Wrackmente - Lukas Meisner - E-Book

Wrackmente E-Book

Lukas Meisner

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Beschreibung

Venedig ist überschwemmt, Europas Grenzen sind dicht, Touristen werden aus Hubschraubern abgeseilt. Das Schicksal der untergehenden Stadt wird zum Schicksal ihrer Bewohner, denn wer dort lebt, ist außerhalb staatenlos. ›Wrackmente‹ erzählt die Geschichte von Marlène, Leandro, Dirk und Helen, Gefangene einer Stadt, die täglich tiefer im Wasser verschwindet. »Als die Flut kam, brachen nach den Dämmen die Menschen auseinander. Seither treiben sie umher wie Schiffbrüchige, vereinzelte Wrackmente, die sich zu keinem Ganzen mehr fügen.«

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Seitenzahl: 59

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Lukas Meisner

Novelle

Copyright © 2024 by Kopf & Kragen Literaturverlag, Berlin

Herausgeber: René Koch

www.kopfundkragen-verlag.de

Lektorat: Kopf & Kragen Literaturverlag und Sebastian Kaep

Satz und Korrektorat: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Umschlaggestaltung: Ruben August Fischer unter Verwendung der Malerei Flieder von Cris Koch. Format: 50 cm x 40 cm, Jahr: 2021, Technik: Plakat, Xerografie, Leinwand

Druck und Bindung: Totem, Europa, Planet Erde

Zitat: Heiner Müller, New York oder Das eiserne Gesicht der Freiheit, in Werke 8. Schriften, Suhrkamp 2005, 329 f.

ISBN (Klappenbroschur) 978-3-949729-15-7

ISBN (eBook) 978-3-949729-16-4

Für Anna und Eef

»Wenn als Folge der Klimaverschiebung, ein Triumph der Technik, Nord- und Südpol schmelzen, holt der Atlantik vielleicht seine Hauptstadt heim, das Wasser den Beton, schwimmen die Haie durch die Banken.«

Heiner Müller

Inhalt

Prolog Wintersonnenwende / Journey

1 Leandro / City of Blues

2 Helen / Black Friday

3 Dirk / Club of Venice

4 Marlène / Depression

5 Schachmatt / Mad

Epilog (I) Was sich nicht ereignet / Lost Future

Epilog (II) Freunde, es gibt keine Freunde / Reality Principle

Über den Autor

Prolog Wintersonnenwende / Journey

Es ist Zeit. Nicht genug, sondern jetzt; früh morgens am 22. Dezember. Marlène wird von einem Zug Richtung Norden gefahren. Sie gehört zu jenen Menschen, die auf ihrer Brille den Schmutz von Monaten hin- und herwischen, bis alles halbe Jahr Spülmittel heranmuss, wonach die Sicht ist wie entschleiert. Wofür nur? Schräg sitzt ihr Jackett und wacklig liegt der Aktenkoffer auf spitzen Knien, dessen Schnalle sie immer wieder öffnet und schließt, öffnet und schließt. In diesem Koffer befindet sich ein großes Behältnis, das drei Liter frisch abgefüllten Wein fasst.

Marlène schluckt hart, kratzt sich an den Fingergelenken, presst die Zunge an den Gaumen. Ihre Zähne beißen einander in dieser Enge des Innern, während ihre Wangen jede Anspannung verbergen, indem sie wie zu weit an ihr herabhängen. Nur in ihrem Blick steht der Druck ihres Kiefers, steht, dass sie in Haut haust, die zu eng um sie sitzt trotz Laschheit. Marlènes Augen tränen unablässig. Und wie sie so eingespannt dasitzt mit dem Aktenkoffer voll Wein in diesem schleichenden Zug gen Norden, denkt sie: Draußen ist Nacht, wenn man durch Tunnel fährt, sternlose, sinnlose Nacht, doch weiß war der Schnee auf den Bergen.

An den Grenzen kontrollieren sie. Zwischen den Stopps laufen sie zu fünft durch die Waggons. Militärs in Zivil mit Maschinenpistolen und Taschenlampen. Zur Passkontrolle.

Leandro kommt aus Venedig mit demselben Zug, in einem anderen Abteil. Draußen die Ströme, aus Gletscherwasser gespeist, sind tieftürkis. Daneben stapeln Stämme – warten darauf, Holz zu werden fürs Sägewerk. Bäume, die noch leben dürfen, stehen vereinzelt, streng geherbstet in den Hängen. Hinter ihnen ragt schroffes Gestein in steile Höhen, vor ihnen liegt brach ein Tal wie Miniatur. Dahindurch fährt die Bahn. Eben wurde durchgesagt, dass es eine Abgangsverspätung gebe aufgrund eines Lokwechsels. Leandro kräuselt die Stirn unter blonden Locken, während er spürt in sich, wie Ungeklärtes unerklärlich ins Rutschen kommt: Welche Sprache war das gerade? Was versprach sie ihm? Was wollte sie ihm sagen? Seit wann hört er nichts und niemandem mehr zu? Sogleich ausgehöhlt, durchlöchert von Fragesalven, die keine Antwort erwarten, schließt er die Augen, seine Schläfe an das holpernde Furnier gelehnt, um wegzudösen, doch kein Dämmerzustand stellt sich ein. Stattdessen nimmt er wahr wie aus einer fremden Ferne, dass ihm die Erinnerung zerfällt im trägen Sonnenlicht.

