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Die dreizehnjährige Sarah klettert für ihr Leben gerne. Ihr größter Wunsch ist es, ihre Heimatstadt Berlin zu verlassen und nach Österreich zu fahren: dorthin, wo sie in den Alpen klettern und wandern kann. Doch ihre Eltern verbieten ihr die Reise zu ihrem Wunschort. Eines Tages fasst Sarah den Entschluss, allein die Reise in die ersehnten Berge anzutreten und läuft von zu Hause weg. Sie begibt sich auf ein spannendes Abenteuer und kommt dabei einem großen Geheimnis auf die Spur?
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Lexa Gallay, geboren 2001 in Cottbus, begann schon als Kind mit dem Schreiben von Geschichten. Sie ist eine begeisterte Leserin und denkt sich gerne Handlungen aus.
In ihrer Freizeit reitet sie, singt oft und spielt Klavier.
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
Epilog
Am blauen Horizont türmen sich die gigantischen Alpen auf und zwischen den Gipfelketten strahlt die aufgehende rotgelbe Sonne. Massive Steine und Felsen ragen zwischen den unterschiedlich großen Tannen, Fichten und Lärchen heraus, während Steinadler, Falken, Alpendohlen und Geier mit schnellen, kräftigen Flügelschlägen über die Alpen ziehen.
Am Wegesrand, neben Gras und Wildkraut, blühen das Edelweiß und der Enzian.
Unterhalb des mir gegenüberliegenden Gipfels verschwinden Murmeltiere in ihrem Bau, Hirsche, Hasen und Gämsen springen wild umher und bei genauem Hinsehen kann man am Boden zwischen Sand und Steinen Eidechsen, Schlangen oder Salamander erblicken.
An einem kalten Bergsee befinden sich meist Frösche, Kaulquappen und Fische jeglicher Art. Nach einem langen, anstrengenden Tag sitze ich erschöpft auf der Spitze des Berges und beobachte jedes Detail in der Natur.
Der kräftezehrende Anstieg mit anspruchsvollen Klettersteigen liegt hinter mir und trotz brennender Wunden an den Händen, Blasen an den Füßen und unzähligen Kratzern bin ich glücklich und zufrieden. Vor mir liegt eine großartige Aussicht auf grüne, volle Wälder und unzählige Vögel, die vor der atemberaubenden Kulisse schneebedeckter Berge immer wieder spielerisch ins Tal hinunterschießen, nur um kurz darauf wieder gen Himmel zu fliegen.
Mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit widme ich mich am späten Nachmittag dem Abstieg und versuche, die herrliche Atmosphäre in mich einzusaugen.
Es ist nicht greifbar, doch die Gefühle und Gedanken, die mir gerade durch den Kopf schwirren, sind wunderschön und unbeschreiblich.
Am Abend fällt mein erschöpfter Körper ins weiche Bett und ich versinke bereits im nächsten Augenblick im Land der Träume, um dort erneut den Tag Revue passieren zu lassen.
Ehe ich mich versah, wachte ich, umgeben von meiner lauten Klasse, auf. Hinten in der vorletzten Reihe, mit dem Kopf auf einem harten Tisch in meinem Gymnasium in Berlin, kam ich wieder zurück in die Realität.
Ich war unglücklich. Wieder war alles nur ein Traum gewesen und ich steckte immer noch, wie die letzten 13 Jahre, in der dreckigen, von Millionen Menschen bewohnten Hauptstadt Berlin.
Langsam und lustlos hob ich meinen Kopf von der Tischplatte. Erst da sah ich die Lehrerin, die wartend vor meiner Schulbank stand und mich mit ernstem Blick musterte.
Ich starrte meine Mathelehrerin an, die sich mit ihrem faltigen, dicken und verschwitzten Gesicht über den Tisch lehnte.
Wütend stemmte sie die Arme auf die Bank. Die Standpauke, die sie gleich halten würde, kannte ich schon, doch ändern konnte niemand etwas.
