Wozu leben wir ? - Alfred Adler - E-Book

Wozu leben wir ? E-Book

Alfred Adler

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 1931 in New York unter dem Titel »What Life Should Mean to You«. Das Buch gehört in die Reihe der Einführungen bzw. allgemeinen Übersichtsdarstellungen der Individualpsychologie: »Menschenkenntnis« (1927; Bd. 6080) und »Lebenskenntnis« (1929, Bd. 6392). Der Text ist für den Laien verständlich geschrieben. Er enthält sehr wenig Theorie und um so mehr Antworten auf praktische Fragen des täglichen Lebens. Adler spricht seine Leser direkt an. Ausgehend von einer Beschreibung dessen, was er unter dem Sinn des Lebens versteht, breitet er vor ihnen anhand von neuen, gleichwohl vertrauten Fallbeispielen seinen individualpsychologischen Interpretationsansatz anschaulich und lebendig aus. Es ist von dem berühmten, von Adler eingeführten Minderwertigkeitskomplex die Rede, von der sinntragenden Bedeutung der frühesten Erinnerungen, von den Einflüssen der Familie und der Schule auf die Kinder, von Sexualaufklärung, Verwöhnung, vom Jugendalter, den Ursachen der Gefährdungen einer lebensbejahenden kindlichen Entwicklung, vom Sinn und Zweck der Arbeit und vom Wert der Ehe für den einzelnen und das Ganze. Nach der Lektüre von »Wozu leben wir ??« hat der Leser einen plastischen Eindruck von der Individualpsychologie Alfred Adlers, ohne die die moderne Psychotherapie undenkbar wäre.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 426

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alfred Adler

Wozu leben wir?

Aus dem Englischen von Wolfgang Schmidbauer

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungEinführung des Herausgebers1. Der Sinn des Lebens2. Geist und Körper3. Minderwertigkeits- und Überlegenheitsgefühl4. Erste Erinnerungen5. Träume6. Einflüsse der Familie7. Einflüsse der Schule8. Das Jugendalter9. Das Verbrechen und seine Verhütung10. Arbeit und Beruf11. Mensch und Mitmensch12. Liebe und EheNamen- und Sachregister

Dieses Buch ist der Familie aller Menschen gewidmet in der Hoffnung, daß ihre Mitglieder aus diesen Seiten lernen, sich selbst besser zu verstehen.

Einführung des Herausgebers

Das Buch mit dem Titel What Life Should Mean to You, den wir in dieser deutschen Ausgabe kurz mit ›Wozu leben wir?‹ widergegeben haben, ist zuerst, von ALAN POTTER herausgegeben, 1931 bei Little & Brown in Boston erschienen, dann nochmals 1958 in den Capricorn Books, New York. Es gehört als drittes Glied in die Reihe von Einführungen bzw. allgemeinen Übersichten über ADLERS Lehre, die 1927 noch in deutscher Sprache mit der ›Menschenkenntnis‹ anhebt, sich 1929 in der Science of Living und 1931 in dem vorliegenden Werk fortsetzt und 1933, wieder in deutscher Sprache, mit dem ›Sinn des Lebens‹ abschließt.

(An dieser Stelle ist ein Versehen in der Einführung zur ›Lebenskenntnis‹ (Fischer Taschenbuch Bd. 6392) zu berichtigen: Das Buch The Pattern of Life (›Das Leben gestalten‹, Fischer Taschenbuch Bd. 6393) gehört nicht in diese Reihe; es behandelt – an Hand von zwölf Einzelfällen – ausschließlich die besondere Frage der Behandlung von Sorgenkindern.)

Sich über den Wortlaut des Titels der deutschen Ausgabe zu einigen war nicht ganz leicht. Der Vorschlag der Übersetzer lautete: »Formkräfte der Persönlichkeit«. Das ist zwar auch treffend, aber nach dem Gefühl des Herausgebers für den Kreis, den ADLER anspricht, zu gelehrt. Außerdem entfernt es sich doch recht weit von dem Wortlaut des englischen Titels. An sich wäre »Der Sinn des Lebens« eine durchaus treffende Widergabe des englischen Titels gewesen. Aber diese Formel war für den Titel des deutschen Büchleins von 1933 bereits vergeben (Fischer Taschenbuch Bd. 6179). Wenn man, von einer Durchsicht des gesamten Textes ausgehend, sein Anliegen genau zu kennzeichnen versuchte, müßte man etwa sagen: »Was können wir tun, damit wir und unsere Kinder und Mitmenschen den Sinn des Lebens nicht verfehlen, und wie können wir ihnen, wenn sie ihn schon verfehlt haben, dazu verhelfen, zu ihm zurückzufinden?« Das ist aber, wenn man nicht zu Bräuchen der Barockzeit zurückkehren will, für einen Titel wohl etwas zu ausführlich.

Das Buch zeichnet sich dadurch aus, daß es wenig von Theorie und um so mehr von praktischen Fragen handelt. Dabei spielen die schwereren Geistesstörungen und Gemütskrankheiten, die »ausgewachsenen« Neurosen und die Psychosen, also der Ausgangspunkt des Nachdenkens von FREUD und seinen Nachfolgern, nur eine ganz untergeordnete Rolle. (Der Dieb, der Räuber und der Betrüger werden dabei entsprechend dem Sprachgebrauch des Alltags nicht als Kranke, sondern nur als Verirrte gewertet.) Das Hauptgewicht liegt in diesem Buch auf den Sorgen, Nöten und Beschwerden von seelisch im Grunde gesunden Menschen. Es gibt Ratschläge und Anweisungen für ein friedliches und fruchtbares Zusammenleben an normale Menschen, deren Leiden, bildlich gesprochen, über Kopfweh und Schnupfen, allenfalls einen verstauchten Fuß, nicht hinausgehen. Es beschäftigt sich vorwiegend mit Fragen der Vorbeugung und der Verhütung ernsterer Schäden, das heißt, mit der Warnung vor alltäglichen Verhaltensfehlern, die oft harmlos aussehen und doch weniger harmlose Folgen haben können. Trotzdem ist es mit seinen 300 Seiten das umfangreichste Werk der ganzen Reihe. Der Grund ist einfach. Nirgends sonst hat ADLER die verschiedenen Seiten und Bereiche menschlichen Zusammenlebens so erschöpfend durchgesprochen. Für die Fortbildung von Vätern und Müttern, von Lehrern und sonstigen Gehilfen der Jugend, für die Vorbereitung auf soziale Berufe und auf neue – berufliche oder menschliche – Bindungen ist es, wie mir scheint, der gelungenste unter den Darstellungsversuchen ADLERS.

Als Beispiel für die Vollständigkeit, mit der die verschiedenen Themen behandelt werden, sei das sechste Kapitel angeführt, das die »Einflüsse der Familie« auf die Entwicklung des Kindes und des heranwachsenden jungen Menschen beschreibt. Da werden der Reihe nach abgehandelt: Die Mutterbindung des Säuglings; die Vorbereitung der Mädchen auf den Beruf der Mutter; die Spiele der Knaben und der Mädchen – wobei ADLER sich ausdrücklich für das herkömmliche Puppenspiel der Mädchen einsetzt, das zur Zeit von modischen Schreibern als »verfrühte Festlegung« verdammt wird; den Männlichkeitswahn in der Auswahl der Spiele für die Knaben; die Haushaltsführung, die nach seiner Auffassung keine Sklavenarbeit, sondern eine Kunst für Begabte ist, die sich neben jeder Art von Erwerbstätigkeit sehen lassen kann; es wird ferner gesprochen über die Bedeutung der Gleichwertigkeit der Partner einer Ehe; über die Frau als Fortsetzerin der Schöpfung; über die Gefahr der Übertreibungen der Mutterbindung und ihres gedankenlosen Festhaltens über die Kindheit hinaus; über die Ausbreitung der Bindungen des Kindes auf den Vater, die Geschwister, die Nachbarn als Aufgabe der Mutter; über den Ödipus-Komplex als Symptom einer verfehlten Familienstruktur; über die Schwierigkeiten der Ablösung eines verwöhnten Kindes; über die Angst vor dem Dunkeln (den Alptraum, den pavor nocturnus usw.) als Mittel, die Mutter auch nachts mit sich zu beschäftigen; über die Folgen einer unvermeidlichen Bettlägerigkeit und ihre Behebung; über Heim- und Pflegekinder und ihre besonderen Schwierigkeiten; über die Rolle des Vaters; über die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Vater und Mutter als erstes Bild einer Ehe im Leben des Kindes; über die Notwendigkeit vorbehaltloser Gleichwertigkeit der zwei Partner als unabdingbare Voraussetzung einer wirklichen Vorbildlichkeit des elterlichen Zusammenlebens; über wirtschaftliche Arbeitsteilung in der Ehe; über Belehrungen und Strafen und die Beteiligung der beiden Eltern an ihnen; über die Rolle der beiden Herkunftsfamilien und die Notwendigkeit einer (möglichst friedlichen) Ablösung von ihnen; über die Erwerbstätigkeit der Eltern; über die Liebe zwischen Vater und Mutter als Grundvoraussetzung einer gesunden Familie; über die Notwendigkeit der Zurückhaltung ihrer Bekundungen in Gegenwart der Kinder; über die Verteilung der Schlafstätten; über die geschlechtliche Aufklärung der Kinder, ihre rechte Zeit und ihr rechtes Maß; über die Ungefährlichkeit der Straßen-Aufklärung; über die Notwendigkeit der Zurückhaltung in Geldfragen und der Vermeidung von Streitigkeiten über sie in Anwesenheit der Kinder; über die Vorzüge gleichberechtigter Zusammenarbeit der Eltern gegenüber einseitigen (väterlichen oder mütterlichen) Autoritätsansprüchen; über die Gefahren des Anspruchs von Mann oder Frau, als »Herr im Haus« anerkannt zu werden; über die Gefahren der Star- und Lieblingswirtschaft und die Vermeidung der Bevorzugung oder Zurücksetzung einzelner Kinder; über den Nutzen einer – nicht überfordernden – Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kindern; über den Nutzen der Zusammenarbeit innerhalb der Kinderschar; über die Bedeutung der Geburtenfolge, und zwar im einzelnen: über das erste Kind; über die anderen Kinder und den Streit um die Mutter; über die Auswirkungen der Geburt des zweiten Kindes auf das erste und ihre erzieherische Behandlung; über Gunst und Ungunst der Lage des zweiten Kindes selbst; über das jüngste Kind; über das einzige Kind; über den günstigsten Zeitabstand zwischen den Geburten; über den einzigen Jungen zwischen lauter Mädchen; über das einzige Mädchen zwischen lauter Jungen.

