Wyllards wundersame Wege - Mary Elizabeth Braddon - E-Book

Wyllards wundersame Wege E-Book

Mary Elizabeth Braddon

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In einem abgelegenen Winkel von Cornwall stürzt eine junge Frau aus einem fahrenden Eisenbahnzug in den Tod. Unfall, Selbstmord oder Mord? Wer von den übrigen Fahrgästen weiß etwas? Bei der Untersuchung durch den Coroner Edward Heathcote macht sich Bothwell Grahame verdächtig, in den Heathcotes Schwester ­Hilda verliebt ist. Aber auch der Großgrundbesitzer Julian ­Wyllard, miit dessen Frau Dora der Coroner früher einmal verlobt war, bleibt undurchsichtig. Erste Ermittlungen führen zu keinem Ergebnis. Auf Bitten seiner Schwester entschließt sich Heathcote, Bothwells Unschuld zu beweisen und Hilda so die Eheschließung zu ermöglichen. Seine Nachforschungen führen ihn nach Frankreich und zu einem Verbrechen, das schon vor zehn Jahren begangen wurde. Aber auch Bothwell hat ein Geheimnis... In ihrem spannenden, 1885 erstmals erschienenen Roman Wyllards wundersame Wege konstruiert Mary ­Elizabeth Braddon eine raffinierte Handlung zwischen Verbrechen und Liebe in den gegensätzlichen Welten von viktorianischer Gesellschaft, französischer Bohème und Moderne. Die Autorin Mary Elizabeth Braddon (1835-1915) war im England des 19. Jahrhunderts eine der beliebtesten Schriftstellerinnen. In ihren über 80 Romanen unterhält sie den Leser immer wieder mit erfindungsreichen, fantasievollen Handlungen und lässt damit die viktorianische Gesellschaft auch für heutige Leser lebendig werden.

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Seitenzahl: 850

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Mary Elizabeth Braddon

Wyllards

wundersame Wege

Mary Elizabeth Braddon

Wyllards wundersame Wege

Roman

Aus dem Englischen neu übersetzt von Sebastian Vogel

Unter dem Titel Wyllard’s Weird

erstmals erschienen 1885.

Übersetzung © 2020 Sebastian Vogel

Umschlaggestaltung © Sebastian Vogel

Umschlagbild: Astrid Gast/stock.adobe.com/pixabay.com

Verlag: Sebastian Vogel

Erikaweg 5

50169 Kerpen

www.uebersetzungen-vogel.de

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-752947-40-3

Inhalt

Erstes Buch

Kapitel 1

Ein Tal in Cornwall

Kapitel 2

Nach der amtlichen Untersuchung

Kapitel 3

Joseph Distin

Kapitel 4

Bothwell antwortet nicht

Kapitel 5

Die Leute werden reden

Kapitel 6

Eine priesterliche Warnung

Kapitel 7

Eine schnelle Bekehrung

Kapitel 8

Ein wertvoller Verbündeter

Kapitel 9

Fieberträume

Kapitel 10

Berührung der Lippen und ein

tränenreicher Abschied

Kapitel 11

Eine verhängnisvolle Liebe

Zweites Buch

Kapitel 1

Léonies Mission

Kapitel 2

Ein Fachmann für Männer und Frauen

Kapitel 3

Bothwell sieht seinen Weg

Kapitel 4

Die Wohnung von früher

Kapitel 5

Ein Gesicht aus dem Grab

Kapitel 6

Niedergeworfen

Kapitel 7

Der General erhält eine Vorladung

Kapitel 8

Verwitwet und frei

Kapitel 9

Zwei Frauen

Kapitel 10

Rosen auf einem Grab

Drittes Buch

Kapitel 1

Hochzeitskleidung

Kapitel 2

Lady Valeria kämpft

Kapitel 3

Durchbrennen auf neue Art

Kapitel 4

Im Land der Bohème

Kapitel 5

Der Sturm wird geerntet

Kapitel 6

So kann es enden

Kapitel 7

Einer muss sich erinnern

Kapitel 8

Das letzte Glied

Kapitel 9

Warten auf den Untergang

Kapitel 10

So ist die Hölle, das Paradies oder der ­Himmel

Kapitel 11

Süß ist der Tod in Ewigkeit

Kapitel 12

Wer kennt nicht Circe?

Kapitel 13

Wie ein Winter war dein Fehlen

Erstes Buch

Kapitel 1

Ein Tal in Cornwall

Viele Reisende überqueren den Tamar auf der zauberhaften, von Isambard Kingdom Brunel erbauten Brücke, welche in luftiger Höhe zwischen dem Blau des Flusses und dem Blau des Himmels aufgespannt ist; manche von ihnen glauben dann, sie hätten England an der Ostküste hinter sich gelassen und seien in ein neues Land eingetreten, ja fast in eine neue Welt. Das Land der stillen Wälder, der einsamen Täler und der klobigen braunen Hügel, karg und verlassen – die wilden Gemeingüter und großen Moore von Cornwall scheinen immer noch etwas Besonderes zu sein wie in den vergangenen Tagen, als die Provinz ein wahrhaftiges, vollständiges Königreich war, das unter niemandes Hoheit stand außer unter seiner eigenen.

Der Reisende sieht – vielleicht zum ersten Mal – eine wunderschöne Gegend, während der Zug an dem seltsamen kleinen Küstendorf Saltash vorüberdampft und in die üppigen Tiefen der vielgestaltigen, zauberhaften Wälder eintaucht. Hier scheinen die Gleise wie ein eiserner Faden in der Luft über einer tiefen Schlucht zu schweben, da winden sie sich wie eine Schlange durch ein Labyrinth aus Hügeln. Der Abschnitt zwischen Plymouth und Bodmin Road ist eine malerische Strecke, und das zu allen Zeiten; am lieblichsten ist sie vielleicht in der stillen Abendstunde, wenn ein sommerlicher Sonnenuntergang das Land in goldenes Licht taucht, während der laue Wind die Wälder kaum bewegt.

Im samtigen Licht eines Juliabends rumpelte der Express von Paddington mit nachlassender Geschwindigkeit um die Kurve, die das Näherkommen eines Viadukts zwischen Saltash und Bodmin Road ankündigte – eines massiven Bauwerks aus Holz, das ein Tal von alpiner Schönheit überspannt. Ein erlesenes Stückchen Landschaft, auf die der Fremde mit einem Hauch von Angst zu blicken geneigt ist, welche sich in seine Begeisterung mischt. Aber für die Bewohner des Distrikts, die mit jedem Yard der Strecke vertraut sind, hat der Talübergang nichts Besonderes. Der Reisende lässt sich in aller Ruhe durch die Luft tragen, raucht dabei seine Zigarre und liest die Zeitung. Der Gedanke an eine Gefahr kommt ihm nie.

Fast am Ende des Zuges, am Fenster eines Wagens dritter Klasse, saß heute Abend ein Mann und blickte träumerisch in die vertraute Landschaft. Es war ein älterer, grauhaariger Mann – ein Landarzt, hart arbeitend und schlecht bezahlt. Aber er hatte einen scharfen Blick für das Schöne in der Natur, ob tot oder lebendig, und so vertraut dieser Fleck seinem Auge auch war, er beeindruckte ihn immer wieder. Das Gesicht in Richtung der Lokomotive gewandt, schmauchte er träge seine Bruyère und betrachtete die Szenerie. Er war in jenem nicht unangenehmen Zustand der körperlichen und geistigen Müdigkeit, in dem der Geist zur Hälfte schläft und die Außenwelt kaum mehr ist als ein Traumbild.

Es war kein langer Zug – ein Gutteil der Waggons hatte man in Plymouth zurückgelassen. Dr. Menheniot steckte den Kopf aus dem Fenster und überblickte die Reihe der Wagen, während sie um die Kurve fuhren. Hier und da war an einem Fenster eine Gestalt zu erkennen, aber es schien, als sei der Zug nur spärlich besetzt. Sie näherten sich dem Viadukt. Der schmale Wasserlauf, der tief unten in der Schlucht durch sein steiniges Bett rieselte, war im Winter ein reißender Strom. Die Bahnlinie wurde an dieser Stelle gerade repariert, und im Rahmen der Arbeiten hatte man das hölzerne Brückengeländer entfernt. Die eigentliche Gefahr war durch das Fehlen der Barriere in keinster Weise gewachsen, denn sie wäre unter dem Gewicht des Zuges ohnehin wie Streichhölzer zerbrochen, wäre die Lokomotive aus den Schienen gesprungen – aber für den Reisenden, der den Blick in den Abgrund unter ihm warf, schien eine Unsicherheit zu bestehen, und Dr. Meheniot überlief ein unwillkürlicher Schauer. Im nächsten Augenblick war die Lokomotive auf dem Viadukt. Meheniot fuhr mit einem nur halb artikulierten Ausruf hoch. „Was in Gottes Namen…“ setzte er an.

Er öffnete die Waggontür, als wollte er hinausklettern und sich auf dem Trittbrett auf den Weg zu einem weiter entfernten Wagen machen. Dort stand draußen ein Mädchen und hielt sich an dem Messinggeländer neben der Tür fest. Sie war in diesem Augenblick nach draußen getreten oder gestoßen worden – welches von beiden, wusste Menheniot nicht. Er hatte zuvor nichts gesehen, und dann stand sie plötzlich da, eine schlanke Gestalt im hellen Mantel, dessen dünne Rüschen im Wind flatterten. So hing sie dort zwischen Leben und Tod, ein Mensch, den man irgendwie retten musste, und sei es unter Einsatz eines männlichen Lebens.

Aber noch bevor der Arzt sich in Gefahr begeben konnte, war die Chance auf eine Rettung vorüber. Ein wildes Kreischen klang durch den Wald – eine flatternde Gestalt wirbelte in die Schlucht hinunter, blitzte weiß auf zwischen dem sonnenbeschienenen Grün und lag schließlich halb bedeckt inmitten des Gewirrs aus Farn und Wildblumen am Boden der Schlucht.

