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Beschreibung

Der Berliner Immobilienmarkt boomt weiter, Kieze werden „entwickelt“, Menschen aus ihren vertrauten Lebenszusammenhängen verdrängt. Wohn-, Arbeits- und Gewerberäume dienen Immobilienkonzernen, Investmentfonds und anonymen Eigentümer*innen als Anlageobjekte, während die mietenpolitische Bewegung das Recht auf Stadt für alle fordert. Doch wer sind die tatsächlichen Akteur*innen hinter der Ökonomisierung städtischen Lebens? Was ermöglicht ihr Handeln – und wie lässt es sich politisch und gesellschaftlich kontrollieren und durchkreuzen? X Properties verhandelt die Wirkmacht des Finanzkapitals über die soziale und kulturelle Produktion von Stadt, ihre Beziehungsweisen und Subjekte. Das Heft erscheint im Rahmen des gleichnamigen Recherche- und Veranstaltungsprojekts der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK). Die Textbeiträge von Christian (Syndikat-Kollektiv), Christoph Casper, Jana Gebauer, Kathrin Gerlof, Katrin Lompscher, Louis Moreno, Raquel Rolnik & Isadora Guerreiro & Paula Freire Santoro und Pheli Sommer verbinden Berliner Fallstudien mit globalen Perspektiven auf die De-/Finanzialisierung der Stadt.

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Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #11

X Properties

Joerg Franzbecker, Naomi Hennig, Florian Wüst (Hg.)

Der Berliner Immobilienmarkt boomt weiter, Kieze werden „entwickelt“, Menschen aus ihren vertrauten Lebens­zusammen­hängen verdrängt. Wohn-, Arbeits- und Gewerberäume dienen Immobilien­konzernen, Investment­fonds und anony­men Eigentümer*innen als Anlage­objekte, während die mieten­politische Bewegung das Recht auf Stadt für alle fordert. Doch wer sind die tatsäch­lichen Akteur*innen hinter der Öko­nomisierung städtischen Lebens? Was ermöglicht ihr Handeln – und wie lässt es sich politisch und gesellschaftlich kontrollieren und durchkreuzen?

X Propertiesverhandelt die Wirkmacht des Finanz­kapitals über die soziale und kulturelle Produktion von Stadt, ihre Beziehungsweisen und Subjekte. Das Heft erscheint im Rahmen des gleichnamigen Recherche- und Veranstaltungs­projekts der neuen Gesellschaft für bildende Kunst. Die Textbeiträge von Christian (Syndikat-Kollektiv), Christoph Casper, Jana Gebauer, Kathrin Gerlof, Katrin Lompscher, Louis Moreno, Raquel Rolnik & Isadora Guerreiro & Paula Freire Santoro und Pheli Sommer sowie eine Bildstrecke von Kim Bode verbin­den Berliner Fallstudien mit globalen Perspektiven auf die De-/Finanzia­lisierung der Stadt.

... something significant has changed in the way capitalism has been working since about 1970. (David Harvey, 1989)

Inhalt

Joerg Franzbecker, Naomi Hennig

Was ist Finanzialisierung für uns?

Kim Bode

PRAKTIKEN DES GEMEINSCHAFFENS

Bildstrecke I

Bildstrecke II

Bildstrecke III

Florian Wüst

Steglitzer Kreisel

Naomi Hennig

Pandion/DWS in der Kreuzberger Prinzenstraße

Interview mit Christian (Syndikat-Kollektiv)

Syndikat bleibt!

Christoph Casper

Der Nutzen des Informations­freiheitsgesetzes

Eine Recherche zu den Berliner Immobilienbeständen von Albert Immo 1–6 S.à.r.l. und Victoria Immo Properties I–VIII S.à.r.l.

London-Spaziergang mit Louis Moreno

Eine Tour von Euston nach King’s Cross/St Pancras

Naomi Hennig

Vorbemerkung zu den Texten von Louis Moreno und Raquel Rolnik, Isadora Guerreiro & Paula Freire Santoro

Louis Moreno

Always Crashing in the Same City: Immobilien, psychisches Kapital und planetares Begehren

Raquel Rolnik, Isadora Guerreiro, Paula Freire Santoro

Wohnen zwischen finanziellem Extraktivismus, Notwendigkeit und Recht

Jana Gebauer, Kathrin Gerlof, Naomi Hennig, Katrin Lompscher, Pheli Sommer

Die nicht-finanzialisierte Stadt denken und machen?