Als zweites Beispiel für die Art, wie ADLER seinen Gegenstand behandelt, sei noch das Schlußkapitel »Liebe und Ehe« genannt. Hier fällt zunächst die Kürze und Dichte in die Augen. Auf nicht mehr als 18 Seiten wird hier ein Thema – man kann fast sagen: erschöpfend – behandelt, dem andere Darsteller Hunderte von Seiten gewidmet haben. Das zweite, was auffällt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der ADLER sich über jede Versuchung hinwegsetzt, »modern« erscheinen zu wollen. Zu dem, was schon die beiden anderen großen Aufgaben des Lebens, Gemeinschaft und Beruf, fordern, tritt hier die Aufgabe, die der Fortpflanzung unmittelbar dienenden Funktionen in eine Gemeinschaft der Menschen einzubauen, deren Probleme im Grunde dieselben sind und auf dieselbe Weise gelöst werden müssen wie dort: durch ein genügend ausgebildetes Gemeinschaftsgefühl und eine ausreichende Bereitschaft zur Zusammenarbeit, unter gleichzeitigem Verzicht auf Macht-, Führungs- und Überlegenheitsansprüche und unter ehrlicher Anerkennung der uneingeschränkten Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des Partners, sei er Mann oder Frau. Die Ehe ist für ADLER nicht eine Bürgschaft fortgesetzten Glücks, sondern eine »Aufgabe für zwei«. Ohne Umschweife wird diese Aufgabe abgeleitet aus dem biologischen Zweck der Ehe, der Sicherung des Fortbestands der Menschheit durch eine genügende Zahl von Kindern, die nach Adam Riese für jedes Ehepaar bei durchschnittlich etwas über zwei liegt. Die absichtlich und ohne Not kinderlose Ehe ist für ihn eine von vielen, für den Menschen ohne genügendes Gemeinschaftsgefühl kennzeichnenden Arten, sich zu sichern, was das Leben an Freuden zu bieten hat, ohne den Preis zu zahlen, den die Natur dafür verlangt; eine besonders auffallende Art, zu nehmen, ohne zu geben. Zu einer »erfolgreichen« Ehe, wie die Natur – und nicht etwa nur eine zufällige Überlieferung oder willkürliche Festsetzung – sie verlangt, gehört demnach außer den Kindern auch die Entschlossenheit, gemeinsam alle Mühen und Beschwerden auf sich zu nehmen, die die Sorge für die Kinder mit sich bringt. Es ist eine kranke Gesellschaft, die das den Dummen vom Lande überläßt, die nicht wissen, wie sie sich davor drücken können.

Es stört ADLER nicht im geringsten, daß seine Beurteilung der Ehefrage auf eine Bestätigung altüberlieferter Forderungen des Christentums hinausläuft. Dies gilt vor allem für die Forderung der Einehe – als einziger Form ehelichen Zusammenlebens, in der die Forderung völliger Gleichberechtigung der Frau verwirklicht werden kann. Es gilt ferner für die Forderung der grundsätzlichen Unauflösbarkeit, neben der die Scheidung nicht als zweite Möglichkeit, sondern nur als bedauerliche Ausnahme bei unheilbaren Zerwürfnissen anerkannt wird. Nach ADLER wird eine Ehe für immer geschlossen oder sie ist von vornherein nicht existent. Ein Mensch kann einem anderen, den er zu der engsten und verantwortungsvollsten Zusammenarbeit einlädt, die es im Leben gibt, nicht versichern, er könne sich von nun an auf ihn verlassen, aber (beispielsweise) nur bis zum 31.12.1979, oder, was der Wirklichkeit näherkommt, bis auf weiteres mit vierzehntätiger Kündigung. Auch die beiden zuletzt genannten Forderungen hat ADLER nicht aus Rücksicht auf die religiöse Überlieferung gestellt. Sonst hätte er nicht mit derselben Entschiedenheit die Forderung, die Ehefrau solle ihrem Mann »untertan sein«, ablehnen können.

Bemerkenswert ist auch die Entschiedenheit, mit der ADLER auch andere in den letzten Jahrzehnten geforderte »Erleichterungen« wie die Probeehe und dergleichen ablehnt. Die Ehe ist für ihn, wie gesagt, eine Aufgabe. Der Tag der Eheschließung ist danach nicht das happy end, als das er in der gängigen Unterhaltungsliteratur dargestellt wird. Er bedeutet vielmehr den Beginn einer Folge von Pflichten, deren Ende mit dem Ende des Lebens zusammenfällt, deren Erfüllung aber das größte Glück gewähren kann, das im Leben zu erreichen ist. Das ist keine schlichte Behauptung, sondern ein Erfahrungssatz, der sich freilich nicht mit statistisch verwertbaren Zahlen belegen läßt.

Nachdem die beiden bedeutsamsten Stellen von ADLERS Schrift gewürdigt sind, soll auch die schwächste nicht verschwiegen werden. Es ist das Kapitel über die Träume. Dieses Kapitel enthält eine ganze Reihe wichtiger negativer Aussagen, die man nur bestätigen kann. Aber seine eigene Theorie der Träume läßt sich, angesichts der Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen, die – erst nach dem Tod ADLERS – durch KLEITMANN in Chicago eingeleitet wurden, nicht mehr halten. Dies kann hier nicht mehr im einzelnen ausgeführt werden. Wer das Traum-Kapitel überschlägt, verliert nichts Wesentliches, und es bleibt ihm in ADLERS Buch genug zu lernen.

 

Bebenhausen, 18. März 1979. WOLFGANG METZGER

1.Der Sinn des Lebens

Wir Menschen leben in einer Welt sinnvoller Beziehungen. Wir erfahren keine reinen Sachverhalte, wir erfahren immer Sachverhalte in ihrer Bedeutsamkeit für den Menschen. Unsere Erfahrung ist schon an ihrer Quelle durch unsere menschlichen Zwecke bestimmt. ›Holz‹ bedeutet ›Holz in seiner Beziehung zum Menschen‹, ›Stein‹ bedeutet ›Stein, insofern er ein Faktor im menschlichen Leben sein kann‹. Wenn ein Mensch versuchen wollte, den Bedeutungen zu entrinnen und sich nur den Sachverhalten zu widmen, wäre er sehr unglücklich: Er würde sich von seinen Mitmenschen isolieren, seine Handlungen würden weder ihm selbst noch sonst jemandem nützen, sie wären, mit einem Wort, sinnlos. Aber kein menschliches Wesen kann ohne Sinn leben. Wir erfahren die Wirklichkeit immer durch den Sinn, den wir ihr geben; nicht an sich, sondern als etwas bereits Gedeutetes. Es liegt deshalb nahe, anzunehmen, daß dieser Sinn immer mehr oder weniger unvollkommen, unvollendet ist, ja sogar, daß er niemals völlig richtig ist. Unsere Welt der sinnvollen Beziehungen ist eine Welt voller Fehler.

