Wuzzi und der Zaubertrank des Jahrhunderts - Susanna P. Sarti - E-Book

Wuzzi und der Zaubertrank des Jahrhunderts E-Book

Susanna P. Sarti

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Beschreibung

Wuzzi und der Zaubertrank des Jahrhunderts In Nanurb, der unterirdischen Wichtelstadt, herrscht große Sorge: Immer wieder verschwinden Wichtel spurlos. Fieberhaft, aber vergeblich forschen die ältesten und weisesten Wichtel nach einem Zaubertrank, um die Vermissten ausfindig machen zu können. Der talentierte Wichtel Wuzzi, in der Wichtelschule Klassenbester in Stein- und Kräuterkunde, darf nicht mithelfen. Er ist noch zu jung. So macht Wuzzi sich selbst auf die Suche nach dem Rezept und bucht einen Zauberkurs bei der geheimnisvollen Hexenmeisterin Zita. Auf seiner Reise erlebt er jede Menge Abenteuer mit Gnomen, Trollen, Hexen und Kobolden, merkwürdigen Tieren und teuflischen Winden. Fast immer an seiner Seite: seine treue Freundin Luna, eine vorlaute Fee. Wird es Wuzzi gelingen, den Zaubertrank des Jahrhunderts zu brauen und damit die verschwundenen Wichtel wiederzufinden? Ein Buch zum Vorlesen und Selberlesen über einen Wichteljungen, der auf seiner Abenteuerreise nicht nur Mut und Selbstvertrauen dazu gewinnt, sondern auch neue Freunde.

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für meine beiden Söhne

Inhalt

Kapitel 1: Die Zuckerallergie

Kapitel 2: Das Verbotsschild

Kapitel 3: Ein Paket, ein Geheimnis und ein Versprechen

Kapitel 4: Der hohle Baumstamm

Kapitel 5: Die Falle schnappt zu

Kapitel 6: Wahre Freundschaft kennt keine Grenzen

Kapitel 7: Carli auf dem Koboldklo

Kapitel 8: Der Blutpakt

Kapitel 9: Der Riesenpopel

Kapitel 10: Die Legende von den Hexenmeistern

Kapitel 11: Die teuflischen Winde

Kapitel 12: Kein Plan ist auch ein Plan

Kapitel 13: Glück auf!

Kapitel 14: Gemüsetörtchen und Schmeicheleien

Kapitel 15: Jäger und Gejagte

Kapitel 16: Der Zauberkurs beginnt

Kapitel 17: Auch Zaubern will gelernt sein

Kapitel 18: Der Anfang vom Ende

Kapitel 19: Der Fluch des Pinamius

Kapitel 20: Der Flug mit der Wolkenblume

Kapitel 21: Nicht noch mehr Hexen, bitte

Kapitel 22: Das Moor des Verschwindens

Kapitel 23: Neue Freunde und alte Bekannte

Kapitel 24: Zu Hause ist es doch am schönsten – oder?

Glossar

Danksagungen

Biografien

1. Kapitel: Die Zuckerallergie

Der junge Wichtel Wuzzi läuft aufgeregt in seiner Werkstatt hin und her. Auf dem Boden verstreut liegen unzählige aufgeschlagene Bücher über Zaubertränke aller Art. Über dem Feuer im Kamin baumelt an einem Haken ein Kessel mit blubberndem Wasser. Es riecht nach Thymian und Weihrauch. Aber auch ein bisschen nach Ruß.

Wo ist bloß die Zuckerdose? Ohne Zucker kann der Heiltrank nicht gelingen. Wuzzi bleibt vor einer unbeschrifteten Dose stehen und nimmt den Deckel ab. Die Dose ist mit kleinen, weißen Körnern gefüllt. Er hält seine Nase hinein und nimmt einen tiefen Atemzug. Ein süßlicher Duft steigt auf.

Da Wuzzi von Geburt an eine Zuckerallergie hat, darf er von keinem Zucker kosten. Selbst eine winzige Menge reicht aus, dass ihm davon übel wird und er sich übergeben muss.

Er läuft zu dem Kessel und kippt etwas von dem Inhalt in das köchelnde Wasser. Es dauert keine fünf Sekunden, bis große Dampfblasen emporsteigen. Wuzzi schaut ihnen hinterher, da entdeckt er ein Honigglas auf einem der Regale, auf dem in großen Buchstaben ZUCKER steht. Er guckt auf die Dose in seiner Hand. War wohl doch nicht der Zucker, denkt er.

Die Dampfblasen schweben über Wuzzis Kopf hinweg durch die Werkstatt. Als der Wichtel sich gerade überlegt, wie er sie zerstören könnte, ohne dabei seine geliebte Werkstatt zu verunstalten, klopft es leise an der Tür.

„Wuzzi, bist du da?“, ruft eine zarte Stimme. Sie gehört der Fee Luna, seiner besten Freundin.

„Ja, ich bin hier“, ruft Wuzzi. „Aber du solltest besser draußen bleiben. Ich habe so ein komisches Gefühl, dass gleich etwas passieren könnte.“

Die Blasen beginnen zu vibrieren. Wuzzi geht in Deckung und im gleichen Moment gibt es einen lauten Knall. Die klebrige Masse der geplatzten Blasen schießt durch die Werkstatt und bleibt an den Regalen und Wänden hängen. Aufgewühlter Staub schwebt durch die Luft. Wuzzi schaut sich kopfschüttelnd um. „So ein Mist! Das war wahrscheinlich der getrocknete Zuckerrüben-Klebstoff. Ich habe die falsche Zutat ins Wasser gekippt. Wie soll ich das wieder sauber bekommen?“, fragt er sich selbst. Dann schaut er an sich herab. Sein grüner Pulli hat nichts abbekommen. Auch seine Hose und seine blauen Schuhe, die nach vorne hin spitz zulaufen, sind verschont geblieben. Er läuft zur Tür und öffnet sie.

