Wovon ich träume - Kyle Lukoff - E-Book

Wovon ich träume E-Book

Kyle Lukoff

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In den Sommerferien beschließt Hops' beste Freundin Moira, dass sie beide die kommenden Wochen nutzen sollten, um sich auf die neue Schule vorzubereiten. Für Moira bedeutet das, die richtigen Klamotten zu finden, zu lernen, wie man sich schminkt, und zu entscheiden, welche Jungs am süßesten aussehen. Aber nichts davon interessiert Hops, sie hat keine Lust auf diesen vermeintlichen Mädchenkram. Außerdem gibt es etwas Wichtigeres, worüber sie sich Sorgen machen muss: Ein Geist spukt in Hops' verwunschenem alten Haus herum – und vielleicht spukt er sogar in Hops selbst? Als sie allmählich das Geheimnis um den Geist lüftet, kommt eine unerwartete Wahrheit ans Licht …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 242

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kyle Lukoff

Wovon ich träume

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Rak

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Too Bright to See bei Dial Books for Young Readers, einem Imprint der Penguin Young Readers Group bei Penguin Random House LLC, New York.

 

© der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG,

Imprint WooW Books, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Text © Kyle Lukoff, 2021

Cover art © der deutschsprachigen Ausgabe: Xingye Jin, 2023

Cover © der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG,

Imprint WooW Books, Zürich 2023

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Alexandra Rak

Lektorat: Barbara Schlichtmann

Alle Rechte vorbehalten

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96177-069-4

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

 

 

Für alle Schülerinnen und Schüler der Corlears Schule, die von

2012 bis 2020 in meine Bibliothek gekommen sind.

 

Dieses Buch gibt es dank euch.

Prolog

Jetzt, wo Onkel Roderick nicht mehr lebt, fühlt es sich seltsam an, in unserem alten Haus zu wohnen.

Ich weiß schon lange, dass es dort spukt. Das hat es schon immer getan und ist nichts Neues. Die eiskalte Stelle im Wohnzimmer meiden wir, weil da wahrscheinlich jemand gestorben ist. Selbst an völlig windstillen Tagen fliegen Fenster von allein auf oder knallen zu. Genau wie unsere Türen – und das, obwohl sie schwer sind. Ich dachte lange, es wäre normal, jemanden hinter sich oder neben sich zu spüren, den man nicht sieht. Genauso wie zu fühlen, dass einem unsichtbare Hände über Haare oder Kleidung streichen.

Unser Haus sieht auch wie ein Spukhaus aus: naturbelassenes, über die Jahre verwittertes Holz, eine aufwendig geschnitzte Tür, spitze Giebel, die in alle Himmelsrichtungen aus dem Dach ragen, und hohe Fenster, hinter denen man schemenhaft Gestalten zu sehen meint. Unsere Veranda erstreckt sich über eine komplette Seite, und die Schaukelstühle, die darauf stehen, bewegen sich manchmal von ganz allein. Wir wohnen mitten im Nirgendwo – bei uns sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht, und wenn es draußen dunkel wird, leuchten nur der Mond und die Sterne und sonst nichts. Als ich noch in den Kindergarten ging, hatte ich aus der Bibliothek ein Buch mit einem Haus auf dem Umschlag ausgeliehen, das wie ein Foto von unserem Haus aussah. Onkel Roderick wollte es mir an jenem Abend vorlesen, ich hatte meinen Kopf auf seine Brust und er seinen Arm um meine Schulter gelegt. Vor dem Schlafengehen las er mir immer noch etwas vor. Nach dem ersten Kapitel hörte er allerdings auf, da das Buch ein Sammelband mit Gruselgeschichten war. Er fand Träume wichtig und wollte nicht, dass ich Albträume bekam.

Aber jetzt wird unser altes Haus nicht von Geistern, sondern von etwas anderem heimgesucht, das langweiliger und gleichzeitig beängstigender ist. Es gibt zum Beispiel dieses halb leere Glas mit Okraschoten, die Onkel Roderick gepflückt und eingelegt hat und die er nie mehr aufessen wird. Und auch Mum und ich werden das nicht tun, denn wir hassen Okras. Oder seine in den Wandschrank gestopften Winterstiefel. Normalerweise zögerte Onkel Roderick es immer möglichst lange hinaus, sie anzuziehen, weil er fand, dass er darin wie ein Holzfäller aussah. Doch jetzt wird er sie nie mehr brauchen. Außerdem hat mein Onkel den New Yorker sowie die National Geographic abonniert, und die Zeitschriften werden so lange an ihn geschickt, bis wir ihnen sagen, dass sie damit aufhören sollen. Bis sie seinen Namen von der Liste streichen. Für immer.

