängige auf die verlorene Gläubige. Drei ungleiche Paare, sechs gegensätzliche Leben. Doch was geschieht, wenn uns die Liebe wie ein Komet trifft und alles für immer verändert? Zwischen Kontrolle und Loslassen, Dominanz und Fügung, Sucht und Dogmen vermag sie offenbare Gegensätze zu vereinen.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für Natalie,

Freunde wie du sind eine wahre Seltenheit.

Danke für dich und die unermüdliche Verbreitung meiner Werke.

Nicht die Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten

bringen uns in dieser Welt einen Schritt voran,

sondern die krassen Gegensätze.

Und die Gegensätze des Universums sind allesamt

in jedem von uns vorhanden.

ELIF SHAFAK

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

JASPER

ANNA

RALF

GERDA

JASPER

ANNA

RALF

NELE

JASPER

SOPHIE

GERDA

ANNA

JASPER

RALF

ANNA

JASPER

HANS

ANNA

RALF

ANNA

JASPER

SOPHIE

ANNA

JEANETTE

JASPER

LISBETH

SOPHIE

RALF

ANNA

JASPER

TOM

ANNA

RALF

SOPHIE

ANNA

TOM

JASPER

ANNA

RALF

TOM

JASPER

SOPHIE

LEON

ANNA

JASPER

RALF

ANNA

LUI

SOPHIE

ANNA

LISBETH

JASPER

RALF

ANNA

TOM

LISBETH

JASPER

SOPHIE

RALF

ANNA

LISBETH

JASPER

RALF

SOPHIE

ANNA

JASPER

LISBETH

GERDA

JASPER

DR. PATRO

RALF

ANNA

JASPER

LISBETH

RALF

EPILOG

QUELLENVERZEICHNIS

DANKSAGUNG

ÜBER MICH

UNTERSÜTZE MICH

PROLOG

Zerrissen blicke ich auf die Tasse lauwarmen Instantkaffee in meiner Hand, deren Inhalt dank meines nervösen Zitterns unter oberflächlichem Wellengang leidet. Seit geschlagenen dreißig Minuten sitze ich nun hier, in mir selbst erstarrt und vollkommen unfähig, mich endlich meiner Heilung zu widmen bzw. dem, was mir dazu aufgetragen wurde.

Ein beträchtlicher Teil meiner Selbst wehrt sich so vehement, dass mir schon bei dem bloßen Gedanken daran der Schweiß ausbricht. Selbstsabotage dringt aus jeder einzelnen meiner Poren und ich fühle mich vollkommen unfähig, etwas dagegen zu unternehmen.

Das hier ist doch sinnlos! Was soll das denn bringen? Als könnte eine so hirnrissige Idee wirklich meine allgegenwärtige Zerrissenheit auflösen. Als könnte das überhaupt irgendetwas…

Das, was schon immer war, wird auch immer sein. So ist das eben.

Doch mitten in diese Überzeugung hinein passiert plötzlich etwas ausgesprochen Seltsames in mir oder vielmehr außerhalb meiner selbst. Von einem Moment auf den anderen dissoziiere ich mich aus meinem zittrigen, gelähmten Körper. Wie der Rauch die Zigarette, verlasse ich meine Materie und blicke nunmehr ungläubig (wer kann es mir verdenken?) auf sie herab.

Erstaunt, doch groteskerweise ohne jedwedes Unbehagen, beobachte ich nun meinen Körper dabei, wie er sich erst einen Schluck des lauwarmen Kaffees einverleibt und dann wahrhaftig beginnt, was Frau Breitner mir schon so lange ans Herz gelegt hat.

JASPER

Köln, 22. April 2019

Ich lache laut auf, ohne überhaupt zugehört zu haben, was Ralf gesagt hat. Das passiert mir irgendwie recht häufig die letzte Zeit. Das einfältige Lächeln, das darauf folgt, zeigt mir jedoch, dass ich mit meiner Reaktion nicht allzu falsch gelegen habe. Ein Glück, dass Ralfs Gesichtszüge so leicht deutbar sind.

»Gib her, Alter«, lasse ich meinen Gedanken folgen und warte geduldig, bis Ralf mir die Tüte reicht.

Genüsslich inhaliere ich den Qualm, wohlig vergessend, im Sein herumtreibend. Während ich immer tiefer in den Rausch und ebenso in mein Sofa hineinsinke, beschleicht mich plötzlich das unangenehme und doch vertraute Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben.

»Meinst du echt, dass es ne gute Idee ist, so dicht zu sein, wenn Milan gleich das Zeug bringt?«, wirft Ralf da schon ein und die Art, wie er mich dabei ansieht, gefällt mir ganz und gar nicht.

»Alter, ich kann bestens selbst entscheiden, was ich für ne gute Idee halte und was nicht, dafür brauch ich dich Vollidioten ganz bestimmt nicht!«

Ralf zieht den Kopf ein, als hätte ich ihm eine verpasst und wendet den Blick ab.

Ja scheiße! Milan kommt gleich. Und der sieht das ganz bestimmt nicht gern, wenn ich hier so dicht mit Ralf rumhänge. Das sieht irgendwie mal so gar nicht nach ner großen Nummer aus, sondern vielmehr nach nem ziemlich winzigen Fisch.

Ich reiche Ralf, der seinen Blick immer noch auf den Parkettboden heftet, den Rest der Tüte, springe auf und verzieh mich ohne ein weiteres Wort ins Badezimmer. Im Spiegel betrachte ich meine eingefallenen Wangen und die geröteten Augen, die aussehen, als wäre ich kurz davor einzuschlafen. Fuck man!