Luna fliegt an ihm vorbei und hält nach einem sauberen Platz Ausschau, um nicht ihr schönes, glänzendes Feenkleid, das von einem zarten Grashalm umschlossen ist, zu beschmutzen. Sie lässt sich vorsichtig auf dem obersten Brett eines Regals nieder, streckt ihre gefiederten Feenflügeln aus und schüttelt sie, um sicher zu sein, dass sich kein Staubkörnchen darauf befindet. Dann blickt sie zu ihrem Freund.

„Hast du mal wieder versucht, den Jahrhunderttrank herzustellen?“, fragt sie.

Der Wichtel schüttelt verneinend den Kopf.

„Nein, diesmal wollte ich einen Trank gegen Heiserkeit brauen. Das Rezept habe ich von meinem Urgroßvater. Ich habe aber den Zucker mit dem getrockneten Klebstoff verwechselt. An dem Jahrhunderttrank wollte ich mich heute Nachmittag noch mal versuchen.“

Alle hundert Wichteljahre stellt der Ältestenrat der Wichtelstadt Nanurb einen besonderen Zaubertrank her, der von ihnen zum Jahrhunderttrank gekürt wird. Jetzt ist es wieder so weit. Diesmal soll ein Trank erfunden werden, mit dem der Aufenthaltsort eines Wichtels ermittelt werden kann. Denn seit einiger Zeit verschwinden Wichtel im Wichtelwald Nebilva. Sie machen sich morgens auf, um nach Kräutern oder Brennholz zu suchen, und kehren nicht mehr zurück. Mit dem Trank könnten künftig alle Wichtel wieder aufgespürt werden. Sie müssten nur vor Verlassen der Stadt einen kleinen Schluck davon nehmen. Allerdings werkelt der Ältestenrat seit Ewigkeiten vergeblich an einem solchen Gebräu. Auch Wuzzi tüftelt an dem Trank. Doch mit seiner Rezeptur will er noch mehr erreichen: Auch die bereits verschwundenen Wichtel sollen wiedergefunden werden. Da alle Wesen Spuren hinterlassen, muss es möglich sein, auch die der vermissten Wichtel sichtbar zu machen. Dann müsste man diesen Spuren bloß folgen. Wenn er nur wüsste, welche Zutat er dafür benötigt.

Jetzt füllt er erst mal einen Eimer mit Wasser, tunkt ein Tuch hinein, wringt es aus und beginnt die Wände zu putzen. Wuzzi ist sehr stolz auf seine Werkstatt. Sein Vater hat sie an das Wohnhaus angebaut, damit er hier ungestört experimentieren kann. „Wuzzis Werkstatt“ steht auf einer Holzplanke, die über dem moosbedeckten Dach angebracht ist.

Am Morgen sind seine Eltern zu einem mehrtägigen Besuch seiner Großtante Umidela aufgebrochen. Sie wohnt am anderen Ende von Nanurb. Wuzzi wollte auf keinen Fall mit. Er hat seiner Mutter vorgegaukelt, dass er sich nicht wohlfühle. Der wahre Grund aber ist, dass er weiter an seinem Trank arbeiten will. Es ist schließlich Eile geboten. Erst gestern ist der Wichtelvater eines Klassenkameraden nicht mehr aus dem Wichtelwald zurückgekehrt. Außerdem küsst Tantchen immer so feucht. Es fühlt sich an, als ob ihm ein sabbernder Hund über das Gesicht schleckte. Und dann sind da noch diese langweiligen Erwachsenengespräche. Nein danke, hat sich Wuzzi gedacht. Da bleibe ich lieber allein zu Hause und bastle an meinem Trank weiter. Wuzzis Mutter hat daher für ihn vorgekocht und die betagte Nachbarin Somnela gebeten, regelmäßig nach ihm zu sehen. „Bin ich froh, dass meine Eltern weg sind. Da kann ich hier alles in Ruhe sauber machen. Wie gut, dass wir Ferien haben.“

Luna fliegt zu Wuzzi hinunter und ruft: „So wie es hier aussieht, werde ich wohl auf dich aufpassen müssen.“

„Von wegen“, antwortet der Wichtel und wirft mit dem feuchten Tuch nach der Fee, ohne sie ernsthaft treffen zu wollen. Der Lappen streift das Honigglas mit dem Zucker, das sogleich zu Boden fällt und zersplittert. Wuzzi schaut sich den Schlamassel an und seufzt: „Auch das noch. Jetzt muss ich neuen Zucker kaufen.“

Luna setzt sich auf seine Schulter.

„Ich habe gehört, dass es den besten im Bonbonladen gibt. Kommst du mit?“, fragt er sie und schnappt sich seine Wichtelmütze.

Kurz darauf läuft Wuzzi durch die schmalen Gassen der Wichtelstadt Nanurb. Er kommt an vielen kleinen Häusern und Geschäften mit ihren farbenfrohen Fenstern vorbei, die Tag und Nacht vom hellen Licht der Lampions erleuchtet werden. Denn Nanurb ist keine gewöhnliche Stadt. Sie befindet sich unter der Erde und gleicht mit ihren weitverzweigten Gassen einem Labyrinth.

