Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Geschwister Rosa, 15, und Julius, 13 Jahre, wachsen wohlbehütet in einem Vorort von Berlin auf. Eines Tages jedoch verkünden ihnen ihre Eltern, dass sie sich trennen, was den Geschwistern zunächst den Boden unter den Füßen wegreißt. Sie müssen sich nun mit der Tatsache auseinandersetzen, dass ihre gewohnte Normalität nicht mehr existiert. Nachdem sich Rosa allerdings in Fadi verliebt, dessen Vormund der neue Freund ihrer Mutter ist, und Julius sich mit dem Schulchaoten schlechthin anfreundet, merken beide, dass NORMAL wohl nur eine Frage der Perspektive ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Von Herzen danke ich meinem kleinen, aber sehr feinen Kreis von Begleitern bei der Entstehung dieses Romans für ihre Ideen, Kritik, Ermutigung, Zuversicht, Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Liebe. Ihr seid grandios!
Zeig mir, wo du liest!
Besuche mich auf meiner Website:www.noragregory.de
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
Rosa
Julius
So, seit gestern war es also offiziell: Ich würde ein Scheidungskind werden. Bei diesem Gedanken schossen mir sofort wilde Szenarien meiner Zukunft durch den Kopf. Was bedeutete es, ein Scheidungskind zu sein? Würde ich für immer psychisch gestört sein? Würde ich am Borderline-Syndrom leiden und mich ritzen wie Valerie Ziebell aus der 10.? Würde ich magersüchtig werden wie Annabelle von Diedrichsmeyer aus der 9a? Ich war die Erste in meinem engsten Freundeskreis, die nun ein Scheidungskind sein würde. Ich hatte einfach keine Erfahrungswerte aus erster Hand, auf die ich jetzt zurückgreifen konnte.
Meine Eltern hatten meinen Bruder und mich gestern in die Küche bestellt. Als wir sahen, dass es mitten in der Woche einen Sonntagsbraten mit allem Gedöns gab und die Rotweinflasche schon leer war, wurde mir schnell klar, dass man uns nun mitteilen würde, was ich bereits seit langer Zeit wusste, aber von dem ich immer noch hoffte, dass alles nur ein böser Traum war. So wie einer dieser Träume, bei denen man aus großer Höhe fällt und fällt und darauf wartet, mit einem Mal auf dem Boden zu zerschellen und dann im letzten Moment aufwacht und unendlich erleichtert ist. Das hier in der Küche war allerdings kein Traum, sondern die harte Realität. Das Gesicht meiner Mutter sah so gequält aus und sie konnte mir kaum in die Augen gucken. Mein Vater war übertrieben gefasst und überspielte seine Unsicherheit mit Witzen, die nicht - wie sonst - lustig waren.
>>Setzt euch doch bitte. Eure Mutter und ich… Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt… Also, nach langen Gesprächen…<<
Mein Vater würgte sich einen ab, also fasste ich es für ihn zusammen:
>>Ihr trennt euch, weil Mama mit ihrem Kollegen vögelt.<<
>>Rosa! Spinnst du? Jörg und ich, wir haben uns in einander verliebt, ja, das stimmt.<<
Jörg war wie meine Mutter Lehrer. Und zwar einer von diesen sozialen Ökotypen. Ein Mädchen aus meiner Hockeymannschaft hatte bei ihm Unterricht. An ihrer Schule wussten längst alle, dass Frau Engel (meine Mutter) und Herr Stein (Jörg alias der Ökolover) ein Verhältnis miteinander hatten. Und da wir in einem spießigen Vorort von Berlin wohnten, wo jeder jeden über drei Ecken kannte, wurde ich auf einer Hockeyauswärtsfahrt unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs zwischen Annemarie Keller und Karla Lat, die sich über Mrs Angel and Mr Stone, wie sie offensichtlich genannt wurden, das Maul zerrissen.
Ich sah meine Mutter verständnislos an.
>>Was denn? An eurer Schule wissen längst alle davon. Glaubt ihr echt, dass das in diesem Kaff noch nicht zu uns durchgedrungen ist?<<
>>Gut, es ist, wie es ist. Es tut uns leid, dass ihr es nicht zuerst von uns erfahren habt<<, gab mein Vater zum Besten.
