You Only Die Once - Marie C. Cain - E-Book

You Only Die Once E-Book

Marie C. Cain

0,0

Beschreibung

ÜBERLEBE! Irgendwie... Stell dir vor, es gäbe Wesen unter uns, die Jagd auf Menschen machen. Unglaublich brutale menschliche Mutationen. Doch davon wusstest du nichts. Bis jetzt... Mirjam Selford wird von einem dieser Wesen überfallen.Von nun an wird ihr Leben nicht mehr dasselbe sein, denn ihr Verfolger wird ab sofort nichts unversucht lassen, sie zu töten. Doch Mirjam überlebt auf wundersame Weise jegliche Angriffe des Killers. Auf der Suche nach Antworten wird nicht nur Mirjams Geheimnis gelüftet. Auch sie erfährt Dinge, die lieber im Verborgenen hätten bleiben sollen...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

1

YOLO

You only live once

Das aktuell wohl beliebteste Lebensmotto unserer Generation.

Meine Arbeitskollegin Anna hat sich die vier Buchstaben ausgedruckt und an den unteren Bildschirmrand ihres Computers geklebt. Wiederum eine andere Freundin ließ es sich sogar entlang ihrer Rippen tätowieren.

YOLO

Eine indirekte Aufforderung, jeden Moment auszukosten, zu tun und zu lassen worauf man Lust hat. Das Carpe Diem der neuen Generation.

Ich konnte mit solchen vermeidlich lebensverändernden Sprüchen noch nie viel anfangen. Mich nervten sie regelrecht. Wenn ich jeden Tag das tun könnte was ich wollte, läge ich jetzt am Strand auf den Bahamas und würde meinen eisgekühlten Cocktail mit dem kleinen rosa Schirmchen umrühren. Doch die Wirklichkeit sah nun mal anders aus und so stolperte ich gerade im Niemandsland über eine Baumwurzel, um schnellen Schrittes meinem Interviewpartner zu folgen, statt Cocktails am Strand zu schlürfen.

Also befand ich mich derzeit in Rumänien, mitten im Wald auf einem alten verlassenen Friedhof, dessen Grabsteine schon völlig von Efeu und Moos überdeckt waren. Einzelne Mauerreste, die früher einmal das

Eingangstor des Friedhofes bildeten, ließen als einzige noch erahnen, dass hier alte Grabstätten zu finden waren. Mein Interviewpartner, ein Pastor aus der nächstgelegenen Gemeinde, lief unbeirrt durch das Waldgelände, voller Stolz, nun alles, was er über den Friedhof wusste, vortragen zu dürfen. Den Artikel, für den ich vergessene alte Grabstätten in Osteuropa aufsuchte, schrieb ich für die Lokalzeitung unsere Stadt Folksville im Staat Idaho, für die ich arbeitete. Es war nicht schwer zu erahnen, dass die Themen der Lokalzeitung nicht gerade die Anzahl der Abonnenten in die Höhe trieben, die Zeitung mit dem Namen „Folksville Post“ sprach eher einen ausgewählten Leserkreis an, der sich für lokale Themen interessierte. Da die Gründer unserer Stadt aus Osteuropa eingewandert waren, brachten wir immer wieder kleine Stories und Berichte über die Länder unserer Vorfahren. Der Job war nicht besonders gut bezahlt, aber man bekam viel von der Welt, besonders Europa, zu sehen.

Als das Interview beendet war, fragte der Pastor mich, ob ich mit meinem Auto hinter seinem Wagen herfahren wollte, schließlich sei das nächste Dorf gute 15 Minuten entfernt und man könne sich hier im abgelegenen Wald leicht verfahren. Sein Englisch war erstaunlich gut, aber das war mir bereits in vielen osteuropäischen Ländern aufgefallen. Rumänien war meine letzte Station, bevor es wieder nach Hause ging.