Einst lebten die Wichtel in dem Wichtelwald Nebilva, als dieser noch prachtvoll und dicht bewachsen war. Sie wohnten in Holzhütten, versteckt hinter Büschen und Baumstämmen. Manchmal streunten Pilzsammler oder Wanderer im Wald umher, aber niemand entdeckte die Hütten. Doch die Menschenstadt rückte immer näher. Im Wald roch es nach Abgasen der Autos und nach Rauch, der aus den Kaminen der Häuser quoll. Es dauerte nicht lange, bis sich die Nadeln der Tannen und die Blätter der Büsche gelblich verfärbten und die ersten Bäume krank wurden und starben. Da entschlossen sich die Wichtel, die unterirdische Stadt Nanurb zu gründen, die von nun an ihre Heimat war. Der Haupteingang liegt in einem riesigen umgestürzten Baum, dessen Wurzeln wie Spinnenarme nach allen Seiten in die Luft ragen.

In Nanurb gibt es alles, was man braucht: eine Bäckerei, einen Gemüsehändler, einen Arzt, eine Bibliothek, einen Spielplatz und eine Wichtelschule. Auch wenn die Wichtelkinder an manchen Tagen sagen, dass man die Schule nicht wirklich brauche. Das Lieblingsgeschäft aller jungen Einwohner ist aber der Bonbonladen von Wichtela Herbaline. Er ist bis unter die Decke gefüllt mit Dingen, die jedes Wichtelkinderherz höherschlagen lässt: mit bunten Fruchtgummis, klebrigen Lollis, Kuchenkeksen mit extra Krümeln obendrauf, Pralinen mit buntem Zuckerguss, Puddingen aller Art und noch vielem mehr. Die verführerischen Aromen der zuckersüßen Leckereien sind schon viele Meter vor dem Bonbonladen zu riechen. Es duftet nach feinster Schokolade, gebratenen Äpfeln und Mandeln, Karamell und Vanillecreme.

Als Wuzzi gerade den Laden betreten will, kommen ihm mehrere Wichtelkinder entgegen. „Oh, wie lecker!“, schwärmt eines der Kleinen und zieht ein Schokobonbon aus einem Jutesäckchen heraus. „Die schmelzen, sobald sie die Zunge berühren.“ Wuzzi läuft das Wasser im Mund zusammen. Wieso muss gerade ich eine Zuckerallergie haben, denkt er sich. Er betritt den Laden, in dem sich wegen der Ferien besonders viele Wichtelkinder aufhalten, und drängt sich an ihnen vorbei in Richtung der Kräuterbonbons.

„Sieh nur, Luna. Herbaline hat zu jeder Bonbonsorte die jeweiligen Kräuter dazu gehängt. Wie praktisch. So kann ich von dem Kraut probieren und mir besser vorstellen, wie das Bonbon dazu schmeckt.“

Die Fee schaut zu den Kräuterbündeln, an denen Namensschilder herunterbaumeln. Nur bei einem Bündel fehlt ein solches Schild.

„Was das wohl für ein Kraut ist?“, murmelt Wuzzi.

„Leg es besser wieder zurück, wenn du dir nicht sicher bist“, empfiehlt die Fee.

„Was soll schon passieren? Ist doch nur ein Kraut. Es sieht wie Minze aus.“ Bevor die Fee widersprechen kann, lutscht Wuzzi bereits an dem Blatt. „Schmeckt lecker und frisch. Vielleicht ein bisschen süß.“ In diesem Moment kommt Wichtela Herbaline auf sie zu. „Kann ich euch behilflich sein?“

Der Wichtel nickt. „Ich brauche ein mittelgroßes Glas mit bestem Zucker. Ich will damit einen Trank gegen Heiserkeit herstellen. Bevor der nächste Winter kommt, muss er noch ein paar Wochen in einem Holzfass ruhen.“

Herbaline lobt ihn: „Du möchtest also den besten Zucker haben? Du hast bereits von meiner neusten Entdeckung genascht. Das hier ist ein Zuckerblatt, auch wenn es wie Minze aussieht. Es ist etwas teurer als der normale Zucker, dafür aber um Längen besser.“

Wuzzi starrt Herbaline an und beginnt zu stottern: „Zuuuucker? Sagten Sie gerade Zuckkkkkker?“ Er hält sich mit einer Hand an dem Regal fest. Sein Gesicht wird bleich und sein Atem schwer. Luna tätschelt seine Wange. Aber auch das hilft nichts. Als der Wichtel von Regal zu Regal schwankt, fliegt die Fee zu den Wichtelkindern hinüber und ruft: „An eurer Stelle würde ich jetzt den Laden verlassen. Es könnte sein, dass sich mein Freund gleich übergeben muss. Er reagiert allergisch auf Zucker.“

Die Kinder rennen schreiend davon. „Pfui. Wieso geht man mit einer Zuckerallergie in einen Laden, in dem fast alles aus Zucker ist?“, ruft eines der Wichtelkinder und schlägt die Ladentür hinter sich zu.