Auf einmal hörte ich eine Art Grollen neben mir, das lauter und lauter wurde, bis ich hinübersah und in das knallrote Gesicht meines kleinen Bruders blickte. Seine Hautfarbe hatte sich der seines einsamen Pickels auf dem linken Nasenflügel angepasst und seine sich im Stimmbruch befindende Stimme überschlug sich, als es aus ihm herausbrach:
>>Papa, wie kannst du denn da so ruhig bleiben? Was ist denn mit dir los? Bist du irre? Seid ihr jetzt alle vollkommen bekloppt? Was geht denn hier ab? Das ist doch nicht normal!<<
Ups, an meinem Bruder war der Tratsch wohl vorbeigegangen. Kein Wunder, er verbrachte ja auch all seine Freizeit mit irgendwelchen Rollenspielen, die er mit seinen nicht minder nerdigen Freunden, Schrägstrich Freaks, bei irgendwem im Partykeller spielte.
Mein Wecker klingelte wie jeden Morgen. Wie jeden Morgen dachte ich im Halbschlaf darüber nach, welche Ausrede ich meiner Mutter auftischen konnte, damit ich nicht in die Schule gehen musste. Und dann irgendwo zwischen Ich hab Bauchschmerzen, Wir haben erst zur Dritten und Ich glaub, ich hab Fieber kamen die Erinnerungsfetzen an das gestrige Gespräch mit meinen Eltern in mein Bewusstsein zurück. In dem Moment kam mein Vater zur Tür herein. Er hatte schon seinen Anzug an und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Die Tasse hatte ich für ihn in so einem Mutti-Kreativladen bemalt, als ich sechs war. Ich hatte mir besonders viel Mühe gegeben, weil meine Mutter mir einen dieser überdimensionalen Schoko-Cookies versprochen hatte, die unter einer Glasglocke auf dem Tresen in dem Laden standen. Malen zählte damals wie heute nicht zu meinen Talenten und da mir Frau Bley, meine Kunstlehrerin, nie überdimensionale Cookies anbot, habe ich mich seit der Tassenbemalung nie wieder wirklich malerisch ins Zeug gelegt, weshalb ich eine Vier in Kunst hatte. Könnte ich doch nur wieder sechs sein und eine ganz normale Familie haben; eine Mutter, die morgens zur Arbeit ging, nachmittags da war, wenn man aus dem Hort kam, mit einem Hausaufgaben machte, rummotzte, wenn man keine Lust auf Hausaufgaben hatte, einem ständig unerwünschte Küsschen aufdrückte und zum Judo fuhr; einen Vater, der früh zur Arbeit ging und spät nach Hause kam, aber trotzdem noch aus dem Hobbit vorlas; eine Schwester, die zwar oft gemein war, aber mit einem die tollsten Lego-Burgen baute, wenn man ihr dafür die Süßigkeitentüte vom letzten Kindergeburtstag gab. Ja, mit sechs war mein Leben noch in Ordnung.
>>Hey Großer. Ich wollte nur mal nach dir sehen. War ja doch ein ganz schöner Schock gestern, was?<<
Ein Schock? Das, was ich empfand, war mehr als ein Schock! Meine Mutter hatte Sex mit einem anderen Mann und das Schlimmste war, dass mein Vater nicht im Geringsten empört darüber zu sein schien. Wenn ich ihn so betrachtete, fand ich sogar, dass er lange nicht mehr so gut und entspannt ausgesehen hatte. Ich hatte fast den Eindruck, dass er erleichtert war.