Wenn ich in der Schule an die Berge dachte, wurde ich müde und schlief ein. Oft träumte ich denselben Traum, die Tageszeiten änderten sich und ich bekam andere Blickwinkel von den Gipfeln der Berge, doch es spielte sich alles in den Alpen, in Österreich ab.
Ich versuchte wirklich, im Unterricht aufzupassen, aber jedes Mal schweifte ich mit den Gedanken ab und landete in meinen Illusionen der Berge. Die ersten Jahre versank ich nur im Tagtraum und konnte trotzdem im Unterricht mitarbeiten. Seit einigen Monaten wurde ich allerdings total müde dabei, schlief ein und träumte …
„Sarah. Du bist hier, um etwas zu lernen und nicht, um zu schlafen! Ich habe keine Lust mehr, dich ständig wecken zu müssen! Wenn du im Unterricht nicht mitarbeiten willst, kannst du nach Hause gehen.“
In der Stimme meiner Lehrerin schwang Verärgerung und Zorn mit.
Heute hatte sie ihre Rede wirklich kurz gehalten, doch es war bereits das fünfte Mal in ihrem Unterricht in einem Monat und sie hasste Schüler, die ihrem Unterricht und ihren Erklärungen nicht folgten und sich stattdessen anderen Tätigkeiten widmeten oder schliefen.
Da ich sowieso schlecht gelaunt war, nicht mit ihr streiten wollte und die Unterrichtsstunde, sowie danach auch mein Schultag, in 15 Minuten zu Ende sein würden, packte ich stur einfach meinen Rucksack, nahm meine Jacke und verließ den Raum.
„Das gibt ein Nachspiel. Versprochen, Sarah“, hörte ich ihre kratzige Stimme nachhallen, als ich aus der Klassenzimmertür schritt.
Während ich schnell durch das Schulgebäude lief, bahnte sich immer mehr Wut in mir an und trotzdem fühlte ich mich im Inneren schlecht, da ich den Unterricht so verlassen hatte.
Die letzten drei Briefe von der Schule hatte ich abfangen können, bevor sie meine Eltern hatten sehen können. Bei den individuellen Gesprächen zwischen mir und den Lehrern hatte ich erst versucht, die Wahrheit darüber zu sagen, warum ich ständig geistig abwesend war. Doch die Lehrer konnten mir ebenso nicht helfen, wie ich mir. Die nächsten Male dachte ich mir immer eine neue Geschichte aus. Meine Eltern und alle anderen Bekannten in meiner Umgebung wollten oder konnten mir nicht helfen.
Verzweifelt und wütend fuhr ich mit dem Fahrrad durch die engen Straßen von Berlin nach Hause. Müll sammelte sich am Straßenrand, der Lärm übertönte alles und, passend zu meiner Stimmung, bildeten sich graue Regenwolken am Himmel.
Noch aufgelöster raste ich bis zu unserer Wohnung, wich dabei geschickt jedem verrückten Autofahrer aus und versuchte, meine letzte Konzentration auf den Straßenverkehr zu richten.
Seit meiner Geburt vor dreizehn Jahren lebten wir in dieser riesigen, stinkenden Stadt. Wenn man mich fragte, waren es dreizehn Jahre zu viel. Meinem Bruder Tom machte das überhaupt nichts aus. Er war ein richtiges Stadtkind. Je lauter, desto besser, war seine Devise, dachte ich oft. Ich war das genaue Gegenteil: Ich kletterte für mein Leben gern und liebte die wilde Natur. Leider fuhr ich viel zu selten in die Berge. Wenn ich mal dorthin durfte, dann nach Sachsen.
Ich hatte nichts gegen Sachsen, aber ich wollte so gerne die Alpen sehen! Ich spürte, dass es mich extrem nach Österreich zog und ich eine besondere Bindung zu den Bergen dort hatte. Mir war der Grund dafür nicht ganz klar, aber ich wusste, dass einer existierte.