Wenn wir einen Menschen fragen: »Was ist der Sinn des Lebens?«, kann er vielleicht nicht antworten. Die Leute zerbrechen sich im allgemeinen nicht den Kopf über diese Frage und versuchen nicht, Lösungen zu formulieren. Doch trifft es zu, daß die Frage so alt ist wie die menschliche Geschichte und daß auch heutzutage junge Menschen – und auch ältere – oft in den Ruf ausbrechen: »Aber wozu das alles? Welchen Sinn hat das Leben?« Indessen dürfen wir behaupten, daß sie nur so fragen, wenn sie eine Niederlage erlitten haben. Solange das Lebensschifflein glatt dahinsegelt und keine schwierigen Prüfungen bestanden werden müssen, fassen sie die Frage nicht in Worte. Es sind seine Handlungen, in denen jedermann notwendigerweise die Frage stellt und beantwortet. Wenn wir unsere Ohren seinen Worten verschließen und seine Handlungen beobachten, finden wir, daß er seinen eigenen individuellen ›Lebenssinn‹ hat und daß alle seine Stellungen, Haltungen, Bewegungen, Ausdrucksformen, Manieren, ehrgeizigen Wünsche, Gewohnheiten und Charakterzüge mit diesem Sinn übereinstimmen. Er benimmt sich, als ob er sich auf ein bestimmtes Verständnis des Lebens verlassen könnte. All seinen Handlungen liegt eine bestimmte vorgefaßte Meinung von der Welt und von sich selbst zugrunde; ein Urteil: »So bin ich und so ist das Universum«; ein Sinn, den er sich selbst, und ein Sinn, den er dem Leben gibt.

Es gibt so viele Vorstellungen vom Lebenssinn wie Menschen, und jede von ihnen ist, wie wir bereits vermuteten, mehr oder weniger falsch. Niemand besitzt den vollkommenen richtigen Lebenssinn; andererseits müssen wir zugeben, daß kein Sinn, der nur überhaupt zweckdienlich ist, als völlig falsch bezeichnet werden darf. Alle Sinnvorstellungen sind Spielarten zwischen diesen beiden Grenzen. Unter diesen Spielarten jedoch können wir solche unterscheiden, die bessere, und andere, die schlechtere Antworten geben: Bei manchen ist der Fehler gering, bei anderen beträchtlich. Wir können herausfinden, was es denn ist, das die besseren Sinnvorstellungen gemeinsam haben, und woran es den minderwertigeren gebricht. Auf diese Weise können wir zu einem wissenschaftlich begründeten ›Sinn des Lebens‹ gelangen, zu einem gemeinschaftlichen Kennzeichen richtiger Sinnvorstellungen, zu einem Sinn, der uns in die Lage versetzt, der Wirklichkeit, soweit sie die Menschheit betrifft, zu begegnen. Auch hier müssen wir festhalten, daß ›richtig‹ bedeutet: ›richtig für die Menschheit‹, richtig für die Zwecke und Ziele menschlicher Wesen. Es gibt keine andere Richtigkeit, und wenn es eine andere gäbe, könnte sie uns nichts angehen, wir könnten sie nicht begreifen, sie wäre bedeutungslos für uns.

 

Jeder Mensch hat drei Hauptpflichten; ihnen muß er vor allem genügen. Sie machen für ihn die Wirklichkeit aus. Alle die Fragen, die sich ihm stellen, gehen in Richtung dieser Pflichten. Er muß ständig nach Lösungen für diese Fragen suchen, weil sie ihn täglich herausfordern, und seine Lösungsversuche zeigen uns seinen Begriff vom Sinn seines Lebens. Die erste dieser Pflichten ergibt sich daraus, daß wir auf der Rinde dieses armseligen Planeten, der Erde, leben und nirgends sonst. Wir müssen uns unter den Einschränkungen und mit den Möglichkeiten entwickeln, die uns dieser unser Wohnsitz bietet. Gleichermaßen körperlich und geistig müssen wir uns so entwickeln, daß wir unser persönliches Leben auf der Erde fortsetzen und die Zukunft der Menschheit sicherstellen können. Dies ist eine Aufgabe, die jeden einzelnen von uns herausfordert. Niemand kann sich ihr entziehen. Was immer wir tun, unsere Handlungen sind unsere persönliche Antwort auf die Umstände des menschlichen Lebens; sie offenbaren, was wir für notwendig, passend, möglich und wünschenswert halten. Jede Antwort muß der Tatsache Rechnung tragen, daß wir zur Menschenfamilie gehören und daß die Menschen Wesen sind, die diese Erde bewohnen.

Wenn wir weiterhin die Schwäche des menschlichen Körpers und die Unsicherheit unserer Lage bedenken, erkennen wir, daß wir um unseres eigenen Lebens und um des Wohles der Menschheit willen unsere Antworten und Lösungsvorschläge auf einen festen Grund stellen, sie weitschauend und umfassend machen müssen. Es ist, als ob uns eine mathematische Aufgabe gestellt wäre: Wir müssen uns bemühen, die Lösung zu finden. Wir können nicht aufs Geratewohl oder nach Vermutungen arbeiten, sondern müssen systematisch, unter Anwendung aller verfügbaren Mittel, vorgehen. Wir werden keine völlig fehlerfreie Lösung finden, die ein für allemal gültig ist; nichtsdestoweniger müssen wir alle unsere Fähigkeiten einsetzen, um zu einer angenäherten, zu der bestmöglichen Lösung gelangen. Wir müssen immer um eine noch bessere Lösung ringen, und jede Lösung muß eine unmittelbare Beziehung zu der Tatsache haben, daß wir an die Rinde dieses armen Planeten, der Erde, gebunden sind, mit allen Vor- und Nachteilen, die diese Lage mit sich bringt.

Hier kommen wir zu der zweiten Pflicht. Wir sind nicht die einzigen Angehörigen des Menschengeschlechts. Es gibt andere rund um uns, wir leben in ihrer Gesellschaft. Die Schwäche und die Begrenzungen des Menschen machen es ihm unmöglich, seine Ziele allein zu erreichen. Wenn er allein lebte und seine Aufgaben für sich allein zu bewältigen versuchte, müßte er zugrunde gehen. Er wäre nicht einmal imstande, sein eigenes Leben zu erhalten, viel weniger, für das Fortbestehen der Menschheit zu sorgen. Immer ist der Mensch an andere Menschen gebunden – wegen seiner eigenen Schwächen, Unzulänglichkeiten und Beschränkungen. Die wichtigste Vorbedingung für sein persönliches Wohl und das Wohl der Menschheit ist die Gesellschaft. Deshalb muß jede Lösung der Lebensprobleme diese Bindung berücksichtigen; sie darf die Tatsache nicht aus den Augen lassen, daß wir in Gesellschaft leben und umkommen müßten, wenn wir allein wären. Wenn wir überleben sollen, müssen selbst unsere Gefühle mit dieser wichtigsten aller Aufgaben und Zwecke und Ziele in Einklang stehen – der Fortdauer unseres persönlichen Lebens und des Lebens der Menschheit auf diesem Planeten, den wir bewohnen, in Zusammenarbeit mit unseren Mitmenschen.

Eine dritte Pflicht gibt es, die uns bindet. Der Mensch lebt in zwei Geschlechtern. Zum Zwecke der Erhaltung des Lebens jedes Einzelnen und der Gemeinschaft muß diese Tatsache berücksichtigt werden. Das Problem von Liebe und Ehe gehört in den Bereich dieser dritten Pflicht. Kein Mann und keine Frau kann sich einer Lösung entziehen. Sie geben sie durch das, was sie tun, wenn sie vor dieser Aufgabe stehen. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, diese Aufgabe zu bewältigen; immer zeigt der einzelne durch seine Handlungen, welchen Begriff er von der einzigen Möglichkeit hat, in der die Aufgabe für ihn lösbar ist.

 

So setzen diese drei Pflichten drei Problemkreise: Wie finde ich eine Beschäftigung, die mich befähigt, unter den naturgegebenen Beschränkungen auf dieser Erde zu überleben? Wie finde ich eine Stellung unter meinen Mitmenschen, so daß ich mit ihnen zusammenarbeiten und die Wohltaten der Gemeinschaft genießen kann? Wie trage ich der Tatsache Rechnung, daß der Mensch in zwei Geschlechtern lebt und daß die Zukunft und Fortdauer des Menschengeschlechts von unserem Liebesleben abhängt?