Schnell spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und fummele ungelenk die Augentropfen aus der Tasche meiner Anzughose hervor. Gekonnt benetze ich beide Augäpfel vorsichtshalber mit gleich drei Tropfen, was nur zur Folge hat, dass sie mir gleich wieder hinauslaufen und ich nun auch noch aussehe, als würde ich heulen.

»Scheiße!«, entfährt es mir, während ich mir die Wangen trockne und dann etwas zeitverzögert zum eigentlichen Impuls mit der flachen Hand gegen die Fliesen haue.

Jetzt ist es Zeit klarzukommen. Und zwar dringend!

Einen gefühlt langen Moment überlege ich, bevor ich mich dafür entscheide, auf Nummer sicher zu gehen. Milan darf auf keinen Fall ein falsches Bild von mir bekommen! Wenn ich mit den Großen pissen will, muss ich mich nun mal entsprechend verhalten.

Mit flinken Fingern erwische ich den Dosierer, der sich stets in derselben Tasche wie die Augentropfen befindet und gönne mir eine ordentliche Portion Selbstwertgefühl und Energie.

Wie ausgewechselt betrete ich wieder das Wohnzimmer. Da klingelt es schon. Keinen Moment zu früh. Ich stecke mir mein Hemd in die Hose und durchquere den Flur Richtung Haustüre mit raschen Schritten. Schwungvoll öffne ich Milan die Tür. Dieser beäugt mich kritisch, während ich wiederum das Päckchen unter seinem Arm registriere und den abklingenden Knutschfleck, den sein Kragen nur halbherzig verdeckt. Seine Lippen kräuseln sich, bevor er ohne Gruß an mir vorbeirauscht, wohlwissend, dass ich ihm folgen werde. Es fällt mir schwer diese Art des Miteinanders zu akzeptieren - gerade jetzt - aber was soll ich schon machen? Er sitzt aktuell nun mal am längeren Hebel. Betont lässig schlendere ich ihm also hinterher. Ralf sitzt immer noch genauso da, wie ich ihn eben verlassen habe, nur dass jetzt eine Spur von Unruhe dank seines wippenden Beins zu erkennen ist.

Abschätzig blickt sich Milan im Raum um, bevor er das Päckchen beinahe beiläufig neben Ralf auf das Sofa plumpsen lässt und daraufhin seine linke Hand fordernd in den Raum streckt. Schnell ziehe ich den dafür vorgesehenen, doch leider mittlerweile zerknitterten Briefumschlag aus der Gesäßtasche und überreiche ihn verschämt. Milans Blick verrät mir überdeutlich, dass er kein Interesse an irgendwelchem Gerede oder überhaupt weiterer Zeit mit uns hat also halte ich einfach die Klappe. Er schnappt sich die Kohle, stößt einen verächtlichen Laut aus, macht dann auf dem Absatz kehrt und verlässt mein Appartement.

Scheiß Snob!

Fahrig und irritiert streife ich im Wohnzimmer nun auf und ab. Ralf beobachtet mich dabei mit offenem Mund. Seine Lippen zittern leicht und er holt immer wieder kurz Luft, als wolle er etwas sagen, sei sich der Worte jedoch nicht gewiss. Und so verharren wir eine Weile einfach - ich schreitend, er einfältig dreinblickend.

Irgendwann durchbricht seine zittrige Stimme die Stille: »Ich mache mir Sorgen um dich man.«

Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Den Atem halte ich an, während sich meine Hände unwillkürlich zu Fäusten ballen und mich eine niederreißende Welle der Wut überkommt. Verächtlich schnaube ich und lasse meinen Blick von oben herab über seine knochigen, übereinandergeschlagenen Beine gleiten. Ohne mein Zutun purzeln die Worte einfach aus meinem Mund und schlagen Ralf mit solch einer Wucht ins Gesicht, dass ihm dabei die Kinnlade herunterfällt: »DU Pisser machst dir Sorgen um MICH? Du mickriges Stück Scheiße machst dir also Sorgen um mich? Ich sag dir mal, was ich von deiner verfickten Meinung halte, Alter: Einen Scheiß! Du bist nichts wert, du Loser! Verpiss dich doch wieder in das Drecksloch, aus dem du gekommen bist!«

Mit weit aufgerissenen Augen starrt Ralf mich an, registriert offenbar das Zucken in meinem linken Arm und springt daraufhin alarmiert auf.

Doch als hätte sein Fluchtinstinkt meinen Jagdtrieb nur noch angeheizt, überbrücke ich den Abstand zwischen uns mit nur einem Satz, packe Ralf am Kragen und ziehe in so nah an mich heran, dass ich seinen schalen Bier-Atem riechen kann.

»Willst du mir noch etwas mitteilen?«, flüstere ich bedrohlich.

Ralf schüttelt nur ängstlich den Kopf und sieht dabei noch dümmer aus als sonst.

Einen langen Moment starre ich ihn an, ehe ich ihn angewidert von mir stoße.

»Und jetzt verpiss dich!«, gebe ich das Kommando, woraufhin Ralf flink wie eine Ratte den Raum verlässt.

Regungslos warte ich ab, bis die Wut langsam verebbt. Und dann, als sie nur noch ein blasser Dunst ist, werden auf einmal meine Knie weich. Ich sacke zu Boden, während sich eine einsame Träne ihren Weg über meine Wange bahnt.

ANNA

Köln, 22. April 2019

Ich blicke auf die schmale Armbanduhr, die mit einem Lederband zweifach um mein Handgelenk gebunden ist, beschleunige meine Schritte und versuche zeitgleich den vielen Passanten, die meinen Weg kreuzen, freundlich entgegenzublicken. Auf dem Boden vor dem Eingang sitzt eine Obdachlose mit stecknadelgroßen Pupillen. Ich beuge mich zu ihr herunter: »Hast du Hunger?«

Sie braucht einen ausgedehnten Moment, ehe sie mir ihre entrückte Aufmerksamkeit und daraufhin ein müdes Nicken schenken kann und mir wird klar, dass es wohl leichter für uns beide ist, wenn ich die Essensauswahl übernehme und nicht sie.