Ich lehnte dankend ab, denn es wurde allmählich dunkel und ich brauchte noch ein paar gute Bilder für meinen Bericht, die dem Friedhof die richtige Atmosphäre verleihen sollten. Die Leser mochten es, wenn man den Wäldern und Friedhöfen aus Osteuropa eine düstere Stimmung vermochte, besonders denen aus Rumänien. Welcher Mensch verbindet Rumänien nicht automatisch mit Transsilvanien und den entsprechenden Mythen und Schaudergeschichten. Was wäre ich also für eine Reporterin, wenn ich mir diese mystische Empfindung auf den Fotos für meinen Artikel nicht zum Vorteil machen würde? Also wartete ich, bis der Friedhof in dämmriges Licht getaucht war, packte meine hochauflösende Kamera aus und begann, die alten Mauerreste in dem von der Feuchtigkeit aufsteigenden Nebel abzulichten. Die Kulisse eignete sich hervorragend! Der weiße Nebel, der sich wie eine unheimliche Kreatur an den modrigen Mauerresten hochzog, war ein noch besseres Naturschauspiel, als ich es mir vorgestellt hatte. Die schaurige Atmosphäre kam auf den Bildern perfekt zur Geltung!

Als es mittlerweile dunkel und alle Bilder im Kasten waren, steckte ich die Kamera zurück in meine Tasche und kramte die Taschenlampe heraus, um den Weg zurück zum Auto anzubrechen. Ich wusste genau, dass ich das Auto nur ein paar Gehminuten entfernt am Waldrand geparkt hatte. Doch der Nebel, der sich immer mehr verdichtete, verhinderte, dass ich trotz Taschenlampe den Weg zum Auto zurückfand. Vorsichtig tastete ich mich Schritt für Schritt durch das Geäst und stolperte dabei gefühlt über jede Wurzel, die aus dem Boden ragte. Nach einer kurzen Weile war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt in die richtige Richtung lief, oder mich noch tiefer in den Wald hinein verirrt hatte.

Na super! Ein junges, wehrloses Mädchen ganz alleine im dunklen Wald - der perfekte Anfang für einen Horrorfilm, in der im nächsten Moment ein Mörder mit seiner Axt hinterm Busch hervorspringt und mich in kleine Teile zerstückelt! Zu dem Zeitpunkt war mir keineswegs bewusst, wie nah ich an der Wahrheit dran war.

Je länger ich nach dem Weg suchte, desto mehr packte mich die unheimliche Stimmung. Ich liebte Wälder, ich war früher oft mit meinen Großeltern zusammen im Wald gewesen und verband den wunderschönen Geruch der Tannen und die beruhigende Stille mit unglaublich schönen Erinnerungen an meine Kindheit. Deswegen hatte ich bisher auch nie Angst alleine im Wald verspürt. Im Gegenteil, ich fühlte mich dort wohler als in jeder Großstadt.

Doch hier und heute war irgendwie alles anders. Das sonst so wohlige Gefühl, das sich in mir auftat, wenn ich die geheimnisvolle Atmosphäre eines jenen Waldes in meinen Bildern eingefangen hatte, blieb völlig aus. Obwohl der weiße Nebel als Kontrast zu den dunklen, riesigen Tannen ein wunderschönes Naturschauspiel abgab, kroch die nasse Kälte nun durch meine Kleidung und verschaffte mir am ganzen Körper Gänsehaut. Als wenn mich der dichte Nebel zunehmend einkesseln wollte. Irrsinn, Mirjam! Das passiert doch alles nur in deinem Kopf!

Doch es war nicht nur die Feuchtigkeit des Nebels, die sich unaufhaltsam den Weg durch meine Kleidung bahnte und sich nun wie ein finsterer Schleier auf meine zitternde Haut legte. Ich wusste nicht, was plötzlich los war, doch mein Körper reagierte auf irgendetwas, dass meine Augen nicht wahrnehmen konnten. Jeder einzelne Teil meines Körpers kribbelte immer stärker, während sich das Zittern in alle Glieder ausbreitete.

Mir war klar, dass meine Phantasie mit mir durchging, als ich, überall wo ich hinschaute, schwarze Schatten sah, die aus dem Nebel hervortraten und mich hämisch zu verfolgen schienen. Aus allen Richtungen hörte man ein leises Knistern. Immer wieder ließ ich meinen hysterischen Blick über die Schulter wandern, als wenn ich die hämischen Schatten auf frischer Tat ertappen wollte, wie sie versuchten mich von hinten zu packen und in die dichte Nebelwand zu ziehen.

