Wranglestone - Darren Charlton - E-Book

Wranglestone E-Book

Darren Charlton

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit seinen sechzehn Jahren hat Peter als einziger Bewohner der Inseln von Wranglestone noch nie das Festland betreten, wo die Untoten ihr Unwesen treiben. Der sensible Junge beschäftigt sich lieber mit Holzhacken und Nähen, als Zombies zu jagen wie der gleichaltrige Cooper, für den Peter heimlich schwärmt. Eines Tages bittet ein Fremder, bei Peter anlegen zu dürfen - der Junge erlaubt es ihm und bringt damit den ganzen Schutzort in Gefahr. Noch dazu naht der Winter, und wenn der See zufriert, sind die Inselbewohner vor den Untoten nicht mehr sicher. Schwimmen können sie nicht, aber über das Eis können sie nach Wranglestone gelangen. Und so wird entschieden, dass für Peter die Zeit gekommen ist, Cooper auf seinen Patrouillen zu begleiten. Auf ihrer Mission kommen die beiden Jungen sich näher. Und sie machen eine schreckliche Entdeckung, die ihnen die geheime Vergangenheit von Wranglestone enthüllt und alles infrage stellt, was sie bisher wussten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 342

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Darren Charlton

Wranglestone

Roman

Aus dem Englischen von Anja Malich und Birgit Salzmann

atlantis

1

Peter war in eine Welt voll ungeliebter Besucher geboren worden. Und zu dieser Welt gehörte ganz sicher auch der Winter am Lake Wranglestone. Kaum hatten sich die Bären auf den Weg in die höher gelegenen Gebiete gemacht, drängten sich die unfassbar dunklen Wolken von den Bergen ins Tal hinab und brachten noch viel Schlimmeres.

Peter schlug die Axt in den Holzstapel und ließ den Blick übers Wasser schweifen. Der See lag versteckt zwischen den großen Gletschern im Norden und den Sharktooth Mountains im Süden und gehörte zu den entlegensten Schutzorten, die im Rahmen des landesweiten Nationalpark-Zufluchtsprogramms entstanden waren. Ein Dutzend kleine, mit Kiefern bewachsene Inseln sprenkelten das tiefblaue Auge des Waldes.

Peters Insel hieß Skipping Mouse, weil sie die kleinste war, und lag am unteren Ende des Sees. Eagle’s Rest, wo Cooper lebte, befand sich ganz oben. An klaren Tagen konnte er Cooper dabei beobachten, wie er nur in Unterhose Steine übers Wasser flitschen ließ, aber nicht an diesem Morgen. Eisige Wolkenfinger streckten sich so tief über den See, dass die Inseln darin verschwanden. Peter stützte sich auf seine Axt. Wenn das Jahr zu Ende ging, legte sich immer eine unheimliche Stimmung über den See. Die Luft war vom Rauch des Holzfeuers und vom Röhren der Elchbullen erfüllt. Doch da war noch etwas anderes.

Ein Eistaucher heulte wie ein Wolf in der Nacht.

Ein Kanu zeichnete sich im Nebel ab.

Und eine einzelne Schneeflocke tänzelte über Peters Kopf.

»Nein«, flüsterte Peter und kaute nervös an den Fingernägeln, als sie auf der Klinge der Axt landete. »Noch nicht. Weg mit dir. Ich werde mich auch zusammenreißen, versprochen«.

Im nächsten Moment hatte sie sich schon wieder in nichts aufgelöst. Aber sie war nicht nichts. Leider nicht. Mehr Schnee würde fallen. Und damit kämen auch sie.

Peter wirbelte herum und blickte unruhig Richtung Festland. Dort drüben schimmerten gelbe Blätter an silbernen Ästen wie Sonnenlicht auf der Seeoberfläche. Das Wasser klatschte an das felsige Ufer. Er seufzte. Wenigstens bildete sich noch kein Eis. Vorerst konnten ihre Klauenhände die Inseln nicht erreichen. Doch die große Kälte würde kommen, und zwar bald, und niemand würde zum Winteranfang die Kisten mit den Weihnachtsstrümpfen und dem Christbaumschmuck hervorholen. Nicht mehr. Nie mehr.

Peter wandte sich wieder um. Im Innern des Kiefernwäldchens funkelte Kerzenlicht. Dort oben in ihrem kleinen Baumhaus waren sie sicher. Die sechs hölzernen Pfähle, auf denen es zwischen Tannenzapfen und schwarzen, von Ast zu Ast hüpfenden Eichhörnchen stand, trotzten jedem schweren Stoß. Und auch dem Angriff einer ganzen Horde. Zumindest versprach sein Dad ihm das immer, auch wenn es nicht viel änderte. Nichts konnte verhindern, dass die Pfähle im Winter zerbrechlich wie Streichhölzer wirkten. Der Winter war die Jahreszeit, die jeder Seebewohner fürchtete. Nicht etwa weil Montana kälter wurde als der starre Blick eines Weißkopfseeadlers, sondern weil dann die Toten über den gefrorenen See kommen konnten.

2

»Oh, Winteranfang«, ertönte hinter ihm eine raue Stimme.

Peter wandte sich um und sah, wie sich das Kanu der Insel näherte. Darin saß ein Fremder, ein alter Mann, der gerade das Holzpaddel in die Luft hob und dann wieder durchs Wasser zog. Die Klappen seiner Trappermütze baumelten ihm ums Gesicht wie die Ohren von Buds alter Bluthündin Dolly. Er machte auch einen genauso harmlosen Eindruck. Aber er hatte ein ziemliches Tempo drauf und noch nicht darum gebeten, an Land kommen zu dürfen, weshalb Peter zum Ufer hinunterging.

»Wer sind Sie?«

»Bitte um Anlegeerlaubnis«, sagte der alte Mann und holte das Paddel aus dem Wasser. »Ja, hast richtig gehört. Ich möchte anlegen!«

Peter warf einen Blick Richtung Baumhaus. Eigentlich sollte er allein Fremde nicht mal in die Nähe der Insel lassen. Doch sein Vater war nirgends zu sehen.