Ein Gespräch über Möglich­keiten, der Finanzialisierung zu entkommen und Alternativen zu schaffen

Was ist Finanzialisierung für uns?

Joerg Franzbecker

Naomi Hennig

Es war in den letzten Dezembertagen 2019, als das Gerücht die Runde machte, das Gewerbegebäude in der Oranienstraße 25 habe eine*n neue*n Eigentümer*in. Im Laufe weniger Tage bestätigte ein Schreiben der Hausverwaltung, dass die Berggruen Holding, die schon zuvor durch ihre Geschäftspraxis zur Belastung für Mietende und Anwohner*innen geworden war, das Gebäude an die Victoria Immo Properties V S.à.r.l. mit Sitz in Luxemburg verkauft hatte. Der Ort der Registrierung der Firma überraschte nur bedingt, da sich die Vorstellung einer real existierenden Vermieterin vor Ort schon länger überholt hatte. Die neue Eigentümerin des Gebäudes war allerdings auch kein herkömmliches Immobilienunternehmen, sondern vielmehr Teil eines Firmenkonstrukts: Jeder Teil besitzt Immobilien, die realen Eigentümer*innen bleiben allerdings verborgen. Bereits die ersten gemeinsamen Recherchen deute­ten auf einen sogenannten Immobilien-Spezialfonds mit einer begrenzten Laufzeit von elf Jahren hin.

Wir alle werden als Stadtbewohner*innen, Mietende, Alters­vorsorgende, Erbende, prekär Lebende, Mittel­lose, Arbeiter*innen, Angestellte, Freischaffende, Gemeinschaffende, Medien und anderes Konsumierende seit geraumer Zeit permanent und ungefragt mit verschiedenen Finanz­akteur*innen und -produkten konfrontiert. Wir haben jedoch häufig nur eine sehr vage Vorstellung davon, welche Logiken, Dynamiken, Umverteilungsmechanismen und politischen Rahmenbedingungen die sogenannte Finanzialisierung zur Entfaltung bringen.

Angestoßen durch den Verkauf der Oranienstraße 25 be­gan­nen wir, die AG X Properties der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), mit der Suche nach den Verwerfungen und Zusammenhängen dieser Finanzialisierung. Allerdings ohne den Anspruch, wirklich konkrete Antworten zu finden. Wir können auch jetzt nur Fragen besser formulieren; wir können weiterhin nur die lebenswerte Stadt für alle als Ziel vor Augen haben und in den Transformationsschritten vage bleiben; wir gehen erst einmal der spezifischen Eigen­tums­frage in der Stadtlandschaft nach; wir setzen uns weiterhin nicht nur mit hegemonialen, sondern auch mit gemeinschaffenden Infrastrukturen auseinander; wir fragen, wie sich die zunehmende Finanzialisierung von Wohnen, Arbeit und Alltag auf unsere (Verständnisse von) Körper, Beziehungsweisen und Bewegungen auswirkt.

Wir schließen damit an zahlreiche andere Mieter*innen- und Nachbarschaftsinitiativen an, die sich in den vergange­nen Jahren und Jahrzehnten mit einer konkreten und strukturellen Aufwertung von städtischen Räumen und einer Verdrängung von gelebten Nachbarschaften auseinandersetzen mussten. Spätestens seit sich 2011 die Mieter*innen rund um das Kottbusser Tor zu Kotti & Co zusammengeschlossen haben und Expert*innen in Wohnungsfragen geworden sind, haben wir die Erfahrung gemacht, welche Wirkung zivilgesellschaftliche Recherchen zum sogenannten Mieten­wahnsinn und ein breiter Protest haben können. Und mit dem Beginn des Volksbegehrens zur Vergesellschaftung von großen Wohnungsunternehmen – Deutsche Wohnen & Co enteignen – wurde eine ganz andere diskursive, politische und juristische Qualität auf breiter Basis erarbeitet.