>>Aber weißt du<<, fuhr er fort, >>für euch wird sich nicht viel ändern. Wir haben euch genauso lieb wie immer und Mama und ich bleiben die besten Freunde. Nur weil wir nicht mehr…<<
Mein Vater redete noch eine Weile so Elternratgeberwie-erkläre-ich-meinem-Kind-dass-wir-uns-trennenmäßig weiter, doch seine Stimme entfernte sich immer weiter von meinem Bewusstsein, bis sie zu einem Geblubber verschmolz und ich ihn erst wieder sagen hörte:
>>So, Großer, ich muss jetzt zur Arbeit, sonst ist die Stadtautobahn wieder dicht und ich stehe ewig im Stau. Los, ab unter die Dusche. Es ist schon Viertel nach sieben.<<
Auf dem Weg ins Bad begegnete ich meiner Schwester. Sie war zwei Jahre älter als ich und dachte, dass man sich mit fünfzehn schon schminken sollte wie eine, die auf dem Shoppingkanal Bauchwegunterwäsche verscherbelte. Mich erinnerte ihr Make-up an diesem Morgen eher an den Joker aus Batman, aber aus Erfahrung wusste ich, dass ich ihr Aussehen besser nicht kommentierte. Vor allem dann nicht, wenn ich bei der Mutter von Rosas Freundin im Auto mit zur Schule genommen werden wollte. Rosas Freundin Sarah war es auch, die mich die Ausreden, warum ich nicht zur Schule gehen konnte, vergessen ließ. Sie war meine einzige Motivation, mich in diese Drillanstalt zu begeben. Leider erwiderte sie meine Liebe (noch) nicht, aber ich arbeitete hart daran, dass sich das eines Tages ändern würde. Im Moment sah sie in mir eher einen niedlichen kleinen Jungen. Sie sprach mit mir, als wäre ich zehn und wurde nicht müde zu betonen, wie knuffig ich sei. Leider auf eine Art, wie man einen kleinen Hund knuffig fand, aber immerhin umarmte sie mich oft und gab mir sogar ab und zu einen Kuss auf die Wange.
>>Beeil dich, Lahmarsch!<<, riss es mich aus meinen süßen Tagträumen, >>Sarahs Mutter ist gleich da.<<
>>Chill mal, ich bin doch fertig.<<
>>Die Klamotten hattest du doch gestern schon an. Warum um alles in der Welt musst du eigentlich immer dieses T-Shirt mit dem Drachen drauf anhaben? Wo hast du das eigentlich her?<<
>>Das ist mein Dungeons and Dragons T-Shirt. Das hat mir Tobi aus England mitgebracht. Das ist ein original...<<
>>Ja, ja, whatever!<<, unterbrach mich Rosa und formte ein L aus Daumen und Zeigefinger und platzierte es auf ihrer Stirn. >>Komm jetzt.<<
Ich war noch nie so froh, zur Schule zu gehen, wie an diesem Morgen. Endlich raus aus diesem Haus und weg von meinen Eltern, die beim Frühstück betont unverkrampft ihr freundschaftliches Verhältnis demonstrierten. Ich glaube, ich hatte sie noch nie so viel beim Frühstück miteinander reden hören. Widerlich! Warum trennten sie sich denn, wenn sie sich so toll verstanden? Sie konnten doch eine offene Ehe führen, so wie Dunjas Eltern.
>>Was sag ich denn jetzt eigentlich, wenn mich jemand fragt, warum ihr euch scheiden lasst?<<
>>Ach Schatz, das ist schwierig, in ein, zwei Sätze zu packen. Sag doch einfach, wir hatten unüberbrückbare Differenzen. Das geht ja im Detail auch niemanden etwas an.<<
Unüberbrückbare Differenzen? Was war das denn für ein Scheiß! Sagte das nicht Frauke Ladewig bei ihrer Promishow immer, wenn sich irgendwelche Hollywoodstars trennten? Bedeutete das, dass meine Mutter meinen Vater bald des Drogenkonsums beschuldigen und mein Vater meiner Mutter öffentlich ihre Affäre vorwerfen würde, so wie es bei Brangelina der Fall war? Würde aus unüberbrückbaren Differenzen bald ein riesiger Rosenkrieg werden? Ich sah mich schon bei Richter Alexander Held aus dem Fernsehen sitzen, der mich fragte, >>So, liebe Rosa, bei wem möchtest du wohnen? Bei deinem Vater oder bei deiner Mutter? Du musst das jetzt entscheiden, weil deine Eltern sich um dich streiten. Ihr freundschaftliches Verhältnis nach der Trennung war nur vorgespielt. Eigentlich hassen sie sich.<<
>>Gut, eigentlich wissen ja eh alle Bescheid, von daher wird mich wahrscheinlich keiner fragen.<<
>>Ach Mausi, es tut mir so leid.<< Die Stimme meiner Mutter fing an zu zittern und sie bekam diesen Gesichtsausdruck, den sie immer bekam, wenn sie gleich anfing zu heulen. Zum Glück hupte in dem Moment Sarahs Mutter vor der Tür, sodass ich dem Geheule meiner Mutter gerade noch entkommen konnte.