»Pah!«, blaffte der Mann. »Das kannst du ja wohl selbst entscheiden, oder? Bist doch kein Kind mehr.«

»Ja« antwortete Peter, auch wenn er sich nicht ganz sicher war. »Ich bin sechzehn.«

»Und ziemlich geschickt mit der Axt.«

»Finden Sie?«

»Ja, wirklich.«

Peter zuckte mit den Schultern. »Kann sein.«

»Quatsch, kann sein.«

»Na ja, ich versuche mein Bestes.«

»Das sieht aber nach mehr als nur versuchen aus.«

»Also, ich gebe mein Bestes.«

»Das sieht man. Breite Schultern und so.«

Peter verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und senkte den Blick. Darlene hatte ihm den Tipp gegeben, extra dicke Pullover zu tragen, damit es aussah, als hätte er so breite Schultern wie Cooper im T-Shirt. Dabei war er nicht annähernd so wie Cooper. Niemand war das. Gedankenverloren berührte Peter sein knochiges Schlüsselbein und fragte sich, ob er ihn wohl heute endlich wieder draußen auf dem See sehen würde. Seit dem letzten Mal waren mehrere Tage vergangen, dreieinhalb, um genau zu sein.

Der alte Mann legte sein Paddel quer über das Boot und grinste breit.

Als das Kanu ins seichte Uferwasser glitt, schrammte es über den Kiesboden.

»Nein«, sagte Peter. »Ich bin dünner als eine abgenagte Zitterpappel. Aber ich flicke alle unsere Socken und weiß, wie man aus alten Hemden und Pullovern einen Quilt näht, der groß genug für ein Doppelbett ist. Und ich achte sogar noch darauf, dass die Farben zueinander passen.«

Der alte Mann nahm seine Mütze ab und wischte sich damit den Schweiß vom kahlen Schädel. »Sieh einer an«, sagte er. »Nicht schlecht. Jeder braucht eine Bestimmung in dieser Welt. Aber ich muss schon zugeben, für ’n jungen Mann ist das ziemlich ungewöhnlich. Hast du das von deiner Ma?«

»Nein«, antwortete Peter leise. »Die ist tot.«

»Wie schade. Von wem hast du’s dann?«

Peter zuckte mit den Schultern. Er wusste selbst nicht, warum er so war, genauso wenig wie irgendwer wusste, weshalb sich die Erde vor vielen Jahren, kurz vor seiner Geburt, in einen lebendigen Friedhof verwandelt hatte.

Während beide betreten schwiegen, kam die Sonne hinter einer vorüberziehenden Wolke hervor und brachte das Wasser zum Glitzern wie Sternenlicht.

»Na schön«, sagte der alte Mann schließlich. »Anlegen geht also klar?«

Sofort beeilte Peter sich, den Bug des Kanus an Land zu ziehen. Es war ihm peinlich, dass er nicht eher reagiert hatte.

»Ja, sicher! Tschuldigung.«

Der alte Mann wischte sich die Hand am Oberschenkel ab und streckte sie ihm entgegen. »Ben.«

»Peter. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Der Alte nickte, als wollte er sagen »ganz meinerseits«, bevor er im Bug des Kanus eine alte Decke wegzog, unter der sich ein ganzer Haufen Gegenstände verbarg. Er war ein Händler. In den Sommermonaten wimmelte es am See von ihnen. Egal ob sie lebensnotwendige Dinge wie Kochtöpfe oder Leuchtraketen anboten oder billigen Plunder aus der alten Welt, wie zu Rasierspiegeln umfunktionierte CDs, man fand fast immer irgendetwas, wenn man nur genug stöberte. Und solange Peter nicht darüber nachdachte, dass die Händler die Wohnungen toter Menschen plünderten, um an diese Sachen zu kommen, freute er sich stets über ihren Besuch.

»Ist was für dich dabei?«, fragte der alte Mann. »Wir haben Stiefel in allen Größen, ein echtes Schweizer Messer mit Korkenzieher und ’n paar nette alte Pornoheftchen, bei denen keine Seite fehlt.«

Peter schob den Stapel Zeitschriften zur Seite und begann den Rest durchzusehen.

»Ach, die Leute war’n sich so sicher, das Internet wär das Aus für alles Gedruckte«, redete der Alte weiter. »Aber dann ist der Welt die Sicherung durchgebrannt, und rat mal, wer jetzt gut lachen hat.«

»Ich kann es mir denken«, antwortete Peter. »Haben Sie auch Nadeln und Garn?«

»Bist wohl ’n richtiges Hausmütterchen, was?«

»Die Farbe spielt keine Rolle.«

»Bin mir nicht sicher, ob wir so was haben.«

»Also, ganz unwichtig ist die Farbe natürlich nicht. Wenn es sich vermeiden lässt, flickt man ein weißes Paar Socken nicht mit schwarzem Garn, aber zur Not tut’s alles.«

Der alte Mann blickte durch die Kiefern zu ihrem Baumhaus hinauf. »Und was habt ihr zum Tausch anzubieten?«

»Wir hätten gut abgehangenes Hirschfleisch«, antwortete Peter, der von einem sorgfältig genähten Ofenhandschuh mit Karomuster abgelenkt war.

»Hm-m.«

»Und einen Traumfänger, den habe ich aus Zweigen und Adlerfedern selbst gemacht.«

»Aha.«

»Ich kann Ihnen den zeigen, wenn Sie wollen.«

»Ich wette, ihr habt’s richtig nett in eurem Baumhaus.«

»Ja«, sagte Peter. »Dad hat früher für Holzfällerunternehmen gearbeitet, bevor die große Finsternis kam. Die Wände sind aus massiver Kiefer. Richtig gutes Holz. Und die Strickleiter hat er auch selbst gemacht. Die Ruhelosen schaffen es da nicht rauf, nur die Bären versuchen es immer wieder.«

»Ach ja? Ist sicher gemütlich da oben.«

»O ja. Dabei ist es nur ein Zimmer mit Plumpsklo hinten dran. Aber wir haben einen Holzofen und Hirschfelle auf dem Boden, damit es an den Füßen weich ist.«

»Ihr seid echt Glückspilze.«

Peter wandte sich wieder den Waren im Kanu zu. Ihm gefiel einiges, doch beim Handeln hatte er schon öfter Fehler gemacht und mühevoll erjagtes Fleisch gegen etwas eingetauscht, das sein Vater für nutzlos hielt. Und da niemand mehr einen Backofen hatte, legte er den Ofenhandschuh zurück und schaute weiter. Kurze Zeit später zog er ein Spielzeugtier aus Plastik aus dem Haufen hervor. Fasziniert wendete er das schwarz-weiß gestreifte Pferd hin und her, erstaunt, wie es so etwas überhaupt geben konnte.