Uns als Bewohner*innen, Gewerbetreibende und Nutzer*in­nen begleitet dabei die Frage, warum wir uns mit Sozialbindungen, Finanzmarkt und Investmentfonds beschäftigen, statt unsere eh schon begrenzte Energie auf das Überleben, das Verbinden und Teilen, das inklusive und vielfältige Zusammensein zu konzentrieren – uns also lieber direkt und ohne den Umweg eines Verstehen-Wollens der Finanzialisierung um eine gemeinschaftliche, lebenswerte Stadt für alle zu kümmern.

Durch vielfältige Erfahrungen haben wir den Eindruck gewonnen, dass das Wissen um die Finanzialisierung vor allen Dingen bei den politischen Entscheidungsträger*innen äußerst mangelhaft ist – also bei denjenigen, die die freie Entfaltung der Kräfte des Kapitals nicht nur strukturell ermöglichen, sondern auch politisch fördern. Außerdem ist uns klar geworden, dass wir, die wir eine gemeinschaffende Stadt anstreben, nicht nur Betroffene der Finanzialisierung sind, sondern von ihr in den Dienst genommen werden und sie mit unserem Handeln mit erhalten. Wir müssen sie daher erst einmal begreifen, um sie zu überwinden.

Was offensichtlich bisher geschah

Wir haben von vielen anderen gelernt, dass die Finanzwirtschaft ihren Profit statt durch Handel oder Warenproduktion in erster Linie durch den Handel mit Finanzprodukten und durch spekulative Transaktionen innerhalb des Finanzmarkts akkumuliert. Und dass mit Finanzialisierung die zunehmende Bedeutung und das Zusammenwirken von Finanzmotiven, Finanzmärkten, Finanzakteuren und Finanzinstituten in nationalen und internationalen Volkswirtschaf­ten bezeichnet wird.1 Es geht – unabhängig vom Gut, in das investiert, auf dessen Wertanstieg oder -verfall eine Wette auf Zeit abgeschlossen wird – ausschließlich um die Rendite, also den in Prozent gemessenen Effektivzins der Einnahmen. Vielleicht ist der prozentuale Anstieg der Einnahme in der psychotischen Welt des Wett­bewerbs sogar wichtiger als der reale Wertzuwachs.

Wir haben zudem erfahren, dass es erst der Liberalisie­rung und Deregulierung des Finanzmarkts bedurfte, um Finanzakteur*innen global vernetzt agieren zu lassen. Jener Zustand, der uns heute als Neoliberalismus allzu vertraut erscheint, begann sich bereits Ende der 1930er Jahre abzuzeichnen, als der Ökonom Louis Rougier eine Gruppe von Öko­nomen nach Paris einlud, um Walter Lippmanns Thesen zu Kollektivismus und Planwirtschaft2 zu diskutieren. In einer Abkehr davon sollte der Markt-Preis-Mechanismus staatlich gefördert die treibende ökonomische Kraft werden. Später wurde dieser Ansatz von Friedrich von Hayek und der Mont Pèlerin Society weiter formuliert. Diese Denkschule, die lange in der Schublade abwegiger Außenseiter-Ideen herumdümpelte, entwickelte ihre ganze Dynamik erst 40 Jahre später, als 1973 mit der Aufkündigung des Bretton-Woods-Abkommens die festen Wechselkurse in der Währungspolitik aufgegeben wurden. Später begannen die von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien geführten Regierungen angesichts einer allgemeinen Akkumulationskrise, Staatseigentum zu privatisieren, die Organisationsmacht der Lohnabhängigen zu brechen und die Wirtschaft, vor allem die Finanzwirtschaft, zu deregulieren.