Zwanzig oder dreißig Köpfe wurden aus den Fenstern gesteckt. Der Zug, der für Dr. Menheniots Blick gerade noch scheinbar nahezu leer gewesen war, war jetzt von Menschen bevölkert. Die Lokomotive verminderte ihre Geschwindigkeit und blieb etwa hundert Yards hinter dem Schauplatz der Katastrophe stehen. Ein Dutzend Männer unterschiedlichen Alters und Aussehens sprangen aus dem Zug und kletterten die Böschung hinunter. Unter ihnen war Julian Wyllard, Herr des Landgutes Penmorval – ein Mann mittleren Alters, schlicht gekleidet, eine große, stattliche Gestalt und eine Person von Rang in diesem Teil des Landes. Vor ihm machten alle Platz, außer dem kleinen Dr. Menheniot, der vorausstürmte in der Absicht, professionelle Hilfe zu leisten, falls diese noch von irgendeinem Nutzen sein konnte.

Julian Wyllard war als Knabe und Halbwüchsiger sehr sportlich gewesen. Er schritt die steile, zerklüftete Böschung leichter hinunter als viele Männer über die Regent Street gehen. Am Fuß des Abhangs blieben alle gewissermaßen unwillkürlich zurück und ließen Mr. Wyllard die Prozession anführen. Sie gingen, so schnell es auf dem unebenen Untergrund möglich war, zertrampelten unterwegs Farn und Blumen, winzige scharlachrote Erdbeeren, purpurne und orangefarbene Pilze, jede Lippe atemlos, jedes Auge starr auf die Stelle im Unterholz gerichtet, auf die der Arzt zustürmte.

„Ich fürchte, es nützt nichts“, sagte Mr. Wyllard, als würde er den gemeinsamen Gedanken aller aussprechen. „Das arme Wesen muss mausetot sein.“

„Was um alles in der Welt hat sie sich dabei gedacht?“, spekulierte ein stämmiger Bauer. „Glauben Sie, sie hatte Angst vor irgendeinem Rüpel im Zug? Oder wollte sie sich selbst um die Ecke bringen?“

Die Passagiere in der kleinen Gruppe sahen sich neugierig an, als suchten sie unter den rustikalen Gestalten nach dem Gesicht eines Schurken, der fähig war, eine ungeschützte Unschuld anzugreifen. Aber wenn Schuld in der Versammlung war, gab es keine äußeren Anzeichen für ein solches diabolisches Element. Nahezu jeder kannte alle anderen: Kleinbauern, der eine oder andere Gutsherr, der ältliche Anwalt aus Camelford, der Vikar von Wadebridge, ein Friedensrichter aus Bodmin, ein Getreidehändler und ehrbarer Bewohner derselben Ortschaft. Ganz sicher sah keiner von ihnen nach jenem würdelosen, wilden Menschenschlag aus, der in seinen Instinkten boshafter ist als die wilden Bestien des Dschungels.

In dem Zug dürften noch andere Fahrgäste gelauert haben, darunter dort oben die geschwätzigen Frauen, die jetzt die Hälse reckten, um ihren Anteil am Mitleid und Entsetzen über die Tragödie dort unten zu erhaschen.

Mr. Wyllard und seine Begleiter fanden den kleinen Dr. Menheniot kniend vor der bedauernswerten Gestalt, die zusammengekrümmt wie ein schlaffer Stofffetzen zwischen Farnwedeln und Bodenefeu lag.

Er hatte den blutigen Kopf auf seinen Arm gelegt und blickte hinunter auf das tote Gesicht, dessen offene Augen den starrenden Blick großen Entsetzens zeigten. Entsetzen über den Bösewicht, der sie hinuntergestoßen hatte, oder über den Abgrund des selbst gesuchten Todes? Wer konnte es wissen? Die blutbesprenkelten Lippen waren für immer stumm, es sei denn, man könnte Tote zum Sprechen bewegen.

„Ist sie ganz dahingeschieden?“, fragte Julian Wyllard, die mitfühlende Haltung voller Ruhe inmitten der aufgeregten kleinen Gruppe.

Das Schauspiel eines plötzlichen gewaltsamen Todes war für seine Augen nichts Neues. Er hatte während der Belagerung und der Kommune in Paris gewohnt, hatte die Leichen in langen Reihen auf den Friedhöfen liegen sehen, aber auch aufgestapelt zu blutigen Haufen auf den Straßen.

„Ganz tot, und das ist auch ein Segen“, erwiderte der Arzt. „Ich glaube, sie hat im ganzen Körper keinen heilen Knochen mehr. Sie hätte nur noch kurze Zeit durchhalten und Qualen erleiden können. Das Genick ist gebrochen. Armes kleines Ding! Sie ist noch ganz jung und muss hübsch gewesen sein.“

Ja, es war ein hübsches kleines Gesicht, und das noch in der Blässe des Todes. Eine kleine Stupsnase; große dunkle Augen mit langen Wimpern; geschürzte Kinderlippen; eine zart geformte Figur, adrett gekleidet in hellgraues Alpaka, ein vorne niedrig geschnittener Leinenkragen, welcher ein gutes Stück des schlanken weißen Halses sehen ließ, Manschetten aus Leinen, lange, bestickte Handschuhe und kleine Tuchstiefel.

„Sieht aus wie ’ne Ausländerin“, sagte Mr. Nicholls, der stämmige Bauer, der zuvor Spekulationen über die Ursache ihres Todes angestellt hatte.

„Sollte man nicht in ihren Taschen nachsehen, ob da Papiere sind, die sie identifizieren könnten?“, fragte eine Stimme hinter Wyllard.

Es war die Stimme eines jungen Mannes, der als Letzter aus dem Zug gestiegen war. Er war den anderen im Abstand von einigen Schritten gefolgt und konnte erst jetzt über Wyllards Schulter einen Blick auf das tote Mädchen werfen.

„Sie hier, Bothwell?“, rief Wyllard, wobei er sich schnell umwandte.

„Ja, ich war den ganzen Tag in Plymouth und hatte gedacht, ich könnte mit dem Zug zurückfahren“, erwiderte Bothwell Grahame leichthin. „Glauben Sie nicht, dass man ihre Taschen untersuchen sollte?“

„Natürlich. Die Frage ist nur, ob man es jetzt tut oder erst später“, sagte Wyllard. „Sie ist offensichtlich allein gereist, das arme Ding, und sie muss allein in einem Abteil gesessen haben, denn anscheinend weiß niemand etwas über sie. Das Wichtigste ist jetzt, dass sie nach Bodmin Road gebracht wird, und dort muss eine Leichenschau stattfinden.“

Das war die Stimme der Klugheit, da waren sich alle einig. Dr. Menheniot drehte die Tasche des adretten Alpakamantels um. Darin war nichts als ein Taschentuch, ein kleiner Schlüsselbund und eine Eisenbahnfahrtkarte zweiter Klasse nach Plymouth. Kein Visitenkartenetui, keine Geldbörse, nicht einmal ein alter Brief, der einen Hinweis auf die Person des toten Mädchens gegeben hätte. Nachdem das erledigt war, gab der Arzt dem zerschmetterten Körper eine anständige Form; zwei kräftige Männer hoben die Tote aus dem Grün und trugen sie vorsichtig den Abhang hinauf zum Zug, wo die leblose Hülle auf den Sitz eines leeren Zweiter-Klasse-Abteils gesetzt wurde.

„Genau in diesem Wagen hat sie gesessen“, sagte Bothwell und zeigte auf einen abgerissenen Streifen aus hellgrauem Alpaka, der an dem metallenen Handgriff hing. „Ihr Mantel muss sich an dem Griff verfangen haben, als sie fiel, und der Fetzen hier ist zurückgeblieben.“

Bothwell gab Dr. Menheniot das Stoffstück.

„Das können Sie dem Coroner zeigen“, sagte er. „Sie sind natürlich ein Zeuge.“

„So ungefähr der einzige, der notwendig ist, denke ich“, sagte der Arzt. „Ich habe gesehen, wie sie gefallen ist.“

„Wirklich?“, rief Wyllard aus. „Das ist ja ein Glück! Und welchen Eindruck hatten Sie, was die Art ihres Sturzes angeht – hat sie sich absichtlich hinuntergestürzt, oder wurde sie von einem Bösewicht gestoßen?“

Die Frage wurde mit gesenkter Stimme gestellt; denn wenn es sich um Mord handelte, konnte der Täter durchaus in Hörweite sein.

„Bei meiner Seele, das kann ich nicht sagen“, wandte Menheniot mit beunruhigtem Blick ein. „Das ging alles so schnell. Es war vorüber wie ein Blitz. Ich habe geraucht, war müde und in einem ganz und gar schläfrigen Zustand, und diese schreckliche Angelegenheit kam mir vor wie ein Traum. Ich habe an dem Wagenfenster kein anderes Gesicht gesehen. Ich habe nichts gesehen außer dem Mädchen. Sie stand auf dem Trittbrett, als der Zug auf die Brücke fuhr, und dann sah ich sie in die Schlucht hinunterwirbeln wie eine Feder, die aus einem Fenster geweht wird. Wenn es Selbstmord war, hat sie sicher gezögert, denn als ich sie das erste Mal sah, stand sie auf dem Trittbrett und hielt sich an dem Handgriff neben der Tür fest. Sie sprang nicht mit einem verzweifelten Satz aus dem Zug. So entschlossen sie vielleicht war, sich das Leben zu nehmen, sie muss währenddessen schwankend geworden sein.“

„Das wäre nur menschlich. Armes junges Ding – sie war ja noch ein Kind!“, sagte Wyllard bedauernd.