»Ah!«, sagte der alte Mann. »Ein Zebra.«

Peter sah ihn an und lächelte. »Wow.«

»Jep. Früher stand Z für Zebra – in solchen Alphabettabellen für Kinder jedenfalls. Aber jetzt …«

»Ich weiß.«

Einen Moment lang sahen sich Peter und der Alte in stillem Verstehen an. Niemand konnte sagen, was schlimmer war: zu jung zu sein, um sich daran zu erinnern, wie das Leben war, bevor die Welt auf den Kopf gestellt wurde, oder alt genug, um mit dem Verlust leben zu müssen. Es war nicht das erste Mal, dass Peter das Gefühl hatte, jemand würde in ihn hineinschauen und sich wünschen, die eigene Erinnerung würde genauso kurz zurückreichen wie seine.

Dem Alten stiegen Tränen in die Augen. Peter fiel auf, wie blutunterlaufen sie waren und wie müde sie wirkten. Er fragte sich, ob er den Mann einladen sollte, sich drinnen mit ihnen ans Feuer zu setzen.

Der Schnee trieb immer heftiger über das Kanu.

»Sieht aus, als müsstet ihr die Schotten dicht machen, wenn’s weiter so schneit«, sagte der alte Mann und schlug die Hände gegeneinander, um sie zu wärmen.

Peter blickte zu den Inseln, wo die anderen etwa dreißig Seebewohner lebten, und nickte.

»Ja. Sobald der See zugefroren ist, wird es wieder schwer.«

»Wie schafft ihr es überhaupt, euch zu verteidigen? Ich weiß, ihr habt das Baumhaus, aber abgesehen davon, was macht ihr, wenn hier ’ne Horde einfällt?«

»Wir haben den Wachturm«, antwortete Peter und deutete auf die riesige Holzkonstruktion in der Mitte der Wasserfläche. »Das Militär hat ihn gebaut, als die Leute die Städte verlassen mussten und die Nationalparks zu Schutzorten wurden.«

»Stimmt, ich erinnere mich. Und ihr seid die Glücklichen, die sich hier niederlassen durften. Yosemite und Yellowstone sind schon fast aus den Nähten geplatzt, hab ich gehört, so voll war’s da.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Peter. »Woher kommen Sie denn?«

»Eure Leute sind wohl alle Forscher, Neurochirurgen oder sonst was Wichtiges, worauf die Welt nicht verzichten kann.«

»Kann sein.« Wenn Peter ehrlich war, hatte er noch nie groß darüber nachgedacht.

Der alte Mann hielt Blickkontakt. »Nicht schlecht.«

Peter lächelte. Peinliche Stille machte sich breit, die er so schnell wie möglich zu füllen versuchte.

»Wir halten die Ruhelosen von vornherein auf Abstand. Sobald einer aus dem Wald kommt, schießen wir.«

»Genau wie sie’s uns damals im Fernsehen beigebracht haben, bevor die Mattscheiben schwarz wurden.«

»Hab davon gehört«, antwortete Peter. Allerdings fiel es ihm nach wie vor schwer, sich vorzustellen, wie ein Fernseher funktionierte. Oder das Internet oder Flugzeuge oder Elektrizität und all das.

»Jep. Wenn dir was verdächtig scheint – kill es, mach’s kalt …«

»… ruckzuck ist es abgeknallt«, beendete Peter nickend den Spruch. »Mein Dad hat mir eingebläut, ich könnte eher vergessen, mir morgens eine Hose anzuziehen, als diesen Satz.«

Die Augen des alten Mannes verengten sich, und sein Lächeln verschwand. »Hm-m. Sie haben uns damals so einiges erzählt.«

»Im Sommer nutzen die Leute den Wachturm zum Fischen oder als Sprungturm, aber im Winter beobachten wir von dort aus mit Adleraugen das Ufer. Sie haben keine Chance.«

»Verstehe. Und was ist, wenn sich andre dem See nähern? Nicht die Toten, sondern gute, unbescholtene Leute, die Zuflucht suchen.«

»Es gibt ein strenges Sicherheitsprotokoll. Alle Neuankömmlinge müssen sich bei Henry drüben auf Cabin’s Creak melden.«

Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, und das Wasser trübte sich zu einem schmutzigen Grau. Die Luft war merklich abgekühlt. Plötzlich spürte Peter einen heftigen stechenden Schmerz in der Seite. Er blickte an sich herab und sah, wie der alte Mann ein blutiges Messer aus ihm herauszog.

»Tut mir leid, Junge«, sagte er und klang, als würde er es tatsächlich so meinen. »Aber wer seid ihr, du und deine Leute? Ich hab meine Frau hergebracht und drauf vertraut, dass man sich um uns beide kümmert, und du trägst nicht mal die Schneeflocke.«

Peters Beine sackten unter ihm weg. Er hielt sich am Bug des Kanus fest. Erst da bemerkte er, dass der Alte nicht allein war. Am anderen Ende des Boots, unter einer weiteren Decke, bewegte sich etwas.

»Alles wird gut, Martha«, sagte der Alte. »Der nette junge Mann hier wollte nur sichergehen, dass wir die sind, für die wir uns ausgeben. Er nimmt uns jetzt mit in sein Baumhaus. Ich bin mir sicher, dass wir mit unsren gebrechlichen Knochen die Strickleiter noch raufkommen.«

Peter wurde schwindelig, und er sank bäuchlings auf das Kanu. Ihm war plötzlich furchtbar kalt. Mühevoll drehte er den Kopf und blickte dem alten Mann in die Augen, aber es war nichts Bedrohliches oder Böses darin zu erkennen. Das Einzige, was er darin sah, war das, was diese Welt am besten kannte: Not. Peter versuchte, sich vom Kanu hochzurappeln, doch der Mann hielt ihn unten.

»Gleich hast du’s hinter dir«, sagte der Alte. »Versprochen.«

Er wischte die blutige Klinge an seinem Hosenbein ab und musterte Peters Körper, als suchte er nach der besten Stelle für den nächsten Stich. Sein Blick blieb erst an seiner Brust hängen, dann am Hals. Doch noch bevor das Messer seinen Weg dorthin finden konnte, hörte Peter ein leises Surren, und es fiel dem Mann aus der Hand.

Ein Pfeil hatte den Alten im Gesicht getroffen. Peter sah, wie Blut aus dem durchbohrten Augapfel quoll und die Befiederung durchtränkte. Wenig später war das Leben aus ihm gewichen. Peter sprang schnell auf, und ihm wurde wieder schwindelig, als er die schweren Schritte seines Vaters hinter sich hörte und von ihm aufgefangen wurde.