Mit der netzwerkbasierten technischen Entwicklung beschleunigte sich der Finanzhandel, sodass seiner unkontrollierten Ausbreitung fortan kaum noch Grenzen gesetzt sind. Globale Infrastrukturen, Handelsplätze, Deregulierungen und neue rechtliche Rahmenbedingungen erlauben internationale Investitionen in vielen Hoheitsgebieten, in allen Erdteilen und in Highspeed. Darüber hinaus pumpen Staatsfonds und Zentral­banken zusätzliche Liquidität in den Finanzsektor, was entscheidend zur Transformation der Finanzökonomie beiträgt. Die Finanzökonomie, die einmal kreditgebend im Dienst der produzierenden Realökonomie stand, wurde zur treibenden Kraft einer global operierenden Wirtschaft. Es wird sich auch weiterhin zeigen, dass der sogenannte freie Markt auf die politische Unterstützung durch Staaten angewiesen ist und darauf zählen kann. Das schmerzt auch deshalb, weil die vorherrschende politische Ordnung offensichtlich nicht an einer nachhaltigen Entwicklung eines alle fördernden Gemeinwohls interessiert ist.

David Graeber und auch Joseph Vogl unterstreichen die Rolle des Finanzkapitals und des Kreditwesens, deren gesellschaftliche und ökonomische Funktion bereits vor der Ära des produzierenden Industriekapitals etabliert war.3 Märkte für Wechsel, Verbriefungen, Spekulationsblasen gab es schon im vorkapitalistischen Mittelalter. Mächtige Handelsdynastien wie die der Fugger profitierten bereits im 15. Jahrhundert von etwas, das heute als Arbitrage-Handel bekannt ist und nach wie vor zum Hauptgeschäft von Finanzinstituten und Wert­papier­händlern gehört. Eine Wertschöpfung durch Ausnutzung von lokalen oder zeitlichen Preisunterschieden ging also derjenigen durch Ausbeutung in Form von Lohn- und Fabrik­arbeit voran. Die frühesten Aktiengesellschaften überhaupt, die Niederländische Ostindienkompanie und die Britische Ostindienkompanie, waren im 17. Jahrhundert globale koloniale Handelsunternehmen, deren umfangreiche Ausrüstung und Ausstattung nur durch Investitionen reicher Handels­häuser möglich waren, die sich Risiken und Gewinne untereinander anteilsmäßig aufteilten.

Die historischen Funktionen von akkumuliertem Handels­kapital, das als Kredit- und Finanzinstrument ein­ge­setzt wird, sind Liquidität, zeitliche und räumliche Elastizität und sogenannte leverage (frei übersetzt: ökonomischer Handlungs­spielraum). Wer Verfügungsmacht über größere Finanzmittel genießt, kann sich größere Projekte leisten: Flotten ausrüsten, Kolonien klarmachen, Hochhäuser bauen oder ähnliche Unternehmungen. Die Verschuldung mag belastend sein, aber erheblicher ist der spekulierte Gewinn. Wer nicht über Kredit verfügt, wird auch nicht zum (kolonialen) Entrepreneur – zumindest nicht im großen Stil. Daran hat sich seit dem 14. Jahrhundert wenig geändert, als die spanische Krone ihre Raubzüge in die Neue Welt von der Haute­finance in Augsburg, Genua und Sevilla finanzieren ließ.

Eine Rangordnung zwischen ‚echtem‘ Produktivkapital und ‚fiktivem‘ Finanzkapital – Letzteres als eine Art Parasit des produzierenden Sektors – scheint daher weder historisch noch gegenwärtig akkurat. Zu untersuchen wäre allerdings der Übergang zwischen den beiden Formen und die merkwürdige, die Finanzialisierung zunehmend begleitende ‚Verflüssigung‘, mit der Dinge und (Tausch-)Handlungen erst warenförmig und im nächsten Schritt dem Finanzkapital ähnlich gemacht werden. Einer der Schlüssel zum Verständnis dieser strukturellen Veränderung liegt in der Analyse städtischer Entwicklungs- und Haushaltspolitik.