Als ich noch jünger war, akzeptierte ich Berlin, aber je älter ich wurde, desto mehr verlangte mein Inneres nach einem Leben fern der Stadt in der Natur. Ich suchte die Herausforderung in meinem Leben und irgendetwas zog mich unwiderruflich in die Alpen nach Österreich. Klettern war mein Leben und ich brauchte es wie die Luft zum Atmen. In der Schule konnte ich mich nicht konzentrieren. Ständig war ich wütend darauf, dass ich hier lebte und nicht in den Bergen. Seit Jahren hasste ich Berlin.
Ich funktionierte in der Stadt und versuchte, normal zu leben, doch glücklich war ich hier schon lange nicht mehr. Ich hatte oft probiert, mich mit dem abzugeben, was ich hatte.
Mein Versuch war viele Jahre auch gut gegangen, aber ich hatte bis heute das Gefühl, dass etwas in meinem Leben fehlte. Ich redete mit Freunden und Lehrern über mein Problem, doch keiner konnte es verstehen. Sie dachten alle, dass ich übertrieb. Schon seit langem hatte ich einen Plan, wie ich meinen Eltern zeigen konnte, was ich wollte.
Jetzt wusste ich, wie und wann ich ihn umsetzen würde. Mir wurde klar, dass man manchmal die Dinge selbst in die Hand nehmen musste, um etwas zu erreichen.
Ich brauchte DRINGEND die Berge, um endlich wieder glücklich sein zu können.
Ich brauchte sie so sehr, UND ZWAR SO SCHNELL WIE MÖGLICH.
Ich schlug mein Tagebuch auf und begann zu schreiben.
„18. Juni 2018
Mir geht es nicht gut. Ich finde es total unfair, dass mein älterer Bruder Tom am Donnerstag auf Klassenfahrt fährt. Und dann auch noch ausgerechnet nach Pirna in Sachsen. Okay, wir machen nächste Woche Montag auch einen Tagesausflug, aber nach Potsdam. Also, Potsdam ist natürlich nicht mit einer kleineren Stadt in der Sächsischen Schweiz zu vergleichen, aber während Tom ein paar schöne Tage in den Bergen verbringt, bin ich wieder in einer blöden Großstadt. Ich bin so traurig, wütend und unglücklich. Seit 7 Jahren klettere ich und noch nie war ich in Österreich. Ich muss endlich das Land kennenlernen, nach dem ich mich seit vielen Jahren sehne. Ich will endlich in die Alpen. Ich wünsche mich zu ihnen. Ich brauche sie, damit es mir psychisch besser geht. Und ich habe auch schon eine Idee, wie ich dorthin kommen werde. Eines ist mir ganz klar: Ich muss bald raus aus Berlin! Ich muss nach Österreich!“
Ich verstaute das Buch in einem kleinen Geheimfach unter meinem Schreibtisch und ging in die Küche. Die Lehrerin hatte sich bis jetzt noch nicht gemeldet und ich hoffte, es blieb dabei. Nach einem schnellen Mittagessen zog ich mich um und fuhr direkt mit dem Fahrrad los zu meiner Kletterhalle.
Antonia Meier, meine Trainerin, hatte als Einzige immer zu mir gehalten und mir gesagt, dass ich versuchen sollte, meine Träume zu erreichen. Sie verstand mich zwar, konnte mir aber mit dem Problem auch nicht helfen.
„Hallo Toni, wie geht es dir?“, fragte ich, während ich in die Halle trat.
„Hey, gut und dir?“, fragte sie zurück und winkte mir zu.
„Es geht. Ich bin wieder eingeschlafen und habe von den Alpen geträumt“, gestand ich ihr, weil ich ihr sehr vertraute und sie von den Konzentrationsproblemen in der Schule wusste.
„Schon wieder. Wir können das nicht ewig vor deinen Eltern geheim halten. Irgendwann musst du mit ihnen reden.“ Sie strich mir behutsam über den Rücken, da sie wusste, dass meine Eltern mich bei meinem Problem nicht unterstützen würden.