»Bin gleich wieder da!«, flöte ich daher, ohne zu wissen, ob meine Worte überhaupt zu ihr durchdringen und verschwinde dann in den Eingangsbereich vom Rewe.

Noch während ich mir einen Korb greife, ziehe ich mein Handy hervor und öffne die Einkaufslisten-App, die ich die vergangenen Tage pflichtbewusst mit nachhaltigen Lebensmitteln versehen habe. Zielsicher steuere ich das unverpackte Obst an, greife nach dem ersten Punkt auf der Liste und rieche an der Orange, die ihr Zitrusaroma wohltuend in meiner Nase entfaltet. Auch für die weiteren drei Orangen, die auf meiner Liste stehen, wiederhole ich den Vorgang und freue mich schon jetzt auf das neue Smoothie-Rezept, das ich morgen früh ausprobieren werde.

Es dauert seine Zeit, bis ich das frische Obst und Gemüse erlesen habe, sowie die Zutaten für den Kohlrabiauflauf, den ich heute Abend für Sophie und mich zaubern werde. Das Abhaken meiner Checkliste in der App bereitet mir dabei zusätzliche Wonne und ich gerate allmählich so in Vergessenheit, dass mir erst in der Kassenschlange wieder einfällt, dass ich noch etwas Essbares für die Obdachlose besorgen muss. Da ich aber schon die Hälfte meiner Einkäufe auf das Band gelegt habe und hinter mir bereits drei weitere Kunden warten, die ich nicht unnötig aufhalten möchte, entscheide ich mich dafür, ihr etwas in der angrenzenden Bäckerei zu kaufen.

Die zwei großen Einkaufstüten über beide Schultern gehangen, einen Latte Macchiato in der einen und eine Tüte mit zwei belegten Brötchen in der anderen Hand, taumele ich nun wieder aus dem Rewe heraus und zu der Obdachlosen hin. Diese wirkt irgendwie klarer und gleichzeitig gehetzter, während sie dabei ist, ihre Sachen einzupacken. Als ich vor ihr zum Stehen komme, bemerkt sie mich erst gar nicht und es dauert einige Augenblicke, ehe sie mich registriert und wiedererkennt. Dann huscht auf einmal ein breites Lächeln über ihr eben noch angespannt wirkendes Gesicht und sie greift freudig nach meinen Zuwendungen.

»Da hast du dich aber ganz schön beladen für mich!«, kommentiert sie cool, doch ich höre die Rührung in ihrer Stimme deutlich heraus.

»Für dich doch immer gerne«, lächle ich ihr mit einem Augenzwinkern entgegen und frage mich sogleich, ob das Zwinkern nicht vielleicht ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen ist.

Die Obdachlose prostet mir ihren Kaffee entgegen, während ich zügig den Ort des Geschehens verlasse.

Schnaufend öffne ich die Wohnungstür und lasse die zwei Einkaufstüten auf den Boden plumpsen. Vielleicht sollte ich doch besser alle zwei Tage einkaufen gehen, anstatt alle drei... Oder eine Wohnung suchen, die nicht in der fünften Etage eines Wohnhauses liegt, das keinen Aufzug besitzt.

Keuchend schäle ich mich aus der bunt gemusterten Strickjacke und hänge sie sorgsam auf den dafür vorgesehenen zusätzlichen Jackenständer im Flur, der schlicht notwendig ist, dank meinem Fabel für selbstgestrickte Jacken.

Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn und trete vor den weiß geränderten Spiegel. Meine grünen Augen funkeln mir aus ihm entgegen. Ich versuche tief in sie zu blicken und gleichzeitig meine Affirmationen von den drei grünen Post-its abzulesen, die rechts in der Spiegelfläche kleben. Da ich sie gestern erst ausgetauscht habe und sie noch nicht auswendig kenne, ist das gar nicht mal so leicht. Laut und deutlich sage ich meinem Spiegelbild nun also mit ein paar notwendigen Leseunterbrechungen: »Ich liebe und achte mich! Ich bin wertvoll! Ich habe eine glückliche Beziehung verdient!«

Dann schenke ich mir ein gewinnendes Lächeln, zumindest versuche ich es, bin von dem halbherzigen Zähne-Gefletsche aber selbst wenig überzeugt.

›Das wird mit der Zeit besser werden!‹, sage ich mir (dieses Mal nur innerlich) und versuche den leeren Schmerz in meiner Brustgegend zu spüren, ohne mich von ihm einnehmen zu lassen. Da der traurige Blick meines Spiegelbildes allerdings nicht wirklich hilfreich ist, widme ich meine Aufmerksamkeit nun doch lieber den Einkäufen und beginne sie in den wenigen vorhandenen Küchenregalen einzusortieren. Und obwohl ich wirklich total konzentriert und super aufmerksam im Moment bin, taucht auf einmal wieder das Bild von Jan vor meinem inneren Auge auf.

Messerscharf sehe ich sein amüsiertes Lächeln mit den strahlendweißen Zähnen vor mir und fühle erneut seine Worte tief in meinem Inneren. Seinen beinahe beiläufigen und vor allem emotionslosen Tonfall, als er mir sagte: »Hey Süße, das passt für mich halt einfach nicht. Ich brauche meine Freiheit. Das verstehst du doch oder?«

Ich schlucke schwer, ohne dass der Klos in meinem Hals verschwindet. Eigentlich hätte ich das doch kommen sehen müssen. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet habe. Ja doch… das lang ersehnte Happy End…

Ich schüttele meinen Kopf, als könnte ich dadurch die Schwere des Augenblicks einfach wegradieren, sage mir dreimal laut und deutlich, dass ich mich liebe und beginne dann den Auflauf vorzubereiten. Ein ausgiebiges Gespräch mit Sophie heute Abend wird mir bestimmt guttun!