Ein historischer Moment, der von manchen als Big Bang der Finanzialisierung des öffentlichen Sektors gesehen wird, war das Jahr 1975, als die Stadt New York mit dem ‚Verkauf‘ ihrer Schulden den drohenden eigenen Bankrott aufhielt:4 Nachdem Investoren zunächst wenig Interesse an den städti­schen Schuldscheinen zeigten, wurden die lokalen Gewerkschaften genötigt, die Pensionskassen ihrer Mitglieder aus­zu­räumen, um damit die angebotenen städtischen Bonds auf­zu­kaufen. Das Kunststück gelang, der drohende Bankrott wurde abgewendet. Die Banken, bei denen die Stadt bereits bis zum Hals verschuldet war, freuten sich. Kein Default und keine geplatzte Schuldenblase. Die Schulden wurden allerdings nur durch neue Schulden bedient. Nur der Schuldner war jetzt ein anderer: die Arbeiter*innen, Angestellten und Bürger*innen der Stadt New York.5

Dieses Modell hat sich danach global multipliziert. Auf eine Finanzkrise folgt die Privatisierung kommunalen Eigentums und eine weitere Deregulierung des Finanzsektors. Somit wurden die Staaten und Kommunen und öffentlichen Kassen, die ihre Schulden, Dienstleistungsunternehmen, Infrastrukturen oder die Ersparnisse der Bürger*innen dem globalen Finanzmarkt übereigneten, zu Geiseln von dessen Volatilität.

In Deutschland bedurfte es zur Liberalisierung des Wohnungsmarkts noch der Abschaffung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes 1990. Dass die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit heute sogar wieder so stark diskutiert wird, dass sie 2021 in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung aufgenommen wurde, zeigt, wie weit das Desaster der Verdrängung es langsam auch ins Bewusstsein von explizit mieterunfreundlichen Politiker*in­nen geschafft hat. Eine Grundlage für die Neu­bearbei­tung böte die Studie Neue Wohnungsgemeinnützigkeit, die Andrej Holm, Sabine Horlitz und Inga Jensen 2017 veröffentlichten.

Eine Ausbreitung und Ausdifferenzierung des Finanzmarkts wurde zudem durch die in vier Schritten von 1990 bis 2002 vollzogene Änderung des Finanz­markt­förderungs­gesetzes ermöglicht, was letztlich auch die Finanzialisierung des Immobilienmarkts vor allem seit der Finanzkrise 2007/08 mit einschloss.

Zur gleichen Zeit verscherbelte das Land Berlin kommunale Liegenschaften im großen Stil. Die (aus heutiger Per­spektive mageren) Verkaufserlöse dienten größtenteils dem Ausgleich des durch den Berliner Bankenskandal hinterlasse­nen Haushaltsdefizits. Für finanzstarke Investmentfonds wie für die entstehenden Immobilienkonzerne waren die vom Berliner Senat angebotenen Tranchen mit Tausenden von Wohnungen, teils ganzen Wohngebieten, ein weit geöffnetes Einfallstor in die Stadt.

Die große Privatisierungswelle ist mittlerweile gestoppt. Die von den großen Investmentfonds bevorzugten gebündelten Liegenschaften und Immobilienpakete mit Hunderten oder Tausenden von Einheiten sind rar geworden. Das führt die Finanzakteur*innen zu komplexeren Strategien der Wertschöpfung, mit denen sich Profite entlang der gesamten Kette von Wohn-Dienstleistungen generieren lassen. Große Immobilien­unternehmen breiten sich zunehmend ‚vertikal‘ aus, indem sie über angeschlossene Tochterfirmen zentra­lisiert die Verwaltung oder den Hausmeisterservice für zahlreiche Wohneinheiten übernehmen.

Gendered Equity

Ich stehe bei Rossmann wieder mal an der falschen Kasse an. Mein verzweifelt herumschweifender Blick nimmt das Zeitschriftenregal ins Visier. Neben My Style, Brigitte, Meine Familie und ich blinkt dort etwas Neues: Finanzielle, Untertitel: von emotion. Auf dem Titelblatt ein blondiertes Model, das Investmenttipps verspricht. Yes! Ich ergreife diese neue exotische Hybridvariante eines Frauenfinanzmagazins, zahle meine restlichen überwiegend nicht benötigten und Plastikmüll hinterlassenden Drogerieartikel und eile nach Hause zum Investmentstudium. Auf den ersten Blick fällt bereits auf, dass sich die Mehrheit der Artikel in der einen oder anderen Weise darum bemüht, der interessierten potenziellen Klein­anlegerin sogenannte ETFs (Exchange Traded Funds) und andere Invest­ment­vehikel für Menschen mit eher geringen Einsätzen und noch geringerer Risikoneigung näherzubringen. Also nix für Spekulantinnen. Oder?