Da sind mir Geister lieber.

Eins

Als er stirbt, spüre ich das sofort. Es ist mitten in der Nacht. Ich schlage die Augen auf und halte mich mit beiden Händen an der Matratze fest. Plötzlich habe ich das verrückte Gefühl, dass mein Bett umkippt. Als stünde es wackelig auf einem Berggipfel und würde jeden Moment abstürzen. Oder als würde es jeden Moment in ein schwarzes Loch fallen, auf dessen anderer Seite nur Unbekanntes auf mich wartet.

Onkel Rodericks Zimmer liegt oben an der Treppe, Mums am Ende des Flurs, meines in der Mitte. Seit elf Jahren schlafe ich gemütlich zwischen ihnen ein, und ihre Wärme und ihre Kraft geben mir von beiden Seiten Halt. Selbst während der letzten paar Monate, als mein Onkel erst im Krankenhaus und dann im Hospiz war, konnte ich noch immer spüren, wie er mich beschützt. Aber jetzt ist mein Onkel nicht mehr da.

Auf einmal knarzen die Treppenstufen laut. Das hat nichts zu bedeuten. Sie knarzen ständig. „Das Haus setzt sich“, sagt Mum dazu. Vielleicht ist es manchmal auch ein harmloser Geist. Aber jetzt höre ich einen knarrenden Schritt. Und dann noch einen. Es hört sich so an, als würde jemand langsam unsere breite Treppe hinaufgehen, jemand mit schleppendem Gang.

Es ist Mitte Juni, und es ist heiß. Ich liege unter einem Bettlaken, während der Ventilator warme Luft in meinem Zimmer herumwirbelt. Ich ziehe das Laken bis zum Kinn. Jetzt hätte ich gerne eine schwere Bettdecke, die mich auf die Matratze drückt und unter der ich mich verstecken kann.

Das Knarzen verstummt direkt vor Onkel Rodericks Schlafzimmertür. Ich halte die Luft an und lausche angestrengt. Auch wenn ich jetzt nichts mehr höre, habe ich trotzdem das Gefühl, als wäre jemand dort. Es klingt, als würde jemand schweigen. Ich atme erst wieder aus, als die knarrenden Schritte die Treppe so langsam hinabgehen, wie sie gekommen sind.

Onkel Roderick hat mir immer erklärt, vorbeiziehende oder verweilende Geisterwesen seien ganz normal, wenn man in einem Haus wohnt, das fast so alt ist wie die Erde, auf der es steht. Mum sagt, dass die unheimlichen Dinge, die ich spüre oder höre, bloß meiner lebhaften Fantasie entspringen und Onkel Roderick mich nicht noch ermutigen soll, weil es keine Gespenster gibt.

Manchmal denke ich, dass meine Mutter recht hat: beispielsweise, wenn die Sonne scheint und ich mir die eigenartigen Berührungen in meinem Nacken oder die auf unerklärliche Weise zuschlagenden Türen mit Windböen erklären kann, die sich in unser zugiges altes Haus verirrt haben.

Doch jetzt glaube ich zu einhundert Prozent meinem Onkel. Dabei will ich das gar nicht.

„Auf der Treppe ist niemand“, sage ich leise zu mir und klammere mich nach wie vor verzweifelt an der Matratze fest. „Auf der Treppe ist niemand. Auf der Treppe ist niemand. Auf der Treppe ist niemand.“

Die Worte hämmern rhythmisch durch meinen Kopf. Ich wiederhole sie immer und immer wieder, bis sie alle anderen Gedanken verdrängen. Erst als ich mich zusammenrolle und der Seite des Zimmers, die die seltsame Leere in meiner Brust widerhallen lässt, den Rücken zudrehe, schlafe ich endlich ein.

Ein paar Stunden später wache ich vom Klingeln des Telefons auf. Inzwischen fühle ich mich sicherer und nicht mehr, als würde ich in die Tiefe stürzen oder durch die Unendlichkeit wirbeln. Aber in meiner Brust herrscht weiterhin diese Leere.