RALF

Köln, 22. April 2019

Mit angehaltenem Atem versuche ich schnellstmöglich die Wohnungstür zwischen mich und Jasper zu bringen. Während meiner Kindheit habe ich mir irgendwie angewöhnt den Atem anzuhalten, sobald eine Situation brenzlig wird. Als wolle ich meinem Gegenüber damit deutlich machen, dass ohnehin kein Lebenszeichen und somit auch keine Gefahr von mir ausgeht. Vollkommen idiotisch, aber Gewohnheit ist eben Gewohnheit.

Erst als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, stoße ich den angestauten Atem aus und mit ihm verlässt mich ebenso ein Teil der Anspannung. Das Ganze hätte bedeutend übler für mich ausgehen können. Wäre nicht das erste Mal gewesen.

Ich könnte es mir leicht machen und einfach meine Klappe halten… aber wäre ich dann wirklich noch ein Freund? Wohl kaum.

Bevor ich mir eine Zigarette drehe, eile ich nahezu in die nächste Seitenstraße, aus Angst, Jasper könnte es sich doch nochmal anders überlegen und mir zwecks einer gewaltigen Lektion nachkommen.

Auch das, wäre nicht das erste Mal.

Nachdem ich also etwas Sicherheitsabstand zwischen ihn und mich gebracht habe, drehe ich mir eine Zigarette und zünde sie genüsslich an. Ich gehöre zu den Rauchern, die das Rauchen lieben. Die Kippe nach dem Aufstehen, nach dem Essen, nach dem Sex (gut, zugegeben gibt es die bei mir eher in seltenen Fällen - nicht, weil ich sie öfter auslasse, sondern weil ich eben nur in Ausnahmefällen Sex habe).

Wo war ich? Ach ja: die Kippe vor dem Schlafen gehen, beim Warten oder die zwischen zwei Tüten. Ich steh einfach drauf und konnte dem Nichtrauchen bislang einfach nichts abgewinnen. Nicht mal für meine Ex. Mit der hatte ich übrigens durchaus Sex. Ab und an zumindest.

Oh, da bin ich aber abgedriftet. Zurück zu Jasper.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken beim bloßen Gedanken an ihn. Jasper macht mir irgendwie Angst. Zu Recht könnte man jetzt fragen, warum ich überhaupt mit ihm befreundet bin und so viel Zeit mit ihm verbringe. Die Antwort ist schlicht: aus Gewohnheit.

Jasper und ich sind Freunde seitdem ich denken kann. Es war immer schon so und wird wohl auch immer so sein, selbst wenn mir die Version, zu der er sich entwickelt hat, nicht sonderlich zusagt.

Die Sache ist einfach die, dass ich ihn kenne wie kein anderer. Ich weiß wie er tickt und daher auch, dass selbst seine Wut nur ein Symptom ist, keine Charaktereigenschaft. Was wäre ich also für ein Freund, würde ich ihn hängen lassen, nur weil es ihm scheiße geht? Jeder geht eben unterschiedlich mit Schmerz um und davon haben wir beide, weiß Gott, genug in uns. Jasper kehrt ihn nach außen, ich nach innen. Was davon wirklich besser ist? Wer weiß das schon!

Die dreißig Gehminuten zu meiner Wohnung dehne ich auf über eine Stunde aus, was wohl dadurch zu erklären ist, dass meine Schritte immer langsamer werden je näher ich ihr komme. Und das wiederum lässt sich wohl dadurch erklären, dass ich eigentlich gar nicht nach Hause will. Zum einen hat dieser Begriff für mich ohnehin niemals eine positive Bedeutung gehabt. Zum anderen kann ich mir im Gegensatz zu Jasper eben keine schicke Bude leisten und diesen Kontrast zu erleben, wenn ich von ihm in mein höchstprivates Loch heimkehre, ist irgendwie jedes Mal total niederschmetternd und frustrierend. Daran scheine ich mich einfach nicht zu gewöhnen.

Während ich nun mit dem Schlüssel in der Hand vor der Haustür verharre, frage ich mich, wie es Jasper jetzt wohl geht. In seinem Blick eben habe ich gesehen, dass ich mit meiner Aussage ziemlich ins Schwarze getroffen habe. Klar. Jasper ist nicht dumm. Er weiß selbst, dass er aktuell und tendenziell steigende Mengen Koks zu sich nimmt. Es mag ja sicherlich sein, dass es Leute gibt deren Charakter das gut tut - Jasper gehört nicht dazu.

Vielleicht liegt es daran, dass er dreißig geworden ist oder so. Da stellt man sich doch langsam mal so Fragen, was man eigentlich mit seinem Leben bislang angefangen hat oder noch anfangen wird. Und das kann man Drehen und Wenden wie man will: Jasper und ich gehören nicht zu den Menschen, die sich solche Fragen stellen sollten. Zumindest nicht gemessen an normalen sozialen Maßstäben.

Ach ja. Der Schlüssel.