Der Individualpsychologie sind keine Lebensfragen bekannt, die nicht einer dieser drei Hauptfragen zuzuordnen wären – derjenigen der Arbeit, der Gesellschaft und der Geschlechtlichkeit. Und gerade durch die Art ihres Verhaltens zu diesen drei Aufgaben enthüllt jeder einzelne von uns unverkennbar seine innerste Überzeugung vom Sinn des Lebens. Nehmen wir zum Beispiel an, wir betrachten einen Menschen, dessen Liebesleben unbefriedigend ist, der sich in seinem Beruf nicht anstrengt, der wenig Freude hat und die Berührung mit seinen Mitmenschen als peinlich empfindet. Aus den Begrenzungen und Einschränkungen seines Lebens können wir schließen, daß er das Gefühl hat, ›Leben‹ sei eine schwierige und gefahrvolle Sache, die wenig günstige Gelegenheiten und viele Mißerfolge bereithält. Man könnte über sein eingeschränktes Betätigungsfeld das Motto setzen: »Leben heißt, mich selbst vor Verletzungen zu schützen, mich einzukapseln, heil davonzukommen.« Nehmen wir andererseits an, wir beobachten einen Menschen, dessen Liebesleben eine innige und beziehungsreiche Gemeinschaft darstellt, dessen berufliche Arbeit in nützlichen Leistungen gipfelt, der viele Freunde hat und dessen Kontakte zu seinen Mitmenschen weitgespannt und fruchtbar sind. Bei diesem Menschen kommen wir zu der Folgerung, er empfinde sein Leben als schöpferische Aufgabe, die ihm viele günstige Gelegenheiten und keinerlei endgültige Niederlagen bietet. Sein Mut bei der Bewältigung der Lebensaufgaben könnte in der Feststellung zusammengefaßt werden: »Leben heißt, Anteil zu nehmen an den Mitmenschen. Teil des Ganzen zu sein, nach Kräften zum Wohl der Menschheit beizutragen.«

Gerade hier nun haben wir den allgemeinen Maßstab für die Unzulänglichkeit oder Richtigkeit der Vorstellungen vom ›Sinn des Lebens‹. Alle Versager – Neurotiker, Psychotiker, Kriminelle, Trinker, Sorgenkinder, Selbstmörder, Perverse und Prostituierte – sind Versager, weil ihnen das Gemeinschaftsgefühl und die Anteilnahme an der Gemeinschaft fehlt. Sie packen die Aufgaben der Arbeit, der Freundschaft und des Geschlechtslebens ohne die Überzeugung an, daß sie durch gemeinschaftliche Bemühungen gelöst werden können. Der Sinn, den sie dem Leben geben, ist ein privater Sinn: Niemand außer ihnen selbst hat einen Vorteil, wenn sie ihre Ziele erreichen, ihr Interesse richtet sich nur auf die eigene Person. Das Ziel ihres Erfolgsstrebens ist ein Ziel bloßer fiktiver persönlicher Überlegenheit, und ihre Triumphe bedeuten nur ihnen selbst etwas. Mörder gestanden, daß sie ein Gefühl der Macht empfanden, wenn sie eine Flasche mit Gift in der Hand hielten; aber offensichtlich hatten sie dabei nur sich selbst im Auge; dem Rest der Menschheit verleiht der Besitz einer Flasche mit Gift, wie es scheint, kein erhöhtes Selbstwertgefühl. Ein privater Lebenssinn ist in der Tat überhaupt kein Sinn. Sinn ist nur möglich im Umgang mit anderen. Ein Wort, das nur für eine einzige Person sinnvoll wäre, wäre in Wirklichkeit sinnlos. Ebenso verhält es sich mit unseren Zielen und Handlungen: Ihr einziger Sinn ist der Sinn für andere. Jeder Mensch strebt nach Bedeutsamkeit; aber es ist ein Fehler, nicht zu sehen, daß unsere ganze Bedeutsamkeit in unseren Leistungen für andere besteht.

Von der Leiterin einer kleinen religiösen Sekte wird eine Anekdote berichtet: Sie rief eines Tages ihre Getreuen zusammen und teilte ihnen mit, daß das Weltende am nächsten Mittwoch fällig sei. Ihre Gläubigen waren sehr beeindruckt, verkauften ihre Besitztümer, wandten sich von allen weltlichen Geschäften ab und warteten erregt auf den angekündigten Schicksalsschlag. Der Mittwoch verstrich ohne besondere Vorkommnisse. Am Donnerstag beriefen sie eine Versammlung ein, um eine Erklärung zu verlangen. »Sieh’, in welchen Schwierigkeiten wir sind«, sagten sie. »Wir haben alle Sicherungen hinter uns gelassen. Jedem, den wir trafen, sagten wir, daß am Mittwoch die Welt untergehen werde, und wenn sie uns auslachten, ließen wir uns nicht beirren, sondern wiederholten, daß wir es von einer unfehlbaren Autorität wüßten. Der Mittwoch ist vorbei und die Welt steht immer noch hier um uns herum.« »Aber mein Mittwoch«, sagte die Prophetin, »ist nicht euer Mittwoch.« So, durch einen privaten Sinn, sicherte sie sich gegen Vorwürfe. Ein privater Sinn kann niemals auf die Probe gestellt werden.

Das Kennzeichen aller richtigen Vorstellungen vom ›Sinn des Lebens‹ ist, daß sie allgemeingültig sind – es sind Vorstellungen, die andere teilen und als gültig anerkennen können. Eine gute Lösung der Lebensaufgaben wird immer den Weg auch für andere frei machen; in ihr sehen wir allgemeine Fragen erfolgreich bewältigt. Selbst Genie ist lediglich als höchste Nützlichkeit zu definieren: Nur wenn von der Mit- und Nachwelt anerkannt wird, daß das Leben eines Menschen bedeutsam für sie ist, sprechen wir von Genie. Der durch ein derartiges Leben ausgedrückte Sinn wird immer sein: »Leben heißt Leistung für die Allgemeinheit.« Wir beziehen uns hier nicht auf eindeutig formulierte Sinnvorstellungen. Wir verschließen unsere Ohren vor allen Bekenntnissen und sehen nur auf die Taten. Der Mensch, der die Aufgabe des menschlichen Lebens erfolgreich bewältigt, handelt, als ob er uneingeschränkt und aus freien Stücken anerkennt, daß der Sinn des Lebens Anteilnahme an anderen und Zusammenarbeit mit ihnen sei. Er scheint bei allem, was er tut, vom Gedanken an das Wohl seiner Mitmenschen geleitet zu sein, und wo er auf Schwierigkeiten trifft, sucht er sie durch Mittel zu überwinden, die mit den Interessen der Menschheit in Einklang stehen.

 

Dies ist vielleicht für manche Leute eine ungewohnte Betrachtungsweise, und sie fragen sich, ob der Sinn, den wir dem Leben geben, wirklich nur Leistung für andere, Teilnahme an anderen und Zusammenarbeit mit ihnen sein solle. Sie wenden vielleicht ein: »Aber was ist mit dem Individuum? Wenn es immer auf andere Rücksicht nimmt und sich ihren Interessen widmet, leidet dann nicht seine eigene Individualität? Ist es nicht notwendig, wenigstens für manche Menschen, an sich selbst zu denken, wenn sie sich richtig entwickeln sollen? Gibt es nicht unter uns manche, die vor allem lernen sollten, ihre eigenen Interessen zu wahren und ihre eigene Persönlichkeit zu stärken?« Diese Betrachtungsweise ist, wie ich glaube, ganz falsch, und das Problem, das sie aufwirft, ein Scheinproblem. Wenn ein Mensch gemäß dem Sinn, den er dem Leben gibt, etwas leisten will und wenn alle seine Bestrebungen auf dieses Ziel gerichtet sind, muß er sich natürlich in die beste Form für die Leistung bringen. Er wird sich seinem Ziel anpassen, sich im Gemeinschaftsgefühl üben und durch die Tätigkeit zur Könnerschaft heranreifen. Ist das Ziel klar, wird die Übung folgen. Dann und nur dann wird er darangehen, sich für die Lösung der drei Lebensprobleme auszurüsten und seine Fähigkeiten zu entwickeln.

Nehmen wir das Beispiel von Liebe und Ehe. Wenn wir an unserem Partner Anteil nehmen, wenn wir uns bemühen, sein Leben zu erleichtern und zu bereichern, machen wir selbstverständlich das Beste aus uns selbst. Wenn wir glauben, wir müßten unsere Persönlichkeit im Leeren entwickeln, ohne das Ziel schöpferischer Leistung für andere, werden wir höchstens herrschsüchtig und unerträglich.