Ich höre Mum durch die Wand reden, kann aber nicht verstehen, was sie sagt. Doch selbst wenn ich es nicht schon längst wüsste, wäre mir spätestens durch den Tonfall und die Melodie ihrer Stimme klar, dass Onkel Roderick gestorben ist. Kurz darauf kommt sie in mein Zimmer, und ich setze mich auf.

Sie nimmt mich in den Arm und weint. Ich habe meine Mutter schon früher weinen sehen, doch ich musste sie nie trösten. Das hat immer Onkel Roderick, ihr Bruder, getan. Aber er ist nicht hier und ich schon. Ich halte sie ganz fest und atme so flach wie möglich, bis ihr Schluchzen nachlässt. Ich hätte gleich an dem Tag, vor fast einem Jahr, weinen sollen, als Onkel Roderick mit den schlechten Neuigkeiten vom Arzt nach Hause kam. Doch ich konnte nicht. Damals rauschte es plötzlich in meinen Ohren, und das übertönte alles, was Onkel Roderick erzählte. Mein Hirn weigerte sich, irgendwelche Informationen aufzunehmen, die über diese eine neue simple Wahrheit hinausgingen. Sie war zu groß, um sie zu fassen, und es gab nichts, woran ich mich festhalten konnte. Ich sagte mir damals, dass ich erst weine, wenn er gestorben ist. Und jetzt ist dieser Tag da, und doch gibt es in mir einfach nur diese Leere. Keine Tränen oder sonst irgendetwas. Um mich herum kreiselt, wie ein Wirbelsturm aus Schmerz große Traurigkeit, und ich sitze im trockenen Auge, wo es ruhig und still ist.

„Er hatte dich sehr lieb“, sagt Mum nach einer Weile. Sie lässt mich los, richtet sich auf und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Hätte ich doch bloß ein Taschentuch für sie.

„Ich weiß“, antworte ich. Und ich weiß es wirklich. Aber das hilft nichts.

Mum nimmt mich noch einmal in den Arm und sagt, dass sie ein paar Anrufe erledigen muss. Ich starre in mein Zimmer, Sonnenlicht strömt durch die geriffelten Scheiben der hohen Fenster, und ich frage mich, was jetzt wohl geschieht.

Zwei

Mum, Onkel Roderick und ich bildeten ein gutes Team. Manchmal hatten wir Gäste aus New York City oder Burlington oder Montreal, die unser Haus mit Lärm und Gelächter und Erinnerungen füllten. Aber uns drei gelang das allein genauso gut.

Heute Abend ist das Haus auch voller Leute und Erinnerungen, doch gelacht wird kaum. Die Freundinnen und Freunde der Familie sind von überallher angereist. Aus unserer Ecke in Vermont lassen sich nur wenige blicken. Wir sind hergezogen, als ich ein Baby war, und die Alteingesessenen hier akzeptieren dich erst, wenn „sechs unter der Erde liegen“. Damit meinen sie sechs Tote, die nacheinander über die Jahre hinweg gestorben sind. Wir haben nun unseren ersten.

Dabei liegt Onkel Roderick noch nicht einmal wirklich unter der Erde. Er wollte keine Trauerfeier und auch nicht beerdigt werden. Verstreut meine Asche einfach auf dem Land, sagte er uns kurz vor seinem Tod. Das haben wir getan, eine Handvoll in den Bach, eine andere in den Wald, in unseren Garten, einfach überall.

Mum findet, dass alle die Möglichkeit haben sollten, Abschied zu nehmen. Mir wäre es lieber, sie würden sich woanders von ihm verabschieden. So voll wie heute war es bei uns noch nie, und ich kann mich nicht mal mehr mit Onkel Roderick in seinem Zimmer verstecken. Ich muss dieses Kleid tragen, in dem ich wie Samantha aus den American Girl-Büchern aussehe. Es ist zerknittert, weil es monatelang ganz unten in meinem Schrank lag und sich normalerweise Onkel Roderick ums Bügeln kümmerte.

Die Leute legen ihre Hand auf meine Schulter oder umarmen mich, und weil ich das Kind mit dem toten Onkel bin, ist es in Ordnung, dass ich die Umarmung nicht erwidere. Mein Kleid ist wie ein Schutzschild, es hält die Berührungen ihrer Arme und Hände von mir fern, was gut ist, denn würde ich sie tatsächlich spüren, zerspränge ich in tausend Stücke. Um mich abzulenken, ziehe ich fest an meinem Pferdeschwanz oder zupfe an den Falten meines Kleides. Es ist mir zu klein, sobald ich mich nach vorne beuge, spannt der Stoff an meinem Rücken und schnürt mir beinahe die Luft ab.