Sparen 2.0 ist vermutlich das Motto. Klüger – und modischer – sparen. Nicht so wie Oma mit dem Strumpf oder Mutter mit dem Minus-Zinsen-Sparkonto, wo die nieder­träch­tige Inflation langsam, aber stetig das sauer Ersparte auf­frisst. Gleichzeitig geht’s hier nicht um die ‚echte‘ Altersvorsorge, so was wie ein Immobilienkauf, oder die Riester­rente, sondern erst mal mehr so ums kleine Sparen, ab 50 oder 100 € im Monat. Was dann leicht nach oben skaliert werden kann, wenn ein gewisses Maß an financial literacy erreicht ist. Wenn sie uns gekriegt haben, „weil Geld Spaß macht“. Wenn es uns gleich in den Fingern kribbelt, sobald wir von impact investment, Ethereum, NFTs und garantierten Dividenden lesen.

Finanzielle stellt dann auch die nächste Sphäre dieser Mög­lichkeitswelt vor: erfolgreiche Frauen, die Karriere im oder durch den Finanzsektor gemacht haben. Motto: Investiere in dich selbst – das allgemeingültige Paradigma für Subjekt­konstruktio­nen im Neoliberalismus.

Rentier dich!

Doch auch an den Oberflächen des städtischen Raums, den Fassaden, Displays und Werbetafeln, wird um uns geworben. Immer häufiger nutzen Fin-Tech-Dienstleistungen öffentliche Fassaden und Werbetafeln in U-Bahnhöfen, um uns zu suggerieren: Das ist ein richtig großes Consumer-Ding. So groß wie Spitzenunterwäsche oder Astralkörper in Sportswear. Das eignet sich auch noch für die Schmuddelfassade hinterm S-Bahnring.

Digitale Vermögensverwalter oder Finanzdienstleister wie Scalable, sogenannte Robo-Advisors oder neo broker sind Plattformen, auf denen Kryptowährungen, Derivate, Fonds, ETFs und Aktien gehandelt werden oder Vermögen verwaltet werden kann. Sogar am U-Bahnhof Kottbusser Tor wird „ethisches Investieren“ groß beworben. Es geht nicht (nur) darum, ob du wie das blondierte Model aussiehst, sondern wie du dein Portfolio managst. Auch auf dein kleines prekäres Extra-Geld kann die Finanzwirtschaft zugreifen. Du stellst es dem Finanz­markt zur Verfügung, damit jemand anders es sich leihen kann, um Seltene Erden zu schürfen, E-Autos zu bauen, Kriege zu führen.

Wir könnten diese neuen niedrigschwelligen Zugänge zu diversen Kapitalanlagemöglichkeiten auch als eine Demokra­ti­sie­rung werten. Die finanzkapitalistische Rendite als Aus- wie Aufstiegsmöglichkeit von der schlecht bezahlten Lohn­arbeit. Demnach wären wir alle eingeladen, beim Rentier-Kapitalis­mus mitzumachen. Allerdings: Die Einladung ist mindestens zweischneidig. Denn dort, wo es Investments gibt, gibt es dem Soziologen Michel Feher zufolge auch immer „Investees“.6 Also diejenigen, in die investiert wird. Und die sind nicht frei in ihrer Entscheidung.

Ich bin beispielsweise Investee in dem Moment, in dem ich einen Studienkreditvertrag mit einem hierauf spezialisierten Finanzunternehmen abschließen muss, weil ich anders keinen Zugang zum Studium habe. Die Rückzahlungssumme ist an mein zukünftiges Einkommen gebunden. Diejenigen, die in diese Fonds investieren, tun dies mit einer spekulativen Vision und dem Glauben an die einkommensstarken Karrieren ihrer studentischen Schuldner*innen. Leicht vorstellbar, wie da die Aussichten auf Finanzierung bei beispielsweise einem Kunst- oder Philosophiestudium sind.