Es gibt einen weiteren Hinweis, dem wir entnehmen können, daß der wahre Lebenssinn in der Leistung für andere besteht.

Wenn wir auf das Erbe zurückblicken, das wir von unseren Vorfahren übernommen haben, was sehen wir? Lediglich ihre schöpferischen Leistungen für die menschliche Gesellschaft haben sie überlebt. Wir sehen kultivierten Boden; wir sehen Eisenbahnen und Gebäude; wir sehen die allgemein verbreiteten Ergebnisse ihrer Lebenserfahrung – in Überlieferungen, in philosophischen Systemen, in den Naturwissenschaften, den Künsten, in der Technik des Umgangs mit unserer Situation als Menschen. All dies haben wir von Leuten übernommen, die für das Wohl der Menschheit gearbeitet haben. Was geschah mit den anderen? Was ist mit jenen, die nie etwas für die Gemeinschaft leisteten, die dem Leben einen anderen Sinn gaben, die nur fragten: »Was kann ich aus meinem Leben herausholen?« Sie haben keine Spur hinterlassen. Sie sind nicht nur tot; ihr ganzes Leben war vergeblich. Es ist, als hätte unsere Erde selbst zu ihnen gesagt: »Wir brauchen euch nicht. Ihr seid für das Leben nicht geeignet. Es gibt keine Zukunft für eure Ziele und Bestrebungen, für die Werte, die euch teuer sind, für euren Geist und eure Seele. Fort mit euch! Ihr seid nicht erwünscht. Sterbt aus und verschwindet!« Das endgültige Urteil über Menschen, die dem Leben irgendeinen anderen Sinn beimessen als die Leistung für die Gemeinschaft, lautet immer: »Du bist nutzlos. Niemand braucht dich. Geh weg!« Natürlich können wir in unserer gegenwärtigen Kultur viele Unvollkommenheiten finden. Wenn wir einen Mangel finden, müssen wir versuchen, ihm abzuhelfen; aber die Änderung muß immer derart sein, daß dem Wohl der Menschheit noch mehr gedient wird.

Es hat immer Menschen gegeben, die diese Tatsache begriffen haben; die wußten, daß der Sinn des Lebens darin besteht, am Ganzen der Menschheit Anteil zu nehmen, und die das Gemeinschaftsgefühl und die Liebe zu fördern versuchten. Diese Sorge für das Heil des Menschen finden wir bei allen Religionen. In allen großen geistigen Bewegungen der Welt bemühten sich Menschen, das Gemeinschaftsgefühl zu steigern, und die Religion ist eine der wichtigsten Bestrebungen in diesem Sinn. Religionen jedoch wurden oft falsch verstanden, und man kann sich schwer vorstellen, daß sie mehr tun können, als bereits geschieht, wenn sie sich nicht viel nachdrücklicher um diese allgemeine Aufgabe bemühen. Die Individualpsychologie gelangt auf wissenschaftlichem Wege zu derselben Schlußfolgerung und legt eine wissenschaftlich begründete Arbeitsweise vor. Dies bedeutet, wie ich glaube, einen Schritt vorwärts. Vielleicht ist eine Wissenschaft, die die Anteilnahme des Menschen an seinem Mitmenschen und am Wohl des Menschengeschlechts vertieft, besser in der Lage, das Ziel zu erreichen, als jede andere Bewegung, sei sie politisch oder religiös. Wir nähern uns der Aufgabe von einer anderen Richtung her, aber das Ziel ist dasselbe: die Anteilnahme am Mitmenschen zu fördern.

Da der Sinn, dem wir dem Leben geben, wie ein Schutzengel oder böser Geist unseres Lebenslaufs wirkt, ist es natürlich von höchster Wichtigkeit, zu verstehen, wie diese Sinngebungen zustande kommen, wie sie sich voneinander unterscheiden und wie sie berichtigt werden können, wenn sie grobe Fehler enthalten. Dies ist das Reich der Psychologie, im Gegensatz zur Physiologie oder Biologie: der Nutzen, den ein Verständnis der Sinngebungen und der Art, wie diese das Handeln und Schicksal des Menschen beeinflussen, für das allgemeine Wohl hat. Von den ersten Tagen der Kindheit an können wir ein unsicheres Tasten nach diesem ›Sinn des Lebens‹ beobachten. Schon das Baby trachtet danach, seine eigenen Möglichkeiten und seine Rolle in dem Lebensganzen, das es umgibt, abzuschätzen. Gegen das Ende des fünften Lebensjahres hat das Kind ein einheitliches, festgefügtes Verhaltensmuster ausgebildet, einen eigenen Stil, an Probleme und Aufgaben heranzugehen. Ein dauerhafter, sehr tief verwurzelter Begriff von dem, was es von der Welt und von sich selbst zu erwarten hat, steht für es bereits fest. Von nun an sieht es die Welt durch ein feststehendes Auffassungsmuster: Erfahrungen werden gedeutet, bevor sie angenommen werden, und die Deutung entspricht immer dem Sinn, der dem Leben ursprünglich beigelegt wurde. Auch wenn dieser Sinn sehr schwere Fehler enthält, auch wenn unsere Art des Herangehens an Probleme und Aufgaben beständig zu Mißerfolgen und Qualen führt, geben wir unsere Verhaltensweisen nur höchst ungern auf. Fehler in der Sinngebung des Lebens können nur dadurch behoben werden, daß die Lage, in der die falsche Deutung erfolgte, noch einmal durchdacht, der Irrtum erkannt und das Auffassungsschema berichtigt wird. In seltenen Fällen kann sich vielleicht das Individuum durch die Folgen eines mißlungenen Ansatzes gezwungen sehen, den Sinn, den es dem Leben gegeben hat, neu zu durchdenken, und es kann ihm gelingen, die Änderung aus eigener Kraft zustande zu bringen. Doch wird dies nie ohne einen gewissen sozialen Druck erfolgen, und nie, ohne daß die betreffende Person erkennt, daß sie am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt ist, sofern sie den alten Ansatz beibehält. Meistens erfordert die Berichtigung des falschen Ansatzes die Hilfe eines Fachmanns, der im Verstehen dieser Sinngebung geübt ist, der sich an der Aufdeckung des zugrundeliegenden Irrtums beteiligen und eine angemessenere Sinngebung vorschlagen kann.

Nehmen wir als einfaches Beispiel verschiedenen Arten, wie Kindheitserlebnisse gedeutet werden können. Unglücklichen Kindheitserfahrungen kann ein durchaus gegensätzlicher Sinn beigelegt werden. Der eine wird sich nicht lange bei ihnen aufhalten und sie nur als etwas auffassen, das in Zukunft zu vermeiden ist. Er denkt: »Wir müssen uns dafür einsetzen, solche unglücklichen Lagen unmöglich zu machen und dafür zu sorgen, daß es unseren Kindern bessergeht.« Ein anderer denkt: »Das Leben ist ungerecht. Andere Leute haben es immer besser. Wenn die Welt mich so behandelt hat, warum sollte ich die Welt irgendwie besser behandeln?« So äußern manche Eltern über ihre Kinder: »Ich mußte ebensoviel aushalten, als ich Kind war, und ich habe es überstanden. Warum sollten sie es nicht überstehen?« Ein dritter wird denken: »Mir muß wegen meiner unglücklichen Kindheit alles vergeben werden.« In den Handlungen dieser drei Menschen wird ihre jeweilige Deutung ihres Schicksals sichtbar werden; und sie werden ihre Handlungsweisen niemals ändern, solange sie die Deutungen nicht ändern. Hier ist der Ort, wo die Individualpsychologie die Theorie des Determinismus durchbricht. Die Erfahrungen sind nicht die (unentrinnbare) Ursache von Erfolg oder Mißerfolg. Wir leiden nicht an einem aus unseren Erfahrungen stammenden Schock – dem sogenannten Trauma –, sondern wir machen aus unseren Erfahrungen genau das, was unseren Zwecken dient. Wir sind durch den Sinn, den wir unseren Erfahrungen geben, selbst-bestimmt; dieser Sinn aber ist wahrscheinlich immer irgendwie fehlerhaft, wenn wir bestimmte vereinzelte Erfahrungen zur Grundlage unseres zukünftigen Lebens machen. Der Sinn ist nicht durch eine bestimmte Lage festgelegt, sondern wir legen uns selber fest durch den Sinn, den wir den Lagen geben.