»Er hat gesagt, ich wär geschickt mit der Axt, Dad. Es tut mir leid.«

»O Mann«, fluchte sein Vater und half ihm auf, »so was brauchst du dir doch nicht von einem Fremden sagen zu lassen.« Als er das Blut sah, erschrak er. »Verdammt. Unser Verbandkasten ist bei Darlene. Wir müssen schnell zu ihr.«

Peter merkte, wie er hochgehoben und ins Kanu gelegt wurde. Die Leiche des Alten warf sein Vater über Bord, ehe er ebenfalls einstieg. Er war barfuß und hatte sich nicht einmal etwas über seine lange weiße Unterhose gezogen. Aus irgendeinem Grund fiel Peter auf, dass die dunklen Bartstoppeln seines Dads ziemlich dicht geworden waren – zu dicht, um Darlene zu gefallen. Noch bevor er die Frau des Alten erwähnen konnte, wurde das Boot vom Ufer abgestoßen. Und mit dem gleichmäßigen Geräusch kräftiger Paddelschläge im offenen Wasser sank er endgültig in die Bewusstlosigkeit.

3

Blinzelnd kam Peter zu sich. Er konnte nur einen kurzen Moment ohnmächtig gewesen sein, aber es war so ruhig, dass er glaubte, sie wären schon bei Darlene angekommen. Da lag er falsch.

Als er das sanfte Schaukeln des Kanus bemerkte, wurde ihm klar, dass sie sich noch immer mitten auf dem See befanden. Er wartete auf den nächsten Paddelschlag. Doch alles blieb still. Sie bewegten sich nicht mehr. Peter spürte den kalten Kuss des Schnees auf seiner Haut und öffnete langsam die Augen.

Die aus den tief hängenden Wolken fallenden Flocken leuchteten vor dem dunklen Grau des Himmels. Peter zwinkerte, um sie von den Wimpern zu lösen und hörte den Ruf eines Eistauchers in der Ferne. Irgendetwas stimmte nicht. Als er sich bewegte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Seite, und er erinnerte sich wieder an den Angriff.

»Dad?«, rief er und hielt sich die blutende Wunde. »Dad!«

Keine Antwort. Er versuchte, sich auf den Händen abzustützen, sank jedoch wieder in den Bug des Kanus zurück. Sein Vater war nirgends zu sehen, und doch war Peter nicht allein.

Die alte Frau saß am anderen Ende des Boots und beugte sich über den Rand. Die Decke, unter der sie zuvor verborgen gewesen war, lag jetzt in einem zerknüllten Haufen vor ihren Füßen. Sie trug ein hellblaues Nachthemd mit Ahornblattmuster, das um ihren mageren Körper schlackerte. Lange graue Haarsträhnen hingen bis ins Wasser und verdeckten ihr Gesicht, sodass Peter nicht erkennen konnte, ob sie Angst hatte oder nicht. Sie wirkte nicht so.

Er presste eine Hand auf seine Wunde und drehte sich in Fahrtrichtung, um nachzusehen, ob sein Vater vielleicht doch schon an Land gegangen war und den Verbandkasten bei Darlene holte. Aber sie waren noch ein gutes Stück von ihrer Insel entfernt. Er blickte sich weiter um. Das Paddel war vom Kanu weggetrieben, zu weit, um es noch zu erreichen. Die alte Frau jedoch schien nichts von alldem zu beunruhigen. Verträumt ließ sie die Finger durch das reglose Wasser gleiten, als nähme sie ihn überhaupt nicht wahr und als vermisse sie noch nicht einmal ihren Mann. Peters Blick wanderte zum Festland hinüber und suchte die Bäume nach irgendeiner Bewegung ab. Sein Vater blieb verschollen.

»Wo ist mein Dad?«

Die alte Frau antwortete nicht.

»Martha, so heißen Sie doch? Bitte sagen Sie es mir.«

Der Schnee fiel immer dichter und blieb auf dem grauen Haar der Frau liegen. Doch sie starrte weiter aufs Wasser und schwieg.

»Martha«, wiederholte er. »Miss Martha, bitte.«

Die Hand auf seine Wunde gepresst wollte Peter aufstehen, hielt dann aber jäh inne, als er die Beine der Frau bemerkte. Die Haut war gesprenkelt wie ein von Flechten überwucherter Stein. Die Schienbeine waren stellenweise schwarz, wo sich das Blut durch die Schwerkraft gesammelt hatte und gar nicht mehr zirkulierte. Das lag nicht an ihrem Alter. Sondern daran, dass sie tot war.

Peter erstarrte. Tränen brannten in seinen vor Schrecken weit aufgerissenen Augen. Er schob sich in den Bug des Kanus zurück und zog lautlos die Beine an, um das Etwas nicht auf sich aufmerksam zu machen. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er von Wasser umgeben und weit von jedem sicheren Ort entfernt war.

Er merkte, wie es ihm warm die Beine hinunterlief, ohne dass er es aufhalten konnte. Doch das war noch sein geringstes Problem. Er war mutterseelenallein hier draußen mit einer von denen, und er musste etwas tun. Leise seufzend atmete er aus und blickte auf – in dunkle Augen, die direkt auf ihn gerichtet waren.

Er hatte solche Augen schon einmal gesehen. Eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen war die an ein Wiesel, das sein Vater ihm gezeigt hatte. Er hatte das Tier am Genick hochgehalten und Peter gefragt, was er da sehe. »Ein Kuschelwuschel«, hatte Peter geantwortet und danach gegriffen, um damit zu spielen. In dem Moment hatte sein Vater das Wiesel ins Kaninchengehege fallen lassen, und Peter musste mit ansehen, wie es einem der Kaninchen die Kehle durchbiss, das innerhalb kürzester Zeit verblutete. Als sein Vater das Wiesel ein zweites Mal hochhielt und es mit blutverschmiertem Fell in seinem Griff zappelte, hatte das Tier mit seinen schwarzen Augen einfach durch ihn hindurchgesehen. Als wäre er gar nicht da gewesen. Die Natur war kalt und grausam, und sie scherte sich einen Dreck um andere.

Und genauso war es mit den Toten. Dieses Etwas am anderen Ende des Kanus sah vielleicht aus wie eine alte Frau, steckte in ihrem Fleisch, ihrer Haut – aber es war kein Mensch mehr. Es war ein Monster in der Gestalt einer Oma.

Die Ruhelose beobachtete Peter durch ihre grauen Haare. Die Augen waren so dunkel, dass sie aussahen, als bestünden sie nur aus Pupillen.

Peter wich zurück. »Kill es, mach’s kalt«, stammelte er. »Ruckzuck ist es abgeknallt. Kill es, mach’s kalt, ruckzuck ist es abgeknallt.«

Er tastete in dem Haufen neben sich nach irgendetwas Scharfem, mit dem man zustechen konnte. Doch bevor er fündig wurde, hörte er ein Platschen.