Er sprach abseits mit dem Schaffner und empfahl dem Beamten, einen genauen Blick auf die Fahrgäste zu werfen, die in Bodmin Road und an allen weiteren Stationen entlang der Bahnlinie ausstiegen, auf jeden Mann mit ungehobeltem Aussehen oder aufgeregtem Betragen zu achten und jede derartige Person in Gewahrsam zu nehmen, wenn er auch nur den leisesten Anlass für einen Verdacht erkannte.

Mittlerweile hatten die Fahrgäste ihre Plätze wieder eingenommen, und der Zug fuhr langsam weiter. Die ganze Verzögerung hatte nicht länger als zwanzig Minuten gedauert, und die Strecke zwischen Plymouth und Penzance war um diese Uhrzeit einigermaßen frei. Der Zug würde die Verspätung bis zum Ende seines Weges wieder aufholen können.

„Sie kommen besser mit in meinen Wagen“, sagte Wyllard zu dem jungen Mann, den er mit dem Namen Both­well angesprochen hatte.

„Ich habe nur eine Fahrkarte dritter Klasse“, erwiderte der andere. „Und ich habe geraucht.“

„Ich habe nie gesehen, dass Sie etwas anderes getan hätten“, sagte Wyllard mit einem Anflug von Spott. „Setzen Sie sich wieder in Ihr Dritter-Klasse-Abteil. Sie wollen zweifellos noch eine Pfeife rauchen.“

„Ich glaube, nach dem Schock wird mir das gut tun“, erwiderte der junge Mann, brachte augenblicklich seinen Tabaksbeutel zum Vorschein und machte sich daran, seine kleine Tonpfeife zu stopfen.

Mr. Wyllard begab sich wieder in das Abteil, in dem er den ganzen Tag gemütlich und allein gesessen hatte. In Gegenwart eines solchen Mannes herrscht eine rätselhafte Kraft, die ihm – außer während der angespannten Touristensaison – im Allgemeinen das Alleinsein sichern kann. Die Touristensaison hatte noch nicht begonnen, und Mr. Wyllard war dafür bekannt, dass er immer für eine Halfcrown gut war; deshalb war sein Abteil heilig. Selbst Bischöfe und Honoratioren aus der Gegend wurden von der Tür verscheucht und mit dem Versprechen auf etwas Besseres beschwatzt.

Er hatte Zeitungen und Zeitschriften im Abteil verstreut. Jetzt machte er sich daran, die ganze Literatur einzusammeln und ordentlich zu bündeln, bevor er am Ende der Reise war. Er war in allen kleinen Dingen ein ordentlicher, methodischer Mensch und doch in keinster Weise ein Tugendbold oder Pedant. Seine hoch gewachsene, kräftige Gestalt und die starken, markanten Gesichtszüge waren von großen Maßen. Er hatte ein großes Gehirn und großzügige Manieren.

Betrachten wir ihn, wie er dort vor einem Hintergrund aus hellgraubraunem Stoff in der Ecke des luxuriösen Abteils sitzt. Ein Mann in der Blüte seiner Männlichkeit, höchstens fünfundvierzig Jahre alt; ein schöner, gepflegter Kopf; hellbraune Haare, dicht und seidig, seitlich aus der breiten, eckigen Stirn gekämmt, in der alle Anzeichen für Geisteskraft sprechen. Große, leuchtend blaue Augen mit gewöhnlich ernstem Ausdruck – aber der Ausdruck wird weicher, wenn der Mann lächelt, und er wird heller und sprüht Funken, wenn der Mann lacht. Er hat ein hübsches Lächeln, ein voll tönendes Lachen und eine Stimme voller Kraft und mit einem Umfang, wie man ihn unter englischen Stimmen nur selten findet. Die Gesichtszüge sind fest modelliert, ausgeprägt, massiv; wenn die Lippen wie jetzt fest geschlossen sind, sieht der Mund aus, als wäre er aus Stein gehauen. Ein Mann, der wahrscheinlich zutiefst liebt und wahrscheinlich nicht leichtfertig hasst. Ein zuverlässiger Freund, wie in diesem Teil des Landes jeder weiß; aber unter Umständen auch ein Todfeind, wo eine große Provokation stattgefunden hat; ein Mann, der ein Geheimnis bewahrt wie ein Grab. Ein Mann, der mit Geld so freigebig ist, als wäre es Wasser.

Der Zug hielt in Bodmin Road in einem malerischen Tal tief inmitten kiefernbewachsener Hügel und neben einem Park von außergewöhnlicher Schönheit. Etwa fünf Minuten vom Bahnhof entfernt lag an der Straße ein kleiner Gasthof, und in diese seltsame Unterkunft brachte man das tote Mädchen, eine verhüllte Gestalt, die auf einem Fensterladen lag und von zwei Eisenbahn-Gepäckträgern getragen wurde. Man legte sie in eine abgedunkelte Kammer im hinteren Teil des Hauses, wo sie auf die Ankunft des Coroners warten sollte, eines Gentleman von gewisser Wichtigkeit, der zehn Meilen entfernt wohnte.

Auf Julian Wyllard wartete ein offener Wagen. In dem Fahrzeug saß eine wunderschöne Frau, die ihn zur Begrüßung anlächelte, als er aus dem Bahnhof trat. Das tote Mädchen hatte man auf der anderen Seite herausgetragen. Die Dame in dem Wagen wusste noch nichts von der Tragödie.

„Der Zug kommt heute Abend so spät!“, sagte sie. „Ich hatte schon unbehagliche Gefühle.“

„Es ist ein Unglück geschehen.“

„Ein Unglück! Ach, wie entsetzlich! Aber du bist nicht verletzt?“, rief sie ängstlich und musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, als vermutete sie irgendeine tödliche Wunde, die er vielleicht heldenhaft vor ihr verbarg.

„Nein, es war kein Zugunglück. Es ist niemand verletzt außer einem armen Mädchen, das sich selbst aus dem Zug gestürzt hat oder gestürzt wurde.“

„Wie schrecklich!“, rief Mrs. Wyllard. „Ist es jemand, den wir kennen – jemand hier aus der Gegend?“

„Nein, es ist eine völlig Fremde, das arme Kind, und nach ihrer Kleidung und ihrem allgemeinen Aussehen würde ich sie für eine Französin halten. Aber nach der amtlichen Untersuchung werden wir mehr wissen.“

„Wie entsetzlich traurig! Eine Fremde, allein in einem fremden Land, und dann ereilt sie ein solcher Tod! Glaubst du wirklich, dass jemand sie aus dem Zug gestoßen hat, Julian? Das hört sich zu schrecklich an, um wahr zu sein.“

„Mein Liebling, ich glaube gar nichts. Das Schicksal des armen Geschöpfs ist in Rätsel gehüllt. Ob sie sich selbst das Leben genommen hat oder von jemandem getötet wurde, ist eine offene Frage. Ich habe dem Schaffner und dem Stationsvorsteher gesagt, sie sollen wachsam sein und jede verdächtige Gestalt festhalten. Wenn wir durch den Ort fahren, werde ich bei der Polizeiwache vorsprechen. Da ist Bothwell“, fügte Wyllard hinzu, als der junge Mann träge einhergeschlendert kam. „Wusstest du, dass er nach Plymouth gefahren war?“

„Nein“, antwortete Mrs. Wyllard. „Er ist zum Mittagessen nicht aufgetaucht, aber da er immer unstet ist, habe ich mich darüber nicht gewundert. Was hat dich denn heute Morgen nach Plymouth geführt, Bothwell?“, fragte sie, als ihr Cousin an den Wagenschlag kam.

Sie waren Cousin und Cousine ersten Grades, und die Verwandtschaft mit Julian Wyllards schöner Frau sicherte Bothwell Grahame in Penmorval freien Aufenthalt. Sie waren die Kinder von Zwillingen, die mehr als nur die übliche Liebe füreinander empfunden hatten und sich selten getrennt hatten, bis der Tod sie allzu frühzeitig voneinander schied. Bothwells Mutter war in der Blüte ihrer Jugend und Schönheit abberufen worden; sie hatte ihr einziges Kind als Säugling und ihren Ehemann mit gebrochenem Herzen zurückgelassen. Captain Grahame war ein knappes Jahr nach dem Tod seiner Frau mit seinem Regiment nach Indien gegangen, um im Panjab zu kämpfen und zu sterben. Bothwell, die Waise, war von Mrs. Tregony Dalmaine, der Schwester seiner Mutter, in einem hübschen alten Herrenhaus nicht weit vom Land’s End groß gezogen worden.

Er war zwei Jahre jünger als Theodora Dalmaine und für das Kind wie ein kleiner Bruder. Sie wurden zusammen erzogen, spielten zusammen und teilten sowohl das gleiche Schulzimmer als auch die gleiche Gouvernante, bis Bothwell nach Woolwich eingezogen wurde; er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Soldat zu werden, und das im Regiment seines Vaters. Das kluge, schlagfertige Mädchen war dem Jungen in allen ihren gemeinsamen Studien beträchtlich voraus. Sie war fleißig, wo er trödelte, und man muss einräumen, dass Bothwell schon von Anfang an in Geist und Gewohnheiten ein kleiner Lausbube war.

