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In sechzig Minuten geschrieben, in fünf Minuten gelesen. Geschichten von unterwegs, die ermutigen, auf eigene Entdeckungsreisen zu gehen und die besonderen Dinge zu suchen. Was macht ein Riese im Schlosspark, die Badewanne auf dem Teufelsberg oder eine Eintagsfliege in vierundzwanzig Stunden? Im 2. Band ihrer Minutengeschichten nimmt uns Anka Chilla mit auf inspirierende Streifzüge durch ihre Heimat und lädt ein zur Schatzsuche.
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Anka Chilla, geb. 1964, studierte an einer Fachschule u. a. Pädagogik und Kinderliteratur, belegte ein Fernstudium zur „Technik der Erzählkunst“ und schreibt am liebsten Kurzgeschichten. Sie arbeitete als Kindergärtnerin und für die Hörspielabteilung des Rundfunks der DDR, organisierte Schulfahrten für umweltgeschädigte Kinder und trat in ihrer Jugend als Puppenspielerin auf. Zurzeit ist sie im Management von Einkaufscentren tätig und wohnt mit ihrem Mann in Grünheide. In ihrer Freizeit ist sie gern mit Pferd, Kajak oder Fahrrad in der Natur unterwegs und sammelt Inspirationen für ihre Geschichten. 2022 erschien der erste Band ihrer Minutengeschichten „Schweinehunde beißen nicht“ sowie das Hörbuch „Der Glücksbringer der Skikinder“, gelesen von der Schauspielerin Roswitha Schreiner.
Vorwort
In Bedrängnis
Fabelwesen
Schnee im Juli
Lichterkette
Der Weg
Im Elbsandsteingebirge
Rummel
Der Beobachtungsturm
Laut
Die Gartenbahn am Bernsteinberg
Beelitz Heilstätten
Die Herausforderung
Neuhardenberg-Nacht
Festival of Lights
Schneckbi
Der Teufelsberg
Mittagspause
In den Dolomiten
Nachts auf dem See
Glücksstern
Winter im Spreewald
Die Magie der Fjorde
Gesichter meines Vaters
Tafli
Die Kutsche
Das Sternenzelt
Von Südafrika über Grünheide zum Mars
Ivo
Der Mauerweg
Ein Hofstaat auf Reisen
Abu Salam
In der Kirche
Auf dem Glafsfjorden
Der Laden
Ferien bei Oma
Der Wurzeltroll und das fliegende Kalb
Pedro
Lichterfahrt
Hufe und Kufen
Der Zaunkönig
Am Werbellinsee
Corona Camping
Die Gänsewiese
Tag der offenen Tür
Der Tiergarten des Königs
Der Wohnwagen
Kirschen und Lieder
Schwimmen mit Shaft
Im Regenland
Veränderungen
Weihnachtsmarkt
Doktor Natur
Fohlennasen
Das alte Hotel
Charlie und die Gabel
Nachwort
Auch für den zweiten Band meiner Minutengeschichten habe ich Texte ausgewählt, die unter dem Namen „Schreiben gegen die Zeit“ in verschiedenen Schreibforen entstanden sind. Die Teilnehmer haben sechzig Minuten Zeit, zu einem spontan gewählten Thema eine Geschichte zu verfassen, die anschließend bewertet und kommentiert wird. Diese Art des Schreibens ist zu meiner Leidenschaft geworden.
Im vorliegenden Band erzähle ich von Unternehmungen und Entdeckungen, die mich in den letzten zehn Jahren berührt, begeistert oder auch verwundert haben. Meist habe ich die Geschichten selbst erlebt, manche davon in der Phantasie und ab und zu mag ich es, die Dinge aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel zu betrachten.
Ich freue mich, euch auf meine Ausflüge mitzunehmen. Los geht’s!
Anka Chilla
Der Wagen holpert über das Kopfsteinpflaster. Wir werden beide hin und her geworfen. Er klammert sich an mir fest, krallt seine Finger schmerzhaft in meinen Rücken. Drückt mich an sich. Ich kann seinen Herzschlag hören.