„Ich brauche die Alpen und ich muss raus aus Berlin! Ich kann die Sehnsucht nicht beschreiben, aber Österreich zieht mich magisch an. Ich kann in Österreich klettern und ich kann auf mich aufpassen! Aber ich bin hier unglücklich, Toni. Keiner sieht es außer dir.“
„Natürlich kannst du das. Deine Erfahrungen sind gut und du kannst dort klettern. Deine Eltern wollen es aber nicht. Das wirst du akzeptieren müssen. Ich habe schon oft mit ihnen darüber geredet, aber mehr kann ich auch nicht machen, Sarah. Ich kann dich nicht heimlich mitnehmen ohne das Einverständnis deiner Eltern. Du planst doch hoffentlich nicht, auf eigene Faust loszugehen?“
Ich überlegte kurz, ob ich ihr von meinem Plan erzählen sollte, zuckte aber nur mit den Schultern und schwieg. Obwohl ich sie sehr mochte und ihr vertraute, konnte ich sie trotzdem nicht in mein Vorhaben einweihen.
Toni betrachtete mich misstrauisch und sagte: „Du willst schnellstmöglich nach Österreich, doch allein und ohne mit jemandem zu sprechen, ist keine Option. Das ist dir sicher bewusst. Weißt du Sarah, deine Kindheit wird verfliegen, die Schulzeit wird vergehen und in ein paar Jahren wirst du volljährig sein und deine eigenen Ziele verfolgen. Du wirst dich verändern und immer erwachsener werden. Dann kannst du dir dort ein Leben aufbauen, wo du es dir immer erträumt hast und du kannst endlich glücklich sein. Du wirst klettern gehen können, von den Gipfeln ins Tal hinunterblicken und die wunderschönen Tage im Gebirge genießen. Noch fünf Jahre, dann bist du 18 Jahre alt, hast dein Abitur und kannst selbst bestimmen, was du machen willst. Dann entscheidest du ganz allein, wie und wo du leben möchtest.“
„Ich kann aber nicht mehr warten! Da ist eine Sehnsucht nach Österreich, die ich nicht beschreiben kann. Ich kann hier nicht mehr leben, Toni. Meine Leistungen in der Schule leiden darunter. Innerhalb eines Monats schlafe ich mindestens einmal in der Woche im Unterricht ein und meine Konzentration für die Unterrichtsthemen schwindet auch extrem. Selbst in den Ferien wollen meine Eltern nicht nach Österreich fahren. Sie meiden das Land richtiggehend, sie verschweigen mir etwas und ich weiß den Grund nicht. Wir verstehen uns gegenseitig nicht. Und wenn unsere Klettergruppe nach Österreich reist, wo wir auf den sichersten Wegen klettern und wandern, darf ich auch nicht mit. Sie kennen meine Leidenschaft und die Liebe zu den Bergen, aber verbieten mir das Klettern in den Alpen. Sie ignorieren meine Probleme oder sehen sie nicht. Das ist unfair!“ Meine Stimme wurde lauter und Wut war darin zu hören.
„Ja, Sarah. Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber bitte mach nichts Unüberlegtes. Deine Eltern haben sicherlich ihre Gründe, warum sie dich nicht mitfahren lassen. Komm, und jetzt gehen wir klettern“, sagte Toni. Sie legte mir beruhigend die Hände auf die Schultern und zog mich in eine kurze Umarmung. Sie verstand mich und fühlte mit mir, doch sie hatte nicht mehr machen können, als mit meinen Eltern zu reden. Ich hätte gerne länger mit ihr gesprochen und ihr den Ernst meiner Lage genauer erklärt, doch ich wollte endlich klettern und neue Tricks lernen. Wir holten die Kletterausrüstung und fingen an.
Nach einer Stunde Klettertraining war ich völlig fertig.
„Sarah. Komm runter! Es reicht für heute.“
Ich nickte und seilte mich ab.
„Du warst sehr gut heute. In den letzten Jahren hast du enorme Fortschritte gemacht und du wirst immer besser“, sagte Toni.