Ich stecke ihn ins Schlüsselloch, drehe ihn herum und höre bereits beim Öffnen der Türe die Schreie von Frau Müller, die sie als Erziehungsmittel beinahe inflationär einsetzt. Familie Müller wohnt direkt gegenüber und so bekomme ich eigentlich regelmäßig Einblicke in deren Alltag, für alles andere sind die Wände hier nämlich viel zu dünn. Umgekehrt geht es denen wohl nicht so. Ich bin ja eigentlich kaum zu Hause und wenn, dann bin ich leise. Dummerweise passiert es gelegentlich sogar, wenn Frau Müller mal so richtig die Sau rauslässt, dass ich nicht nur leise in meiner Ein-Zimmer-Wohnung auf dem schäbigen Sofa sitze, sondern gar mit angehaltenem Atem.

Kaum, dass ich die Tür hinter mir geschlossen habe, ziehe ich mir Kopfhörer auf, mache laut Musik an und drehe mir eine fette Tüte. Nach den ersten Zügen angele ich mein Handy aus der Hosentasche und tippe eine Nachricht, lösche sie wieder, tippe sie erneut und schmeiße das Handy dann, ohne die Nachricht abzuschicken, neben mich. Ein paar weitere Male inhaliere ich mein Heilmittel tief in jedes Lungenbläschen hinein, ehe ich das Handy wieder in die Hand nehme und auf ›senden‹ drücke.

GERDA

Köln, 22. April 2019

Das Leben scheint mir oft nur eine Aneinanderreihung immer gleicher Situationen und Begebenheiten zu sein. Als würde die Zeit nicht linear, sondern kreisförmig verlaufen.

So richtet sich jeder von uns einen Alltag ein, der Sicherheit verspricht oder gar fühlen lässt. Doch eigentlich formen wir damit nur unsere persönlichen Lebenskreise. Gewohnheit, Alltag ist der Tod des Lebens. Und obgleich mir das bewusst ist, habe selbst ich mir Routine zu eigen gemacht, meinen kleinen Kreis geformt aus Beschaffen und Berauschen und zwischendurch ein bisschen Sinnieren - so wie jetzt gerade.

Wann mein Leben begonnen hat, sich nur noch um den Rausch zu drehen, kann ich gar nicht sagen. Der Prozess war viel zu schleichend, als dass ich ihn bewusst hätte wahrnehmen können oder zumindest war meine Wahrnehmung zu dem Zeitpunkt von etwas anderem eingenommen.

Aber mal unabhängig davon, wann es begann, so kann ich zumindest ganz klar das große Problem benennen: Drogen kosten Geld. Und je häufiger man Drogen nimmt, desto toleranter reagiert man auf sie - ergo, braucht man immer mehr Geld. Viel zu viel, als dass man es auf legale Weise verdienen könnte. Eine zerstörerische Zwickmühle, die dich nicht nur zum Junkie, sondern postwendend auch noch zur Kriminellen und Obdachlosen macht.

Ganz großes Kino!

Anstatt Menschen wie mir zu helfen, fickt der Staat uns kräftig in den Arsch. Und ich für meinen Teil steh mal so gar nicht auf anal!

Ach was soll‘s, im Großen und Ganzen bin ich recht zufrieden - zumindest, wenn ich genug Stoff habe. Drauf fällt es mir nämlich bedeutend leichter zu vergessen, womit ich den Rausch bezahlt habe. Entsprechend unangenehm ist allerdings das Runterkommen… Ein klarer Geist ist für jeden Junkie die Hölle auf Erden!

Zum Glück bin ich ziemlich geschickt darin, diesen Zustand auf Teufel komm raus zu vermeiden. Das bedeutet zwar mehr Arbeit und viel zu wenig Essen, dafür aber ein angenehmes Level an Wohlbefinden. Ein Deal, den ich gerne eingehe!

Oh. Irgendetwas hat sich gerade verändert. Ich bin mir nicht sicher, was es ist. Angestrengt versuche ich meine Wahrnehmung wieder der Außenwelt zuzuwenden, was gar nicht mal so einfach ist. Rein geht immer leichter als raus!

Unscharf erkenne ich eine Person - ich glaube eine Frau, die sich zu mir herunterbeugt. Mit einer Stimme, die klingt als käme sie aus weiter Ferne, fragt diese nun: »Hast du Hunger?«

Ich schwöre, ich versuche echt aufmerksam zu werden und ihr ins Gesicht zu sehen, weil ich das selbst nämlich total scheiße finde, wenn sich jemand aus zwischenmenschlichen Interaktionen so ausklingt. Aber fuck, es klappt einfach nicht so recht. Es fühlt sich an, als wäre ich halb in mir und halb außer mir. Richtig läbsch!

Das Einzige, das ich zustande bringe, ist ein Nicken und selbst das kostet mich schier übermenschliche Anstrengung.

Wenn alle Menschen mal wüssten, wie viel Kraft es kostet ein Junkie zu sein, dann würden sie einen nicht mehr so von oben herab anblicken. Also ich meine damit natürlich im Sinne von überheblich - von oben herab blicken sie natürlich unausweichlich, zumindest jetzt in meinem Fall, wo ich hier auf dem Boden vor dem Rewe kauere.

Ist echt so. Es gibt ja wirklich einiges, was richtig zum Kotzen ist am Junkie-Leben, aber am allerschlimmsten und das mit ganz, ganz weitem Abstand sind diese angeekelten, hochnäsigen ›Ich-bin-besser-als-du‹- oder noch schlimmer die ›Bist-du-selber-schuld‹-Blicke. Als würde auch nur einer von uns gerne so ein Leben führen. Als hätte ich nicht auch mal was anderes für mich im Sinn gehabt. Als würde ich mir nicht auch so ein abgefuckt langweiliges, spießiges Familienleben wünschen. Aber das Leben hat mir eben andere Karten zugedacht. Und diese scheiß asozialen Pisser, die mich so angeekelt anschauen und ihren Blick dann schnell abwenden, scheinen zu meinen, dass es ihr Verdienst ist, welche Karten sie zugespielt bekommen haben, dabei ist es einfach nur verschissenes Glück!