In Woolwich machte er sich ganz gut – seine Prüfungen bestand er leidlich, wenn auch nicht mit Bravour. Er war ein guter Soldat und einer der beliebtesten Männer in seinem Regiment. In Afghanistan versah längere Zeit Dienst als Offizier der Pioniere, und das nicht ohne Anerkennung. Aber trotz seiner vielen guten Qualitäten scheiterte er. Er vergeudete sein kleines Erbe bis auf den letzten Shilling, geriet in Schulden, verließ schließlich die Streitkräfte. Damit brach er die Karriere ab, für die Natur und Erziehung ihn besonders vorbereitet hatten, und wandte sich von dem einzigen Weg ab, der ihn zu Ehre und Ruhm hätte führen können. Jetzt war er ein Müßiggänger ohne Rang und Stand in der Welt, ohne Geld oder guten Ruf, und wie er jeden Tag zu sich selbst sagte, war er für seine Familie eine Belastung und Bürde. Er hatte ungenaue Vorstellungen davon, wie er sich selbst eine Karriere schmieden wollte; hatte Visionen von einem Paradies in den Kolonien, wo er Wunder wirken wollte; aber seine Bestrebungen hatten noch keine handfeste Form angenommen. Ständig fiel er auf einen neuen Ratgeber herein, der alle seine Ideen aus dem Boden riss, in dem sie Wurzeln geschlagen hatten, und sie an einen anderen Ort verpflanzte.

„Spanisch-Amerika!“, sagte Smith, „daran brauchst du gar nicht zu denken. Dort wärest du innerhalb von einer Woche tot. Hast du nie vom vomito negro gehört, der tödlichsten Krankheit, die der Mensch kennt? Der richtige Ort für dich ist Otaheite1! Hervorragendes Klima und ein neues Revier für einen unternehmungslustigen jungen Engländer! Dort würdest du in drei Jahren ein Vermögen machen.“

1 Heute Tahiti (Anm. d. Übers.)

Dann kam Jones. Der lachte über den Gedanken an Südseeinseln und gab Bothwell den Rat, ein Stück Brachland nicht weit von der Girondemündung zu kaufen, Fichten anzubauen und das Harz zu exportieren; das sei der einzige sichere Weg zum Reichtum. Zuerst hatte man das Harz und ein hohes Jahreseinkommen, dann das Holz für Eisenbahnschwellen, das sich Cent für Cent bezahlt machte. Zu fragen, woher das Harz kommen sollte, nachdem das Holz verkauft war, wagte Bothwell nicht.

Wenig später kam Robinson, der Kanada und den Holzhandel empfahl. Dann folgte Brown, der erklärte, die einzig wahre Arena für intelligente junge Leute sei das Innere Afrikas. In der Vielzahl der Berater liegt die Weisheit, sagt die Schrift; aber Bothwell musste feststellen, dass in der Vielzahl der Berater eine Verwirrung lag, die an Wahnsinn grenzte. Er hatte den ehrlichen Wunsch, selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen; aber bisher versperrte ihm die Unsicherheit, wie das zu bewerkstelligen sei, den Weg ins Glück.

„Was mich nach Plymouth geführt hat?“, wiederholte er. „Ehrlich gesagt, eigentlich weiß ich es nicht. Heute Morgen war es in Penmorval so totenstill. Ich wollte die Stimmen anderer Menschen hören. Weißt du, Dora, ich bin dritter Klasse gefahren. Es war keine aufwendige Unternehmung“, murmelte er selbstzufrieden. „Soll ich vielleicht auf dem Wagenkasten sitzen?“

„Kommʼ doch herein“, sagte Wyllard. „Hier ist reichlich Platz.“ Also setzte sich Bothwell auf den Rücksitz des Landauers, seiner Cousine und ihrem Mann gegenüber.

Der Ort Bodmin war einige Meilen von Bodmin Road entfernt. An dem stillen Juliabend war es eine angenehme Fahrt. Aber beide Männer wurden von dem Anblick des toten Gesichts heimgesucht, den verrenkten Gliedmaßen, die lose herunterhingen wie bei einem toten Hirsch, den der Jäger hinter sich herschleift, während die Hunde sich um ihre Beute sammeln. Ein so entsetzliches Ereignis ließ sich nicht ohne weiteres abtun.

„Wer war sie wohl, und wohin wollte sie?“, fragte Both­well.

„Ich würde sagen, eine kleine Kindergouvernante auf dem Weg zu ihrer neuen Stellung.“

„In diesem Fall werden wir bei der amtlichen Untersuchung alles über sie erfahren. Dann hat man sie erwartet, und ihre Dienstherren werden auf der Bildfläche erschienen.“

„Wie schrecklich für ihre Eltern, falls sie noch leben; vor allem für die arme Mutter!“, sagte Mrs. Wyllard.

Das letzte Wort sprach sie mit besonderer Sanftheit aus. In ihrer überhöhten Vorstellung war die Beziehung zwischen Mutter und Kind etwas Heiliges. Sie hatte ihre eigene Mutter innig geliebt und sich in den früheren Jahren ihrer Ehe leidenschaftlich ein Kind gewünscht. Aber nun war sie schon sieben Jahre verheiratet, und kein Kind hatte überlebt, um ihr Glück zu bringen. Ein Jahr nach der Eheschließung war ein Sohn geboren worden – geboren, nur um zu sterben. Mittlerweile hatte sie die Hoffnung, auf Erden irgendwann einmal mit liebevollen Namen „Mutter“ angesprochen zu werden, aufgegeben.

Sie fuhren an den vertrauten Wäldern und Hügeln vorüber, an farnbewachsenen Tälern und klaren Bächen. In der Ferne sahen sie die großen braunen Bodenerhebungen vor dem bernsteinfarbenen Himmel. Aber der Gedanke an den entsetzlichen Todesfall verfolgte sie und vergällte ihnen alle landschaftliche Schönheit. Sie hatten keine Augen für die Szenerie, sondern saßen nur in ernstem Schweigen da.

Mr. Wyllard stieg beim Polizeirevier von Bodmin aus und unterhielt sich etwa zehn Minuten mit dem Inspektor. Dieser war wegen des seltsamen Todesfalles an der Eisenbahnstrecke erschrocken, zugleich aber auch freudig erregt angesichts des Gedankens an die Leichenschau und eine Untersuchung, die für ihn Ehre und Gewinn mit sich bringen konnten.

Mrs. Wyllard blieb mit Bothwell in der Kutsche sitzen, während ihr Mann und der Beamte auf der Schwelle der Polizeistation ihr ernstes Gespräch führten. Bothwell redete von dem Mädchen und ihrem rätselhaften Tod. Er beschrieb das arme kleine, weiße Gesicht und den Ausdruck des Entsetzens in dem glasigen Starren des Todes.

„Sah sie aus wie eine Lady?“, fragte Dora voller schmerzlichem Interesse.

„Ich glaube kaum. Sie hatte ein hübsches, adrettes Äußeres, wie man es bei französischen Mädchen aller Klassen oberhalb der Dirnen beobachtet. Ihr Rock, ihre Stiefel und die Baumwollhandschuhe passten sehr hübsch zu ihr und ihrer Stellung. Da war kein Hauch von jener vulgären Verfeinerung, die ein halbseidenes englisches Mädchen so anrüchig macht. Ich wage zu sagen, dass Wyllard recht hat: Sie war eine arme kleine Gouvernante, die in ein fremdes Land gereist ist, um ihr Brot zu verdienen und eine Fremdsprache zu erlernen. Tausende tun das jedes Jahr, daran habe ich keinen Zweifel. Aber nur dieser ist es gelungen, bekannt zu werden und gleichzeitig in einen frühen Tod zu springen. Du liebe Güte! Da kommt der Coroner. Wir werden die ersten sein, die ihm sagen, dass er morgen gebraucht wird.“

Mrs. Wyllard errötete ein wenig, als sie sich umdrehte und sah, wie ein Reiter sich näherte. Sie hatte es bis heute nicht verlernt, bei jeder plötzlichen Erwähnung des Namens von Edward Heathcote zu erröten. Und das, obwohl es schon sieben Jahre her war, seit sie ihn abgewiesen und Julian Wyllard geheiratet hatte.

Eine traurige Geschichte, alles mittlerweile vergeben, wenn auch nicht vergessen. Ein tiefes Unrecht, das eine hochherzige Frau einem hochherzigen Mann zugefügt hatte. Es war die einzige Handlung in Theodora Wyllards Leben, auf die sie nicht ohne Reue zurückblicken konnte. In allen anderen Aspekten ihres Lebens war sie vollkommen gewesen – die hingebungsvolle Tochter, die hingebungsvolle Ehefrau. Nur in dieser einen Sache hatte sie gesündigt. Dieser Mann hatte sie seit dem Heraufdämmern ihrer mädchenhaften Schönheit, seit Anbeginn ihrer fraulichen Anmut treu und zärtlich geliebt. Sie hatte seine Liebe angenommen und, so schien es ihr selbst, Maß für Maß erwidert. Sie hatte sich auf die Jahre gefreut, in denen sie eins sein würden. Und dann, in einer schicksalhafte Stunde, blitzte ein anderes Gesicht im Vordergrund ihres Lebens auf – eine neue Stimme betörte ihr Ohr, und auf sie wurde ein Einfluss ausgeübt, wie sie ihn nie zuvor gespürt hatte, eine Macht, die zu stark für Widerstand war. So war sie in einem Augenblick der leidenschaftlichen Selbstaufgabe vor Edward Heathcotes Füßen auf die Knie gefallen und hatte ihm ihre Liebe zu einem anderen gestanden. Julian Wyllard hatte alle Schranken niedergerissen, hatte sie gebeten, seine Frau zu werden, obwohl er wusste, dass sie mit einem anderen Mann verlobt war. Aber so manch einer glaubt, dass eine große, unwiderstehliche Liebe schwerer wiegt als alle Skrupel von Ehre oder Gewissen.

„Warum bittest du mich um deine Freiheit, als wäre das ein so großer Gefallen?“, sagte Heathcote bitter, als er sie von den Knien in die Höhe zog. „Glaubst du, ich wollte dich – diesen bloßen schönen Körper – noch haben, wenn dein Herz von mir gegangen ist? Glaubst du, ich, der ich dich hundertmal mehr liebe als mich selbst, würde zwischen dir und deinem Glück stehen? Du bist frei, Dora. Ich habe das Elend über mich kommen sehen, seit dieser Fremde ins Haus deiner Mutter gekommen ist.“

„Und du wirst mir verzeihen?“, bettelte sie mit zusammengepressten Händen, während sie ihn mit strömenden Tränen ansah, voller Mitleid mit ihm und zutiefst beschämt wegen ihrer Untreue.