Wichtela Herbaline hat zwischenzeitlich einen Eimer geholt und läuft Wuzzi damit hinterher. In dessen Kopf dreht sich alles wie in einem Kettenkarussell. Seine Beine werden weich wie Fruchtgummi. Er versucht nach etwas zu greifen, woran er sich festhalten kann. Dabei kippen zwei Regale mit Kräutern um und krachen zu Boden. Herbaline weist mit den Händen auf die am Boden liegenden Stängel und sagt: „Oh je, das wertvolle Nachtkraut!“ Sie schnappt sich Wuzzi und zerrt ihn auf die Toilette. Dann holt sie schnell ein Glas Wasser und gibt es ihm. Bereits nach dem ersten Schluck geht es dem Wichtel besser. „Ihr solltet jetzt gehen, bevor noch Schlimmeres passiert“, fordert sie die beiden auf und drückt Wuzzi ein Säckchen Zucker in die Hand. „Damit du deinen Trank fertigstellen kannst. Geschenk des Hauses.“

„Ich werde die zerbrochenen Regalböden noch heute fachmännisch in meiner Werkstatt reparieren. Bitte bringen Sie alles vorbei. Sie wissen ja, wo ich wohne.“

Wuzzi reicht Wichtela Herbaline die Hand, um sich für die Unordnung, die er angerichtet hat, zu entschuldigen. Aber die ist bereits damit beschäftigt, den Laden aufzuräumen.

Draußen vor der Tür holt der Wichtel noch einmal tief Luft. „Wie peinlich. Ich habe den Laden voll geschrottet. Aber ich hoffe, dass ich es wiedergutmachen kann.“

Als Wuzzi den Rückweg antreten will, sieht er ein Plakat, das vor dem Laden aufgestellt ist. Er geht hin und liest laut vor: „Zauberutensilien und Zaubertrankbücher aller Art. Kaufen Sie heute und bezahlen Sie erst, wenn Sie zufrieden sind. Alles um 50 Prozent reduziert. Lieferung frei Haus. Bei Interesse bitte melden.“

„Wieso interessiert dich das?“, fragt Luna.

Wuzzi wirkt nachdenklich. „Weil es mir bisher noch nicht gelungen ist, den Jahrhunderttrank herzustellen. Entweder es fehlt noch eine bestimmte Zutat oder ich rühre das Gebräu falsch an. Vielleicht finde ich bei diesen Angeboten etwas, das mir weiterhelfen kann.“ Er reißt einen der kleinen Zettel mit der Telefonnummer ab und steckt ihn in seine Hosentasche.

In dem Moment kehren die Wichtelkinder zurück, die vorhin den Bonbonladen fluchtartig verlassen hatten. Eines von ihnen ruft: „Es kann nichts Gutes dabei rauskommen, wenn man mit einer Fee befreundet ist.“

Feen sind in der unterirdischen Wichtelstadt nicht gerne gesehen. Früher lebten Wichtel und Feen gemeinsam in Nanurb und haben sich gegenseitig geholfen. Eines Tages sind sie in Streit geraten. Die Wichtel haben den Feen vorgeworfen, immer alles besser wissen zu wollen. So kam es, dass der Ältestenrat in einer geheimen Sitzung beschloss, die nervenden Feen aus der Gemeinschaft auszuschließen und der Stadt zu verweisen. Ein Wettstreit sollte das tückische Vorhaben beschleunigen. Der Ältestenrat lobte einen Preis aus: Eine Straße in Nanurb würde nach dem Wesen benannt, das als Erstes die Spitze der einzigen noch grünen Tanne im Wichtelwald berührte. Die Feen willigten ein. Sie waren sich siegessicher, da sie glaubten, mit ihren Flügeln überlegen zu sein. Wichtel und Feen verließen gemeinsam die unterirdische Stadt. Während sich die Feen mit gewohnter Umsicht und Disziplin im Wald auf den Wettstreit vorbereiteten, kehrten einige Wichtel nach Nanurb zurück und wechselten unbemerkt das Schloss des Haupttors aus.

Zu Beginn des Wettkampfs glaubten die Feen noch fest an ihren Sieg. Ein Wichtel gab das Startzeichen: Er blies kräftig in seine grüne Trillerpfeife aus Holz. Sofort flogen die Feen so schnell sie konnten in Richtung Tannenspitze. Wie überrascht waren sie, als sie ankamen. Dort saß bereits ein Wichtel in der Baumkrone und hielt triumphierend die Tannenspitze mit seinen Händen fest. Er rief laut: ‚Erster‘. In diesem Moment merkten die Feen, dass sie ausgetrickst worden waren. Während sie noch oben in der Luft waren, rannten die Wichtel in die unterirdische Stadt zurück und verriegelten das Haupttor. Seit dieser Zeit leben die Feen auf einer Blumenwiese in der Nähe des Wichtelwaldes.

Nur Wuzzi will von dieser Fehde nichts wissen. Er war schon vor dem Wettstreit mit Luna befreundet und daran würde sich auch weiterhin nichts ändern.

2. Kapitel: Das Verbotsschild

Der geheimnisvollste Ort in Nanurb ist das Wichtellabor, das hinter der Bibliothek liegt. Hier werden Zaubertränke gebraut. Das Labor darf nur von den Mitgliedern des Ältestenrats betreten werden. Die Tür ist mit einer massiven Eisenkette versperrt. Auf einem gelben Schild steht in großen, bedrohlichen Buchstaben „Nicht-Mitgliedern des Ältestenrats – UND DAMIT UNBEFUGTEN – ist der Zutritt strengstens verboten.“

Vor genau dieser Tür steht Wuzzi und starrt auf das Verbotsschild. Er will nicht warten, bis er alt und weise ist. Er will jetzt lernen, wie magische Tränke zubereitet werden. Schließlich will er eines Tages der Beste darin sein. Dann könnte er etwas gegen Krankheiten erfinden. Vielleicht würde es ihm auch gelingen, ein Elixier zu mischen, das die gelben Nadeln und Blätter der Tannen und Bäume im Wald wieder grün werden lässt. Vor allem aber könnte er schon jetzt dem Ältestenrat dabei helfen, den Jahrhunderttrank herzustellen.