Dann schaut er mich an. In seinem Blick sehe ich Gier. Ich habe Angst. Sein zahnloser Mund lächelt. Sabber tropft auf meine Brust. Mit den Lippen umschließt er mein rechtes Ohr und fängt an, daran zu knabbern.
„Lass das!“, ruft eine scharfe Stimme.
Ich fühle, wie ich von ihm weggerissen und zurück in die Kissen geschleudert werde.
Er brüllt wie irrsinnig. Schreit nach mir. Will mich zurück.
Ich mache mich ganz klein. Unter mir fängt es an, kräftig zu wackeln. Es gibt einen Ruck und ich rutsche an seinen Füßen vorbei auf die Straße.
Der Wagen fährt weiter. Sie haben nicht bemerkt, dass ich rausgefallen bin.
Still liege ich da und höre, wie das Brüllen leiser wird.
Dann bin ich allein. Atme auf.
Es ist dunkel und regnet. Unter mir ist nasser Asphalt, aber das macht mir nichts aus. Hauptsache, er knabbert nicht mehr an mir.
Ich höre Motorenlärm und sehe zwei Scheinwerfer direkt auf mich zukommen. Meine Augen weiten sich. Bremsen quietschen. Eine Tür schlägt. Zwei Hosenbeine nähern sich und bleiben vor mir stehen.
Ich spüre, wie ich gemustert werde. Mein Körper ist wie gelähmt, ich starre in die Helligkeit.
Im nächsten Augenblick werde ich hochgenommen und jemand hält mich vor die Windschutzscheibe des Autos.
„Schau mal, Eva“, höre ich eine amüsierte Stimme sagen. „Es ist nur eine kleine Stoff-Eule. Sie muss aus einem Kinderwagen gefallen sein.“
Zärtliche Finger streichen mir den Schmutz aus dem Gesicht.
„Du hast wunderschöne Augen, kleine Eule. Möchtest du mitkommen?“
Ich versuche zu nicken.
Nun sitze ich bei Evas Freundin auf dem Regal neben den Büchern. Sie krallt sich nicht an mir fest, sabbert nicht und knabbert auch nicht an meinem Ohr. Fast ein wenig langweilig hier.
Sie hat ein Foto von mir gemacht und es im Internet auf eine „Lost and Found“-Webseite gestellt. „Vielleicht finden wir ja das Kind, das dich verloren hat.“
Ich weiß nicht, ob ich das will. Wobei, so richtig geknuddelt zu werden ist auch schön. Wenn es nicht zu doll wird. Ich beschließe, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen.
Berlin, Januar 2013, Thema: Frei
Wie ein schwarzer Spiegel umschließt uns das Meer. Die Nacht ist ruhig, kein Luftzug regt sich. Die Sterne glitzern über und unter uns, es ist, als schweben wir mit dem Boot durch das Weltall. Doch da ist noch etwas. Im schwarzen Wasser bewegen sich fluoreszierende Fabelwesen. Unzählige von ihnen gleiten an uns vorbei wie durchsichtige, leuchtende Teller, begleitet von sanften Klängen. Sphärenmusik.
Ich beuge mich aus dem Boot und will mit der Hand nach den Wesen greifen. Sobald ich das Wasser berühre, leuchten die kleinen Wellen, die ich dabei verursache, und ihr Widerschein erhellt mein Gesicht. Ich schaue genauer hin und sehe, dass es Leuchtquallen sind, die uns umgeben und das Wasser phosphoreszieren. Nie zuvor habe ich etwas Schöneres gesehen. Ich fühle mich, als sei ich der Mittelpunkt des Universums. So frei und glücklich. Begeistert rühre ich mit den Fingern im Wasser und freue mich an dem magischen Scheinen. Die Tropfen glitzern auf meiner Haut. Tief unter mir sehe ich Fische schwimmen. Mit majestätischen Bewegungen ziehen sie unter unserem Boot hinweg.
Mit einem Mal taucht ein riesiger Kopf am Bug auf und noch ehe ich die Gefahr erkenne, zischt er empor. Das leuchtende Wasser perlt an ihm ab, er wirbelt die See auf, schlägt mit den Flossen und es scheint, als komme er direkt aus der Hölle. Ein Wal. Er springt in einem flammenden Regen über uns hinweg, das Boot schlingert und kopfüber stürze ich ins Wasser.