In Deutschland wird die private Kreditwürdigkeit – ein substanzieller Aspekt meiner persönlichen ökonomischen Identität – durch die Auskunftsagentur Schufa bescheinigt, ein unumgänglicher Vorgang, um etwa eine Wohnung zu mieten. Dabei ist die Schufa nicht mal eine staatliche Behörde, sondern eine Aktiengesellschaft, deren Anteile überwiegend von Banken und Sparkassen gehalten werden. Die Schufa ließe sich also als eine Ratingagentur verstehen, auf deren Urteil wir in unserem alltäglichen Handeln immer wieder angewiesen sind. Und wer schlecht geratet wird, also keine Kreditwürdigkeit besitzt, kann untergehen. Das gilt für Bürger*innen genauso wie für kriselnde Städte und Staaten.

Die Finanzialisierung und die mit ihr verknüpfte Schulden­ökonomie sind Instrumente der Gouvernementalität, die systemkonformes ökonomisches und soziales Verhalten ein­fordern und Abhängigkeiten schaffen. Beide basieren auf einer Fragmentierung und Abstraktion von Eigentumstiteln, die in immer weitere Bereiche des Körperlichen und Sozialen vordringen. Der finanzialisierte Kapitalismus ist ein Herrschaftssystem, das unsere Körper weiter auseinanderdividiert, indem es Räume des Sozialen vereinnahmt. Es ist ein System, das uns steuert, reguliert, ausbeutet, verletzt, verwirft und als neu zusammengesetzte fragmentierte Körperlichkeiten wieder anheuert.

(Ir-)Responsibilisierung

Ein oft heraufbeschworenes Beispiel für etwas, das als Responsibilisierung bezeichnet wird, ist die finanzialisierte Altersvorsorge.7 Meine (hypothetische) Finanzberaterin rät mir zur privaten Vorsorge: Ich statte also ein Finanzunternehmen meiner Wahl mit meinen bescheidenen Geldmitteln aus, die auf dem Finanzmarkt angelegt werden. Ich werde – (hypothetisch), vermittelt über meinen Rentenplan – zur Investo­rin. Ich übernehme Eigenverantwortung. Und ich bin nicht allein: Angesichts des Verfalls der staatlichen Rentensysteme geschieht dies millionenfach überall auf der Welt. Derartige institutionelle Anbieter, Pensions­fonds und Versicherer sind durch konstante Injektionen von Sparvermögen mittlerweile derart angeschwollen, dass von einer „Wall of Money“ die Rede ist.8 Dieser fiktive Geld-Tsunami ist nicht zuletzt ein Produkt neoliberaler Suggestivkraft: Übernimm Verantwortung für deine eigene soziale Absicherung und Altersvorsorge, anstatt dich auf den schrumpfenden Sozialstaat zu verlassen, der dich in die Altersarmut treibt. Investiere in dich selbst. Und wenn du zu dick oder krank bist, hast du etwas versäumt oder falsch gemacht und musst bei den Arztkosten irgendwann zuzahlen. Unter diesem irresponsiblen Diktum, das mit dem Abbau kollektiv organisierter sozialer Fürsorge einhergeht, ist nicht mehr die Gemeinschaft, sondern das Individuum allein für die eigene soziale Absicherung verantwortlich.

Es ist kompliziert

Finanzialisierung ist zu wirkmächtig, vielfältig, fluide und für uns zu intransparent, durch Algorithmen unterstützt und durch Gesetze bzw. deren Lückenhaftigkeit flankiert – und scheinbar außer Kontrolle –, als dass sie einfach nur abstrakt bleiben kann. Für Manuel Aalbers ist Finanzialisierung ein „vages und chaotisches Konzept“,9 eine Transformation auf verschiedenen Ebenen der Wirtschaft und des Konsums, die sich nur schwer zusammenfassen lässt. Louis Moreno spricht über die Abschöpfung von Werten, die durch das Human­kapital geschaffen werden, während die dazu notwendige, aber immer weiter flexibilisierte Arbeit dauernd neue urbane Infrastrukturen wie Co-Working-Spaces oder urban labs hervorbringt.