Die Ruhelose blickte wieder auf den See. Peter rappelte sich auf die Knie und sah über den Bootsrand. Noch immer bewegte die Alte eine Hand geistesabwesend im Wasser. In der anderen hielt sie einen Fuß. Peter starrte auf den Körper, der in der Dunkelheit unter der Seeoberfläche zappelte, und im nächsten Moment kam das bleiche Gesicht seines Vaters zum Vorschein, der keuchend und prustend nach Luft schnappte.

»Pete!«

Wild ruderte er mit den Armen, um sich zu befreien, was dazu führte, dass die Ruhelose noch fester zupackte. Sein Dad schluckte Wasser, und der Kopf verschwand wieder unter der Oberfläche. Die Ruhelose wurde vom Gewicht des sinkenden Körpers mitgezogen. Das Kanu bekam Schlagseite. Wasser brach herein und überspülte die hölzernen Spanten zu Peters Füßen. Doch sie ließ seinen Dad nicht los.

Peter wirbelte herum. Er brauchte unbedingt eine Waffe, und zwar schnell. Das Paddel war noch immer außer Reichweite. Er überlegte, ob das nasse Bündel Heftchen etwas taugte, das im Kanu trieb. Er suchte nach etwas Schwerem, das er der Toten über den Kopf ziehen konnte, um sie anschließend über Bord zu stoßen. Falls das funktionierte. Doch selbst dann würde sie seinen Dad womöglich nicht loslassen und ihn mit in die Tiefe reißen.

Auf allen vieren durchwühlte Peter verzweifelt den durchnässten Haufen Händlerware. Da war nichts. Rein gar nichts. Unfassbar, dass dies hier geschah und er keine Ahnung hatte, wie er es verhindern sollte. Er hatte die Inseln noch nie verlassen, geschweige denn es mit einem von ihnen zu tun gehabt. Bevor ihm irgendetwas Brauchbares einfiel, wurde das Kanu von einem anderen Kanu gerammt und Peter zurückgeschleudert.

Jemand sprang an Bord und landete zielsicher neben ihm, ohne dass das Boot auch nur schwankte. So etwas konnte nur einer. Peter schaffte es nicht mal, bei leichter Sommerbrise auf einem angetriebenen Baumstamm zu balancieren – anders als Cooper. Sie waren ungefähr gleich alt, vielleicht ein oder zwei Monate auseinander, doch während Peters Vater ihn immer noch kein Gewehr hatte anfassen lassen, konnte Cooper einen Haufen Blechbüchsen mit einem dicken Grinsen in die Luft schießen.

Peter hievte sich auf die Ellenbogen. »Alles in Ordnung, Cooper«, sagte er. »Ich wollte gerade etwas unternehmen.«

Doch Cooper hatte schon alles im Griff. Blonde Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht, während er mit schmutzigen Fingern den Verschluss der Messerscheide an seinem Gürtel öffnete, ohne die Ruhelose auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Mühelos, als umfasste er eine Türklinke, zog er sein Buschmesser heraus.

Und schon sauste es durch die Luft.

Der Kopf der Toten kippte von ihren Schultern und klatschte ins Wasser. Er schien schwerer zu sein, als Peter gedacht hatte. Hastig kroch er in den hinteren Teil des Boots, als sein Vater an die Oberfläche kam. Ein Keuchen war zu hören, und bleiche Finger umklammerten den Rand des Kanus. Nur seinen Kopf sah Peter nicht auftauchen, da sich die Welt um ihn zu drehen begann und er wieder das Bewusstsein verlor.

4

Die Nachricht von dem Vorfall würde im Nullkommanichts die Runde machen. Das behauptete jedenfalls Coopers Dad Bud, der die Treppe zu Darlenes Hütte heraufgestürmt kam und Peter verfluchte. Seinetwegen müsse sein Sohn so früh am Morgen zwei Gräber ausheben, die tief genug waren, dass sämtliche Inselbewohner reinscheißen könnten.

»Ein unbemerkter redseliger Zeuge und schon fällt der komplette See über uns her wie die Fliegen über ’nen verrottenden Kadaver.«

Und er hatte recht. Nichts jagte den Leuten mehr Angst ein als eine Schwachstelle im System. Nicht einmal die große Kälte.

Peter zog sich eine Decke um die Schultern und ging auf Darlenes Veranda auf und ab, während sein Vater und Bud drinnen stritten. Er lehnte sich über das hölzerne Geländer und sah den dicken Schneeflocken zu, die über dem See schwebten wie Federn nach einer Kissenschlacht.

Darlenes Insel, Boulder, konnte man kaum als Insel bezeichnen. Ein einzelner grauer Fels erhob sich aus dem Wasser wie der Buckel eines Wals. Um Feuerholz und Kanus zu lagern, war ein Sockel darauf gezimmert worden. Und darauf stand eine winzige Holzhütte, deren vier Ecken seitlich darüber hinausragten. Eigentlich schien es unmöglich, dass sich die Hütte samt Veranda mit Windspiel und Schaukelstuhl dort halten konnte; sie schien wie vom Himmel gefallen. Doch sie stand perfekt.

Peter musste an die langen Sommerabende denken, die er hier verbracht hatte. Wenn nicht gerade der Leichengestank vom Wind über den See getragen wurde, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass es auf der Welt noch etwas anderes gab als tanzende Glühwürmchen und springende Lachse. Dem Geschrei in der Hütte nach zu urteilen, lag allerdings genau da das Problem, das alle mit ihm hatten. Peter war sechzehn und so gut wie der einzige Seebewohner, der noch nie einen Fuß aufs Festland gesetzt hatte.

»Er muss erwachsen werden, Tom!«, blaffte Bud. »Er muss sich mal die Hände schmutzig machen. Und zwar schleunigst, damit er kapiert, dass kein Fremder hier bloß für warme Milch und Kekse …«

Ein Stuhl schrammte über die Dielen.

»Das weiß er, Bud«, fiel sein Vater ihm ins Wort.