Ich rudere mit den Armen, pruste, schnaufe und schnappe nach Luft. Als ich wieder an die Oberfläche komme, sehe ich die gigantische Flosse nur wenige Meter von mir entfernt ins Meer gleiten. Ich greife nach den Seilen, die am Boot befestigt sind und sehe unsere Vorräte zwischen den Quallen im Wasser schwimmen.
In diesem Moment lege ich mich in meinem Kinosessel zurück und bin froh, dass ich nicht Pi bin und auf dem Ozean ums Überleben kämpfen muss.
„Life of Pi“ im Kino, Januar 2013, Thema: Kopfüber
Von Grindelwald fahren wir mit der Gondelbahn zur Station First. Auf dem schindelgedeckten Gebäude steht eine Zahl: 2.167 m. Ich werfe nur einen kurzen Blick drauf. Auch das Panorama der schneebedeckten Berge kann mich nicht aufhalten. Meine Augen huschen immer wieder zu der kleinen Seilbahnanlange, die neben der Gondelbahn endet. Im Prospekt steht: „800 Meter Stahlseil, bis zu 50 Meter Höhe und eine Geschwindigkeit von bis zu 84 Stundenkilometern.“ Der First Flieger verspricht Nervenkitzel und ich bin kaum noch zu halten. Wir klettern auf die Startrampe, bekommen eine Einweisung und einen Gurt angelegt. Dieser ist mit einer Rolle an dem Stahlseil befestigt und als sich die Klappe öffnet, sausen wir ungebremst hinab. Ich juble und breite die Arme aus. Der Wind saust mir in den Ohren und zerrt an meinen Haaren, einen kurzen Moment glaube ich, wirklich zu fliegen, dann bin ich schon unten. Ich rausche in eine große Feder, schwinge hin und her und es ist vorbei. So schnell! Enttäuscht klettere ich aus dem Gurtzeug. Für den Preis für 58 CHF hatte ich mir mehr versprochen.
Ich bin wütend und schimpfe über unsere Dummheit. Das viele Geld hätten wir im Urlaub besser einsetzen können. Als wir über die blühenden Wiesen laufen und die schneebedeckten Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau im Sonnenlicht glänzen sehen, atme ich tief durch.
Wir beschließen zum Bachalpsee zu wandern. Der Weg führt über Kuhweiden und Blumenfelder und schon bald liegt etwas Schnee auf dem Weg. Begeistert rennen die Kinder hinein, bauen einen winzigen Schneemann und veranstalten eine Schneeballschlacht. Später am See ist tiefster Winter. Alles ist weiß. Das Wasser ist zum Teil gefroren, wir ziehen unsere Jacken über und schieben mit den Händen große Eisschollen den Wasserfall hinunter. Nach der anstrengenden Arbeit in dieser Höhe müssen wir uns ausruhen. Wir gehen ein paar Meter den Südhang hinauf und finden eine Bank inmitten einer Blumenwiese. Hier packen wir unsere Brote aus und schauen auf den eisbedeckten See. Nie zuvor habe ich eine Winterlandschaft mitten im Sommer erlebt. Es ist traumhaft schön. Viel schöner als die teure Fahrt mit dem First Flieger.
Schweiz, Oktober 2013, Thema: Traumhaft
Tausende Ballons, aufgereiht wie an einer Kette quer durch Berlin.
Jeder Ballon ist an einem hohen Stab befestigt und erinnert an eine moderne Stehlampe. Viele Stunden stehen sie bewegungslos wie Soldaten, einer neben dem anderen. In einer unendlichen Linie ziehen sie sich durch die Stadt. Sie scheinen etwas zu bewachen. Etwas, das nicht zu sehen ist. Nicht mehr.
Die Menschen schauen, staunen und gegen Abend werden es immer mehr. Als es dunkel ist, beginnen die Ballons zu leuchten. Sie setzen ein Zeichen, einer neben dem anderen.
Eine leuchtende Ader wird sichtbar und teilt die Stadt. Die Menschen drängen sich dicht von beiden Seiten. Der Verkehr erliegt, Autos werden mitten auf der Straße stehengelassen, Reisebusse und Taxis kommen nicht mehr weiter. Die Insassen steigen aus und mischen sich unter die Massen.