Die Finanzialisierung des Alltags und die Inwertsetzung der Subjekte werden ermöglicht durch die Ausbreitung verführerischer digitaler Portale, die neue Infrastrukturen für die Gestaltung persönlicher Lebensentwürfe, Selbstbilder und Investmentbiografien anbieten. So werden wir selbst mit unseren mannigfaltigen Handlungen und Bedürfnissen über den bloßen Konsum hinaus fortlaufend zu kooptierten Co-Produzent*innen der Finanzialisierung.

Natürlich ist es vermessen, hierbei von einem „Wir“, einer homogenen Form der Subjektivierung auszugehen – die gab und gibt es nie. Und zwischen dir und mir und der finanzialisierten Subsumtion stehen auch noch einige wichtige Dinge wie Gemeinwesen, Widerstand und Kollektivität. Oder etwa nicht?

Die sind überall

Die Finanzsphäre und ihre Handlanger bestimmen also nicht nur die Produktion von Stadt mit, sie bestimmen auch unsere Produktion des Selbst und dessen Zukunft.

Der Soziologe und Tänzer Randy Martin beschreibt, wie die Finanzialisierung aus US-amerikanischer Perspektive zu einem bedeutenden und beunruhigenden Faktor des politischen und kulturellen Lebens wurde;10 Wendy Brown analysiert die Soft Power post-neoliberaler Gouvernementalität, ihre Diskurse, Narrative und Selbstbilder mit Blick auf die Inwertsetzung von menschlichem Kapital.11 So sollten wir auf der Suche nach Handlungs- und Verantwortungsmöglichkeiten in einer finanzialisierten Welt ein erweitertes Verständnis unserer urbanen Körper reaktivieren, die laut Ross Exo Adams in ihrer fleischlichen, lebendigen Form eine zukünftige Welt beleben, die vor Liebe, Intimität, Handlungsfähigkeit und Konsequenz nur so strotzt, und mit denen wir einen neuen, somatischen Horizont unseres kommenden politischen Widerstands anstreben könnten. Dieser bleibt allerdings auch für Ross Exo Adams bisher nur ein Schimmer. Denn er sieht in der urbanización, mit der er sich auf Ildefons Cerdà, einen katalanischen Stadtplaner des 19. Jahrhunderts, bezieht, und im davon ausgehenden Plattformurbanismus einen ständigen Zugriff auf den Körper als „expansiven Ort der Extraktion“ und als „ein Gefäß, das seine physischen, psychischen, biolo­gischen und ökologischen Beziehungen zu Raum und Zeit unmittelbar in Kapital umwandelt“.12 Ross Exo Adams sprach sich daher schon 2017 gegen einen resilienten Urbanismus aus, in dem „Körper, Naturen und Infrastrukturen verschmelzen und sich eine Macht im Raum offenbart, die Krise als ihre Realität begreift“.13 Es ist eine Krise, die sich aus der flexiblen, wachsenden und sich ständig neu erfindenden sozialen Matrix des Urbanen speist. Die Finanzialisierung der Stadt macht sich in Form des fiktiven Kapitals dieses soziale Wachstumspotenzial zu eigen und formt es nach ihrem eigenen Angesicht. Insofern wenig optimistisch folgert Ross Exo Adams, dass der urbane Körper „nicht länger ein Ort der infrastrukturellen Kontrolle, sondern die Infrastruktur selbst ist – eine Verschiebung, die die Krise tief in das tägliche Lebens einschreibt“ und einhergeht mit „einer statischen Angst vor einer endlosen und totalisierenden Gegenwart, in der ,Verwalterschaft‘ an die Stelle politischen Handelns tritt“.14

Zum Verzweifeln

Die Finanzialisierung ist das neue absurde Rezept des Kapitals, ein weiterer Geist, gerufen durch einen mit Absatzkrise und Ressourcenverschwendung kämpfenden Industriekapitalis­mus und seinen politischen Apparat. Es ist der Versuch des auf Wachstum angelegten Systems, sich zu transformieren, zu reparieren, immer neue materielle und immaterielle Tauschobjekte auf den Markt zu bringen. Es ist die neue Wachstumsstufe einer Dienstleistungs- und Extraktionsökonomie, die auf einer Explorationsmission ist: hin zu der neuen Grenze unserer kognitiven, sozialen und globalen Ressourcen und ihrer sozialen Manifestation im urbanen Raum.