„Kann ich dir böse sein, wo ich dich so liebe? Möge Gott dir alle deine Sünden vergeben, große und kleine. Möge er sie dir so leichthin vergeben, wie ich dir deine Sünde gegen mich verzeihe.“

Ihre Lippen leisteten keinen Widerstand, als er sie ein letztes Mal küsste. Dann verließ er sie, dem gebrochenen Herzen so nahe, wie ein Mann es nur sein kann, wenn er sich noch einmal erholt.

Und er erholte sich. Oder jedenfalls glaubte man, er sei geheilt, denn zwei Jahre nach Theodora Dalmaines Eheschließung heiratete er ein blondes junges Mädchen ohne Geld, ohne Freunde und ohne Eltern. Eine Frau, die ihn liebte, wie er geliebt zu werden verdiente, und die nach noch nicht einmal zweijähriger Ehe starb. Sie hinterließ zwei Töchter – Zwillinge. Drei Jahre war es jetzt her, seit das Grab sich über ihr geschlossen hatte. Edward Heathcote war immer noch Witwer, und allgemein war man der Ansicht, dass er bisher nicht wieder über eine Ehe nachgedacht hatte.

Im schwindenden Licht ritt er langsam die Straße entlang, ein Mann von auffälligem Äußerem – dreiunddreißg Jahre, groß und breitschultrig – auf einem hübschen Pferd. Er hatte einen dunklen Teint und dunkelbraune Haare, tief liegende graue Augen, die unter den dichten dunklen Brauen fast schwarz aussahen, eine Adlernase, einen dicken Schnäuzer und einen Bart.

Er hatte sein Leben als jüngerer Sohn begonnen und einige Jahre als Anwalt in Plymouth praktiziert – er war in der Stadt Gemeindevollzugsbeamter und ein Mann von öffentlicher Bedeutung gewesen -, aber dann war sein älterer Bruder unverheiratet gestorben, und Edward Heathcote hatte ein einträgliches Landgut in der Nähe von Bodmin geerbt, zu dem ein eigenartiges altes Landhaus namens The Spaniards gehörte. Den Namen verdankte der Ort den spanischen Kastanien, die dort in überwältigender Pracht gediehen. Nachdem er Eigentümer von The Spaniards und der zugehörigen Ländereien geworden war, gab Edward Heathcote die Juristerei auf und lebte von nun an am Ort seiner Geburt, wo er sich um das Wohl seiner beiden Säuglingsmädchen und seiner kleinen Schwester kümmerte. Seine Tage ließ er in der stillen Eintönigkeit eines Gutsbesitzerlebens verrinnen: Er jagte und schoss, saß in kleinen Sitzungen zu Gericht über Wilderer und Schuldner, und war für seinen Teil der Grafschaft als Coroner tätig. Seit einem Jahr führte er jetzt dieses Leben eines ländlichen Honoratioren.

Heathcote ritt zu dem Wagen und gab Mrs. Wyllard die Hand. Er war ihr Nachbar und hatte Penmorval im Laufe des letzten Jahres besucht. In seinem Betragen und seinen Worten hatte es nie das geringste Anzeichen dafür gegeben, dass Julian Wyllards Frau für ihn mehr war als eine Freundin. Er freute sich, sie zu besuchen, war begierig darauf, dass sie sich für seine mutterlosen Kinder interessierte, und vertraute ihr mit Vergnügen seine Pläne und Gedanken an. Die Zeit hatte seine Begeisterung in allen Dingen ernüchtert und alle bitteren Erinnerungen weicher werden lassen. Er nahm das Leben jetzt als sanften Legato-Satz. Er hatte gelebt und gelitten und seine Pflicht getan. Was ihm noch blieb, war Ruhe. Er setzte sich zwischen seine Felder und machte es sich nur ein wenig früher gemütlich als andere Männer, das war alles. Ein großer, im Frühling des Lebens durchlittener Kummer lässt einen Mann um mindestens zehn Jahre altern.

„Warum warten Sie vor der Polizeiwache?“, fragte er. „Hatten Sie in Penmorval Einbrecheralarm?“

„Es ist viel schlimmer“, erwiderte Mrs. Wyllard gewichtig. Anschließend berichtete Bothwell über die Katastrophe an der Eisenbahnlinie.

Gerade als er geendet hatte, kam Julian Wyllard zurück zum Wagen.

„Es gibt etwas zu tun für Sie, Heathcote“, sagte er.

„Ja, etwas sehr Trauriges. Die Geschichte hat für mich einen brutalen Ton und erinnert an frühere Geschichten der gleichen Art“, erwiderte Heathcote. „Wenn der Schurke entkommt, soll es nicht meine Schuld sein.“

„Sie glauben also, dass es einen Schurken gibt? Sie halten es nicht für einen Fall von Selbstmord?“

„Auf keinen Fall“, antwortete der andere sofort. „Warum sollte sich ein Mädchen für eine solche Todesart entscheiden?“

„Warum sollte sich ein Mädchen vom Monument stürzen?“, fragte Wyllard. „Und doch wissen wir, dass Mädchen vor fünfzig Jahren ein Faible dafür hatten. Jedenfalls werden Sie Gelegenheit haben, Ihren juristischen Scharfsinn in einem wirklich mysteriösen Fall unter Beweis zu stellen. Ich habe alles getan, was in meinen bescheidenen Kräften stand, damit die Beamten an der Bahnlinie wachsam sind; und wenn irgendein Schurke bei dem Tod des armen Kindes seine Hand im Spiel hatte, glaube ich, dass er nicht ohne Weiteres davonkommen wird. Wohin reiten Sie?“

„Nur ein abendlicher Spazierritt über die Hügel.“

„Sie kommen besser zu uns und essen mit uns zu Abend. Es einen Imbiss zu nennen, dazu ist es zu spät.“

„Sie sind sehr freundlich, aber ich habe um sieben bereits gegessen. Nebenbei bemerkt, muss ich alles für die Untersuchung morgen vorbereiten. Ich werde mit Morris sprechen, und dann reite ich zum Vital Spark, um dort die Angelegenheit mit den Leuten zu regeln.“

Der Vital Spark war der kleine Gasthof an der Straße, in dem das tote Mädchen lag. Der Landauer von Penmorval fuhr davon, Edward Heathcote dagegen hielt an und sprach mit Morris, dem Inspektor. Man würde früh am nächsten Morgen die Jury benachrichtigen müssen. Die Leichenschau sollte nachmittags um fünf Uhr stattfinden. Das würde den Kaufleuten genügend Zeit lassen, sich von ihren Läden zu entfernen. Die Hauptgeschäftszeit in Bodmin würde dann vorüber sein.

„Es wird so viel Zeit sein, dass hier in der Nachbarschaft jeder, der etwas über das Mädchen weiß, sich melden kann“, fügte Mr. Heathcote hinzu. „Wenn sie in dieser Gegend eine Stellung antreten sollte, wie Mr. Wyllard vermutet, muss irgendjemand alles über sie wissen.“

„Was für ein Mann er ist, Mr. Heathcote!“, sagte der Inspektor bewundernd. „So ein klarer Verstand, so eine Entscheidungskraft! Immer auf den Punkt.“

„Ja, er ist ein sehr fähiger Mann“, erwiderte Heathcote aus ganzem Herzen.

Er hatte sich schon seit langem darin geschult, großzügig über seinen Rivalen zu denken. Ihm gefiel die Vorstellung, dass Dora mit ihrer Entscheidung glücklich war, dass sie sich keinen Skorpion an ihren Busen geholt hatte, als sie ihm einen anderen Mann vorzog. Manchmal hatte er sich gefragt – nur eine kleine eitle Frage, wenn er sie in ihrem wunderschönen Heim in Penmorval sah –, ob es ihm wohl möglich gewesen wäre, ihr Leben glücklicher zu machen als Julian Wyllard. Forschend hatte er nach irgendeinem Makel in der Vollkommenheit dieser Verbindung gesucht, aber ihm war keiner aufgefallen. Und er war so großherzig, darüber froh zu sein.

Der Wagen fuhr langsam eine lange Steigung hinauf und über eine weite Heidefläche, bevor er schließlich das Tor von Penmorval durchquerte, das zwei Meilen vom Ort entfernt war. Das schöne alte Haus stand auf einer Anhöhe, die aber so dicht bewaldet war, dass sie es vor der Außenwelt abschirmte. Nur Roughtor und Brown Willie, die Riesen von Cornwall, zeigten ihre dunklen Grate über dem breiten Gürtel aus Holz, der das schöne alte Tudorbauwerk umgab. Eine Doppelreihe aus Ulmen und Eiben führte zu der steinernen Vorhalle. Die lange, nach Norden gerichtete Steinfassade blickte auf einen ebenen Rasen, der vom Park durch eine Mauer und einen Graben getrennt war. Die Südfront war mit Rosen und Myrten bewachsen, und davor lag einer der lieblichsten Gärten von Cornwall – ein Garten, der Stolz und Freude vieler Generationen gewesen war, ein Garten, auf dem die Ehefrauen und Witwen der Gutsbesitzer aus drei Jahrhunderten ihre Mühen und Gedanken verwendet hatten. Nirgendwo fand man prachtvollere Rosen oder einen solchen Schatz ungewöhnlicher Blüten, von den schönsten bis zu den einfachsten. Nirgendwo sonst fiel die Aprilsonne auf solche Tulpen und Hyazinthen, nirgendwo sonst krönte sich der Juni mit schöneren Lilien, und nirgendwo sonst prunkte der Herbst mit einer größeren Pracht von Dahlien, Malven und Chrysanthemen. Der Boden strotzte vor Blumen. Für Unkraut war kein Platz.