Am Brandenburger Tor werden Reden gehalten, Wowereit und sogar Gorbatschow erheben die Stimmen. Die Menschen jubeln. Dann erklingt Musik. Die Ode an die Freude tönt durch die Nacht und die ersten Ballons steigen in den Himmel. Einer nach dem anderen. An jedem von ihnen hängt eine Botschaft, aufgeschrieben von den Menschen der Stadt. Immer mehr Ballons erheben sich in die Dunkelheit, die Lichtergrenze löst sich auf. Und bald ist da keine Linie mehr, die Teilung wurde aufgehoben. Heute vor fünfundzwanzig Jahren.
Im Geäst des kahlen Straßenbaums hat sich ein Ballon verfangen. Viele Hände helfen, ihn zu befreien. Ein kleines Mädchen liest vor, was auf seinem Kärtchen steht: „Wir können nicht rückgängig machen, was geschehen ist. Wir können nur daraus lernen.“
Berlin, November 2014, Thema: Die Mauer
Martin weiß nicht, ob er weiter gehen soll. Der Weg, den er gewählt hat, wird mit jedem Schritt beschwerlicher. Es geht immer bergauf. Wenn er glaubt, endlich oben zu sein, sich ausruhen und den Blick genießen zu können, liegt schon der nächste Anstieg vor ihm.
Er erinnert sich, wie er anfangs noch leichtfüßig und guter Dinge unterwegs war, doch jetzt schwinden seine Kräfte und ihm kommt es vor, als würde die Luft um ihn herum immer dünner. Er kann kaum noch atmen. Am liebsten möchte er umdrehen und den ganzen Weg zurückrennen. Bis zur Kreuzung, an der er sich entschieden hatte. Noch einmal dort stehen, noch einmal überlegen. Bergauf? Anstrengend! Bergab? Gefährlich! Oder immer geradeaus durch das flache gleichförmige Land? Wie langweilig! Wahrscheinlich würde er wieder den Weg wählen, mit dem er gerade hadert. Also weiter. Tief durchatmen und Schritt vor Schritt.
Martin läuft ohne Pause. Er weiß, wenn er anhält, legt er sich hin. Dann schließt er die Augen, kann nicht mehr weiter und schon kommt die Nacht. Er kann sie bereits spüren, die Kälte und die Dunkelheit. Langsam beginnen sie, alles einzuschließen und er geht schneller, um ihnen zu entkommen.
Der Weg ist steinig, er stolpert, fällt, richtet sich auf und läuft weiter. Da sieht er die Laterne. Sie erhellt seinen Weg und zeigt ihm das Ziel. Nun weiß er, dass es nicht mehr weit ist und es dort oben, auf dem Gipfel, eine Zukunft für ihn gibt.
August 2015, Thema: Laterne
Im Wald ist es still und herbstlich. Ich kann die feuchte Luft schmecken und höre die Regentropfen in den Blättern über mir. Immer höher schleppen wir unsere Rucksäcke und erreichen schließlich Belvedere. Die Aussicht hier ist auch bei trübem Wetter faszinierend. Tief unter uns schlängelt sich die Elbe durchs Tal und die Sandsteinfelsen verstecken sich hinter Wolkenfetzen. Es sieht aus, als atmen sie. Auch mein Atem geht heftig und das nicht nur wegen des beschwerlichen Aufstiegs. Niemand von den Touristen hier oben ahnt, was wir vorhaben. Auch nicht der Musiker, der vor dem Restaurant seine Geige quält und auf ein paar Münzen hofft.
„Kommt, wir müssen weiter“, mahnt Heiko, unser Bergführer. Er mag weder Touristen, noch mit Geländer eingezäunte Aussichtsplattformen. Oft sind wir schon mit ihm geklettert, haben die verschiedensten Felsen bezwungen und sind mit spektakulären Blicken belohnt worden. Heute hat er wieder das Seil im Rucksack, aber uns ist klar, dass es dieses Mal anders wird.