„Danke“, erwiderte ich und räumte die Kletterausrüstung weg.
Zehn Minuten später fuhr ich nach Hause.
Am Abend wollte ich zeitig schlafen gehen, doch ausgerechnet, als ich auf dem Weg ins Bett war, rief meine Lehrerin an. Obwohl ich wirklich müde war, konnte ich meine Eltern nicht überreden, die Diskussion zu verschieben.
„Was ist los, Sarah?! Deine Lehrerin meinte, deine Noten seien schlechter geworden und seit Neuestem schläfst du im Unterricht ein. Das kennen wir überhaupt nicht von dir. Geht es dir nicht gut?“, versuchte meine Mama das Gespräch zu beginnen.
Eine Weile musste ich überlegen, was ich sagen sollte. Die Wahrheit oder eine Lüge?! Sollte ich wieder meine Meinung sagen und einen Streit riskieren, weil ich wusste, dass sie mich nicht verstehen würden?
„Ich mag Berlin nicht mehr. Ich hasse die vollen Straßen, die Massen der Menschen, Autos und Häuser. Ich hasse den Lärm, fühle mich eingeengt und bin unglücklich. Außerdem ist der Schulstoff uninteressant. Ich kann nur noch an Österreich denken. Ich will so gerne da hin und einfach klettern, wandern und mich frei fühlen. Können wir nicht wenigstens dorthin in den Urlaub fahren, dann versuche ich, mich die letzten Wochen vor den Sommerferien zu konzentrieren. Bitte!“, startete ich einen letzten Versuch, aber hatte wenig Hoffnung dabei.
Mama und Papa schauten sich ernst an und schüttelten dann den Kopf. „Das geht nicht. Wir müssen viel arbeiten und haben im nächsten Urlaub etwas anderes geplant. Tom würde auch gerne in den Ferien in ein anderes Land reisen, aber wir können nicht überall hin. Wir glauben nicht, dass du allein in Österreich klettern möchtest. Wir planen einen Urlaub für uns als Familie und nicht nur für dich. Wir können nächstes Jahr versuchen, unseren Urlaub in Österreich zu organisieren, doch dieses Jahr schaffen wir es nicht“, entgegnete meine Mama mit ruhiger Stimme.
Sie versuchten, mich zu verstehen, aber es funktionierte nicht. Sie wollten und konnten meine Situation nicht nachvollziehen, weil ihnen meine wahren Gefühle nicht vollständig bewusst waren.
Wut stieg in mir auf, als ich merkte, wie sie meinen einzigen Traum immer wieder zerplatzen ließen. Solche Diskussionen hatten wir so oft. Immer fanden meine Eltern eine neue und bessere Ausrede.
„Ihr versteht das nicht. Ich versuche ja, mich zu konzentrieren, doch ich schaffe es einfach nicht im Unterricht. Ich brauche die Berge endlich vor mir und ich will weg aus Berlin“, sagte ich lauter und versuchte ein weiteres Mal, meine Eltern zu überzeugen.
Papa runzelte genervt die Stirn und antwortete ernst: „Du kannst aus Berlin wegziehen, wenn du 18 Jahre alt bist und die Schule beendet hast, Sarah. Deine Schulnoten dürfen nicht leiden, nur weil du gerne nach Österreich reisen willst. Du musst verstehen, dass wir nicht in die Berge wollen in unserer freien Zeit. Ich habe Höhenangst und wir sind eine Familie, die nicht gerne wandern geht.“
„Wir?!“, rief ich empört und erwiderte direkt darauf einen weiteren Satz: „Ihr wollt nicht klettern oder wandern, aber mir liegt dieses Hobby sehr am Herzen. Klettern ist meine Leidenschaft! Ich kann meine Schulprobleme nicht einfach abstellen. Ich weiß genau, was ich will und ihr kennt meinen Wunsch, aber wollt ihn nicht verstehen. Wann kapiert ihr endlich, was mein Problem ist?“ Wütend lief ich in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett.