Indessen gibt es gewisse Kindheits-Situationen, die häufig zu sehr schwer fehlerhaften Sinngebungen führen. Aus Kindern in diesen Situationen kommt die Mehrzahl der Versager. Zuerst müssen wir an Kinder mit minderwertigen Organen denken, an solche, die während ihrer Säuglingszeit an Krankheiten oder Schwächen gelitten haben. Solche Kinder tragen an einer überschweren Last, es ist für sie schwierig, zu der Einsicht zu gelangen, daß der Sinn des Lebens Leistung für andere ist. Wenn sie nicht jemanden in ihrer Nähe haben, der ihre Aufmerksamkeit von ihnen selbst weglenken und sie für andere interessieren kann, beschäftigen sie sich wahrscheinlich vor allem mit ihren eigenen Empfindungen. Später werden sie vielleicht entmutigt, wenn sie sich mit ihren Mitmenschen vergleichen, und in unserer heutigen Zivilisation kann es sogar geschehen, daß ihre Minderwertigkeitsgefühle durch das Mitleid, den Spott oder die Ablehnung ihrer Kameraden verstärkt werden. All dies sind Umstände, die sie veranlassen können, sich auf sich selbst zurückzuziehen, die Hoffnung auf eine nützliche Rolle in unserer Gesellschaft aufzugeben und sich als von der Welt ganz persönlich gedemütigt zu fühlen.

Ich war, glaube ich, der erste, der die Schwierigkeiten aufzeigte, vor denen ein Kind steht, dessen Organe minderwertig oder dessen innere Sekretion nicht normal ist. Dieser Zweig der Naturwissenschaft hat außerordentliche Fortschritte gemacht, allerdings nicht in der Weise, wie ich mir die Entwicklung gewünscht hätte. Ich suchte von Anfang an nach einem Verfahren, diese Schwierigkeiten zu bewältigen, nicht nach einem Grund, die Verantwortung für Fehlschläge der Vererbung oder der körperlichen Befindlichkeit zuzuschreiben. Keine Organminderwertigkeit zwingt zu einem fehlerhaften Lebensstil. Wir finden keine zwei Kinder, deren Hormone die gleiche Wirkung auf sie haben. Wir können oft Kinder beobachten, die diese Schwierigkeiten überwinden und gerade dadurch ungewöhnliche, praktisch nutzbare Fähigkeiten entwickeln. In diesem Sinne ist die Individualpsychologie keinesfalls ein sehr gutes Aushängeschild für Pläne zu eugenischer Zuchtwahl. Viele sehr berühmte Menschen, Menschen, die für unsere Kultur große Leistungen vollbrachten, begannen mit minderwertigen Organen, ihre Gesundheit war oft schwach, und manchmal sind sie früh gestorben. Hauptsächlich solchen Menschen, die schwer zu kämpfen hatten, sowohl gegen körperliche Schwächen als auch gegen die äußeren Umstände, haben wir Fortschritte und neue Errungenschaften zu danken. Der Kampf stärkte sie, und sie schritten weiter voran. Der Körper sagt uns nichts darüber, ob die geistige Entwicklung schlecht oder gut sein wird. Bisher jedoch wurde der Mehrzahl der Kinder, die mit minderwertigen Organen oder unzureichend funktionierenden Drüsen zur Welt kamen, nicht die richtige Erziehung zuteil; man verstand ihre Schwierigkeiten nicht und so entwickelten sie nur für ihre eigene Person Interesse. Daher finden wir unter den Kindern, deren erste Lebensjahre durch Organminderwertigkeit belastet waren, eine so große Anzahl von Versagern.

 

Einem zweiten Typ von Umständen, der oft Anlaß zu Mißgriffen in der Sinngebung des Lebens gibt, ist die Lebenslage des verwöhnten Kindes zuzurechnen. Das verwöhnte Kind erwartet gewohnheitsmäßig, daß seine Wünsche als Gesetze betrachtet werden. Es genießt eine bevorzugte Stellung, ohne etwas dafür zu tun, als sein angeborenes Recht. Wenn es dann später in Verhältnisse kommt, wo es nicht mehr der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist und wo die Umwelt es nicht mehr als ihre Hauptaufgabe betrachtet, auf seine Empfindungen Rücksicht zu nehmen, ist es völlig verwirrt: Es hat das Gefühl, daß seine Welt es betrogen und verlassen hat. Es wurde dazu erzogen, zu nehmen, nicht, zu geben. Eine andere Weise der Bewältigung von Schwierigkeiten ist ihm unbekannt. Die anderen haben es in jeder Hinsicht bedient, so daß es seine Selbständigkeit verloren hat und nicht weiß, daß es selbst etwas tun kann. Es denkt nur an sich selbst, von Nutzen und Notwendigkeit der Gemeinschaft hat es keine Ahnung. Wenn es Schwierigkeiten vor sich sieht, kennt es nur ein einziges Verfahren, mit ihnen fertigzuwerden – es stellt Forderungen an die anderen. Es ist der Meinung, es könne seine bevorzugte Stellung wiedergewinnen, wenn es die anderen zwingen kann, anzuerkennen, daß es ein außergewöhnlicher Mensch ist, dem alle Wünsche erfüllt werden müssen; dann, und nur dann, werde sich seine Lage verbessern.

Diese herangewachsenen verwöhnten Kinder sind vielleicht die gefährlichste Klasse in unserer Gesellschaft. Manche von ihnen ergehen sich in wortreichen Beteuerungen ihres guten Willens; sie können sogar sehr ›liebenswürdig‹ sein, um sich eine Gelegenheit zu sichern, andere nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen; aber sie befinden sich im Streikzustand gegen die Gemeinschaft, gegen die Zumutung, gewöhnliche Menschen mit gewöhnlichen menschlichen Aufgaben zu sein. Andere lehnen sich offen auf: Wenn sie die selbstverständliche Wärme und Dienstbarkeit, an die sie gewöhnt sind, nicht mehr erfahren, fühlen sie sich betrogen; sie betrachten die Gesellschaft als ihren Feind und suchen sich an allen ihren Mitmenschen dafür zu rächen. Wenn die Gesellschaft, wie es fast mit Sicherheit geschieht, sich zu ihren Lebensgewohnheiten feindlich verhält, nehmen sie dies als weiteren Beweis dafür, daß sie ganz persönlich schlecht behandelt werden. Dies ist der Grund dafür, weshalb Bestrafungen immer wirkungslos sind; sie können lediglich die Überzeugung bekräftigen: »Die anderen sind gegen mich.« Ob nun das verwöhnte Kind streikt oder offen revoltiert, ob es danach trachtet, durch Schwäche zu herrschen oder sich gewaltsam zu rächen, es macht im Grunde fast den gleichen Fehler. Wir finden in der Tat Menschen, die es zu verschiedenen Zeiten mit beiden Methoden versuchen. Ihr Ziel bleibt unverändert dasselbe. Für sie ist der Sinn des Lebens: der Erste zu sein, als der Bedeutendste anerkannt zu werden, alles zu bekommen, was sie wünschen. Und solange sie fortfahren, dem Leben diesen Sinn beizulegen, wird jedes Vorgehen, dessen sie sich bedienen, ein Mißgriff sein.

Die dritte Situation, in der leicht ein Fehler begangen werden kann, ist die des vernachlässigten Kindes. Ein solches Kind hat nie erlebt, was Liebe und Gemeinschaft sein kann; in seinem Verständnis des Lebens kommen diese menschenfreundlichen Kräfte nicht vor. Wenn es die Probleme des Lebens ins Auge faßt, überschätzt es verständlicherweise ihre Schwierigkeit und unterschätzt seine eigene Fähigkeit, sie mit der Hilfe und dem guten Willen seiner Mitmenschen zu bewältigen. Es hat erlebt, daß die Gesellschaft kalt zu ihm war und erwartet, daß sie immer kalt sein wird. Vor allem kann es nicht begreifen, daß es durch Handlungen, die den anderen nützen, ihre Liebe und Achtung gewinnen kann. So wird es immer den anderen gegenüber mißtrauisch sein, aber auch an mangelndem Selbstvertrauen leiden Es gibt wirklich keine Erfahrung, die an die Stelle uneigennütziger Zuneigung treten könnte. Die erste Aufgabe einer Mutter ist, dem Kind die Erfahrung einer völlig vertrauenswürdigen Person zu vermitteln; später muß sie dafür sorgen, daß dieses Vertrauen sich erweitert und vertieft, bis das Kind die gesamte Umgebung mit einschließt. Wenn sie die erste Aufgabe nicht zufriedenstellend gelöst hat – wenn es ihr nicht gelungen ist, im Kind Teilnahme, Zuneigung und den Sinn für Zusammenarbeit zu wecken, ist es für dieses sehr schwierig, Gemeinschaftsgefühl und kameradschaftliche Empfindungen für seine Mitmenschen zu entwickeln. Jedermann hat die Fähigkeit, am Leben anderer mitfühlend teilzunehmen, aber diese Fähigkeit muß genährt und geübt werden, wenn ihre Entwicklung nicht im Keim erstickt werden soll.