Erneut durchstreifen wir den Wald und verlassen schließlich den Weg, um auf eine niedrige Felsgruppe zuzusteuern. Hier wirft Heiko den Rucksack ab, betastet das Gestein, streicht darüber und deutet schließlich auf eine unscheinbare Spalte. „Hier ist es“, sagt er und packt das Seil aus. Er wickelt es über seinem Ellenbogen auf und achtet darauf, dass keine Knoten, Verdrehungen oder Schleifen entstehen.
Als wir in die Gurte steigen, klopft mein Herz bis zum Hals. Keiner von uns hat vorher je etwas Vergleichbares mitgemacht. Uns ist klar, dass alles, was wir heute tun, auf eigene Gefahr geschieht. Hoffentlich wird dieser Ausflug für uns nicht schicksalsbestimmend.
Mit Helm und Stirnlampe ausgerüstet quetschen wir uns hinter Heiko durch den Spalt. Ich bin erstaunt, denn unsere LED’s erhellen einen kleinen Raum, der nicht furchterweckend wirkt.
„Vorsicht!“, sagt Heiko. „Dort vorn ist ein Loch und da geht es 23 Meter in die Tiefe.“
Wenig später hänge ich am Seil und lasse mich langsam hinab in die sogenannte Räuberhöhle, der größten im Elbsandsteingebirge. Plötzlich bewegt sich etwas neben mir. Mehrere Wesen lösen sich vom dunklen Fels und flattern um mich herum. Ich schreie auf und versuche mit aller Macht, nicht das Seil loszulassen.
„Fledermäuse!“, ruft Heiko von unten. „Es sind nur Fledermäuse.“
Als ich festen Boden unter den Füßen spüre, ahne ich nicht, dass dies erst der Anfang von unserem Abenteuer ist und wir in dieser Höhle in den nächsten zwei Stunden kriechend und kletternd noch so manches Mal an unsere Grenzen stoßen werden.
November 2015: Schleife, Geige, Höhle, schicksalsbestimmend
Lichter blinken in allen Farben, Blitze zucken durch die Nacht. Langsam gehe ich mit Opa über den Platz. Vielmehr schieben wir uns durch die Massen. Aus jeder Ecke tönt eine andere Musik, hier ein stampfender Beat, da eine Alarmsirene, dort das Läuten einer Glocke. Kinderlachen. Geschrei. Der Boden vibriert, alles scheint sich zu bewegen. Überall dreht, schaukelt oder kreist etwas. Ich rieche gebrannte Mandeln und Brathähnchen und erinnere mich, wie mir Opa immer Zuckerwatte gekauft hat. Jedes Jahr waren wir hier in Berlin auf diesem großen Weihnachtsmarkt. Am liebsten mochten wir die Spiegel im Lachgarten. Dort konnten wir uns als spannenlanger Hansel oder nudeldicke Dirn betrachten. Kurze Beine, Giraffenhals und riesige Nase. Wir konnten nicht genug davon bekommen und lösten meist mehrere Eintrittskarten. Die Fotos zeigten wir zu Hause der Oma, die nur den Kopf schüttelte. Ob es eine gute Idee war, heute hierherzukommen? Opa scheint das alles nicht zu interessieren. Er starrt ins Leere, während ich seinen Rollstuhl schiebe. Ich hatte gehofft, die Lichter, die Musik und die Gerüche würden ihn aus seiner Lethargie aufwecken.
„Na, ihr zwei?“, ruft uns ein junger Kerl am Riesenrad zu. „Habt ihr Lust auf ´ne Runde?“ „Was soll das?“, ranze ich ihn an. „Du siehst doch, was mit ihm los ist.“ Ich will weitergehen, da kommt er mir hinterher und hält mich am Ärmel fest.
„Gerade deshalb“, sagt er mit verschwörerischem Zwinkern. „Gerade deshalb!“
Ich sehe zu Opa, der nicht wirklich hier ist. Es ist nur sein Körper, den ich herumschiebe.
„Das Rad fährt ziemlich langsam“, erklärt der junge Mann. „Da gibt es keine Fliehkräfte oder so. Es wird ihm nichts passieren.“
Zweifelnd sehe ich von Opa zum Riesenrad und zurück. Es fährt wirklich nicht sehr schnell. „Helfen Sie mir?“