Wenn ich an den Gästen vorbeigehe, hören sie auf zu reden, aber nachdem ich mich in eine Wohnzimmerecke zurückgezogen habe, schnappe ich hier und da etwas auf.

„Er war noch so jung, erst zweiunddreißig, oder?“

„Es ist unfassbar traurig, besonders weil Sabrinas Mann doch kurz nach der Geburt ihres Kindes gestorben ist. Ein Autounfall, wenn ich mich recht erinnere.“

„Das Haus war ursprünglich ein Ferienhaus und ist schon lange im Familienbesitz, aber jetzt sind sie die Letzten und haben sonst keine Angehörigen mehr.“

Einer von Onkel Rodericks Ex-Freunden aus Portland sitzt am anderen Ende des Zimmers. Ich glaube, sein Name ist Tobias. Er hat einen Bart und einen kahl rasierten Kopf und ist genauso groß und dünn wie Onkel Roderick. Er war nett, doch er wollte Kinder, aber mein Onkel fand, dass ich ihm als Kind reichte, also haben sie sich getrennt, sind aber Freunde geblieben. Tobias schaut mich an und lächelt mir traurig zu. Ich verziehe meine Mundwinkel zu so etwas wie einem Lächeln und haste davon, bevor er mir die Hand gibt oder mich umarmt oder sonst wie sein Beileid bekundet.

Als ich in die Küche schlüpfe, bleibe ich mit dem Kleid an einem Nagel im Türrahmen hängen. Ich ziehe am Stoff, um loszukommen. Jetzt hat es einen Riss, der vorher noch nicht da war. Na ja, nicht so schlimm – ich bin ohnehin fast rausgewachsen.

In der Küche ist sonst niemand. Auf der breiten Anrichte aus Holz stapelt sich das Geschirr mit angetrockneten Essensresten, daher stelle ich es in die Spüle und drehe den Wasserhahn auf. Ich habe Mum immer angebettelt, dass wir eine Spülmaschine bekommen. Besonders, seitdem ich groß genug bin, um an das Spülbecken zu kommen. Im Moment finde ich es allerdings beruhigend, das Geschirr in dem heißen Wasser sauber zu machen. Während ich die Teile in gleichmäßigem Rhythmus schrubbe und abspüle, überlege ich, was ich für das Sommercamp einpacken soll, und schaue aus dem Fenster hinterm Waschbecken.

Plötzlich starrt mich von dort ein fremdes Gesicht an, das sich undeutlich in der Scheibe abzeichnet.

Ich schreie auf und springe zurück, wobei mir ein Glas aus der Hand rutscht und auf den Küchenboden knallt. Gleich darauf schwingt die Küchentür auf.

„Alles okay, Mücke?“, ruft eine Stimme. Mo. Meine beste, älteste und einzige Freundin. Sie und ihre Mutter sind schon eine Weile hier, aber ich habe sie noch nicht begrüßt.

Das Kleid spannt noch immer an Rücken und Schultern.

„Alles gut“, antworte ich. Und weil ich plötzlich nicht mehr weiß, wie ich meine Zähne auseinanderbekommen soll, um noch mehr zu sagen, schnappe ich mir Besen und Kehrblech, damit Mo meine zitternden Hände nicht bemerkt.

Das passiert mir oft. Ich kümmere mich im Bad, der Küche oder sonst wo um meinen eigenen Kram und sehe beim Blick in den Spiegel nicht mich. Auch keine bluttriefende teuflische Fratze oder irgendetwas eindeutig Übernatürliches. Sondern einfach nur ein Gesicht, das nicht meines ist und nur so ähnlich aussieht. Allerdings unterscheidet es sich doch so sehr, dass ich mich jedes Mal erschrecke. Wahrscheinlich gehört das auch zum Leben in einem Spukhaus. Wobei mir das nicht nur zu Hause passiert.