>>Hey, na, ihr beiden. Sarah hat mir erzählt, was bei euch los ist.<<
Sarahs Mutter lächelte uns aufmunternd an.
>>Schon gut Ursula. Können wir bitte über etwas anderes reden?<<
Sarah nahm meine Hand und drückte sie ganz fest. Wir verstanden uns ohne Worte. Das war schon seit dem Kindergarten so. Ich werde nie vergessen, wie sie das erste Mal in die Kita kam. Da waren wir beide fünf. Wir blickten uns in die Augen und waren seitdem unzertrennlich. Sarahs Eltern hatten ein wunderschönes liebevolles Verhältnis zueinander und bei ihnen zu Hause fühlte ich mich schon immer total wohl. Als ich fünf war, hinterfragte ich auch nie, warum Sarah zwei Mamas hatte und nur ganz selten ein Typ namens Günther sie abholte. Erst als wir in die Grundschule kamen und einige Kinder fragten, wie das sein könne, dass sie zwei Mamas habe und dass das nicht normal sei, erklärten mir Ursula und Jette, dass sie lesbisch seien und Günther zwar der leibliche Vater von Sarah war und sie ab und zu Zeit mit ihm verbrachte, aber dass Ursula und Jette eben die Eltern waren, die Sarah liebten und aufzogen.
Seitdem hatte nie wieder irgendjemand ein Wort über Sarahs Eltern verloren, obwohl die Leute in unserer Schule für alle möglichen vermeintlichen Besonderheiten geärgert wurden. Alexander Otto wurde z.B. Teenage Mutant Ninja Turtle genannt, nur weil er einen kleinen Buckel hatte; Nele Lehmann war auch unter dem Namen Godzilla bekannt, weil sie sehr groß war und sehr behaarte Beine hatte. Ich glaube, dass Sarah niemals wegen ihrer zwei Mütter aufgezogen wurde, weil sie einfach das größte Selbstbewusstsein hatte, das eine Fünfzehnjährige haben konnte. Wenn sie den Raum betrat, richteten sich alle Augen auf sie und sie schien sich in ihrer Haut so wohl zu fühlen, dass sie eine Schönheit ausstrahlte, die alle in ihren Bann zog. Dabei war sie noch nicht mal die Schönste, also objektiv gesehen. Ihr Po war im Verhältnis zum restlichen Körper etwas dick und ihre Beine waren nicht gerade die längsten. Einer ihrer vorderen Zähne stand schief in der Zahnreihe und an der Stirn hatte sie eine kleine Narbe, weil sie als Kind mal vom Wickeltisch gefallen war. Und trotzdem war sie das Mädchen mit der charismatischsten Ausstrahlung der ganzen Schule. Zum größten Teil lag das an ihrem Gesicht: Sie hatte wunderschöne große braune Augen mit Wimpern, die jedes Mascara-Model aus dem Fernsehen vor Neid erblassen lassen würden. Ihre Nase war klein und mit ihren hohen Wangenknochen und vollen Lippen hatte sie einen solchen Ausdruck, dass man sich nicht an ihr sattsehen konnte. Aber das Beste an Sarah war, dass sie ihr eigenes Äußeres kein Stück interessierte. Man merkte zwar, dass sie sich in ihrem Körper sehr wohlfühlte, aber sie war kein bisschen eingebildet und tat auch nichts dafür, ihre ohnehin schon vorhandenen Vorzüge noch zu betonen. Sie schminkte sich so gut wie nie (außer wenn uns mal langweilig war und ich sie als Schminkpuppe missbrauchte) und trug jeden Tag schlabberige Jeans, ein eng anliegendes Shirt und Turnschuhe. Ihre braunen Haare, die ihr bis über die Schultern reichten, trug sie immer ungestylt offen. Trotz dieses Looks wirkte sie unendlich weiblich, was auch den Jungs nicht verborgen blieb und sie bei ihr Schlange stehen ließ.
Ein weiterer Grund, warum sich, glaube ich, niemand mit ihr anlegte, war ihre extreme Redegewandtheit: Sie konnte einfach jeden an die Wand quatschen, hatte immer schlagkräftige Argumente und in ihrem Vokabular kamen regelmäßig Wörter vor, die ich erstmal googeln musste.