Gäbe es den reinen Typ des vernachlässigten oder gehaßten oder unerwünschten Kindes, so müßten wir wahrscheinlich feststellen, daß es für die Möglichkeit der Zusammenarbeit völlig blind ist, daß es isoliert ist, unfähig, mit einem Mitmenschen Verbindung aufzunehmen und völlig unwissend in allen Dingen, die ihm helfen könnten, in einer Gesellschaft mit anderen zu leben. Aber, wie wir bereits gesehen haben, müßte das Kind unter diesen Umständen zugrunde gehen. Die Tatsache allein, daß es die Säuglingszeit überlebt hat, beweist, daß es ein Mindestmaß an Fürsorge und Zuwendung erfahren hat. Wir haben es deshalb nie mit dem reinen Typ des vernachlässigten Kindes zu tun, sondern mit Kindern, die nicht genug geliebt wurden, oder mit solchen, die in mancher Hinsicht vernachlässigt sind, in anderer nicht. Kurz gesagt: Ein vernachlässigtes Kind hat nie eine völlig vertrauenswürdige Bezugsperson gefunden. Es ist sehr traurig, daß man von unserer Zivilisation sagen muß, daß so viele Fehlschläge aus dem Leben von Kindern stammen, die Waisen oder Uneheliche waren, und daß wir diese Kinder im allgemeinen zu den vernachlässigten Kindern rechnen müssen.

 

Diese drei Situationen – minderwertige Organe, Verwöhnung und Vernachlässigung – sind eine gefährliche Versuchung, dem Leben einen falschen Sinn zu geben; und Kinder, die unter solchen Umständen aufwachsen, brauchen fast immer Hilfe, wenn sie ihre Art, an Aufgaben heranzugehen, ändern wollen. Sie müssen lernen, dem Leben einen neuen, besseren Sinn zu geben. Wenn wir ein Auge für solche Dinge haben – was in Wirklichkeit bedeutet, daß wir uns ehrlich um sie bemühen und in dieser Hinsicht ausgebildet sind –, können wir in allem, was sie tun, den von ihnen angenommenen Lebenssinn sehen. Träume und Einfälle mögen sich als nützlich erweisen; die Persönlichkeit ist im Traum und im Wachzustand dieselbe, aber im Traum ist der Druck von Anforderungen der Gemeinschaft leichter, und die Persönlichkeit versteckt sich nicht so sehr hinter Vorbehalten und Verheimlichungsversuchen. Das wichtigste Hilfsmittel jedoch, das uns schnell einen Begriff gibt von dem Sinn, den ein Mensch sich selbst und dem Leben beimißt, sind ihre Erinnerungen. Jede Erinnerung, so nichtsagend sie dem einzelnen scheinen mag, bedeutet für ihn doch etwas Erinnernswertes. Sie ist erinnernswert wegen ihres Bezugs zum Leben, wie er es sieht; sie sagt zu ihm: »Das ist’s, was du zu erwarten hast«, oder: »Davor mußt du dich hüten!«, oder: »So ist das Leben«. Wiederum müssen wir betonen, daß Erfahrung an sich nicht so wichtig ist wie die Tatsache, daß gerade diese Erfahrung im Gedächtnis haften blieb und dazu benutzt wird, den Sinn des Lebens herauszukristallisieren. Jede Erinnerung ist eine Warnung.

Die Erinnerungen an die frühe Kindheit zeigen besonders deutlich, wie weit der eigentümliche, besondere Lebensstil eines Menschen in seine Vergangenheit zurückreicht und unter welchen Umständen er ausgebildet wurde. Aus zwei Gründen nimmt die früheste Erinnerung einen besonders bemerkenswerten Platz ein. Erstens enthält sie ein grundsätzliches Urteil des Menschen über sich selbst und seiner Lebenslage; sie ist seine erste Zusammenfassung von Wahrnehmungen, das erste mehr oder weniger umfassende Sinnbild seiner selbst und der Anforderungen, die an ihn gestellt wurden. Zweitens ist sie sein subjektiver Ausgangspunkt, der Beginn des Lebenslaufs, den er für sich entwirft. Wir finden daher in ihr oft ausgedrückt den Gegensatz zwischen der Stellung der Schwäche und Unzulänglichkeit, in der sich das Kind befand, und seinem Ziel der Stärke und Sicherheit, das es als sein Wunschziel betrachtete. Es ist für die Zwecke der Psychologie unerheblich, ob die Erinnerung, die ein Mensch als erste betrachtet, wirklich das erste Ereignis betrifft, von dem er noch etwas weiß, ja sogar, ob es eine Erinnerung an einen tatsächlichen Vorgang ist. Nicht die Erinnerung selbst ist wichtig, sondern das, wofür sie ›genommen wird‹; ihre Auslegung und ihre Bedeutung für das gegenwärtige und zukünftige Leben.

Hier einige Beispiele für ›erste Erinnerungen‹ und den Lebenssinn, der sich in ihnen verdichtet: »Der Kaffeetopf fiel vom Tisch herunter, und ich wurde verbrüht.« So ist das Leben! Wir müssen uns nicht wundern, wenn wir finden, daß das Mädchen, dessen Lebenserinnerungen so begannen, von einem Gefühl der Hilflosigkeit verfolgt wurde und die Gefahren und Schwierigkeiten des Lebens überschätzte. Es darf uns auch nicht überraschen, wenn es in ihrem Herzen anderen Menschen dafür gram war, daß sie nicht hinreichend für das Mädchen Sorge trugen. Irgend jemand war sehr nachlässig gewesen und hatte ein so kleines Kind solchen Gefahren ausgesetzt! Ein ähnliches Bild von der Welt stellt sich in einer weiteren ›ersten Erinnerung‹ dar: »Ich erinnere mich, daß ich aus einem Kinderwagen herausfiel, als ich drei Jahre alt war.« Diese erste Erinnerung war begleitet von einem wiederkehrenden Traum: »Die Welt geht unter, ich wache mitten in der Nacht auf und sehe den Himmel rot leuchtend von Feuer. Die Sterne fallen herunter und wir stoßen mit einem anderen Planeten zusammen. Aber unmittelbar vor dem Krach wache ich auf.« Als dieser Student befragt wurde, ob er sich vor etwas fürchte, antwortete er: »Ich fürchte mich davor, im Leben keinen Erfolg zu haben«, und es ist klar, daß seine erste Erinnerung und sein wiederkehrender Traum entmutigend wirken und ihn darin bestärken, Mißerfolg und Schicksalsschläge zu fürchten.

Ein zwölfjähriger Junge, der wegen Bettnässen und beständiger Zusammenstöße mit seiner Mutter in die Klinik gebracht wurde, gab als erste Erinnerung an: »Die Mutter glaubte, ich sei verlorengegangen und lief durch die Straßen, laut rufend und in großer Angst. Aber ich war die ganze Zeit zu Hause in einem Schrank versteckt.« Dieser Erinnerung können wir die Überzeugung entnehmen: »Der Sinn des Lebens ist, Aufmerksamkeit zu erregen, indem man jemanden beunruhigt. Sicherheit erkämpft man sich durch Betrügerei. Man beachtet mich nicht hinreichend, aber ich kann die anderen zum Narren halten.« Auch sein Bettnässen war ein sehr klug gewähltes Mittel, stets im Mittelpunkt der Fürsorge und Aufmerksamkeit zu bleiben, und seine Mutter bestärkte ihn durch ihre Ängstlichkeit und Nervosität in seinem Verständnis des Lebens. Wie in den vorhergehenden Beispielen hatte dieser Junge schon früh den Eindruck gewonnen, daß das Leben in der Außenwelt voll von Gefahren ist und daß er nur sicher war, wenn andere sich seinetwegen Sorgen machten. Nur so konnte er gewiß sein, daß sie da waren, ihn zu beschützen, wenn er es nötig hatte.

Die erste Erinnerung einer fünfunddreißigjährigen Frau war folgende: »Als ich drei Jahre alt war, ging ich in den Keller hinunter. Während ich auf der Treppe im Dunklen war, öffnete ein Junge, ein Vetter von mir, wenig älter als ich, die Tür und kam hinter mir herunter. Ich hatte große Angst vor ihm.« Nach dieser Erinnerung war sie wahrscheinlich nicht gewohnt gewesen, mit anderen Kindern zu spielen; vor allem hatte sie sich anscheinend beim Zusammensein mit dem anderen Geschlecht unbehaglich gefühlt. Die Vermutung, daß sie ein Einzelkind war, erwies sich als richtig, und sie war immer noch – im Alter von fünfunddreißig Jahren – unverheiratet.