Oh, da war ich wohl doch nochmal kurz weg. Wo ist die Alte denn jetzt hin? Erst Essen versprechen und sich dann verpissen? Drecksfotze!

Ich versuche wieder in mich zu gehen, aber irgendwie fällt mir das auf einmal gar nicht mehr so leicht. Scheiße, ich glaube ich komme langsam runter. Ich sollte mich gleich besser mal auf den Weg zu Malte machen.

Ein paar Momente, vielleicht sind aus Minuten (wer weiß das schon so genau), lasse ich vergehen und registriere dabei aufmerksam, wie ich immer klarer werde. So klar, dass ich jeden der abschätzigen, angeekelten Blicke wieder wahrnehme und jeder einzelne einen Weg in mein Herz findet. Das war immer schon mein Problem. Ich bin einfach viel zu sensibel für diese Welt. Viel zu empfänglich für andere Menschen. Mir fehlt diese Wand, die mich vor der Außenwelt schützt und die ich nur mit Stoff hochzuziehen vermag.

Als wäre jeder dieser Blicke eine Kugel, beginne ich nun wie ein angeschossenes Reh fluchtartig meine Sachen zusammenzupacken. Und da steht auf einmal wieder diese Frau vor mir. Ich erkenne ihre bunte Jacke, die mir eben gar nicht bewusst aufgefallen ist. Vollbeladen mit Einkäufen streckt sie mir einen Kaffee, sowie eine Tüte vom Bäcker entgegen, während sie versucht das Gewicht der Einkaufstaschen auszubalancieren. Das Ganze sieht ziemlich anstrengend aus und eine Welle der Zuneigung überkommt mich, derweil mir klar wird, dass ich ihr eben Unrecht getan habe mit meiner Schlussfolgerung.

Ich merke, wie mir Tränen in die Augen steigen und ich einen Klos im Hals bekomme. Scheiße man. Es ist einfach so selten geworden, dass ein fremder Mensch etwas so Nettes für mich tut. Das verpacke ich einfach nicht, erst recht nicht mit runtergefahrener Mauer.

»Da hast du dich aber ganz schön beladen für mich!«, ist das Einzige, das ich hervorbringe, inständig hoffend, dass sie nicht hört, wie nah mir das gerade geht. Ist ja affig irgendwie.

»Für dich doch immer gerne«, lächelt diese nun und schon einen Moment später bekommt ihr Gesicht auf einmal einen verunsicherten Zug und sie verschwindet so schnell, dass ich ihr nur noch kurz zum Abschied mit dem Kaffee zuprosten kann.

Unfähig zu etwas anderem, starre ich der Frau noch eine Weile hinterher und versuche meine Emotionalität wieder in den Griff zu bekommen. Unfassbar, wie nett manche Menschen in einer Welt wie dieser sein können.

Es scheint, dass sich die Menschheit nur in zwei Gruppen unterteilen lässt. Jene, die sich dieses Gute bewahren und jene, die von der Welt zerstört werden. Leider hat die zweite Gruppe bedeutend mehr Anhänger - mich eingeschlossen.

Ich werfe einen Blick in die Tüte. Gleich zwei belegte Brötchen! Oh man, was für ein lieber Mensch!

So schnell ich kann packe ich meine restlichen Sachen zusammen, ohne eine der Gaben anzurühren. Dann hetze ich los zu Malte, damit der Kaffee noch warm ist, wenn ich bei ihm ankomme.

JASPER

Köln, 22. April 2019

Es ist die erste Träne seit Ewigkeiten. So wahrscheinlich wie Schnee im Sommer. Viel zu prägend die Dogmen meines Vaters. Wahre Männer weinen nicht. Nein keinesfalls. Das Weinen ist ausschließlich dem weiblichen Geschlecht als Emotionsbewältigung und -ausdrucksform vorbehalten.

Mein Vater, der wohl männlichste Mann von allen, hätte selbst dieser schüchternen, einsamen Träne den Weg in die Außenwelt verwehrt. Ja, ein wahrer Mann ist nämlich ein Tränensammler, ein Tränenfesthalter, unfähig auch nur eine von ihnen loszulassen, gar von sich zu geben. Als würde er, ließe Mann es zu, nicht nur die Träne, sondern mit ihr gleich seine ganze Männlichkeit verlieren. Das Mittel zur Wahl darf also niemals das Weinen sein, sondern - wenn überhaupt - eine kostspielige Flasche Rum.

Manchmal frage ich mich, ob in meinem Vater wohl ein Meer aus Tränen existiert. Denn wie sollten sich all diese niemals herausgelassenen Zeichen von Traurigkeit oder Rührung einfach in Luft und Wohlgefallen auflösen?

Ich hasse die Dogmen meines Vaters!

Und noch viel mehr hasse ich, dass sie es mir unmöglich machen, ich selbst zu sein. Dass sie mich jetzt, just in diesem Augenblick, dazu bringen, mich selbst und diese verfickte, scheiß Träne auf meiner Wange mit Inbrunst zu verabscheuen, während mir zugleich die Schwachsinnigkeit dieser Abscheu auch noch bewusst ist.

Innerlich zerrissen wische ich die Träne mit dem Handrücken fort. Die Feuchte, die noch an sie erinnert, fühlt sich kalt an. Das, was sie symbolisiert, ist Schwäche und ich hasse es, schwach zu sein. Mich hilflos oder gar ohnmächtig zu fühlen. Wer steht da schon drauf?