»Ach ja?«

»Natürlich.«

»Pah! Jedenfalls hat er nicht im Heck des Kanus nachgeguckt, mal ganz davon abgesehen, dass er überhaupt nicht das Zeug gehabt hätte, diesen Abschaum zu töten. Er hat sich nicht mal die Händlerzulassung zeigen lassen, verdammt. Er ist verdammt noch mal viel zu nett.«

»Er ist noch nicht einmal sechzehn.«

»Ja. Ungefähr so alt wie Cooper. Er muss so was lernen.«

»Nicht mal sechzehn, Bud.«

»Er ist ’ne Belastung, das ist er«, knurrte Bud. »Wir alle hätten seinetwegen draufgehen können.«

Peter ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und begann vor und zurück zu wippen. Bud hatte recht. Während ihm das immer klarer wurde, sah er das bleiche Gesicht seines Vaters vor sich, der ihn aus der dunklen Tiefe des Sees anstarrte. Er beugte sich vor. Seine Seite schmerzte noch immer, doch die Wunde war nicht so tief wie befürchtet. Darlene war zum Jagen auf dem Festland gewesen, als sie ihre Hütte endlich erreicht hatten, aber Bud hatte ihn gut wieder zusammengeflickt. Der Schmerz war zu einer Art diffusem Ziehen geworden, das weit weniger weh tat als all die Gefühle, die in ihm tobten. Peter zog sich den Ärmel des Pullovers über die Faust, um sich damit das Gesicht abzuwischen, und betrachtete den schlaffen braunen Fellhaufen vor seinen Füßen.

Buds Bluthündin Dolly war so alt, dass ihre Haut Mühe hatte zu folgen, wenn sie beim Ruf ihres Herrchens die Schnauze hob. Offenbar hatte sie ihn schon zu oft brüllen gehört. Denn die Hängeohren lösten sich nicht einmal vollständig vom Boden, ehe sie einmal schnaufte und den Kopf wieder ablegte, um weiterzuschlafen.

»Recht hast du, altes Mädchen«, sagte Peter und streichelte sie sanft. »Träum du lieber von der guten alten Zeit auf der Jagd.«

Dolly seufzte tief. Peter bewegte den Schaukelstuhl mit dem Fuß vor und zurück, immer wieder, und blickte dabei auf den See hinaus, während sein Vater drinnen mit Bud darüber diskutierte, wie es mit ihm weitergehen sollte.

Das Windspiel bimmelte leise von den hölzernen Balken.

Der Schnee fiel unaufhörlich.

Am Festland blieb er auf dem felsigen Ufer und den Kiefern bereits liegen und drückte ihre Zweige hinunter. Ein Eichhörnchen sprang von einem Ast zum anderen und löste eine kleine Lawine aus. Peter beugte sich vor und blickte unterhalb der niedrigsten Kiefernäste am Ufer tief in den Wald, dorthin, wo die Welt dunkel war.

Oben im Baumkronendach konnten die Tiere kommen und gehen wie eh und je. Über das Netzwerk aus Zweigen bewegten sie sich meilenweit durch die Wildnis, und ihre Behausungen in luftiger Höhe waren sicher. Unten auf dem Boden war es anders. Zwar hatten die Seebewohner Pfade angelegt, an denen Blechdosen und Besteck aufgehängt waren, die wie Alarmsignale klimperten, wenn jemand daran vorbeikam. Trotzdem knackte das dichte Bett aus Kiefernnadeln und abgestorbenen Zweigen fortwährend unter unzähligen schleppenden Schritten. Der Wald gehörte ihnen.

Peter wandte sich ab und versuchte nicht zum ersten Mal, sich das Gesicht seiner Mutter vorzustellen, an das er keine Erinnerung mehr hatte. Dafür hasste er die Ruhelosen. Er hasste sie so sehr. Die Seebewohner hatten die unterschiedlichsten Hintergründe und manchmal nicht viel gemeinsam, am wenigsten mit ihm selbst. Doch wenn der Untergang der alten Welt etwas Gutes gehabt hatte, dann war es Frieden, weil er alle gegen die Monster vereinigte, von denen sie hierher vertrieben worden waren. Peter schlang die Decke noch fester um sich, als er den ungewohnten Klang klackernder Absätze auf den Verandastufen hörte.

Darlene hängte einen Kaninchenkadaver übers Geländer und warf sich die roten Haare über die Schultern.

»Schätzchen«, begrüßte sie ihn. »Warum lauerst du hier auf meiner Veranda wie ’n Waschbär im Winter?«

»Hi, Darlene.«

»Also, nicht dass es nicht ’ne Menge süßer Erinnerungen in mir wecken würde, wenn sich zwei Männer um mich streiten, aber was um alles in der Welt ist da drinnen los?«

Peter blickte auf Darlenes Stöckelschuhe. »In denen warst du aber nicht jagen?«

»Nee«, antwortete sie und kickte sie über die halbe Veranda. »Hab sie an den Füßen von ’ner Toten im Wald gefunden. Kurz hab ich mich zu den Samstagabenden in Randy’s Rusty Spur zurückversetzt gefühlt. Wenn du glaubst, das war bloß der Name von so ’ner üblen Spelunke, dann hast du dich geschnitten. Gott, der Kerl ließ nichts anbrennen.«

Darlene lehnte sich ans Geländer und blickte wehmütig auf die Schuhe. Doch das Gefühl hielt nicht lange an. Sie zog ein Messer aus dem Gürtel, rammte es neben dem Hirschgeweih über der Eingangstür ins Holz und hängte die Schuhe daran auf. »Aber die Darlene von damals ist schon lange Geschichte.«

Peter legte die gefaltete Decke über die Lehne des Schaukelstuhls und zeigte ihr seine verbundene Wunde.

»Ach du Scheiße!«, rief sie. »Was ist denn da passiert?«

»Dad und ich hatten einen kleinen Unfall.«

»Sieht aber echt nicht grade klein aus. Seid ihr okay?«

»Nicht wirklich. Dad und Bud streiten deswegen.«

»Und worüber genau?«

»Ein alter Mann hat sich mir gegenüber als Flusshändler ausgegeben.«

»Okay«, sagte Darlene. »Aber er hat vorher nach einer Anlegeerlaubnis gefragt?«

»Klar.«

»Und du hast ihn die Hände hochhalten lassen, bis du seine Genehmigung geprüft hast?«

Peter wich ihrem Blick aus und schwieg. Das hatte Bud ihm schon hinreichend aufs Brot geschmiert.