„Miri, es ist alles gut, du warst schon oft alleine für deine Stories an abgelegenen Orten“, flüsterte ich mit bibbernder Stimme, während ich die Taschenlampe dicht an meinen Oberkörper heranzog und mit beiden Händen fest umklammerte. Mein kühler Atem stieß in die Dunkelheit hinein und verschwand Sekunden später im Nebel, der mittlerweile so nah war, dass ich in ihn hineingreifen konnte. Meine selbst zugesprochenen Beruhigungs-Versuche erfüllten keineswegs ihren Zweck. Im Gegenteil, mein Herz raste wie verrückt. Was war bloß anders an diesem Ort? Warum verspürte ich hier eine solche Angst? Was es auch war, ich musste hier schleunigst weg!

Ich wusste nicht, wann ich begonnen hatte zu laufen, doch nun rannte ich so schnell es mir der unebene Untergrund ermöglichte. Als mir klar wurde, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich nun in die richtige Richtung lief oder mich tatsächlich verirrt hatte, blieb ich keuchend stehen. Orientierungslos schaute ich mich um, doch nichts kam mir auch nur ansatzweise bekannt vor. War ich wirklich zu dumm den Weg zum Auto wiederzufinden? Das konnte überhaupt nicht sein, ich hatte ihn mir doch genau eingeprägt. Es war, als wenn irgendetwas dafür sorgte, dass ich immer tiefer in den Wald hineinlief, anstatt herauszufinden.

Hilflos drehte ich mich wieder und wieder in alle Richtungen, auf der Suche nach Rettung, nach dem Weg, der mich aus meiner Verzweiflung befreien und mich sicher hier rausbringen würde. Nichts war mehr zu erkennen, der Waldboden, die hohen Tannen, nichts.

Und plötzlich wurde es mucksmäuschenstill.

Kein Knistern, kein Knacken um mich herum, es war unerträglich still. Kalter Schweiß lief meiner zitternden Stirn herunter. Ich nahm den Ärmel meiner Jacke, auf der sich ein feuchter Schleier gelegt hatte, und wischte die Schweißtropfen von meiner Stirn, während meine Augen unruhig umherwanderten.

„Scheiße, was war das?“, schrie ich, als es direkt neben mir leise knackte. Wie gelähmt zuckte ich zusammen, unfähig mich von der Stelle zu rühren. Meine Beine waren wie am Erdboden festgewachsen. Dann endlich lief ich los. Ich rannte und rannte, immer tiefer in die weiße Nebelwand hinein.

In diesem Moment packte mich etwas an den Beinen und riss mich zu Boden. Ich schlug voller Wucht mit dem Kopf auf und rutschte mit dem Gesicht über den feuchten Waldboden. Kleine Steine und Äste schrammten an meiner Wange entlang und rissen kleine Wunden in meine Haut. Alles geschah so unfassbar schnell, dass ich nicht einmal versuchen konnte den Aufprall mit meinen Händen abzufangen. Ich spürte, wie sich kleine Steinchen in die Wunden setzten und das Brennen der aufgerissenen Haut noch schmerzhafter machten. Auch meine Knie begannen zu brennen, als sich die warme Nässe des Blutes auf beiden Seiten meiner Jeans ausbreitete.

Plötzlich legte sich ein Schatten über mich. Eine große, schwarz gekleidete Gestalt beugte sich direkt über mich herüber, ich konnte seine feuchte Kleidung und den warmen Atem auf meiner Haut spüren. Ich fing wie am Spieß an zu schreien, doch eine kräftige Hand drückte mein Gesicht fester in den Waldboden. Sie war kalt und feucht wie der Nebel. Also versuchte ich mich irgendwie aus diesem festen Griff zu befreien, nach der Hand, die mein Gesicht ohne jegliche Anstrengung in den Boden drückte, zu greifen, danach zu beißen, zu kratzen, mich irgendwie herauszuwinden. Doch es war vergebens. Ich wusste nicht was ich tun sollte, wusste nicht woran ich denken sollte, die höllische Angst lähmte meinen Verstand. Wie eine hilflose Maus, die in den Pranken einer Raubkatze festsaß, wartete ich auf mein Ende.