Für eine kinderlose Ehefrau wie Dora Wyllard war ein solcher Garten eine Art Scheinfamilie. Sie richtete ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Begeisterung und ihr Streben auf die Rosen und Chrysanthemen, wie eine Mutter sie auf ihre Mädchen und Jungen richtet. Sie zählte die Blüten an einer bestimmten Gloire de Dijon. Sie erinnerte sich an den strengen Winter, als der ausgezeichnete John Hopper dem Frost zum Opfer fiel. Sie hatte ihre Geheimmittel und Tränke für die grüne Fliege wie eine Mutter für Masern. Der prachtvolle alte Garten trug dazu bei, den Kelch von Mrs. Wyllards Glück zu füllen, verschaffte er ihr doch unerschöpfliche Beschäftigung. Als Besitzerin eines solchen Gartens konnte sie niemals mit dem trägen Gähnen der Müßigen und Wohlhabenden sagen: „Was soll ich heute mit mir anfangen?“ Aber Dora war, was Beschäftigung anging, nicht auf ihren Garten angewiesen. So anspruchsvoll die Rosen und Lilien auch waren, so mannigfaltige Pflege die Gewächshäuser und Farnplantagen und Gehölze auch brauchten, Mrs. Wyllards Ehemann war noch anspruchsvoller. Wenn Julian zu Hause war, konnte sie dem Garten nur wenig Zeit widmen. Er ertrug es kaum, wenn seine Frau für eine halbe Stunde außer Sichtweite war. Sie musste sich für alle seine Vorhaben interessieren, für seine Briefe, noch für die trockensten geschäftlichen Einzelheiten. Sie ritt und fuhr mit ihm, und da Freiluftsport nicht nach seinem Geschmack war, hielten weder Gewehre noch Jäger ihn von ihr fern. Er war lernbegierig, ein Mann von künstlerischem Temperament, ein Liebhaber seltener Bücher mit hübschen Einbänden, ein Liebhaber von Bildern und Statuen, Porzellan und Email – er betete die Schönheit in jeder Form an. Seine Vorlieben waren derart, dass eine Frau sie leicht und ganz natürlich mit ihm teilen konnte. Das machte ihre Verbindung nur umso vollkommener. Andere Ehefrauen wunderten sich beim Anblick einer solchen häuslichen Eintracht. Es gab manche, deren Männer keine zehn Minuten am heimischen Herd sitzen konnten, ohne trübselig zu gähnen, Männer, die mit ihrem Zeitvertreib auf die Zeitung angewiesen waren, Männer, deren Gedanken ständig im Pferdestall weilten. Julian Wyllard war der ideale Ehemann: Er gähnte nie beim tête-a-tête mit der Frau seiner Wahl, sondern teilte jede Freude und jeden Gedanken mit ihr.

Als die beiden heute Abend gegen halb zehn mit Both­well beim Essen saßen, der als einzige Gesellschaft nicht schlechter war als ein Neufundländer, zeigte schon die erste Frage der Frau, wie vertraut sie mit den Geschäften war, die ihren Mann nach London geführt hatten.

„Nun, Julian, hast du den Raffael bekommen?“

„Nein, mein Liebes. Das Bild ist für das Dreifache des Wertes weggegangen, den ich ihm beigemessen hatte.“

„Und einen solchen Preis wolltest du nicht zahlen?“

„Hm, nein. Selbst für einen Monomanen wie mich gibt es Grenzen. Ich hatte mir eine Grenze gesetzt. Ich war bereit, hundert oder zweihundert Pfund mehr zu bezahlen als die tausend, die ich als Preis für das Bild angesetzt hatte; aber als es auf fünfzehnhundert ging, habe ich mich aus dem Wettbewerb zurückgezogen, und am Ende wurde es Lamb, dem Händler, für zweitausend Guineen zugeschlagen. Eine einzige Figur – ein Brustbild des kreuztragenden Jesus vor einem Hintergrund aus leuchtend blauem Himmel. Aber eine solche Göttlichkeit in seinem Äußeren, und so ein leidender Blick! Ich habe gesehen, wie Frauen sich mit Tränen in den Augen abwandten, nachdem sie das Bild betrachtet hatten.“

„Du hättest es kaufen sollen“, sagte Dora. Sie wusste, dass ihr Mann viel mehr Geld hatte als er ausgeben konnte, und nach ihrer Ansicht hatte er das Recht, in seinen Launen zu schwelgen.

„Liebste, wie ich schon sagte: Es gibt Grenzen“, antwortete er, wobei er über ihre Begeisterung lächelte.

„Dann hast du die Reise unternommen, und ich musste den Verlust deiner Gesellschaft drei trostlose Tage lang ertragen, und alles für nichts?“, sagte Dora.

„Nicht ganz für nichts. Ich hatte das Vergnügen, eine sehr schöne Bildersammlung und einige großartige Emaillen aus Limoges zu sehen. Es ist mir gelungen, einen kleinen Greuze für dich zu kaufen. Von französischen Kunstkritikern habe ich gehört, Greuze zu bewundern, sei ordinär und ein Zeichen für vulgären Geschmack. Er ist der Maler des bourgeois, der épicier. Aber trotz alledem waren wir beide uns doch einig, dass wir Geuze mögen; deshalb habe ich dieses kleine Bild für dein Ankleidezimmer gekauft. Ich habe es für fünfhundertfünfzig bekommen, und ich glaube, es ist ein echtes Stück in der besten Manier des Malers.“

„Wie gut du zu mir bist!“, rief Dora, stand auf und ging hinüber zu ihrem Mann.

Sie beugte sich hinunter, um ihn zu küssen, während er am Tisch saß. Sie hatten die Dienstboten für diese informelle Mahlzeit entlassen, deshalb brauchte Mrs. Wyllard nicht zu befürchten, dass man sie für wunderlich hielt, wenn sie ihre Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. Um Bothwell kümmerte sie sich nicht. Fünfhundertfünfzig! Wie sorglos dieser Mann über seine Hunderte sprach – so jedenfalls erschien es Bothwell, der durch das Bewusstsein für Schulden geplagt wurde, für die der Preis des Bildes gereicht hätte; es waren kleine Schuldenkeime, vor langer Zeit entlang des Weges verstreut, die jetzt in Form der Briefe von Kreditgebern zu winterharten Pflanzen herangewachsen waren und dafür sorgten, dass er den Anblick des Briefträgers hasste.

Weder Wyllard noch Grahame griffen beim Essen herzhaft zu. Im Geist der Beiden war das Bild des toten Gesichts nur allzu lebhaft gegenwärtig. Fleisch, Getränke und angenehme Gespräche standen nicht im Einklang mit dem Schrecklichen, das beide vor drei Stunden gesehen hatten. Sie tranken mehr Wein als gewöhnlich und aßen kaum etwas.

„Kommst du mit zu einem Spaziergang im Garten, Julian?“, fragte Dora, als sie sich vom Tisch erhoben.

Es war halb elf und ein angenehmer Sommerabend. Knapp über dem Blattwerk leuchtete der große Mond golden vom purpurfarbenen Himmel. Es war nicht der ferne Mond, welcher der ganzen Welt gehört, sondern ein großer gelber Lampion, der den eigenen Garten beleuchtete.

„Komm doch“, sagte sie, „es ist so ein herrlicher Abend!“

„Ich wage es nicht, mir das zu gönnen, Liebes; vor dem Zubettgehen muss ich noch Briefe lesen. Ich wollte gerade in der Bibliothek das Kaminfeuer anzünden lasen.“

„Das Kaminfeuer an einem solchen Abend! Ich fürchte, du hast dich erkältet.“

„Das halte ich nicht für unwahrscheinlich“, antwortete ihr Mann, während er nach dem Diener läutete.

„Glaubst du nicht, dass deine Briefe bis morgen warten können, Julian?“, bettelte Dora. „Wir könnten im Salon ein Feuer anzünden lassen, und dann setzen wir uns zusammen und reden.“

„Das wäre wunderschön, aber ich darf mich nicht in Versuchung führen lassen. Ich habe heute Abend keine Ruhe angesichts eines Haufens ungeöffneter Briefe.“

Er gab dem Diener seine Anweisungen. Seine Briefe und Papiere lagen auf dem Tisch in der Bibliothek. Dort würde man sofort ein Feuer anzünden.

„Ich fürchte, bei dir wird es spät“, sagte Dora.

„Es könnte ein wenig später werden. Warte auf keinen Fall auf mich, Liebste. Gute Nacht!“

Er küsste sie, und sie sagte Gute Nacht, aber sie nahm sich die Freiheit, ebenso lange aufzubleiben wie er. Es hat keinen Sinn, wenn ein Ehemann zu einer Frau von Mrs. Wyllards Temperament sagt, sie solle seinetwegen nicht aufbleiben und sich keine Sorgen machen. Schlaf zu finden, solange sie nicht wusste, dass auch ihr Mann sich zur Ruhe gelegt hatte, war für Dora ebenso unmöglich wie Glück für sie unmöglich war, wenn er nicht in ihrer Nähe weilte. Sie hatte sich zu einem Teil seines Seins gemacht, hatte ihr ganzes Dasein mit dem seinen verschmolzen; getrennt von ihm hatte sie keinen Wert, ja kaum überhaupt eine Individualität.

„Julian sieht müde und besorgt aus“, sagte sie zu ihrem Cousin, der, eine Zigarette rauchend, unmittelbar vor dem Fenster stand.