„Ich mag dieses Schild nicht. Ein Labor ist fast wie eine Schule, und die ist auch für jeden geöffnet. Für jeden, der etwas lernen will“, sagt Wuzzi verärgert und blickt zu Luna, die auf dem Briefkasten daneben hockt.

„In diesem Labor wird mit gefährlichen Flüssigkeiten hantiert. Das ist etwas ganz anderes als in der Schule. Dort lernst du vernünftige Dinge“, antwortet die Fee.

„Vernünftige Dinge? In der Schule? Wie bitte?“, wendet Wuzzi erbost ein. „Wie kannst du das behaupten? Du bist eine Fee und hast noch nie die Schule besuchen müssen.“

„Du hast mir erst kürzlich begeistert erzählt, was ihr über die Sterne gelernt habt. Und was das Wichtellabor anbelangt: Es gibt nun einmal aus gutem Grund Regeln und Verbote wie diese“, erwidert Luna.

„Wenn ich eines nicht leiden kann, dann ist es genau das. Ist uns Wichtelkindern eigentlich auch etwas erlaubt? Dabei könnten die meine Hilfe bei der Herstellung des Jahrhunderttranks gut gebrauchen.“

Die Fee schaut ihren Freund an. „Und wieso sollten die gerade deine Hilfe benötigen?“

„Ich habe gehört, dass das Oberhaupt des Ältestenrats das Rezept für diesen besonderen Trank vergessen hat. Und jetzt fehlt ihnen wohl ein Kraut. Aber sie wissen nicht welches. Und ich habe in der Schule in Stein- und Kräuterkunde die beste Note von allen erhalten. Wenn der Ältestenrat und ich uns zusammentun würden, dann könnten wir es bestimmt gemeinsam schaffen. Ich bin ein großartiger Erfinder. Du weißt doch, dass ich an einer anderen Wirkungsweise des Tranks arbeite. Das könnte ihnen von Nutzen sein.“

„Aber Wuzzi, was hat der Unterricht in Kräuterkunde mit dem Herstellen eines echten Zaubertranks zu tun? Dafür benötigt man viele Wichteljahre Erfahrung.“

Wuzzi zieht die Augenbrauen nach oben. „Ach wirklich? Nach den Ferien komme ich in die Oberstufe. Und mit meinen Fähigkeiten werde ich dann sowieso in den Club zur Förderung begabter Wichtel aufgenommen. Nur weil ich jetzt noch etwas zu jung bin, verzichtet man auf mein Talent? Das ist doch Unsinn.“

Damit das Wissen des Ältestenrats nicht verloren geht, werden jedes Jahr die neuen Wichtelschüler der Oberstufe vom Ältestenrat in das Wichtellabor eingeladen. Diejenigen, die sich beim Mischen von Tränken am geschicktesten anstellen, werden in den Wichteljuniornachwuchsförderclub aufgenommen. Dort erlernen sie zweimal in der Woche unter der Anleitung der Mitglieder des Ältestenrats die Kunst des Brauens von Zaubertränken. Dazu gehört ebenso der Umgang mit hochexplosiven und toxischen Stoffen. Aber auch diese talentierten Wichtel müssen weiterhin die Schule besuchen, da es noch andere wichtige Fächer gibt: die Wissenschaft vom Lauf der Gestirne, Kräuter- und Steinkunde, Schreiben, Lesen, Rechnen, Sport und Geschichte.

Die Fee blickt zur Eisenkette. „Und was willst du jetzt machen? Etwa die Kette zersägen? Du hast sicherlich das geeignete Werkzeug in deinem Schuppen, oder etwa nicht?“

Wuzzi senkt den Kopf und starrt auf seine blauen Schuhe. „Nein, habe ich nicht. In meiner Werkstatt habe ich allerlei Geräte und Zangen, aber nichts, um dieses Schloss zu knacken. Das weißt du ganz genau.“

„Sei nicht enttäuscht. Es hat doch auch etwas Gutes, dass du noch so jung bist. Sicher wirst du mit ein bisschen Glück in ein paar Wochen in diesen unaussprechlichen Juniorclub aufgenommen. Jetzt ist einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt. Es gibt auch noch andere schöne Dinge“, tröstet ihn die Fee.

„Ich ahne schon, was du als Nächstes sagen wirst“, entgegnet der Wichtel. „Wuzzi, du musst dir Freunde in deinem Alter suchen. Wuzzi, Wichtelkinder verbringen ihre Zeit im Bonbonladen. Wuzzi, Wuzzi, Wuzzi“, ahmt der Wichtel die Fee nach.

„Nein, den Bonbonladen würde ich dir nicht vorschlagen. Das wäre unfair. Mit einer Zuckerallergie darf man nicht spaßen.“ Sie streicht sich mit der Hand über die Stirn. „An unseren gestrigen Besuch dort werde ich noch lange denken.“

„Ich auch“, murmelt Wuzzi. „Du hättest mich nicht daran erinnern müssen. Immerhin habe ich Herbaline geholfen und die zerbrochenen Regalbretter wieder prima zusammengeleimt.“

Die Fee nickt. „Wenn auf den Regalen nur nicht diese kostbaren Gläser gestanden hätten. Nachtkraut war darin, das man nur alle fünf Wichteljahre ernten kann.“

„Ich kann doch nichts dafür, dass ich so komisch auf Zucker reagiere. Und warum müssen Wichteljahre auch so lange dauern. Bei Menschen vergehen die Jahre viel schneller“, wendet Wuzzi ein.