Die andere Hand packte grob meine Handgelenke und zog sie mit einer ruckartigen Bewegung über meinen Kopf. Dabei war der Griff so fest, dass ich meine Hände kaum noch spüren konnte. Meine Fingerspitzen wurden eiskalt. Sein Atem berührte stoßweise meinen Hals, als er seinen Kopf herunterbeugte. Zwei Atemzüge. Eins… zwei… Die warme Luft seines Atems strich meine Haut entlang bis in mein Gesicht. Dann biss er zu.

Brutal bohrten sich seine Zähne durch meine Haut. Ein erbarmungsloser Schmerz brannte sich in Sekundenschnelle durch all meine Glieder. Wie ein tödliches Gift, das den Körper von innen verätzte. Meine Adern begannen zu pulsieren, stärker und stärker, während jeder Teil meines Körpers unaufhaltsam zuckte. Mein Mund stand weit offen und versuchte vergeblich einen Schrei hervorzustoßen, doch kein Laut hallte in die unendliche Stille des Waldes. Ich wusste nicht wie lange dieser Moment andauerte, doch es fühlte sich wie eine nie enden wollende Zeit an. Als wenn jegliches Leben mit aller Gewalt aus meinen Adern gesaugt wurde. Mein Körper kämpfte dagegen an, krümmte und wand sich, versuchte sich irgendwie diesen grausamen Schmerzen zu entziehen. Doch der Kampf war verloren.

Auf einmal war jeglicher Schmerz wie erloschen. Diese bittere Kälte, die von meinen Armen und Beinen immer weiter bis zum Herzen vordrang, war das letzte, das ich spürte, bis es ganz still wurde. Mein Körper gab auf sich zu wehren, als ich regungslos zusammensackte.

2

Ich vernahm den Geruch von feuchtem Waldboden, bevor ich meine Augen öffnete. Blinzelnd schaute ich mich um. Der feuchte Nebel hatte sich auf meine Kleidung gelegt und mich wie ein Schleier umschlossen, während ich zusammengekauert auf dem Boden lag. Der Wald, der immer noch in komplette Dunkelheit getaucht war, hüllte sich in Todesstille. Kein einziges Geräusch gab mir ein beruhigendes Zeichen. Es war einfach unerträglich still.

Kraftlos richtete ich mich auf meine Knie und stützte meine Hände auf dem Waldboden ab. Dabei knickten meine Ellbogen vor Schwäche ein und ich sackte auf meine Unterarme. Mir wurde spei übel. Ich versuchte mich auf eine Stelle am Boden zu konzentrieren, doch diese begann sich immer wieder zu drehen, bis ich mich schließlich übergeben musste. Mein Bauch krampfte zusammen, als ich mich völlig erschöpft auf den Waldboden zurücksacken ließ. Mein Körper fühlte sich völlig leer an. Wie nach der Narkose einer langen, schweren OP, aus der man vollkommen geschwächt aufwacht und für den Moment nicht weiß, wo man ist und was gerade passiert ist. Stück für Stück versuchte ich mich aufzurichten, doch meine Beine zitterten so sehr bei dem Versuch aufzustehen, dass ich mich wieder auf meine Knie sacken ließ. Für einen Moment verharrte ich in dieser Stellung und sammelte Kraft für einen weiteren Versuch. Nach und nach begann auch mein Verstand wieder zu arbeiten. Wie aufblitzende Erinnerungsfetzen schossen vereinzelnd Bilder vor meinen Augen entlang. Bilder, die keinen Sinn ergaben. Die wahllos aneinandergereiht waren. Nebel, Schatten, Reißzähne, Kälte, Tod… In wirrer Reihenfolge immer wieder und wieder. Die Bilder rasten in immer kürzeren Intervallen an meinen Augen vorbei. Ich sah meinen Körper von oben herab, regungslos auf dem Waldboden liegen. Blass. Starr. Sah ein Wesen, ein Dämon, eine Teufelsfratze, das über mir schwebte und mir jegliches Leben aus meinem Körper saugte… Sofort schloss ich die Augen, doch es hörte nicht auf. Und dann befreite mich ein klarer Gedanke aus der nicht enden wollenden Spirale heraus: Hau ab! Es dauerte eine Weile, bis ich in der Lage war aufrecht zu stehen und dabei das Gleichgewicht zu halten. Doch der Drang, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, gab mir schließlich die Kraft loszulaufen.