Ich stellte mir das Leben in den Alpen sehr oft bildlich vor und bekam meist davon gleich Tränen in den Augen. Ich spürte eine unendliche Sehnsucht zu einem Ort, welchen ich noch nicht in der Realität gesehen hatte. Obwohl mir dieser bestimmte Ort fremd war und ich nicht wusste, wo, wie und wann ich hinkommen würde, spürte ich im Inneren, dass er das Beste und Geeignetste für mich war. Meine Sehnsucht würde verschwinden, sobald ich an diesem Ort in den Bergen angelangt war. Zum Glück ließen meine Eltern mich jetzt allein und bald legte ich mich ins Bett und schlief schnell darauf ein. Mein Plan stand fest und ich musste ihn bald durchführen.
Ich musste so schnell wie möglich nach Österreich abhauen.
Die Tage, an denen ich meine Flucht plante, vergingen ziemlich schnell und ehe ich mich versah, war es auch schon Donnerstag. Das war der Tag, an dem mein Bruder auf Klassenfahrt fuhr. Ich verabschiedete mich ganz doll von ihm und spürte dabei, dass er verwundert darüber war. Obwohl ich ihm auch schon mehrmals von meinen Problemen in der Schule und meiner Liebe zu den Alpen erzählt hatte, nahm er mich nicht ernst und vergaß kurz darauf unser Gespräch wieder. In die Streitereien zwischen meinen Eltern und mir mischte er sich nicht ein. Ich glaubte, dass er meinen wahren Wunsch ebenfalls nicht wirklich nachvollziehen konnte.
Einige Stunden später, nach dem Abendessen, ging ich in mein Zimmer und überlegte mir, wo ich hin und wie lange ich bleiben wollte. Das Wichtigste notierte ich mir auf einem extra Blatt und ging den Plan bis ins kleinste Detail durch.
Ich wollte in die Ferienregion St. Anton am Arlberg in Tirol in Österreich. Vor einigen Tagen hatte ich einen Zeitungsausschnitt bei uns auf dem Küchentisch gefunden. Ich hatte ihn nicht durchgelesen, sondern nur das große Bild betrachtet, das das österreichische Dorf darstellte. Obwohl ich diesen Ort nicht kannte, verriet mir mein Bauchgefühl, dass dies ein geeignetes, schönes Gebiet war. Dort wollte ich hin und glücklich sein!
„Wenn ich am Montag auf den Bahnhof komme, werde ich probieren, unauffällig in den Zug zu steigen, der nach München fährt und mich dann weiter nach St. Anton bringt“, sagte ich leise zu mir selbst. Der Plan konnte nur funktionieren, wenn ich bei dem Tagesausflug von der Schule allein auf den Bahnhof durfte. Morgen würde ich mir ein Ticket kaufen.
Zufrieden steckte ich den Zeitungsausschnitt in mein Tagebuch.
Wenig später ging ich zu Bett und schlief schnell ein. Diese Nacht träumte ich ruhiger als die bisherigen zuvor.
Am Freitag fuhr ich nach der Schule gleich zum Bahnhof und kaufte mir ein Ticket. Mein Zug fuhr Montag um 8.02 Uhr und würde um 17.41 Uhr ankommen. Ich musste zweimal umsteigen, einmal in München und einmal in Innsbruck.
Am Sonntag packte ich einen großen Koffer. Klamotten, Zahnbürste, Zahncreme, Bücher, Kletterseile, Karabiner und noch viele weitere Sachen, die ich so brauchte, verstaute ich ordentlich darin. Am selben Tag fuhr ich zum Bahnhof und brachte den großen Koffer in einem der Schließfächer unter. Vor der Zugabfahrt würde ich ihn da rausholen. Am Abend packte ich einen kleinen Rucksack, mit dem ich morgen auf den Bahnhof fahren würde. Für den Notfall, dass mir der Koffer zu groß und ungeeignet werden könnte, hatte ich meinen Wanderrucksack bereits im Koffer verstaut. Die Nacht verlief ziemlich unruhig, aber spät am Abend schlief ich dann endlich ein. Meine Eltern hatten durch ihre viele Arbeit nichts mitbekommen. Streitereien waren auch die letzten Tage nicht zu vermeiden gewesen. Umso mehr war ich mir sicher, dass mein Plan die beste Lösung sei.