„Dann wirst du aber auch schneller älter“, erwidert die Fee, springt auf und zieht Wuzzi die Wichtelmütze ins Gesicht.

„Hör sofort auf damit“, schimpft er. „Du weißt, dass ich das nicht leiden kann. Die schöne Mütze leiert aus.“

Die nachtblaue Mütze mit dem goldenen Stern ist Wuzzis liebstes Stück. Sie sieht beinahe so aus wie eine der Mützen, die die Mitglieder des Ältestenrats bei ihren Zusammenkünften im Wichtellabor tragen. Die anderen Wichtel haben einfarbige Mützen ohne Muster. Wuzzi hatte sich ganz lange eine Zauberermütze gewünscht, die es jedoch im Laden nicht zu kaufen gab. Luna hat ihm schließlich eine aus watteweicher Pinokawolle gestrickt. Wuzzi ist sehr gerührt gewesen.

Jetzt zieht er sich die Mütze vom Kopf und betrachtet sie von allen Seiten. „Hoffentlich hat sich kein Faden gelöst.“

Luna setzt sich wieder hin. „Du bist aber schlecht gelaunt. Nur wegen des blöden Verbotsschilds. Jeden Tag ärgerst du dich darüber. Aber ändern kannst du es auch nicht. Lass uns lieber hinauf in den Wald gehen und Verstecken spielen. Jetzt ist dafür die beste Uhrzeit. Die Menschenkinder sind in der Schule und die Erwachsenen sitzen in ihren langweiligen Büroboxen herum.“

Die Fee hatte sich vor langer Zeit einmal der Menschenstadt genähert. Mit Feenstaub machte sie sich für einen Moment unsichtbar und flog bis zum nächstgelegenen Haus. Dort blickte sie durch ein Fenster und sah erwachsene Menschen in komischer, unbequemer Kleidung an Schreibtischen sitzen und telefonieren. Sie hatte ein wenig Mitleid mit diesen armen Wesen gehabt.

Wuzzi überlegt. „Hm, na gut. Wenn ich noch länger hier rumstehe, platze ich wahrscheinlich vor Wut. Dann lass uns lieber nach oben gehen. Außerdem macht es wichteligen Spaß, den Wächter auszutricksen.“ Er grinst.

Luna piepst freudig und macht sich bereit zum Start. „Hoffentlich werden wir nicht erwischt, wenn wir einen der Esperatoren aus dem Käfig holen“, sagt sie und fliegt los.

„Ach was“, ruft Wuzzi und rennt vorneweg. „Wer zuerst dort ist, hat gewonnen.“

Keuchend erreicht der Wichtel das Schild mit der Aufschrift „Sperrzone“. Luna flattert herum. „Unglaublich. Wieso müsst ihr besonders darauf hinweisen? Es ist doch unschwer zu erkennen, dass hier die Stadt endet und der Übergang in die Sperrzone beginnt. Das sieht man doch schon an den grauen, kahlen Wänden.“

Wuzzi zuckt mit den Schultern. „Ist doch völlig egal. Komm, wir müssen uns beeilen. Gleich lösen sich die Wächter ab. Den Moment müssen wir nutzen, um den Esperator aus seinem Käfig zu holen.“

Die Wichtel haben es vor vielen Jahrhunderten geschafft, diese wilden Greifvögel mit den tiefgelben Augen und dem braun-weiß gescheckten Gefieder zu zähmen. Nur mithilfe von Esperatoren können die Wichtel ein Loch in der Erdoberfläche erreichen, durch das sie in Notfällen in den Wichtelwald gelangen. Erst kürzlich gab es einen kleinen Brand in der unterirdischen Stadt, der einigen Wichteln den Weg zum Haupttor versperrte. Sie konnten sich über den Notausstieg in der Sperrzone in Sicherheit bringen.

Wuzzi aber kümmert es nicht, dass es grundsätzlich verboten ist, einen Esperator aus dem Käfig zu holen, erst recht, wenn keine Notsituation besteht. Er reizt ihn, etwas zu tun, das nicht erlaubt ist.

Luna fliegt weiter. „Na, dann mal los“, feuert sie Wuzzi an.

Der läuft mit großen Schritten eine Gasse bis zu einem Torbogen entlang. An beiden Seiten stehen mächtige Steinstatuen in der Gestalt von Esperatoren.

Wuzzi versteckt sich zusammen mit der Fee hinter einer Figur und blickt in die schmucklose Halle, über der sich eine aus grau-schwarz marmorierten Steinen gemauerte Decke wölbt. An einer Wand stehen drei Käfige mit Esperatoren.

„Wunderschöne Tiere. Schade, dass sie den ganzen Tag eingesperrt sind“, wispert Luna.

„Der alte Glowi bewacht den Notausstieg“, flüstert Wuzzi. „Der hört und sieht nicht mehr gut. Das ist unsere Chance.“

Er schaut zu der Gewölbedecke hinauf, in deren Mitte ein Loch klafft. Es ist gerade breit genug, um einen Vogel mitsamt einem Wichtel hindurch zu lassen.

Wuzzi schleicht hinter der Steinfigur hervor und blickt zu dem Wächter. Der ist gerade damit beschäftigt, den Schichtwechsel vorzubereiten und dreht ihnen den Rücken zu. Wuzzi gibt Luna ein Zeichen, dass sie sich auf seine Schulter setzen soll. Auf Zehenspitzen läuft er langsam in die Halle hinein. Der Geruch von frischem Stroh in den Käfigen der Vögel steigt ihm in die Nase. Bis auf das leise Zwitschern der Esperatoren und das Rascheln von Papieren, die der Wächter sortiert, ist nichts zu hören.