Ein höherer Grad von Gemeinschaftsgefühl zeigt sich in der folgenden ersten Erinnerung: »Meine Mutter erlaubte mir, meine kleine Schwester im Kinderwagen herumzufahren.« Auch in diesem Fall jedoch sollten wir nach Zeichen dafür Ausschau halten, daß sich das Kind nur bei Schwächeren wohl fühlte; außerdem nach Zeichen verstärkter Abhängigkeit von der Mutter. Im übrigen ist es stets am besten, bei der Geburt eines weiteren Kindes die Mithilfe der Älteren bei der Pflege in Anspruch zu nehmen, sie für den Neuankömmling zu interessieren und ihnen zu erlauben, einen Teil der Verantwortung für sein Wohl zu übernehmen. Wenn dies gelingt, kommen sie weniger leicht in Versuchung, die Aufmerksamkeit, die dem Kleinsten zukommt, als Beeinträchtigung ihrer eigenen Wichtigkeit zu empfinden.

Der Wunsch, Gesellschaft zu haben, ist nicht immer ein Beweis für echtes Interesse an anderen. Als ein Mädchen nach ihrer ersten Erinnerung befragt wurde, antwortete sie: »Ich spielte mit meiner älteren Schwester und zwei Freundinnen.« Sicherlich können wir hier sehen, wie sich das Kind in die Gemeinschaft einübt, aber wir gewinnen eine neue Einsicht in das, worauf es ihm ankam, wenn sie als ihre größte Angst bezeichnet: »Ich fürchte mich davor, allein gelassen zu werden.« Wir sollten deshalb hier nach Zeichen mangelnder Selbständigkeit Ausschau halten!

 

Wenn einmal der dem Leben beigelegte Sinn gefunden und verstanden ist, haben wir den Schlüssel zu der gesamten Persönlichkeit. Manchmal wird behauptet, der menschliche Charakter sei unveränderlich, aber diese Behauptung kann nur von jenen beibehalten werden, die niemals den richtigen Schlüssel zu der Lebenslage gefunden haben. Wie wir bereits bemerkten, kann kein Zureden und keine Behandlung erfolgreich sein, die den ursprünglichen Irrtum nicht aufdeckt, und die einzige erfolgversprechende Behandlung ist die Einübung in ein gemeinschaftsbewußteres und mutigeres Leben. Das Gemeinschaftsbewußtsein ist auch unser einziger Schutz gegen neurotische Neigungen. Es ist daher von höchster Wichtigkeit, daß Kinder zum Gemeinschaftsbewußtsein erzogen und ermutigt werden, daß man ihnen gestattet, selbständig mit gleichaltrigen Kindern umzugehen, in gemeinschaftlichen Aufgaben und gemeinschaftlichen Spielen. Jede Behinderung des Gemeinschaftsbewußtseins kann die ernstesten Folgen haben. So wird zum Beispiel das verwöhnte Kind, das nur gelernt hat, an sich selbst zu denken, seinen Mangel an Gemeinschaftsgefühl mit in die Schule bringen. Es wird im Unterricht nur soweit mitarbeiten, als es glaubt, dadurch die Gunst des Lehrers zu gewinnen; es wird nur dann zuhören, wenn es vermutet, daß es ihm selbst Vorteil bringt. Wenn es heranwächst, wirkt sich der Mangel an Gemeinschaftsgefühl immer verhängnisvoller aus. Als es auf den falschen Weg geriet, hörte es auf, sich zu Verantwortungsbewußtsein und Unabhängigkeit zu erziehen, und jetzt ist es für die Prüfungen des Lebens denkbar schlecht gerüstet.

Wir dürfen es nun nicht wegen seiner Fehlentwicklung tadeln, wir können ihm nur helfen, sie zu berichtigen, wenn es anfängt, ihre Folgen zu empfinden. Wir erwarten von einem Kind, das nie Geographieunterricht hatte, nicht, daß es eine Prüfung in diesem Fach erfolgreich besteht; ebensowenig können wir von einem Kind, das nie zu Gemeinschaftsbewußtsein erzogen wurde, erwarten, daß es richtig reagiert, wenn ihm Aufgaben gestellt werden, welche Einübung in Gemeinschaftsbewußtsein voraussetzen. Aber jedes Lebensproblem erfordert für seine Lösung die Fähigkeit zu gemeinschaftlichem Zusammenwirken, jede Aufgabe muß bewältigt werden innerhalb des Gefüges unserer menschlichen Gesellschaft und auf eine Weise, die das Wohl der Menschheit fördert. Nur wenn ein Mensch erfaßt hat, daß der Sinn des Lebens Leistung für die Allgemeinheit ist, wird er imstande sein, seinen Schwierigkeiten mutig und mit guten Aussichten auf Erfolg entgegenzutreten.

Wenn sich Eltern und Lehrer und Psychologen darüber klar sind, welche Fehler bei der Sinngebung des Lebens gemacht werden können, und wenn sie nicht selbst die gleichen Fehler machen, dürfen wir davon überzeugt sein, daß Kinder, denen das Gemeinschaftsgefühl fehlte, zu einem deutlicheren Gefühl für ihre eigenen Fähigkeiten und die Möglichkeiten des Lebens gelangen. Sie werden dann, wenn sie Aufgaben vor sich sehen, nicht aufhören sich anzustrengen, nicht nach einem leichten Ausweg suchen, nicht sich drücken oder die Last auf andere Schultern legen, keine gelindere Behandlung und besondere Zuneigung beanspruchen, sich nicht gedemütigt fühlen und nicht auf Rache sinnen oder fragen: »Wozu ist das Leben nütze? Was habe ich davon?« Sie werden sagen: »Wir müssen unser eigenes Leben gestalten. Dies ist unsere ureigene Aufgabe und wir können sie lösen. Wir sind die Herren unserer Handlungen. Wenn etwas Neues geschaffen oder etwas Altes ersetzt werden muß, sind nur wir berufen, es zu tun.« Wenn man das Leben in dieser Weise als Zusammenwirken unabhängiger Einzelmenschen betrachtet, gibt es keine Grenzen für den Fortschritt unserer menschlichen Gesellschaft.

2.Geist und Körper

Die Menschen haben immer darüber gestritten, ob der Geist den Körper oder der Körper den Geist regiert. Philosophen haben sich in die Auseinandersetzung eingemischt und den einen oder anderen Standpunkt bezogen; sie nannten sich Idealisten oder Materialisten; sie trugen Tausende von Beweisen zusammen; und die Frage ist so beunruhigend und unentschieden wie je. Vielleicht kann die Individualpsychologie zu ihrer Lösung etwas beitragen; denn in der Individualpsychologie haben wir es in der Tat mit der lebendigen Wechselwirkung von Geist und Körper zu tun. Ein ganzer Mensch – Geist und Körper – muß hier behandelt werden; und wenn unsere Behandlung schlecht begründet ist, können wir ihm nicht helfen. Unsere Theorie muß endgültig aus unserer Erfahrung herauswachsen; sie muß die Prüfung der praktischen Anwendung bestehen. Wir leben inmitten dieser Wechselwirkungen und wir sind ernstlich herausgefordert, den richtigen Standpunkt zu finden.

Die Entdeckungen der Individualpsychologie nehmen dieser Frage viel von ihrer Spannung. Es bleibt nicht länger ein einfaches ›entweder – oder‹. Wir sehen, daß sowohl Geist als auch Körper Ausdrucksformen des Lebens sind: Sie sind Teile des Lebensganzen. Und in diesem Ganzen fangen wir an, ihre wechselseitigen Beziehungen zu verstehen. Das Leben des Menschen ist das Leben eines sich bewegenden Wesens, und es würde für ihn nicht hinreichen, einen Körper allein zu entwickeln. Eine Pflanze ist fest verwurzelt; sie bleibt an einem Ort und kann sich nicht fortbewegen. Es wäre deshalb eine große Überraschung, zu entdecken, daß eine Pflanze Geist hat; oder mindestens einen Geist in irgendeinem Sinn, den wir erfassen könnten. Wenn die Pflanze vorausschauen oder Folgen vorwegnehmen könnte, wäre diese Fähigkeit für sie nutzlos. Was für ein Vorteil wäre es für sie, zu denken: »Hier kommt jemand. In einer Minute wird er auf mich treten, und ich werde unter seinen Füßen sterben.« Sie wäre trotzdem unfähig, beiseite zu gehen.

Alle sich bewegenden Lebewesen jedoch können vorausschauen und die Richtung, in der sie sich bewegen müssen, abschätzen; diese Tatsache macht es notwendig, vorauszusetzen, daß sie Geist oder Seele haben.

»Sinn habt ihr sicher,