Mein Plan lief gut. Erst heute Morgen hatten sich meine Eltern entschieden, dass sie mich zum Bahnhof begleiten wollten. Da der Schulausflug nur an einem Tag war und sie viel arbeiten mussten, hatte ich gehofft, dass sie nicht mitkommen würden.
„Ich kann allein zum Bahnhof fahren. Wirklich!”, hatte ich zu meinen Eltern gesagt, aber es hatte nichts gebracht. Sie bestanden darauf mich zu begleiten. Somit plante ich ein bisschen um. Zum Glück machten wir uns zeitig genug zum Bahnhof auf, da mein Zug nach München schon um 8.02 Uhr von Gleis 12 fuhr. Im Gegensatz zu dem Zug, der mit meiner Klasse nach Potsdam fuhr. Dieser kam auf Gleis 4 einige Minuten später. Um 8.00 Uhr sollten wir uns als gesamte Klasse auf dem Gleis eingefunden haben. Ruckartig blieb ich stehen, als wir gerade auf dem Weg zu Gleis 4 waren.
„Ich muss dringend zur Toilette, bin gleich wieder da“, rief ich laut und drehte mich um. Bevor die beiden noch etwas erwidern konnten, stürmte ich nach rechts und ließ meine Eltern zurück. Sobald ich aus ihrem Blickfeld war, schlug ich allerdings nicht den Weg zur Toilette ein, sondern rannte in die Richtung zurück, aus der wir soeben gekommen waren. Mit einem ständigen Blick auf meine Armbanduhr holte ich eilig meinen Koffer aus dem Schließfach und lief mit schnellen Schritten zum Gleis 12. Aufgrund der vielen Menschenmassen hatte ich wenig Bedenken, dass mich meine Eltern aus einer anderen Richtung erblicken könnten.
Wenige Minuten vor 8.00 Uhr stieg ich in den Zug nach München und setzte mich auf einen der freien Plätze. Meine Anspannung fiel etwas ab, nachdem der Zug pünktlich losfuhr. Ich setzte mir meine Kopfhörer auf und begann, Musik zu hören.
Sarahs Eltern, Michael und Claudia Steinert, standen wartend im Gang des Bahnhofes. Als ihre Tochter um fünf Minuten vor 8.00 Uhr immer noch nicht wieder von der Toilette zurückgekommen war, liefen die beiden weiter zu Gleis 4 und hofften, dass Sarah direkt dorthin gegangen war. Schnell schauten sie sich daraufhin in der großen Gruppe von Schülern um, konnten aber ihre Tochter nicht sehen. Sie schien nicht hier zu sein.
„Guten Morgen, Herr und Frau Steinert, wo ist denn Ihre Tochter? Ist Sarah krank?“, fragte Sarahs Lehrerin Frau Dressler sofort, als sie Sarahs Eltern erblickte.
„Guten Morgen. Sarah wollte vor fünfzehn Minuten auf die Toilette, aber sie ist danach nicht mehr bei uns aufgetaucht. Wir dachten, dass sie bereits hier sein könnte“, entgegnete Claudia und blickte ratlos zu ihrem Mann.
„Sarah ist leider nicht hier. Wahrscheinlich kommt sie gleich“, sagte Frau Dressler und drehte sich kurz zu einer anderen Schülerin um.
Beide Elternteile waren ratlos. Claudia ging zu der Toilette zurück, auf die Sarah mutmaßlich gegangen sein musste.
Nach mehrmaligem Rufen wurde Claudia klar, dass ihre Tochter nicht mehr hier war. Schnell kehrte sie auf Gleis 4 zurück.