Ich rannte taumelnd auf meinen Mietwagen zu. Plötzlich fanden meine Füße wie von alleine aus dem Wald heraus. Als wäre der Weg von Anfang an klar und deutlich vor mir gewesen. Wie war das nur möglich? Keuchend ließ ich mich gegen die Fahrertür fallen, während ich mit zitternden Händen hektisch in meiner Jackentasche nach dem Entriegelungsschlüssel wühlte. Als das erlösende Geräusch der Verriegelung erklang, stürzte ich hinein und verriegelte die Autotür von innen. Sofort klappte ich den Spiegel herunter und suchte hastig meinen Hals ab.

Das konnte doch nicht sein! Es war nichts zu sehen! Wo waren die Einstichwunden an meinem Hals? Das ganze Blut? Verwirrt tastete ich meinen Hals und Nacken ab, doch es war nichts zu spüren. Lediglich mein Gesicht war mit Dreck und Schrammen übersäht, die ich mir beim Aufprall auf den Waldboden zugezogen hatte. Ich schaute an mir herunter und suchte meine Kleidung nach Blut ab. Nichts. Sollte das alles gar nicht passiert sein? Hatte ich mir das wirklich alles nur eingebildet?

Langsam ließ ich mich in den Sitz zurücksinken, schloss die Augen und atmete tief durch. Unmöglich, das hatte ich mir nicht eingebildet. Alleine bei der Erinnerung an den Überfall, an diese grausame Gestalt und die unerträglichen Schmerzen krümmte sich mein Körper sofort wieder zusammen. Und dann diese Kälte… Die Kälte, die sich angefühlt hatte, als wäre jegliches Leben aus meinem Körper ausgelöscht worden. Diese Leere, die sich erbarmungslos durch meine Adern ausgebreitet hatte, als sei ich für den Moment tot gewesen. Ein heftiger Schauer lief mir den Rücken herunter. Das war alles zu real, das konnte ich mir nicht eingebildet haben! Ich musste hier verschwinden – sofort! Panisch startete ich den Motor und fuhr mit durchdrehenden Reifen aus dem Wald hinaus zum Hotel.

3

Am nächsten Tag erreichte ich erst abends mein zu Hause. Der Flug hatte elf Stunden gedauert und ich war froh, als ich endlich wieder mein trautes Heim betreten konnte. Ich wohnte in einem alten, kleinen Holzhaus am Rande des Waldes, etwas abgelegen von der Stadt Folksville, in der auch meine Eltern wohnten und der Sitz unserer Lokalzeitung war.

Meine Mutter hatte das Haus nach dem Tod meiner Großeltern geerbt und an mich vermietet. Es war verdammt cool mit meinen 25 Jahren ein Haus für sich alleine zu haben. Es war zwar alt und musste dringend renoviert werden, jedoch war es für mich alleine mehr als ausreichend.

Im unteren Stockwerk befand sich vom Flur aus ein kleines Wohnzimmer, in dem zwei uralte Eichenholz-Vitrinen, vollgestellt mit wertvollem Silberbesteck und verzierten Porzellantassen, den Raum noch kleiner wirken ließen, als er ohnehin schon war. Ein neues hellgraues Ecksofa rahmte den alten Kastanien-Couchtisch ein und verdeckte den Großteil des persischen Teppichs, den mein Großvater mal vor langer Zeit von einer Asien-Reise mitgebracht hatte. Der Teppich war bestimmt einiges wert, aber ich sah in ihm nur einen veralteten und verblassten weinroten Teppich mit viel zu vielen kleinen Verzierungen an den Seiten, der über die Jahre diverse verschiedenster Flecken über sich ergehen lassen musste. Das einzige Prunkstück des Wohnzimmers war der nigelnagelneue 55 Zoll-Fernseher, den ich mir vor einigen Jahren mal gegönnt hatte.