»Verdammt«, fluchte Darlene und stemmte die Hände in die Hüften. »Du darfst nicht so vertrauensselig sein.«

»Weiß ich.«

»Im Winter nehmen wir uns vor den Ruhelosen in Acht. Den Rest des Jahres …«

»… achten wir auf uns selbst«, beendete Peter den Satz. »Auch das weiß ich.«

»Keine Ahnung, vielleicht war es eine gute Schule fürs Leben hier, dass ich in billigen Restaurants Fettiges vom Grill und was nicht alles serviert hab. Ich hab jedenfalls nie einem getraut, wenn’s nicht einen verdammt guten Grund dafür gab. Der einzige Unterschied zu heute ist, dass wir uns jetzt auch noch vor den Ruhelosen in Acht nehmen müssen. Wie du’s auch drehst und wendest, Menschen sind Menschen, und da geht’s bis heute nicht immer friedlich zu.«

Peter blickte zu Boden. Ihm fehlte der Mut, Darlene auch noch von der Ruhelosen zu erzählen. Außerdem würde sie es ohnehin bald erfahren. Mit Schwung ging die Verandatür auf, und Bud kam herausgestürmt. Sein dichter silbergrauer Schnurrbart zuckte nervöser als der Schweif eines Eichhörnchens.

»Ihr habt echt Glück gehabt, dass Cooper nach seinem alten Herrn kommt und frühmorgens zum Pissen an den See geht«, polterte er los, während er sich die Hosenträger über die Schultern zog. »Sonst wärt ihr jetzt beide tot.«

»Dir auch einen guten Morgen, Bud!«, begrüßte ihn Darlene.

Bud machte eine wegwerfende Handbewegung und ging langsam die Verandatreppe hinunter.

»Der Junge muss hier raus«, sagte er und pfiff einmal kurz, damit Dolly ihm folgte. »Er muss was von dem toten Gesindel umlegen. Und die Schurken, mit denen wir’s zu tun haben, mit eigenen Augen sehen.«

Dolly erhob sich müde schnaufend und trottete ihrem Herrchen hinterher.

»Es tut mir leid!«, rief Peter ihm nach.

»Mit Leidtun kommt man nicht weit, da ist man trotzdem tot.«

Darlene drückte Peters Arm und wollte noch etwas sagen, als sein Vater die Veranda betrat.

»Dann lass ich euch zwei das mal unter euch klären«, sagte sie und verschwand nach drinnen. »Sagt, wenn ihr was braucht.«

Die lange Unterhose seines Vaters war noch immer nass, und wo er stand, bildete sich eine kleine Lache auf dem Boden. Außerdem sah er besorgniserregend blass aus. Peter nahm die Decke vom Schaukelstuhl und legte sie ihm um die Schultern. Sein Dad strich sich über die feuchten Bartstoppeln und stützte sich aufs Geländer. Peter überlegte, was er sagen sollte, außer dass es ihm leidtat.

»Pete«, kam sein Vater ihm zuvor. »Warum war dir das Kompliment von dem alten Mann wichtig? Warum bedeutet es dir so viel, wenn er meint, du kannst gut mit der Axt umgehen?«

Peter beobachtete, wie Buds Kanu ablegte, und zuckte mit den Schultern.

»Hab ich dir das nicht auch schon gesagt?«, hakte sein Vater nach.

»Glaub schon.«

Peters Dad ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und rieb sich die Schläfen.

»Tut dir der Kopf weh?«, fragte Peter.

»Nur ein bisschen.«

Kopfschmerzen waren bei seinem Dad typisch, wenn er einen epileptischen Anfall gehabt hatte oder sich einer ankündigte, und heute Morgen hatte er wirklich genug erlebt, um so einen auszulösen.

»Hattest du vorhin einen Anfall?«

»Nein, Pete, da war nichts.«

»Und jetzt?«

»Es ist alles in Ordnung, Pete. Mach nicht so ’n Aufstand.«

Peter wandte den Blick ab. Sein Dad sprach nicht gern über seine Krankheit, weil er nicht als schwach dastehen wollte, besonders wenn andere dabei waren.

Peters Vater legte den rechten Fuß auf sein linkes Knie und fing an, sich die Zehen zu massieren. »Hör zu«, sagte er. »Hab ich dir nicht erklärt, dass manche zwar in einigem besser sind als andere, die Welt aber alle Arten von Leuten braucht?«

»Doch«, antwortete Peter.

»Also, ich kann zum Beispiel meine Socken nicht flicken.«

»Ich weiß.«

»Ich kann nicht mal die Hälfte der Dinge, die du kannst.«

»Aber …«

»Aber was?«

»Aber du bist mein Dad. Da ist es ist normal, dass du nette Sachen über mich sagst.«

»Was denn, glaubst du, ich will dich nur aufmuntern?«

Peter blickte hinaus auf das graue Wasser.

»Du brauchst keine Bestätigung von irgendwelchen Fremden.« Sein Vater pustete gegen seine Füße, um sie aufzuwärmen. »Glaub mir, wenn ich einen Trottel zum Sohn hätte, wüsstest du’s. Okay?«

Peter schwieg.

»Okay?« Sein Dad blieb beharrlich.

»Ja, okay«, antwortete Peter schließlich. »Schon gut.«

»Ich will dich doch nur schützen«, erklärte sein Vater weiter. »Und dich auf dem See zu behalten, schien mir bisher der beste Weg, dafür zu sorgen. Aber du wirst älter, und es liegt nicht mehr allein in meiner Hand. Du kennst die Regeln. Wer nicht seinen Beitrag zur Sicherheit aller leistet, darf nicht hierbleiben.«

Peter nickte. »Und was heißt das?«

»Also, der Seerat wird heute Abend beim Winterfest am Wachturm entscheiden, wie’s mit dir weitergeht.«

Peter beobachtete, wie Buds Kanu in den wirbelnden weißen Flocken verschwand. Drüben am Ufer regte sich etwas zwischen den Kiefern. Schnee rauschte von einem Zweig, und eine bleiche Hand zeichnete sich an einem Baumstamm ab. Peter wollte seinem Vater sagen, dass er jede Entscheidung des Rats akzeptieren würde, doch er brachte die Worte nicht über die Lippen.

Als er das nächste Mal zum Ufer schaute, stand eine weibliche Gestalt an dem Baum. Langes schwarzes Haar umrahmte ihr hohlwangiges Gesicht, das grau wie Treibholz war. Und die Farbe des Jeanskleids, das an ihrem abgemagerten Körper hing, war so fahl wie sie selbst. Aber ansonsten war es in einem guten Zustand, genau wie ihre Haut. Noch hatten Wetter und Zeit keine Spuren hinterlassen. Sie war noch nicht lange ruhelos. Peters Vater nahm nicht einmal Notiz von ihr, so alltäglich war die Anwesenheit dieser Gestalten am See. Er war nach wie vor damit beschäftigt, seine Zehen zu massieren.