Die Tatsache, dass ich ihre beste Freundin war, obwohl alle mit ihr befreundet sein wollten, machte mich echt stolz und ein bisschen färbten ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebensfreude auf mich ab.
In Momenten wie diesen, wenn sie einfach meine Hand nahm und sie drückte, war ich besonders froh, sie zu haben und wusste, dass ich das mit meinen Eltern schon irgendwie überleben würde.
Als ich gegen Ende des Schultages in Geschichte saß, was eigentlich mein Lieblingsfach war, konnte ich mich nicht wirklich konzentrieren, obwohl Herr Hörnig wieder alles gab, wie immer. Ich fragte mich, ob wir wohl in unserem Haus wohnen bleiben würden, ob ich bei Mama oder Papa leben würde oder ob sie uns aufteilten, so wie beim Car-Sharing. Heute sharete man doch alles: Autos, Ferienhäuser… Ich hatte mal eine Doku gesehen, in der Menschen ohne Geld lebten, nur durch Teilen von Gegenständen, Arbeitskraft und Lebensmitteln. Da passte Child-Sharing doch auch gut rein.
Auf einmal rammte mir Benno, der neben mir saß, seinen Ellenbogen in die Seite und ich hörte Herrn Hörnig ungeduldig meinen Namen sagen. Ich stotterte nur irgendeinen Blödsinn und Herr Hörnig ließ freundlicherweise von mir ab. Als es klingelte und ich gedankenverloren als Letzter meine Sachen zusammensuchte und den Klassenraum verlassen wollte, fing mich Herr Hörnig ab.
>>Äh, Julius, hast du mal ´ne Minute?<<
Das hatte mir ja noch gefehlt. Ich mochte Herrn Hörnig wirklich sehr, aber ich wollte einfach niemandem mein Herz ausschütten. Noch nicht. Und ich wusste, dass es bei Herrn Hönig schwierig werden würde, mich herauszureden.
>>Ich hab‘s eilig, ich muss zur Turnhalle und mich noch umziehen.<<
>>Wieso? Herr Rezat ist doch krank. Sport fällt aus. Was ist los? Du bist ja gar nicht du selbst heute. Hast du Kummer? Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst. Ich hab jetzt Schluss und ein offenes Ohr.<<
Na toll! Vielleicht sollte ich es versuchen. Ich wusste nicht, ob Herr Hörnig verheiratet war, aber er war erwachsen und hatte vielleicht ein paar Antworten parat. Als ich meinen Mund öffnete, um zu sprechen, hatte ich auf einmal einen solchen Kloß im Hals, dass ich nichts sagen konnte. Stattdessen kamen mir die Tränen. Scheiße! Ich wollte echt nicht vor meinem Lehrer flennen! Die Tür war offen und im Flur hörte ich irgendwelche Schüler das Flaschenspiel spielen, bei dem man eine Flasche so werfen musste, dass sie möglichst aufrecht stehend aufkam und stehen blieb. Gelang das, gab es lautes Jubelgeschrei, als hätte jemand bei den Olympischen Spielen Gold geholt. Genauso ein Jubelgeschrei ertönte ironischerweise, als mir die Tränen runterliefen und ich alles dafür gegeben hätte, einfach im Erdboden zu versinken. Herr Hörnig schloss die Tür und sah mich besorgt an.
>>Meine Eltern lassen sich scheiden<<, brach es aus mir heraus. >>Deshalb konnte ich mich heute nicht konzentrieren. Es tut mir leid.<<
>>Erstens: Scheiß auf die Unterrichtsstunde. Du hast nichts verpasst. Außer vielleicht, warum die fehlgeschlagene Deutsche Revolution 1848 dazu führte, dass Hitler 85 Jahre später an die Macht kommen konnte. Zweitens: Das Leben ist manchmal ganz schön beschissen und du scheinst gerade in genauso einer beschissenen Phase zu stecken. Also, du brauchst dich nicht zu entschuldigen, erzähl‘ mir einfach, was dich bewegt. Man sagt, ich sei ein guter Zuhörer.<<
Deshalb war Herr Hörnig mein Lieblingslehrer. Er war so menschlich und man hatte immer das Gefühl, dass er uns Schüler wirklich sah. Immer, wenn es drohte, doch mal langweilig zu werden, hatte er einen Scherz auf Lager, sodass alle wieder bei der Sache waren. Ich erzählte ihm alles, was ich über die Trennung wusste und alles, was ich gerne wissen wollte, aber bei dem ich noch im Dunkeln tappte.