Als der Wichtel schon die Hälfte der Strecke geschafft hat, zuckt Glowi plötzlich zusammen und legt die Blätter auf einem Pult ab. Wuzzi steht inmitten der Halle und versucht sich auf den Zehenspitzen zu halten. Luna stockt vor Aufregung der Atem. Wenn der sich jetzt umdreht, können wir uns die Ausflüge zukünftig abschminken, denkt der Wichtel. Er greift in seine hintere Hosentasche und zieht eine Steinschleuder heraus. Aus einer anderen Hosentasche holt er einen kleinen Stein, der wenige Sekunden später in der Nähe des Wächters auf den Steinboden klickt. Glowi zuckt ein weiteres Mal zusammen und richtet seinen Blick in die Ecke, in welcher der Stein gelandet ist. Wuzzi nutzt diesen Moment, tippelt auf Zehenspitzen zu den Käfigen hinüber und versteckt sich dazwischen. Da die Esperatoren den Wichtel schon gut kennen, bleiben sie ruhig.

Glowi schüttelt den Kopf und wendet sich wieder seiner Aufgabe zu, bis ein grelles Pfeifen zu hören ist. Es ist das Zeichen für die Wachablösung. Glowi schnauft tief durch und beendet umgehend seine Arbeit. Er läuft zu dem Torbogen und verschwindet in der Gasse, aus der vorher Wuzzi und Luna gekommen sind. Noch ehe der neue Wächter die Halle betritt, öffnet Wuzzi einen der Käfige und fliegt zusammen mit Luna auf dem Esperator davon.

Im Wald bindet Wuzzi das Band, das am Fuß des Vogels befestigt ist, behutsam um einen Baum. Dann beginnen die Fee und er herumzutoben. Unvermittelt bleibt Wuzzi stehen und runzelt die Stirn. „Was grübelst du denn jetzt schon wieder?“, fragt die Fee leicht genervt. „Kannst du nicht für eine Minute dieses doofe Labor vergessen?“

Wuzzi kratzt sich am Kopf. „Es ist nicht das Labor. Ich habe das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Etwas, das heute passieren soll.“

Luna schaut ihn fragend an. „Wie kannst du es vergessen, wenn es wichtig ist?“

Wuzzi wippt mit dem blauen Wichtelschuh. „Was war es doch gleich? Ach, ich habe doch einen Merkzettel!“ Er zieht seine Mütze ab, dreht sie um und kramt ein verknülltes Papier daraus hervor.

„Das nennst du Merkzettel?“, wundert sich Luna.

Wuzzi streicht das Papier glatt und liest. Seine Augen weiten sich.

„Oh, du grüner Wichtel! Wir müssen sofort wieder runter.“

Die Fee schaut ihn ungläubig an. „Aber wir sind doch eben erst hier angekommen. Dann haben wir den Torwächter ganz umsonst ausgetrickst.“ Luna flattert um Wuzzi herum, sie wirkt enttäuscht.

Der Wichtel versucht sie zu beschwichtigen.

„Ich gebe dir mein Wichtelehrenwort, dass wir unseren Abenteuerausflug ausführlicher wiederholen werden.“ Er dreht sich um und läuft zu dem Esperator zurück.

„Geht das auch etwas langsamer?“, mault Luna, die es mit ihren zierlichen Flügeln kaum schafft, hinterherzufliegen.

„Willst du wohl anhalten und mir erklären, was los ist?“

Wuzzi bleibt kurz stehen und ruft ihr zu: „Der Postbote wird gleich an meiner Haustür klingeln und ein Paket bringen. Los, beeil dich.“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen, fliegt Luna dem Wichtel hinterher. Sie haben sich auch früher schon öfters gestritten. Aber so miese Laune hat er noch nie gehabt, denkt Luna und seufzt tief.

3. Kapitel: Ein Paket, ein Geheimnis und ein Versprechen

Die Freunde kehren mit dem Esperator in die Halle zurück. Der Wächter Bucka, der den alten Glowi abgelöst hat, läuft dort aufgeregt umher. Als er die Rückkehrer sieht, bleibt er stehen und starrt sie an, sein Gesicht ist kreidebleich. „Wir haben ihn oben im Wald entdeckt. Er ist anscheinend ausgebüxt“, ruft Wuzzi dem Wächter zu und steigt vom Vogel ab.

Ohne weitere Fragen zu stellen, läuft Bucka zu dem Esperator und lockt ihn mit einem fetten Wurm in den Käfig. Bei dem Anblick, wie der Vogel das glitschige Tier verschlingt, wird Wuzzi schlecht und er verabschiedet sich. Als Bucka ihm die Hand hinhält, in der er zuvor den Wurm hielt, zögert Wuzzi zunächst. Erst als Luna ihm einen kleinen Schups verpasst, ergreift er sie widerwillig.

Nachdem sich Bucka überschwänglich bedankt hat, machen sich Wuzzi und Luna auf den Weg. Die Fee thront wieder bequem auf der Schulter ihres Freundes.

„Das muss ja ein besonderes Paket sein, wenn du dich dafür so beeilst. Was ist es denn? Oder ist das etwa ein Geheimnis?“, fragt sie.

Der Wichtel reagiert nicht und hetzt durch die Gasse.