Vielleicht sollte ich meinen Herrn Vater bei Zeiten mal fragen, wie er es schafft sein Tränenmeer am Auslaufen zu hindern. Nein, diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun. Denn das Maß an Abscheu, das er mir gegenüber empfindet, ist zu verstehen als eine Art kleines Feuer oder sagen wir eher ein mittelgroßes Feuer. Das noch so kleinste Zeichen von Schwäche wirkt auf dieses Feuer wie Spiritus. Zum Glück habe ich dieses Gesetz recht schnell verinnerlicht und eine oberflächliche Kälte im Beisein meines Vaters entwickelt. Und um ganz ehrlich zu sein: Nicht nur im Beisein meines Vaters.

Das hilft mir jetzt gerade allerdings nicht weiter, denn wenn es einmal so weit gekommen ist, brauche ich meinen Vater überhaupt nicht mehr, um mich selbst zu verachten. Das bekomme ich dann wunderbar selbst hin.

Ich verabscheue mich für meine Schwäche und einen kurzen Augenblick verabscheue ich mich sogar für meinen Auftritt eben bei Ralf.

Jetzt reicht es aber. Hier so lächerlich herumzukauern und im Selbstmitleid zu versinken, hilft auch nicht weiter. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, öffne mein Telefonbuch und damit die Auswahl an Optionen, die durchaus hilfreich sein könnten.

Erst kann ich mich nicht entscheiden, dann wähle ich aber ›Bückstück 3‹ aus und muss passenderweise auch nur drei Freizeichen abwarten, ehe sie aufgeregt dran geht, als hätte sie meinen Anruf sehnlichst erwartet und vermutlich hat sie das sogar.

Die Abneigung, die ich in diesem Augenblick für sie empfinde (weil seien wir mal ehrlich: das ist ja wohl echt billig), verraucht gleich wieder, als ich mir ihren perfekten Körper vorstelle und das, was ich gleich mit ihm anstellen werde.

Wo wir uns treffen? Natürlich bei mir! Wann? Natürlich jetzt sofort. Keine Frage! Ach was soll‘s… Das bisschen Abscheu geht schon klar, wenn man dafür ne flexibel erreichbare, billige Alte wegrattern kann.

Zwei Stunden später (mit Koks drin bin ich manchmal so gefühlstaub) sitze ich wieder alleine und leer gevögelt in meinem Appartement. Direkt im Anschluss habe ich Nummer Drei rausgeschmissen. Normal. Die soll ja nichts Falsches denken!

Ich fühle mich etwas besser und will gerade unter die Dusche springen, als mir das aufleuchtende Licht an meinem Handy auffällt.

Ey Alter, was geht? Bock später zu chilln?

Ralf

Was für ein Vollidiot! Ich schmeiße das Handy auf mein Bett und verschwinde unwillkürlich lächelnd ins Badezimmer.

Als ich nun frisch geduscht und eingekleidet in einen maßgeschneiderten Brioni Anzug vorm Spiegel stehe, blicke ich zum ersten Mal seit langem auf die Uhr. Schon halb sechs. Verrückt. Mir ist scheinbar jegliches Zeitgefühl abhandengekommen.

Ein letztes gewinnendes Grinsen werfe ich mir im Spiegel zu, ehe ich mich mit dem Handy und nem kleinen Näschen vorweg an die Abendplanung begebe.

»Alter, was geht?«, versuche ich Micha bereits bei meiner Begrüßung mit enthusiastischem Tonfall in Partylaune zu versetzen. Mit scheinbar mäßigem Erfolg.

»Alter. Wir haben Mittwoch! Ich muss morgen arbeiten.«

Micha kennt mich gut. Aber zum Glück ist das ne beidseitige Angelegenheit, daher werfe ich ein: »Ganz genau. Mittwochenende ist heute und ich bezahle zur Feier des Tages.«

Einen ausgiebigen Moment spannt Micha mich auf die Folter, obwohl wir beide wissen, dass er das nur tut, um den Schein zu wahren.

»Na gut. Bin dabei. Was steht an?«

»Vorglühen bei mir und dann Odonien.«

»Kann ich noch wen mitbringen?«

»Zahlen die für sich?«

»Alter, du kennst meine Leute und mich doch…«

Ich gönne mir eine weitere Nase, um das aufkommende Unbehagen gleich im Keim zu ersticken und antworte dann: »Okay, geht klar. Mehr Leute, mehr Spaß!«

Ohne sich zu bedanken, legt Micha und ich daraufhin ne geile Platte auf, um mich schon mal musikalisch in Stimmung zu bringen.

ANNA

Köln, 22. April 2019

Bevor ich den Auflauf in den Ofen schiebe, inspiziere ich erneut das ausgedruckte Rezept, auf dem ich jeden Abschnitt mit einem grünen Häkchen versehen habe. Zufrieden justiere ich die Temperatur des Ofens noch einmal nach und beginne dann die Arbeitsfläche aufzuräumen. Anschließend fege ich die Küche und decke den Tisch mit dem guten Porzellan, das ich von meiner Oma geschenkt bekommen habe. Dann bestücke ich noch die zwei Messingständer mit knallroten Kerzen und falte die Servietten zu kleinen Fächern, die ich auf den Tellern positioniere. Zum Schluss vergewissere ich mich der Flasche Crémant im Kühlschrank und betrachte das Gesamtbild des Tisches.

Mir ist es wichtig, dass sich meine Gäste wohl und geschätzt fühlen. Ein liebevoll gedeckter Tisch ist da für mich ein absolutes Muss und eines der Dinge, die ich immer noch am meisten an meinen Besuchen bei Mama liebe.