„Darüber brauchst du dich nicht zu wundern“, erwiderte Bothwell. „Die Angelegenheit an der Bahnlinie hätte gereicht, damit jeder Mensch sich unwohl fühlt. Ich werde sie noch lange nicht vergessen.“

„Es muss ein schrecklicher Schock gewesen sein. Und Männer mit kräftigen Gesichtszügen und einem starken Körperbau sind manchmal sensibler als zarte Wesen mit nervösem Temperament“, sagte Dora. „Mir ist oft aufgefallen, welche kränklichen Gefühle Julian bei Dingen hat, die ein Mann eigentlich mit Gleichgültigkeit betrachten sollte.“

„Er ist ein verdammt guter Bursche“, sagte Bothwell, der vom Ehemann seiner Cousine großzügiger behandelt worden war als von irgendjemandem aus seiner eigenen Familie. „Willst du nicht auf eine Runde in den Garten kommen? Ich zünde mir auch keine neue Zigarette an, wenn du etwas dagegen hast.“

„Du weißt, dass mir Rauch nichts ausmacht“, erwiderte sie und gesellte sich zu ihm. „Aber was ist das, deine Hand zittert ja, Bothwell. Du kannst dir ja kaum die Zigarette anzünden.“

„Habe ich nicht gesagt, dass mich die Angelegenheit durcheinander gebracht hat? Ich glaube, ich werde heute Nacht kein Auge zutun.“

Mehr als eine Stunde spazierten sie durch den Rosengarten. Garten und Nacht waren gleichermaßen vollkommen. Es war ein italienischer Garten mit angelegten Terrassen, Rosenbeeten und einer Fontäne in der Mitte, einem kräftigen, üppigen Strahl, der aus einem Becken aus massivem Marmor aufstieg. Rosen, Magnolien, Jasmin und Lilien füllten die Luft mit ihren Düften. Der Mond hatte sich von Gold in Silber verwandelt und stand hoch am Himmel.

Jetzt war es der Mond aller: Er versilberte die bescheidenen Dächer von Bodmin, schien über der Kirche, dem Gefängnis, dem Irrenhaus, und beleuchtete auch den fünf oder sechs Meilen entfernten Landgasthof, unter dessen klobigem Dach die Fremde lag, ohne dass neben ihrem Bett jemand betete.

Bothwell schlenderte schweigend neben seiner Cousine. Auch sie schwieg und empfand keine Neigung, zu reden oder zuzuhören. Sie war froh, draußen im Garten zu sein, während ihr Mann seine Briefe las. Sie wusste, dass ein ganzer Stapel mit Korrespondenz auf ihn wartete – Briefe, die einem Landedelmann von Reichtum und hohem Stand seine Zeit stehlen, weil sie meistens uninteressant und sehr oft lästig sind. Sie alle zu durchforsten, würde Julian Wyllard viel Zeit kosten. Aber als die Dielenuhr zwölf schlug, glaubte Dora, sie könne darauf hoffen, dass die Tätigkeit beendet war.

„Gute Nacht, Bothwell“, sagte sie. „Ich werde nach Julian sehen.“

Die Bediensteten waren alle zu Bett gegangen, und man hatte außer in der Diele und in den Korridoren sämtliche Lampen gelöscht. Vom Garten in die Diele führt eine Fenstertür, die immer unverschlossen blieb, weil Bothwell gern lange, späte Spaziergänge auf dem Anwesen unternahm. Die Bibliothek am anderen Ende des Hauses war ein prächtiges Zimmer mit einer Sammlung ausgewählter Bücher, der Ausbeute der letzten sieben Jahre: Julian Wyllard wohnte noch nicht lange in der Grafschaft und war erst seit dieser Zeit der Eigentümer von Penmorval.

In dem künstlerisch gefliesten Kamin – eine moderne Verbesserung gegenüber der alten Konstruktion aus Schmiedeeisen – brannte ein kräftiges Feuer. Mr. Wyllard hatte alle seine Briefe geöffnet und offensichtlich einige von ihnen verbrannt, denn ein Geruch nach kalziniertem Papier und Siegelwachs zog durch den Raum.

Er saß in gebeugter Haltung und tiefem Nachdenken auf einem Sessel neben dem Kamin und betrachtete einen Gegenstand, den er in den Händen hatte. Tief in Gedanken versunken, bemerkte er Dora erst, als sie dicht neben ihm stand.

Der Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit so fesselte und seine Gedanken in die weit entfernte Vergangenheit hatte schweifen lassen, war eine lange Strähne aus kastanienbraunen Haaren. Er hatte sie um den Finger gewickelt – eine weiche, seidige Strähne, die im fröhlichen Licht des Feuers mit goldenen Strahlen aufblitzte.

„Was für schöne Haare!“, sagte Dora leise, als sie über seine Schulter nach unten blickte. „Von wem sind sie, Julian?“

„Es waren die von meiner Schwester“, antwortete er.

„Von der Schwester, die vor so vielen Jahren gestorben ist. Armer Julian! Da sitzt du ganz allein hier und gibst dich traurigen Erinnerungen hin.“

„Ich habe diese Strähne gerade zwischen ein paar alten Papieren gefunden, als ich nach Martins Pachtvertrag gesucht habe.“

Er rollte die Haare schnell zusammen und warf sie zwischen die flackernden Kohlen.

„Aber Julian, warum tust du das?“, fragte seine Frau vorwurfsvoll.

„Was nützt es, solche Dinge aufzubewahren und damit nur kummervolle Erinnerungen am Leben zu halten? Wir haben weiß Gott genug mit unseren Toten zu tun. Sie verfolgen und quälen uns in jeder Phase unseres Lebens. Wir werden sie nicht los.“

Die Bitterkeit seiner Worte schnitt seiner Frau in die Ohren.

„Liebster, du bist erschöpft und außer dir“, sagte sie. „Du hast zu lange gearbeitet. Waren deine Briefe unangenehm?“

„Nicht unangenehmer als sonst, mein Liebling. Ja, ich bin sehr müde.“

„Und das schreckliche Ereignis an der Bahnlinie hat dich beunruhigt. Der arme Bothwell ist auch ganz durcheinander. Es tut mir so Leid für dich, Julian“, sagte seiner Frau besänftigend. Sie lehnte sich an seine Schulter und strich die Haare von den breiten, vollen Augenbrauen zurück.

„Mein liebes Kind, es gibt keinen Grund, mich zu bemitleiden. Schreckliche Dinge ereignen sich jeden Tag auf der ganzen Welt. Wir hören davon und spüren, was für ein zerbrechliches Ding das Leben unter den Bedingungen ist, unter denen wir alle unser Dasein fristen. Heute Abend habe ich von Angesicht zu Angesicht einem entsetzlichen Todesfall gegenübergestanden. Das ist der einzige Unterschied.“

Kapitel 2

Nach der amtlichen Untersuchung

Am Nachmittag der amtlichen Untersuchung herrschte in Bodmin große Aufregung. Es war ein köstlicher Sommernachmittag, wie gemacht für stille, idyllische Vergnügungen; ein Nachmittag, den man tagträumend unter Bäumen verbringen konnte, oder auch indem man sich träge einen ruhigen Wasserlauf hinuntertreiben ließ, statt sich in einem stickigen Gastzimmer zu versammeln, dem dröhnenden Tonfall eines Polizeiwachtmeisters oder den verworrenen Aussagen und arglosen Tatsachenverdrehungen eines Gepäckträgers zuzuhören. Aber vielleicht hatten die Bewohner von Bodmin bereits ihr Maß aus dem Kelch der ländlichen Freuden getrunken, oder sie hatten mehr als genug von heidebewachsenem Moorland, Fingerhut-gesäumten Landstraßen, Hagebutten und Heckenkirschen, wiegenden Baumkronen und gewundenen Bächen, und vielleicht ließ diese Übersättigung sie in den kleinen Gasthof jenseits des Bahnhofs Bodmin Road strömen, wobei sie mit Ellenbogen und Stößen versuchten, sich einen guten Blick auf den Coroner und die Zeugen zu verschaffen.

Eine amtliche Untersuchung als solche war kein allzu spannendes Ereignis. Man hatte derartige Veranstaltungen schon in Bodmin abgehalten, ohne dass sie in den Köpfen der Bewohner Neugier oder Erregung verursacht hätten. Aber für die heutige Untersuchung interessierten sich alle. Wer wusste schon, welches Rätsel – welche Geschichte von Falschheit und Lüge – diesem traurigen, seltsamen Todesfall vorausgegangen war? In dem Bericht hatte es geheißen, die Tote sei Ausländerin, was dem Geheimnis einen noch tiefgründigeren Anstrich gegeben hatte. Warum war sie an diesen Ort gekommen, um sich das Leben zu nehmen? Oder wer hatte sie hierher gelockt, um sie zu ermorden? Das waren die Fragen, die in Bodmin an diesem schönen Julimorgen freimütig erörtert wurden; Fragen, die verschiedene kluge oder abstruse Theorien hervorbrachten, von denen jede für ihren Erfinder die plausibelste Erklärung für dieses dunkelste Rätsel der Menschheitsgeschichte zu sein schien.

„Wenn jemand Licht in die Angelegenheit bringen kann, dann Squire Heathcote“, sagte Mr. Bate, Gemüsehändler, Kolonialwarenverkäufer und Kirchenältester.