Jedes Mal, wenn Mo bei mir übernachtet, muss ich ihr versprechen, dass sie nicht von einem Geist angegriffen wird. Und ich verspreche es ihr immer, denn Geister greifen keine Menschen an. Sie bemerken sie nicht einmal. Sie befinden sich in ihrer eigenen Welt, wie auch immer die aussieht, und wir uns in unserer. Wenn sich die Welten dann doch überschneiden, ist das so, als würde man zu lange in ein helles Licht schauen, das man immer noch sieht, selbst wenn man den Blick abwendet und die Augen schließt. Man hat es nicht mehr direkt vor der Nase, aber es hat sich trotzdem eingeprägt.

Bisher hat Mo noch keine Geister gesehen. Sie fürchtet sich davor, einer großen Frau im blutbefleckten Brautkleid über den Weg zu laufen oder einem kleinen, blassen Jungen mit teuflischem Lachen. Aber sie bemerkt nicht einmal, wenn ihre Haare von einem nicht vorhandenen Luftzug erfasst werden oder die Stimmung im Zimmer umschlägt, weil sich der Raum an etwas erinnert. Wenn das passiert, behalte ich es für mich, denn Mo ist die Einzige, die überhaupt bei mir übernachten will.

Als ich die Scherben zusammengefegt habe, lehne ich mich gegen die Anrichte. Mo setzt sich darauf. Ich sehe ihr an, dass sie überlegt, was sie sagen soll. Normalerweise hat sie immer etwas zu erzählen, aber mir ist im Moment nicht danach, zu reden, auch wenn es nett ist, dass sie es versucht.

„Woher hast du denn das Kleid?“, fragt sie schließlich. „Das kenn ich noch gar nicht.“

Das ist besser, als zu fragen, wie es mir geht, denn darauf könnte ich nichts Gescheites antworten. Ich überlege, ob sie das mit dem Kleid wirklich interessiert oder sie nur rücksichtsvoll sein möchte. Am liebsten würde ich überhaupt nicht sprechen, allein meine Lippen zu bewegen fällt mir schwer, aber darauf, dass Mo einfach weiterplappert, habe ich auch keine Lust. Das macht sie nämlich meistens, wenn ich nichts zum Gespräch beitrage.

„Ich weiß nicht. Es ist schon alt.“ Meine Stimme überrascht mich. Sie klingt ganz normal. „Vielleicht dachte Mum, dass ich irgendwann mal ein Kleid bräuchte. Ich finde, ich sehe darin aus wie meine alte Puppe Samantha.“

„Oh ja, stimmt. Irgendwo habe ich noch meine Felicity. Weißt du noch, als wir mit ihnen gespielt und uns Geschichten ausgedacht haben? Deine waren immer voller Abenteuer, mit Piraten oder Entführungen. Ich wollte immer lieber etwas mit Prinzessinnen und Schlössern spielen. Und dann haben wir uns geeinigt, auf Piratenschlösser oder glamouröse Prinzessinnenentführungen.“

Ich nicke bloß und schaue an mir herunter. Mit dem bauschigen Rock sieht das Kleid sehr nach einem Kostüm aus. Mo dagegen wirkt in ihrem glatten, dunklen Rock mit passendem Oberteil so, als wäre sie auf einer Beerdigung und nicht in unserem Haus. Ihre krausen, leuchtend roten Haare fallen nicht locker wie sonst, sondern sind zu einem festen Zopf geflochten. Mo ist ein paar Monate jünger als ich, aber heute sieht sie fast wie eine Erwachsene aus – beinahe wie eine Frau. Ich dagegen sehe aus wie eine Puppe. Still und steif, mit Blinzelaugen.

„Mum und ich müssen schon wieder gehen“, sagt sie, nachdem wir einem Moment geschwiegen haben. „Wir sehen uns ja aber bald. Und … es tut mir sehr leid.“ Sie beugt sich zu mir, um mich zu umarmen. Ich schaffe es, meine Arme zu heben und sie kurz zu drücken, bevor es mir zu viel wird. Mo gehörte schon immer zu den Mädchen, die ihre Freundinnen umarmen oder mit ihren Haaren spielen, ganz beiläufige Zuneigungsbekundungen, die für mich ein Ding der Unmöglichkeit sind. Ich weiß nicht, wie ich mit solchen Situationen umgehen soll. Es fühlt sich jedes Mal so an, als würde ich eine Vogelscheuche umarmen. Oder eher, als wäre ich die Vogelscheuche, die umarmt wird. Jetzt tätschelt Mo verlegen auf meinen Rücken, drückt dann mit der Schulter gegen die Küchenschwingtür und geht. Ihr Rock bleibt nirgends hängen.