Er hörte einfach nur zu und sagte nicht viel. Komischerweise ging es mir schlagartig besser und der Kloß in meinem Hals löste sich auf. Zum Schluss sagte er einfach nur, >>Ich danke dir für deine Offenheit. Ich finde, dass du dich in dieser Krisensituation wirklich tapfer schlägst. Ich werde meine nächste Unterrichtsstunde in deiner Klasse so sensationell vorbereiten, dass du deine Sorgen für 45 Minuten vergessen wirst. Das verspreche ich dir. Wenn mir das nicht gelingt, hast du einmal Hausaufgabenvergessen bei mir gut.<<
Mein Herz fühlte sich auf einmal so leicht an und ich wollte ihm eigentlich danken, aber ging einfach wortlos zur Tür hinaus. Ich fragte mich, was er wohl für eine Familie hatte. Er hatte noch nie irgendetwas von einer Frau oder Kindern erzählt, aber so ein herzlicher Mensch musste doch eine tolle Familie haben, schließlich war er schon Mitte dreißig. Das wusste ich, weil er erst letzte Woche Geburtstag und Frau Bley ihm einen Kuchen mit einer 35 drauf gebracht hatte. Einige Schüler munkelten, dass Herr Hönig was mit Frau Bley habe, aber die hatte doch einen Mann und zwei kleine Kinder. Von denen erzählte sie ständig und in ihrem Klassenraum hingen Bilder, die ihre Kinder gemalt hatten. Die beiden hingen aber schon auffällig viel miteinander rum und fuhren angeblich immer gemeinsam auf Klassenfahrt. Wenn ich da an meine Mutter und Jörg dachte, war wohl alles möglich.
Als ich zur Bushaltestelle kam, standen dort bereits Sarah und meine Schwester.
>>Komm her, Schnullifurz, lass dich mal drücken!<<, sagte Sarah und umarmte mich. Einige Jungs aus meiner Parallelklasse guckten mich neidisch an.
Als wir nach Hause kamen, war Mama zum Glück noch nicht da. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel mit der Information: >>Im Kühlschrank ist noch Quinoasalat. Könnt ihr aufessen .<<
>>Na toll, den Diätfraß kann sie alleine essen. Nach dem heutigen Tag brauch ich ´was Fettes und Leckeres.<<
Mein Bruder brachte es auf den Punkt. >>Auf jeden! Nur weil sie grad wieder ihren Low-Carb-Trip fährt, müssen wir da noch lange nicht mitmachen. Wir sind schließlich nicht zu fett.<<
Meine Mutter war, seit ich denken konnte, immer auf irgendeiner Diät. Von Paleo, wo man frisst wie ein Steinzeitmensch, über makrobiotisch, ayurvedisch, fdH, Arkins, North-Beach, Weight Trimmers oder Birgit-Diät. Zurzeit war es Low-Carb. Das hieß: nichts Süßes, keine Nudeln, keine Kartoffeln, keinen Reis, sprich alles, was lecker war, war verboten. Das Merkwürdige daran war, dass sie anstatt dünner zu werden, eigentlich immer dicker wurde. Egal welche Diät sie gerade machte, sie schien jedes Jahr ein paar Kilo mehr zu wiegen. Das zeigte mir, dass Diäten offensichtlich das Gegenteil von dem bewirkten, was sie eigentlich sollten. Das begriff meine Mutter aber irgendwie nicht. Eines Morgens, als ich gerade ins Bad kam, hielt sie die Waage in der Hand und suchte mit ihrem Fuß nach unebenen Stellen im Boden, weil sie meinte, dass die Anzeige auf der Waage nicht stimmen könne und das wohl an Unebenheiten im Fußboden liegen müsse. Davon war sie wirklich überzeugt. Als ich sie auslachte, sagte sie: >>Hier probier‘ es doch selber aus. Stell dich drauf.<<