Die cremefarbene, geräumige Küche mit nachträglich eingebautem Tresen, der in schwarzem Hochglanz als unübersehbarer Eyecatcher inmitten des Raumes prunkte, sowie einem riesigen Aluminiumkühlschrank am rechten Ende der Küchenzeile, wurde nach dem Tod meiner Großeltern komplett erneuert und war das moderne Herzstück des Hauses. Auch wenn ich nicht gerne kochte, hielt ich mich liebend gerne dort auf. Küche und Wohnzimmer trennte ein kleiner Flur, der zum Hauseingang führte. Durch die Küche hindurch rahmte eine große, doppelflüglige Terrassentür den Weg zu dem riesigen Garten ein.

Oben befand sich das gemütliche, recht großzügig geschnittene Schlafzimmer, bestehend aus dem alten Holz-Kleiderschrank, der dank meiner Leidenschaft fürs Shoppen aus allen Nähten platzte, einem recht großen Wand-Fernseher und dem Boxspring-Doppelbett, das ich erst vor einiger Zeit gegen das ehemalige, in die Jahre gekommene, Doppelbett meiner Großeltern ausgetauscht hatte. Ansonsten befand sich hier oben, abgesehen von dem engen Flur, den ein großer antiker Wandspiegel zierte, das kleine Badezimmer im Stil der 70er Jahre. Die grauenvollen hellgrünen Wandfliesen würden wohl als nächstes das Zeitliche segnen, das hatte ich mir zumindest als nächstes Projekt vorgenommen. Aber immerhin zierte das Bad eine große freistehende Badewanne. Die alten Eichen-Holzdielen, die in allen Stockwerken verlegt waren, und nicht selten beim Herüberlaufen laut knarrten, hatten allerdings schon wieder Stil. Sie verliehen dem Haus einen gewissen urigen Charme.

Das Schlafzimmer nutzte ich gleichzeitig als Arbeitszimmer, da ich von dem großen Fenster aus tief in den Wald hineinblicken konnte. Ich liebte diesen Ausblick, wenn ich im Schneidersitz auf dem Bett saß, Artikel für die Arbeit zusammenfasste oder bearbeitete und dabei zu den verschiedensten Jahreszeiten das Toben im Wald beobachteten konnte. Ganz oben befand sich ein eingestaubter alter Dachboden, auf dem immer noch das ganze Zeug meiner Großeltern herumstand. Ich war bisher bloß einmal oben gewesen, um dort nach dem Auszug aus meinem Elternhaus ein paar Kartons zu verstauen, die ich seitdem nie wieder angerührt hatte.

Die Lage des Hauses war sicherlich nicht jedermanns Sache, da man, egal wo man von dort aus hinwollte, auf ein Auto angewiesen war. Selbst wenn man zur nächsten Bahnstation gelangen wollte, ganz zu schweigen von den nächstgelegenen Nachbarn. Meine Großmutter liebte die Ruhe und Einsamkeit hier draußen immer sehr. Sie ging oft im Wald Kräuter sammeln, aus denen sie mir und meinen Eltern Tee kochte oder die Kräuter als Heilmittel für diverse Wehwehchen benutzte. Meine Mom und ich nannten sie immer liebevoll unsere Kräuter-Omi. Ich sehe sie noch heute vor mir, wie sie mit ihren grauen, zu einem Dutt hochgesteckten, Haaren und ihren langen Kleidern im Wald stand und mir erklärte, welche Beeren ich pflücken und essen durfte, und welche nicht. Wir haben uns dann nach dem Pflücken einiger Brombeeren auf einen Baumstamm gesetzt und die Beeren gegessen.