Ich gehe zurück zur Spüle und widme mich wieder dem Geschirr. Die Küche war schon immer mein Lieblingsraum im Haus. Hier habe ich mit Onkel Roderick Plätzchen gebacken und Gemüse eingekocht oder ihm dabei zugesehen, wie er neue Rezepte ausprobiert hat. Außerdem ist es hier freundlich. Sicher. Während ich abwasche, stelle ich mir vor, wie ich wohl aussehe: meine langen, zurückgekämmten Haare und der Riss in meinem Kleid – wie ein Dienstmädchen, das in einem Palast vor sich hin schrubbt. Und dann überlege ich, wie das Leben von dem Mädchen aussieht. Es lenkt mich von der Wirklichkeit ab. Inzwischen ist das Wasser kalt, und ich wasche das Geschirr zu Ende ab, ohne noch einmal zum Fenster zu schauen.

Drei

Nach der Gedenkfeier bleiben einige Gäste noch für ein paar Tage. Ich mache mich nützlich, spüle ununterbrochen Geschirr oder wasche Wäsche und weiche damit den Fragen nach meinem Befinden aus. Ich tue so, als wäre ich eine Figur aus einem Buch. Zum Beispiel ein schlecht behandeltes, jedoch hochintelligentes Dienstmädchen, oder eine Spionin in einem schäbigen, heruntergekommenen Hotel, oder eine Prinzessin, die für eine normale Bürgerliche gehalten wird. Das macht Spaß. Irgendwie jedenfalls, und ist etwas, was ich oft tue. Mädchen in Büchern kommen mir immer realer vor als das echte Leben, und wenn ich mir vorstelle, Teil einer Geschichte zu sein, lenkt mich das von dem ab, was ich wirklich bin – nicht besonders viel.

Irgendwann fahren die Gäste wieder in die Großstädte, in denen sie wohnen. Ich bin in Brooklyn geboren, aber Mum zog hierher, als ich erst ein paar Monate alt und mein Vater gerade gestorben war. Sie sagt, sie brauchte diese Veränderung, um das eine Leben (verheiratet, keine Kinder) abzuschließen und ein neues (verwitwet, ein Kind) beginnen zu können.

Onkel Roderick ging mit ihr. „Ich dachte nie, dass wir lange bleiben“, erzählte er mir letztes Jahr beim Blaubeerpflücken. Er sammelte die Beeren und backte später einen Kuchen daraus, ich futterte meine direkt vom Strauch. „Als Kinder waren wir hier immer im Urlaub, aber einen Grund, dauerhaft in Vermont zu leben, gab es für uns nicht. Ich dachte, wir würden hier ein paar Jahre wohnen, sie den Verlust deines Vaters verarbeiten, und dann wieder zurückgehen. Aber Kinder verwurzeln dich mit einem Ort. Es war, als würden wir in dieses Fleckchen Erde hineinwachsen, anstatt ihm zu entwachsen.“

Die größte Stadt, in der ich bisher war, ist Burlington. Wir haben sie mit der Schule besucht und gelernt, dass Burlington die kleinste Großstadt der USA ist – die größte Stadt im Bundesstaat Vermont und die kleinste Stadt der USA, die sich als Großstadt bezeichnen darf. Sie kam mir riesig vor, Menschen, soweit das Auge reichte, und ein Geschäft neben dem anderen. Onkel Roderick sprach davon, dass er mir New York zeigen wollte. Geschafft haben wir das nie, und ich glaube nicht, dass ich jemals allein hinfahren werde.

Es ist früher Morgen, außer Mum und mir ist niemand mehr im Haus, und ich schaue auf Onkel Rodericks mit Schnitzereien verzierten Teeschrank, der unter dem Gewürzregal steht. Wie heißt es noch gleich in alten englischen Büchern: Ich würde alles für eine Tasse Tee geben. Außer mir kenne ich keine anderen Elfjährigen, die Tee mögen, aber seitdem ich keinen Kinderbecher mehr brauche, bereitete Onkel Roderick mir welchen zu. Am Anfang bestand der vor allen Dingen aus Honig und Milch. Im Teeschrank ist noch eine halbe Schublade voll Jasmintee, und mir fehlt das tröstende, wärmende Gefühl, den schweren Becher in der Hand zu halten und an etwas Heißem und Süßem zu nippen. Trotzdem kann ich mich nicht aufraffen, Wasser aufzusetzen, die klapprige Schublade aufzuziehen, die richtige Menge an Teeblättern in ein Tee-Ei zu geben und das Ganze ausreichend lang ziehen zu lassen. Zu viele Handgriffe.