Doch Peter konnte den Blick nicht von ihr lösen. Solche wie sie verstörten ihn am meisten – die, die lautlos aus dem Nichts erschienen. Sie wirkten eher wie Geister als wie Monster, wenn sie dort am Seeufer standen und die Hütten auf den Inseln anstarrten, als würden Erinnerungen an ihr eigenes früheres Zuhause in ihnen hochkommen. Schlimmer war noch, wenn sie einen selbst anstarrten und sich daran zu erinnern schienen, wie es als Mensch gewesen war.

Die Ruhelose hatte den Blick auf Darlenes Hütte gerichtet. Peter wandte sich schnell ab. Sobald sie sich auf jemanden eingeschossen hatten, waren sie wie Kletten. Einmal war es ihm passiert, dass er Blickkontakt mit einem von ihnen gehabt hatte, während er am Fuß der Insel Holz hackte, und als er am nächsten Morgen wiederkam, war er immer noch da und wartete auf ihn.

Die Fliegengittertür schwang auf, und Darlene hob den Arm zu einem reglosen Gruß. »He, du!«

»Hör auf«, fuhr Peter sie an.

»Was denn?«

»Das weißt du genau.«

»Wart’s ab, wart einfach mal kurz ab.« Darlene beugte sich über das Geländer und wiederholte ihren Gruß. Die Ruhelose sah zu ihr. Ihr Blick wirkte leblos, doch irgendetwas hatte der Gruß bei ihr ausgelöst. Als sie zurückwinkte, entfernte Peter sich ein Stück vom Geländer.

»O nein«, rief sein Vater und lehnte sich im Schaukelstuhl zurück. »Egal wie oft ich es schon gesehen hab …«

»Ich hasse es, wenn sie das tun«, murmelte Peter.

»Was tun?« fragte Darlene. »Wie Menschen aussehen?«

»Ja.«

»Versteh ich«, sagte sie und ließ den Arm sinken. »Tut mir leid, das war geschmacklos. Ich find’s auch schrecklich.«

Sie nahm das Gewehr, das immer griffbereit an ihrer Hüttenwand lehnte.

»Ein Jammer«, sagte sie, zielte auf den Kopf der Ruhelosen und drückte ab. »Ich hätte mir ein nettes neues Outfit für heute Abend besorgen können. Na ja. Ruft mich, falls irgendwelche brauchbaren Männer auftauchen, ja?«

Die Ruhelose kippte mit dem Gesicht voran ins Wasser.

»Aber hier sitzt doch ein netter Mann für dich!« Einen Versuch ist es wert, dachte Peter.

»Such noch ein bisschen weiter, Schätzchen. Such weiter.« Darlene hob den Kaninchenkadaver vom Geländer und hängte ihn auf, um ihn auszuweiden.

»Dad«, sagte Peter nach einer Weile.

»Ja.«

»Sagt dir das Wort ›Schneeflocke‹ was?«

Sein Vater hörte auf, sich die Kälte aus den Zehen zu massieren und sah hoch. »Was?«

»Der Flusshändler ist auf mich losgegangen, weil ich die Schneeflocke nicht trage. Was meinte er damit?«

»Bist du sicher, dass er das gesagt hat?«

Peter nickte. Sein Vater beugte sich im Schaukelstuhl vor und blickte konzentriert auf Peters blutigen Pullover, als stünde diese Wunde für alles, was in dieser verfluchten Welt im Argen lag.

»Keine Ahnung, Pete. Seltsame Zeiten, seltsame Leute.«

»Aber er wusste, was er sagte.«

»Ich aber nicht. Tut mir leid. Vergiss es einfach, ja?«

»Er war kein schlechter Mensch.«

Sein Vater zuckte mit den Schultern.

»Wirklich nicht«, bekräftigte Peter.

Sein Vater ballte die Hände zu Fäusten und sah ihn streng an. Aber es war Darlene, die schließlich reagierte.

»So was wie gut oder schlecht gibt’s nicht mehr, Schätzchen. Alle wollen nur überleben, so gut es geht.«

Peter war sich nicht sicher, ob er das glauben sollte, doch bevor er etwas entgegnen konnte, wechselte Darlene das Thema.

»Wie auch immer, ich würde vorschlagen, du gehst mal runter zum Wasser und bedankst dich bei Cooper, ja?«

Peters Herz fing wie wild an zu pochen. »Was?«

Darlene deutete ans andere Ende der Veranda. »Er wartet schon die ganze Zeit da unten in seinem Kanu auf dich!«

Sie verschwand in der Hütte, und Peter duckte sich unwillkürlich, um nicht gesehen zu werden. »Was will er hier?«

»Vermutlich bloß sichergehen, dass mit dir alles okay ist«, sagte sein Vater.

»Das weiß er doch schon. Und heute Abend werden alle wissen, dass ich das allein ihm zu verdanken habe.«

»Ich dachte, du freust dich, ihn zu sehen.«

»Nein«, erwiderte Peter. »Warum glaubst du das?«

Sein Dad räusperte sich. »Du hackst doch nur frühmorgens Holz, weil du weißt, dass er um die Zeit dort in seinem Kanu vorbeikommt.«

Peter funkelte ihn böse an, obwohl er recht hatte. Er hatte genug Holz gehackt, um sie durch die nächsten zwanzig Winter zu bringen, ohne dass es etwas gebracht hätte. Cooper war sich wahrscheinlich nicht einmal bewusst, dass er existierte. Kurz zog er seinen Pullover zurecht und ging dann zur Verandatreppe. Doch als er sie erreichte, setzte sich ein Kanu in Bewegung. Cooper paddelte wieder auf den See hinaus.

»Na bitte«, sagte Peter und lehnte sich an einen der Verandapfosten.

Er wusste nicht, was der Seerat am Abend mit ihm vorhatte, aber es wurde langsam spät, und sie sollten zum Baumhaus zurückkehren, um sich frisch zu machen und sich umzuziehen. »Kommst du, Dad?«, rief er, während er die Treppe hinunterlief …

»Pete?«

»Was?«

»Mach dir keine Sorgen, dass du niemanden kennenlernst.«

»Nee, mach ich auch nicht.«

»Nicht?«

»Warum? Du etwa? Machst du dir deswegen Sorgen?«

Sein Vater kratzte sich die Bartstoppeln und zuckte mit den Schultern. »Ein bisschen.«

»Wieso? Weil es hier draußen mehr Elche als Menschen gibt?«

»So könnte man’s sagen.«

»Lass es«, erwiderte Peter. »Abgesehen davon, sieht es bei dir auch nicht viel besser aus.«