Edward Heathcote war einer der beliebtesten Männer im Umkreis von zehn Meilen um Bodmin, ein Sohn der Gegend und in der Nachbarschaft seit Kindertagen bekannt. Er entstammte einem Geschlecht, das in hohen Ehren gehalten wurde und in vergangenen Tagen viele berühmte Männer mit Schwert und Mantel hervorgebracht hatte. Den Heathcotes, so hieß es, lagen Ehre, Mut und alle großzügigen Gefühle im Blut. Er hatte ein kleines Landgut geerbt und dazu ein schönes altes Herrenhaus, in dem seine Vorväter von Generation zu Generation gelebt hatten. Schon im tiefsten Dunkel der entfernten Vergangenheit hatte es Heathcotes in der Gegend gegeben. Deshalb und obwohl er im Vergleich zu Julian Wyllard keineswegs ein reicher Mann war, stand er in der Wertschätzung der guten alten Konservativen, für die Geld nicht alles ist, höher als dieser. Mr. Wyllard war ein Zugereister: Er hatte Penmorval erst kurz vor seiner Eheschließung gekauft – diesen Teil der Welt hatte er nicht aus eigener Neigung als Wohnort gewählt, sondern weil Theodora Dalmaine ihn liebte. Man wusste, dass er sein Geld zum größten Teil selbst verdient hatte – was für einen Mann ordinär war. Selbst Geschäftsvermögen werden gepriesen, wenn sie über drei oder vier Generationen vom Vater zum Sohn geflossen sind. Obwohl er also die wichtigste Persönlichkeit in der Gegend war und durch das Recht des kürzlichen Kaufs zum Landadel gehörte, blickte manch einer auf Julian Wyllard als Parvenu herab, und manch einer hatte etwas dagegen, dass sein Reichtum ihm in den lokalen Angelegenheiten ein so großes Gewicht verschaffte.

Der Squire Heathcote galt als der beste Coroner, der dieses Amt in Bodmin seit den Erinnerungen der ältesten Einwohner innegehabt hatte. Seine juristischen Erfahrungen waren breiter gefächert als die eines durchschnittlichen Provinzanwalts. Er hatte seine Fähigkeiten in die Dienste einer bekannten Londoner Kanzlei gestellt, war viel gereist und hatte zahlreiche Menschen und Städte kennen gelernt. Er war unter vielfältigen Bedingungen mit seinen Mitmenschen in enge Verbindung getreten; und man sagte, er sei ein hervorragender Menschenkenner sowie ein unparteiischer, klarsichtiger Richter. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er einen Scharfsinn an den Tag gelegt, wie man ihn bei einer Leichenschau auf dem Land selten antrifft; und er hatte mehr als einen verknoteten Faden entwirrt. Deshalb war man sich einig: Wenn irgendjemand das Rätsel um das Schicksal des toten Mädchens lösen konnte, dann war Squire Heathcote der richtige Mann.

Als er seinen Platz am Kopf des langen Tisches im Vital Spark einnahm, hätte sein Benehmen stiller und zurückhaltender nicht sein können; aber in dem düsteren Feuer der tief liegenden grauen Augen und auch in den nervösen Bewegungen der sonnengebräunten Hand, die mit dem dunkelbraunen Bart spielte, standen Anzeichen von Furcht oder Gefühl. Er setzte sich, sah einige Minuten auf seine Notizen, hob dann langsam den Blick und ließ ihn durch den gut gefüllten Raum schweifen.

Julian Wyllard saß nicht weit vom entgegengesetzten Ende des Tisches, neben sich den kleinen Dr. Menheniot. Bothwell Grahame hatte einen Platz weiter weg in der Nähe der Jury eingenommen. Er sah nach Mr. Heathcotes Einschätzung abgespannt aus wie ein Mann, der eine unruhige Nacht hinter sich hat.

Anwesend waren auch drei oder vier Eisenbahnbeamte, und sie waren die wichtigsten Zeugen. Als Erster war der Schaffner des Zuges von Paddington an der Reihe; seine Aussage war mager: Anscheinend hatte er nur gesehen, wie das Mädchen einen Augenblick auf dem Trittbrett gestanden hatte, bevor sie abstürzte. Sie stand auf dem Trittbrett und hielt sich, das Gesicht zum Wagen gewandt, an dem Handgriff fest; es schien, als würde sie mit jemandem im Wageninneren sprechen. Für ihn hatte es nicht den Anschein, als hätte sie sich selbst von dem Trittbrett gestürzt. Es hatte eher so ausgesehen, als wäre sie hinausgestoßen worden.

„Hatten Sie den Eindruck, dass sie einen Schlag bekam?“, fragte Heathcote.

„Nein, Sir. Ich kann nicht sagen, dass ich diesen Einruck hatte. Aber das alles ging ohnehin so schnell, dass ich keine klare Vorstellung habe. Mein erster Gedanke war, wie ich sie retten könnte. Ich war gerade nach draußen auf das Trittbrett meines Waggons getreten, da stieß sie einen Schrei aus und fiel. Sie war am anderen Ende des Zuges. Bevor ich zu dem Wagen gelangen konnte, aus dem sie gefallen war, hatte die Lokomotive bereits gehalten, und die Fahrgäste stiegen aus.“

„Haben Sie herausgefunden, aus welchem Wagen sie gefallen ist?“, frage Heathcote.

„Ja, Sir. Es gab einen leeren Zweiter-Klasse-Wagen, der zweite nach der Lokomotive. Ich glaube, das war das Abteil. Dort waren ein kleiner Korb mit Erfrischungen und eine Zeitung, die nach meiner Vermutung der Verstorbenen gehörten.“

Der Korb stand auf dem Tisch. Er sah fremdartig aus; ein schlichter kleiner Korb mit einigen Kirschen in einem Kohlblatt und einer kleine Tüte mit Keksen. Bei der Zeitung handelte es sich um den französischen Figaro. Der Coroner übergab den Korb der Jury, die den Inhalt neugierig untersuchte. Es gab kein Stückchen beschriebenes Papier, keine alte Postkarte, keinen Brief; nichts, womit man das tote Mädchen identifizieren konnte oder was darauf hindeutete, aus welchem Ort sie stammte.

„Ihre Kleidung und der Inhalt ihrer Taschen wurden untersucht“, sagte Mr. Heathcote auf eine Frage von einem Mitglied der Jury. „Man hat aber kein Kennzeichen und keinen Anhaltspunkt gefunden. Ebenso hat man kein Gepäck entdeckt, das ihr gehören würde; das ist seltsam, denn es kommt nicht oft vor, dass jemand ohne Gepäck von London nach Cornwall reist. Ich habe bereits Kontakt mit der Londoner Polizei aufgenommen. Außerdem habe ich Anzeigen in der Times und in einer Pariser Zeitung aufgegeben. Vielleicht können wir auf diese Weise die Identität des Mädchens feststellen. In der Zwischenzeit lautet die Frage: Wie ist sie zu Tode gekommen?“

Der nächste Zeuge war ein Gepäckträger aus dem Bahnhof von Plymouth. Ihm war das Mädchen aufgefallen, während der Zug dort stand. Er hatte sie allein auf dem Bahnsteig gesehen und war sicher, dass sie mit niemandem gesprochen hatte. Sie war zwei- oder dreimal allein den Bahnsteig auf und ab gegangen, und er hatte den Eindruck gehabt, sie sei verwirrt oder ängstlich, als hätte sie jemanden erwartet, der nicht gekommen sei. Er hatte so viel damit zu tun gehabt, sich um das Gepäck anderer Leute zu kümmern, dass er sie nicht genauer beobachten konnte, aber sie war ihm aufgefallen, weil sie wie eine Ausländerin aussah. Er hatte gesehen, wie sie ein Zweiter-Klasse-Abteil nahe bei der Lokomotive belegte, als der Zug gerade anfuhr. Sie stieg eilig ein, und ihm schien, als habe jemand in dem Abteil ihr die Tür geöffnet und beim Einsteigen geholfen. Sicher konnte er das aber nicht sagen, dazu war er zu diesem Zeitpunkt zu weit entfernt. Er hatte die Verstorbene gesehen und in ihr die junge Person wiedererkannt, die ihm in Plymouth aufgefallen war.

Der nächste Zeuge war Dr. Menheniot. Er gab fachliche Auskünfte über die Todesursache; aber was die Umstände vor ihrem Sturz anging, konnte er nicht mehr sagen als der Schaffner. Doch, ein wenig mehr schon, denn er hatte gesehen, wie die Wagentür sich öffnete und das Mädchen auf das Trittbrett trat. Auf die Frage des Coroners antwortete er, doch, es sei ihm so vorgekommen, als hätte sie jemand hinausgestoßen, aber das könne er nicht beschwören. Die Tür hatte sich ganz plötzlich geöffnet, und er hatte gesehen, wie sie auf dem Trittbrett stand und sich an die offene Tür klammerte. Hätte sie Selbstmord begehen wollen, so schien es ihm, wäre sie sofort von dem Wagen über die Böschung gesprungen. Die Tatsache, dass sie auf dem Trittbrett stand und sich am Wagen festklammerte, ließ nach seiner Ansicht auf Widerstand schließen.

„Es könnte auch nur bedeuten, dass sie gezögert hat“, sagte Heathcote. „Was glauben Sie, wie lange blieb sie auf dem Trittbrett stehen?“

„Kaum eine Minute – vielleicht nicht mehr als dreißig Sekunden. Ich hörte das Signal des Schaffners, dass der Zug anhalten sollte, und dann hörte ich ihren Schrei, als sie abstürzte. Es geschah fast im gleichen Augenblick. Als ich sie zuerst sah, war die Lokomotive gerade auf der Brücke. Das vermittelt Ihnen den besten Eindruck von dem Zeitraum.“

„Nicht mehr als dreißig Sekunden“, sagte der Coroner, der jeden Yard der Bahnlinie kannte. „Gibt es hier sonst noch jemanden, der uns etwas über den Tod dieses armen Mädchens sagen kann?“

Es gab niemanden. Und das, obwohl sich zwanzig Personen im Raum befanden, die gestern Abend in dem Zug gesessen hatten, die in die Schlucht hinabgestiegen waren, um die zerschmetterte Gestalt zwischen Farn und Fingerhut liegen zu sehen, um neugierig das kleine weiße Gesicht und die im Tod für immer verstummten Lippen zu betrachten. Niemand sonst konnte noch mehr sagen, niemand kannte auch nur so viele Einzelheiten über die Katastrophe wie der Schaffner und Dr. Menheniot, die beide den Sturz beobachtet hatten. Ansonsten hatte anscheinend niemand auf der betreffenden Seite des Zuges aus dem Fenster gesehen.