Stattdessen schenke ich mir ein Glas Saft ein und mache mir eine Schüssel Müsli. Mum schlurft in ihrem Morgenmantel in die Küche und sieht aus, als hätte sie seit Wochen nicht geschlafen.

„Danke, dass du die letzten Tage so viel geholfen hast, Schatz“, sagt sie mit belegter Stimme. Vielleicht vom Schlaf oder der Trauer oder beides. „Du würdest ein großartiges Küchenmädchen abgeben.“

„Ich weiß“, murmele ich. Alle anderen Wörter bleiben mir im Hals stecken. Normalerweise würden wir jetzt losspinnen und überlegen, wie es wäre, in einem mittelalterlichen Schloss zu arbeiten, oder ich würde mich dramatisch darüber auslassen, dass ich mir die Finger bis auf die Knochen wund geschuftet hätte. Und Onkel Roderick hätte sich wie immer an einem englischen Akzent versucht und wäre kläglich gescheitert, oder er hätte so getan, als wäre er als Zimmermädchen etwas Besseres. Aber ohne ihn ist mir nicht nach Lachen zumute. Ohne ihn ist es nicht dasselbe.

Ich rühre mit dem Löffel in meinem Müsli, und Mum schlüpft auf die Veranda, um die Zeitung zu holen. Ihr ist auch nicht nach Lachen zumute, und wenn, dann würde sie es nur für mich versuchen.

Als sie wieder zurückkommt, wirft sie mir die Comicseite der Zeitung zu und macht sich einen Kaffee. Für Tee hatte sie noch nie viel übrig, wofür ich gerade sehr dankbar bin.

Ich starre auf den Comic, lese ihn aber nicht. Wahrscheinlich würde es mir wehtun, zu lächeln, so als wäre auf meinen Wangen eine Tonschicht getrocknet, die bei der kleinsten Bewegung meiner Lippen zerspringt. Als meine Augen anfangen zu kribbeln, schaue ich auf. Mum hat die Zeitung vor sich ausgebreitet, doch sie sieht mich an und guckt, als hätte sie noch mehr schlechte Nachrichten. Sobald ich ihrem Blick begegne, schluckt sie hörbar. Um ihre Mundwinkel haben sich neue Falten gebildet, und ihre Augen sind gerötet.

„Ich weiß, dass wir dich im Juli wieder ins Sommercamp schicken wollten“, sagt sie leise, und ich würde am liebsten rufen, dass sie aufhören soll, denn ich weiß, was jetzt kommt. Allerdings guckt sie gerade, wie im vergangenen Jahr so oft, schrecklich traurig, also tue ich das nicht. Mit ihren fransigen, dunkelblonden Haaren, den grünen Augen und dem spitzen Kinn sehen sich Mum und Onkel Roderick total ähnlich. Ich werde von der Sonne braun, während ihre blasse Haut verbrennt. Ich habe blaue Augen, eine größere Nase und dunklere Haare. Mein Vater hatte braune Haare. Ich lasse meine lang wachsen, weil ich dann nicht zum Friseur muss. Ich ziehe das Haargummi um meinen Pferdeschwanz fest. Der Schmerz an meiner Kopfhaut hilft ein wenig.

„Die Versicherung deines Onkels hat einen Großteil der Arztrechnungen übernommen, aber nicht die Kosten des Hospizes, und das war sehr teuer. Du musst dir keine Sorgen machen, wir werden nicht verhungern, aber wir haben gerade auch nicht viel Geld übrig. Ich werde alles tun, damit du einen schönen Sommer hast, versprochen, aber dieses Jahr ist das Camp völlig ausgeschlossen. Nächstes Jahr sieht es dann hoffentlich wieder anders aus. Das tut mir wirklich leid, Mücke.“

Das Sommercamp findet jedes Jahr im Juli statt. Wir übernachten auf dem Heuboden einer Scheune und sammeln im Hühnerstall Eier fürs Frühstück. Endlos spielen wir Fangen und Verstecken, gehen auf Nachtwanderungen, paddeln auf dem See und noch ganz viele andere Sachen. Ich schließe nicht besonders schnell Freundschaften, aber irgendetwas an dem tröstlich gleichbleibend schlechten Essen, dem tagesfüllenden Fangen- und Verstecken-Spiel und dem Erklimmen der Kletterwände bei Regen bringt uns auf eine Weise näher, wie es die Schule nicht schafft. Die Kinder im Camp kommen aus der ganzen Region Neuengland, und für mich ist es die einzige Zeit des Jahres, in der ich mich einer größeren Gruppe zugehörig fühle. Seit fünf Jahren gehe ich jeden Juli für mindestens ein paar Tage dorthin, und die letzten beiden Jahre bin ich den ganzen Monat über geblieben. Ich liebe das Sommercamp, und ich liebe Onkel Roderick. Jetzt habe ich keins von beiden mehr.