„Habe verstanden. Du willst nicht mit mir reden. Oder bist du wegen des Händeschüttelns auf mich sauer?“

„Luna, ich muss mich beeilen“, hechelt Wuzzi. „Na gut. Ich will mal nicht so sein. Du erinnerst dich noch an das Werbeplakat vor dem Bonbonladen? Ich habe dort angerufen und etwas bestellt. Mehr möchte ich aber noch nicht verraten.“

Der Wichtel kann sein Haus bereits erkennen. Es sticht zwischen den anderen Wichtelhäusern hervor, da auf dem Balkon ein goldfarbenes und mit allerlei Schnörkeln verziertes Fernrohr steht. Die Sterne kann Wuzzi in der unterirdischen Stadt damit zwar nicht beobachten, dafür aber alle anderen Wichtel.

Er wird etwas langsamer. Das gleichzeitige Reden und Laufen hat ihm zu schaffen gemacht und er muss tief durchatmen. Vor der Tür seines Elternhauses bleibt er stehen und blickt zu dem Anbau, in dem seine Werkstatt untergebracht ist.

Dann setzt er Luna auf der Fensterbank ab und drückt seine Nasenspitze fest in die Einbuchtung des bronzenen Türklopfers. Der hat die Form eines Zauberkessels. Eine Stimme ertönt: „Die Nase muss ins Loch reinpassen. Sonst kommt hier keiner rein. Die Nase passt wie angegossen – jetzt lass ich dich hinein.“

Die Tür öffnet sich und Wuzzi betritt das Haus. Er wird freudig von seinem kleinen Mitbewohner begrüßt. Es ist ein winziger Papageifisch. Er saust durch das große Aquarium, springt aus dem Wasser hoch und lässt sich mit einem heftigen Bauchklatscher zurückfallen. Wuzzi wünschte sich als kleiner Junge einen Papagei. Vor einiger Zeit kam er an einem Teich in der Nähe der Menschenstadt vorbei, da stand ein Schild mit der Aufschrift: „Seltene Minipapageifische“. Wuzzi konnte im Wasser nur noch einen Fisch entdecken und der machte einen kränklichen Eindruck. Ein Papagei, der seine Hilfe benötigte. Ihm war es egal, dass es sich dabei um einen Fisch handelte. Schließlich war der Fisch genauso bunt und schön wie ein Papagei. So nahm Wuzzi ihn mit. Zu Hause stellte er fest, dass dem Fisch das linke Auge fehlte. Er bastelte ihm eine Augenklappe und nannte ihn Pirat. Manchmal hat Wuzzi das Gefühl, dass der winzige Fisch seine Sprache versteht. Pirat schwimmt dann dicht an das Glas des Aquariums und nickt mit seinem kleinen Kopf.

Die Fee lässt sich auf einer Hängematte nieder, die zwischen zwei Pfosten gespannt ist. Sie schaut sich im Zimmer um. „Darf ich vorstellen, meine neueste Erfindung“, sagt Wuzzi und zeigt mit einer Hand nach oben an die Decke. Um Platz zu sparen, hat der Wichtel einige der Gegenstände, die seine Familie für ihr tägliches Leben benötigt, dort aufgehängt. Er zieht an den Seilwinden und lässt nacheinander einen Stuhl und den Esstisch herab.

„Unglaublich. Aber hast du keine Angst, dass dir eines Tages so ein Ding auf den Kopf fällt?“, fragt die Fee.

„Nein, das haben die Seeleute früher auch so auf ihren Schiffen gemacht, damit die Sachen bei starkem Wellengang nicht durch die Gegend geflogen sind.“

„Aber hier gibt es doch keinen Wellengang“, wendet Luna ein.

„Richtig. Aber von irgendwoher musste ich mir diese Technik abschauen. Meine Eltern sind begeistert von dieser Erfindung.“

Auf einmal ertönt das Posthorn. Töröööh. Töröööh. Endlich! Wuzzi rennt zur Tür hinaus und stolpert dabei über einen Stein. Er taumelt und landet mit dem nächsten Schritt direkt in den Armen des Postboten Tardog.

„Wir haben es heute wohl besonders eilig?“, stellt der fest. Als Wuzzi wieder sicher steht, schaut er ihn erwartungsvoll an. Tardog holt aber erst einmal ein Tuch aus seiner Jackentasche und wischt sich damit die Schweißperlen von der Stirn.

„Die Pakete werden von Mal zu Mal schwerer.“ Dann greift er in den Jutesack auf seinem Leiterwagen und holt stöhnend ein Paket hervor. Wuzzi nimmt es entgegen und schwankt leicht. „Erscheint mir etwas schwer für einen kleinen Wichtel“, merkt Tardog an und rückt dabei seine Postbotenmütze zurecht.

„Ich habe mir einige Bücher für mein neues Projekt bestellt. Ich will Bachblüten züchten. Sie sollen sehr empfindlich und anfällig für Milben sein. Daher möchte ich mehr über eine erfolgreiche Aufzucht von Pflanzen erfahren.“

Tardog nickt ihm zu und ergreift die Zugstange des Leiterwagens. Dann bläst er wieder in sein Posthorn und geht weiter. Der Wichtel eilt ins Haus zurück und stellt das Paket auf den Tisch.

„Du lügst, dass sich die Balken biegen“, sagt Luna lachend und fliegt zu Wuzzi. „Soweit ich weiß, kann man keine Bachblüten züchten. Das sind doch einfach nur Pflanzen, die ins Wasser gelegt und gekocht werden.“