An den Grenzen kontrollieren sie, zwischen den Stopps laufen sie zu fünft durch die Waggons, Militärs in Zivil mit Maschinenpistolen und Taschenlampen, zur Passkontrolle.

Industrie liegt an den Füßen einer Burg. Der Schnee vor den Zugfenstern, wie rein immer er wirke, hat etwas Schmutziges – auch Dirk kann nicht sein, obwohl er ist. Er hockt in seinem Abteil, als sei es zu klein für ihn, und ist heute noch nüchtern. Seine Hose sitzt stramm um seine Beine, vor allem an den Waden; sein T-Shirt spannt um muskulöse Oberarme, die sich um seinen Brustkorb wölben wie Haufen, die eingeknickt sind. Während der Nebel draußen fein in Baumwipfeln hängt, wirkt Dirks ganzer Körper auf brutale Art nervös. Er ist, was man einen Pumper nennt, und hat ein Foto von sich auf dem Handy, ein Selfie, auf dem er seine Muskeln zeigt. Es gemahnt ihn, dass alle Muskeln zusammensacken würden, sobald er sich nur einen Tag nicht um sie kümmerte, als sei das Verletzlichste – eben das, was am leichtesten zu verlieren sei – ausgerechnet der Hünenstatus. Allein zu bestehen nämlich erfordert immense Kraftreserven. Obwohl Dirks Angst gleichsam von innen nach außen geht, erfüllt sie doch nicht bloß seine eigene Welt, sondern die Erde selbst als jenen globalen Raum, in dem es sich einzig leben lässt.1 Das Wetter, so viel weiß er, ist nicht nur schlecht gewesen in Venedig, bevor er losfuhr, sondern das Wetter ist böse geworden – auf ihn wie auf alle anderen.

An den Grenzen kontrollieren sie – zwischen den Stopps laufen sie zu fünft durch die Waggons – Militärs in Zivil mit Maschinenpistolen und Taschenlampen – zur Passkontrolle.

Zu Knollen gestaucht liegt der Schnee auf den Schienen. Sie heißt Helen. Sie heißt Friday. Sie fühlt sich so überschaubar und abgegriffen wie die Piccolo-Flasche in ihrer Handtasche, deren Rolle es ist, Marlènes Aktenkoffervorrat zu ergänzen. Nur Helen hat keine Rolle, denn sie ist arbeitslos, eine arbeitslose Ökonomin, die früher zur strukturellen Arbeitslosigkeit gearbeitet hat. Jetzt bemerkt sie, dass der Felsvorsprung, der vor dem Zugfenster vorbeizieht, dem Fuß eines Riesen ähnelt. Wer wohl alles darunter zertreten liegt? Auch Helen war Riesin, aber in einer Welt, die jeden Maßstab verlor. Also reist sie inzwischen inkognito, bis zur Unkenntlichkeit zerschrumpft, von ihren eigenen Kompromissen zertrampelt, in einem Satz: Sie kann sich ausweisen.

An den Grenzen kontrollieren sie; zwischen den Stopps laufen sie zu fünft durch die Waggons; Militärs in Zivil mit Maschinenpistolen und Taschenlampen; zur Passkontrolle.

Im selben Zug sitzend, aus derselben Stadt kommend, zum selben Ort fahrend, reisen sie getrennt an: Marlène, Leandro, Dirk und Helen, die auch Friday heißt. Sie kennen sich lange schon, ohne einander begegnet zu sein; oft saßen sie Stunden zusammen ohne Blickkontakt; allerlei Worte wechselten sie von damals bis heute, ohne je ein Gespräch zu suchen. Sie blieben und bleiben in ihrer jeweiligen Isolationshaft, wie der Fisch im Wasser bleibt, denn Fische sind sie, nur haben sie keine Kiemen – ihre Lungen atmen geflutet.

An den Grenzen kontrollierten sie, zwischen den Stopps liefen sie zu fünft durch die Waggons, Militärs in Zivil mit Maschinenpistolen und Taschenlampen zur Passkontrolle.

Wie zufällig haben sie sich nach dem Ausstieg und einer kurzen Wanderung um einen Punkt geschart, den nichts von seiner Umgebung unterscheidet. Ob dessen Willkürlichkeit vermeintlich ist oder nicht, bleibt offen, so viel Fertigkeit zur Romantik ist ihnen geblieben. Weil für Marlène nichts trostloser ist als Weinstöcke im Winter, hievt sie drei Liter Wein aus ihrem Aktenkoffer und schenkt der Runde etwas ein, das seine eigene Herkunft – eben alles, was sie umgibt – Lügen straft. Inmitten der schwarzen Pädagogik der Reberziehung, ohne Rebtränen aber, ohne Rebblut, fischt darauf Helen die Piccolo-Flasche aus ihrer Handtasche, um Marlène einzuschenken.