Zufrieden nicke ich, wie um mich selbst zu bestätigen und werfe dann einen letzten Blick auf die Uhr. Eine halbe Stunde bleibt mir, bis Sophie hier aufschlägt. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen noch ein schnelles Bad zu nehmen, bevor sie kommt - daraus wird jetzt wohl nichts mehr. Ich schenke mir ein halbes Glas von dem Rotwein ein, der schon seit einer geraumen Weile angebrochen auf der Theke herumsteht und genehmige mir einen großen Schluck. Dann verschwinde ich mit dem Glas im Badezimmer, nehme eine kurze Dusche und mache mich fertig. Dabei rezitiere ich immer wieder die drei Affirmationen, die neben meinem Badezimmerspiegelbild kleben: »Das Leben ist leicht! Ich bin genau jetzt, genau da, wo ich sein soll! Ich liebe das Leben und das Leben liebt mich!«

Während ich das tue, huscht mir ein immer breiter werdendes Lächeln ins Gesicht und ich merke, wie mich Vorfreude überkommt. Dass Sophie und ich mal einen ganzen Abend für uns hatten, ist lange her. Irgendwie haben wir uns die letzte Zeit nur noch selten und wenn dann mit Tom und… Unwillkürlich zucke ich bei dem Gedanken an Jan zusammen. Nix da, den Abend lasse ich mir nicht von diesem Arschloch vermiesen!

Ich genehmige mir noch einen Schluck Rotwein, zupfe mir ein paar vereinzelt nachwachsende Augenbrauenhaare und betrachte dann anerkennend das Endprodukt meiner Bemühungen im großen Ankleidespiegel des Schlafzimmers.

Da klingelt es auch schon sowohl an der Tür als auch der Handytimer wegen des Auflaufs. Schnell durchquere ich den Flur, betätige den Summer und öffne die Wohnungstür eine Spur zu beherzt, wodurch sich der Griff mit einem leisen ›Klong‹ ein weiteres Mal in der auf dieser Weise geschaffenen Delle in der Wand versenkt.

Während Sophies Schritte durchs Treppenhaus hallen, überlege ich noch schnell in der Küche den Ofen auszumachen, da es ein Gasofen ist und ich keinesfalls riskieren möchte, dass der Auflauf anbrennt. Allerdings möchte ich ebenso wenig, dass Sophie in der fünften Etage ankommt und eine leere Tür vorfindet, anstelle einer herzlichen Begrüßung. Unschlüssig vergeht die Zeit, bis es zu spät für die Küchenalternative ist und so lehne ich mich gemächlich an den Türrahmen, setze mein breitestes Grinsen auf und begrüße Sophie schließlich mit einer innigen Umarmung: »Wie schön, dass du da bist! Ich freue mich so!«

»Ich mich auch, Sweety! Wurde ja nochmal Zeit!«, entgegnet Sophie und zwinkert dabei schelmisch.

Kurz frage ich mich, ob ich mir das Zwinkern wohl unbewusst von ihr abgeguckt habe, bemerke dann aber selbst, wie irrelevant diese Überlegung ist.

»Wow«, entfährt es Sophie ehrfürchtig, als sie den Küchentisch entdeckt, »du hast dich mal wieder selbst übertroffen, Anna!«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wende ich mich dem Ofen zu, bugsiere den Auflauf hervor und stelle ihn eilig auf den Untersetzer, den ich dafür in der Tischmitte platziert habe.

»Delicious!«, kommentiert Sophie und das selige Funkeln in ihren Augen befriedigt mich auf eine Weise, wie es nur das freudige Nehmen meines Gebens hervorrufen kann.

»Ich hoffe es schmeckt auch!«, grinse ich und bedeute Sophie, Platz zu nehmen.

Keine zwei Minuten später sitzen wir, jeweils mit einem frisch eingeschenkten Crémant vor unseren köstlich duftenden Tellern. Nachdem ich den ersten Bissen gekostet habe, bin ich froh so viel Liebe und Zeit investiert zu haben - denn die schmeckt man auch.

Ich schließe meine Augen, um mich vollkommen auf den Geschmack einzulassen und zur Gänze auszukosten und bin wiedermal beeindruckt davon, wie wirkungsvoll unsere Wahrnehmungskanäle für Genuss genutzt werden können. Das Glück ist eben nicht zu finden in den Großen Dingen dieser Welt, sondern in den kleinen, vermeintlich unscheinbaren Momenten.

»Du bist eine unglaubliche Köchin, Anna!«, lobt Sophie mich in die Höhe.

»Ach quatsch. Jeder kann kochen, wenn er ein Rezept nicht nur lesen, sondern auch befolgen kann«, witzele ich, woraufhin mir ein wenig amüsiertes Lächeln geschenkt wird.

»Erzähl mal! Wie geht es dir?«, versuche ich das Gespräch in eine tiefere Richtung zu lenken.

So unwohl und unbeholfen ich mich in der Oberflächlichkeit fühle, so angezogen und sicher fühle ich mich von und in der Tiefe.

Zum Glück ist Sophie eine der wenigen Menschen, die diese Frage stets wahrheitsgetreu beantwortet, selbst dann, wenn diese Ehrlichkeit bei ihrem Gegenüber zu Unbehagen führt.

»Schwierig«, ist ihre Antwort.

»Was genau?«

»Na Tom.«

»Muss ich dir jetzt alles weitere auch so aus der Nase popeln?«

Sophie lacht, schüttelt den Kopf, steckt sich noch eine volle Gabel in den Mund und kaut gemächlich darauf herum, ehe sie ins Detail geht: »Naja… Es ist irgendwie schwierig zwischen uns im Moment. Ich weiß auch nicht. Mich stören auf einmal Sachen an ihm, die ich bislang nicht mal bemerkt habe. By the way: Ist dir schon mal aufgefal