Ich liebte das Haus, weil die Erinnerungen an meine Großeltern in jedem alten Möbelstück steckten. Vieles war noch so wie früher. Meine Mom brachte es nicht übers Herz die ganzen alten Holzmöbel und Spiegel heraus zu räumen, zu verkaufen oder gar wegzuschmeißen. Doch nach und nach hatte ich einige alte Möbel ausgetauscht. Abgesehen vom Bett musste die 50er-Jahre-Couch im Wohnzimmer nun einfach das zeitliche segnen und wurde von mir gegen die modernere hellgraue Kunstledercouch eingetauscht. Außerdem mussten dringend die beiden winzigen Röhrenfernseher im Wohnzimmer und Schlafzimmer den modernen Smart-TVs weichen. Auch wenn ich nicht viel Geld hatte, diese Investitionen waren lebensnotwendig!

Doch so schön die Erinnerungen des alten Hauses an meine Großeltern auch waren, die Einsamkeit, die man hier draußen so abgelegen verspürte, bereitete mir gelegentlich auch ein gewisses Unwohlsein. Nicht selten schreckte ich nachts auf, wenn der Wind durch das offene Fenster im Schlafzimmer Blätter von den vielen hohen Bäumen hereinwirbelte, die im Garten des Hauses standen. Ich würde meinen Eltern nie erzählen, dass ich mich ab und an in dem alten Holzhaus fürchtete, dafür waren sie zu stolz gewesen es mir zur Miete zur Verfügung zu stellen. Meine Mutter und mein Vater wohnten zusammen in einer großen modernen 3-Zimmer-Wohnung mitten im Stadtkern von Folksville. Für sie wäre das Herausziehen aus der Stadt in dieses abgelegene Haus nie infrage gekommen. Schließlich brauchte man mit dem Auto ungefähr 10 Minuten zur Bahnstation St. Peters Station, um ca. eine halbe Stunde in die Innenstadt zu fahren. Doch so gruselig die abgelegene Lage des alten Hauses auch war, es hatte auch etwas Gutes:

Es eignete sich hervorragend für Halloween-Partys!

Ich verzog bei dem Gedanken an die letzte Party angewidert das Gesicht. Brad…

Brad ging schon als Kind mit mir in denselben Jahrgang und verführte bereits während der Schulzeit diverse junge naive Mädchen. Er war ein großer, gutaussehender dunkelblonder junger Mann, der es verstand, mit seiner arroganten und forschen Art jegliche Mädchen in seinen Bann zu ziehen. Wenn er Erfolg hatte, prahlte er nur zu gerne über seine Errungenschaften im Freundeskreis herum. Er hatte es sich seit meiner Party zum Ziel gemacht, auch mich als Trophäe in seiner Sammlung aufzählen zu können. Da ich allerdings zu meiner Schulzeit schon einige Fehltritte begangen hatte und fest entschlossen war, nie wieder auf solche Typen reinzufallen, konzentrierte ich mich seit jeher auf die Männer, die an tiefgründigen Beziehungen interessiert waren. Mit dieser Schiene fuhr ich bis dato auch ganz gut, doch je mehr ich Brad deutlich machte, dass seine Masche mich nur anwiderte, desto mehr reizte es ihn, mich zu erobern.

Diese Mann-Frau-Beziehungen waren schon merkwürdig.

Man sagt, wir, die junge Generation, seien die Generation Beziehungsunfähig. Aber waren wir das wirklich? Schließlich läuft doch in unserer Generation das gleiche ab wie schon vor tausenden von Jahren:

Sie will ihn nicht, dann will er sie umso mehr, und umgekehrt. Beruhte nicht alles irgendwie auf ein Spiel? Eine Art Macht-Spielchen? Du darfst dich nicht gleich melden, solltest nicht sofort auf seine Nachricht antworten, um dich interessanter zu machen. Du darfst erst ab dem dritten Date mit ihm ins Bett, sonst denkt er, du bist leicht zu haben. Mach dich rar, damit er um dich kämpft. Es gibt Millionen solcher Beispiele.

Aber das war doch alles nicht neu.

Was in unserer Generation nur neu hinzugekommen ist, ist die Freiheit, die man früher nicht in den Maßen genießen konnte, bzw. durfte. Wir sind nicht die Generation Beziehungsunfähig, wir sind die Generation Freiheit.