„Schon okay“, sage ich. Was überhaupt nicht stimmt, aber es muss in Ordnung sein. Eigentlich hätte ich mir das denken können. Die ganzen Behandlungen und Medikamente waren bestimmt nicht billig, und Onkel Roderick konnte, seitdem er richtig krank geworden war, nicht mehr arbeiten. Mum war schon immer ehrlich zu mir, und dazu gehört auch, über Geld zu reden. Jammern, dass ich nicht ins Sommercamp darf, kann ich nicht, weil ich den Grund kenne. Abgesehen davon möchte ich Mum nicht zeigen, wie sehr es mich ärgert, weil sie sich dann nur noch schlechter fühlt, womit niemandem geholfen ist. Das Müsli in meiner Schüssel ist inzwischen völlig aufgeweicht. Ich mag es nicht aufessen. Bis jetzt habe ich sowieso nur einen Löffel davon herunterbekommen. Also schiebe ich mein kaum angerührtes Frühstück und den ungelesenen Comic zur Seite und sage Mum, dass ich nach draußen gehe.

Als ich an ihr vorbeigehe, nimmt sie mich in den Arm und hält mich fest. Ich möchte gerade nicht umarmt werden, halte es aber aus, weil ich weiß, dass diese Umarmung wichtig für sie ist. Außerdem muss ich ihr zeigen, dass ich nicht wütend bin, also drücke ich sie so lange, bis sie mich loslässt. Erst dann hole ich tief Luft. Es ist ein schöner Tag.

Uns gehört ziemlich viel Land um unser Haus. Statt eines Gartens haben wir eine große Wiese, woran ein Waldstück angrenzt, das ich erkundet habe, sobald ich laufen konnte. Durch den Wald fließt ein Bach, wo ich gerne ganze Tage auf einem Felsen sitze und lese, oder ich plansche durchs Wasser und versuche, Elritzen zu fangen. Onkel Roderick war oft mit mir im Wald und hat Geschichten über Erdgeister und Feen erzählt, die sich knapp außer Sichtweite verstecken, oder er hat mir essbare Pflanzen und giftige Beeren gezeigt. Wir hatten dann immer ein Mittagspicknick dabei, haben nach Wolkenfiguren Ausschau gehalten und sind so ruhig und still sitzen geblieben, bis Schlangen und Eichhörnchen ganz in unsere Nähe kamen. Ich fühlte mich nie einsam. Manchmal tat Onkel Roderick so, als sehne er sich nach dem glamourösen, lauten und bunten Großstadtleben, das er zurückgelassen hatte, aber eigentlich stopfte er unser großes Haus total gerne mit restaurierten Antiquitäten voll und hackte Feuerholz für den Winter.

Mein Fahrrad steht unter der Veranda. Ich ziehe es heraus, wische eine Spinne vom Lenker und steige auf. Während ich das Haus hinter mir lasse, versuche ich, so schnell zu werden, dass ich den Fahrtwind zwischen den Zähnen spüre. Dann denke ich daran, wie Onkel Roderick mir das Fahrradfahren beigebracht und meine Knie und Ellbogen verarztet hat, wenn ich stürzte. Ich weiß noch gut, wie ich ihn an kalten Herbsttagen mit dem Rad zum Bauernmarkt begleitete. Oder wie er mir zeigte, den Reifen zu wechseln, unsere Hände ganz dunkel und ölverschmiert waren und nach Gummi und Erde rochen.

Irgendetwas bahnt sich unerbittlich seinen Weg aus meinem Bauch in meinen Hals und hinter meine Augen. Ich bremse scharf, springe ab und laufe nach Hause, während mein Fahrrad am Rand der unbefestigten Straße liegen bleibt und ein Reifen sich einsam dreht.

* * *