Doch mehr Freiheit heißt gleichzeitig auch mehr Unentschlossenheit. Wenn uns jungen Menschen alle Türen offenstehen, dann wollen wir auch durch alle hindurch. Warum sich bis in den Tod an einen Partner binden, wenn es doch so viel zu entdecken gibt. Unserer Generation standen tatsächlich alle Türen offen. Und doch bleibt die größte Suche unseres Lebens die Suche nach der oder dem Richtigen, dem Seelenverwandten, egal wieviel Freiheit der Menschheit noch geschenkt werden würde.

Auch ich musste zugeben, dass ich von der Freiheit fasziniert war, die dieser Generation geschenkt wurde. Doch was stellte ich mit meiner Freiheit an? Ich stürzte mich kompromisslos in meine Arbeit. Es war bereits Mai und ich hatte seit einem dreiviertel Jahr noch keinen einzigen Tag Urlaub genommen. Ich nutzte meine Freiheit, die unserer Generation offenstand, um nichts Besseres zu tun, als jede freie Sekunde für meinen schlecht bezahlten Job zu vergeuden.

Meine Kollegin und alte Schulfreundin Anna war da ganz anders. Sie war tagtäglich auf der Suche nach Mr. Right. Diverse gescheiterte Versuche hielten sie davon auch nicht ab. Ich bewunderte ihre endlose Leidenschaft auf der Suche nach der großen Liebe. Doch eines musste man Anna lassen: Auch wenn sie ein hoffnungsloser Romantiker, und somit eigentlich das perfekte Opfer für Typen wie Brad war, war sie ihm bisher noch nicht verfallen. Und das lag gewiss nicht daran, dass er es noch nicht versucht hatte. An meiner Halloween-Party letzten Jahres kam Brad erst zu mir, drückte mir einen Gin-Tonic in die Hand und säuselte mir angetrunken ins Ohr: „Heute Nacht schlafe ich hier“. Nachdem ich mich augenrollend aus dem Staub gemacht hatte, steuerte er geradewegs auf Anna zu, die mit ihren hellblonden, glatten, schulterlangen Haaren, der schneeweißen Porzellanhaut, ihrem treuen, unschuldigen Blick und dem süßen Lächeln genau in sein Beuteschema fiel, und brachte nun ihr einige Drinks. Ich hatte kurzzeitig die Befürchtung, er würde sie rumkriegen, doch sie ergriff nach einer Weile die Flucht und konzentrierte sich auf ihren eigentlichen Schwarm, der ebenfalls auf der Party war.

Brad verschwand den Abend triumphierend mit irgendeinem lallenden Mädchen, das er heldenhaft ins Taxi trug.

4

Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt hatte, nahm ich ein ausgiebiges Bad. Die Schrammen in meinem Gesicht und an den Knien brannten, als sie mit dem heißen Wasser in Berührung kamen. Als meine Haut schon ganz schrumpelig wurde, stieg ich hinaus und wickelte mich in ein großes weißes Handtuch ein. Ich stellte mich vor den Badezimmerspiegel und bürstete ich mein langes, lockiges braunes Haar. Als die Bürste die Stelle am Kopf berührte, mit der ich auf den Waldboden aufgeschlagen war, zuckte ich zusammen.

„Autsch!“ Schmerzverzerrt verzog ich das Gesicht. Urplötzlich, als wenn der Schmerz mich in die grausame letzte Nacht zurückversetzt, schossen wieder diese furchteinflößenden, zusammen-hangslosen Bilder an mir vorbei. Die unheimliche Nässe des Nebels, die an mir wie Hände hochkrabbelt und nach mir greift. Schwarze Umrisse, die aus dem weißen Nebel hervortreten und zu einer dämonischen Kreatur verschmelzen. Eine Kreatur, die aussieht wie… der Tod!

Wie erstarrt starrte ich durch mein Spiegelbild hindurch. Ich war völlig in diesen surrealen Erinnerungsfetzen gefangen. Auf einmal bildeten sich in meinem Spiegelbild zwei blasse, kreisrunde Stellen am Rande meines Halses, die sich immer deutlicher abzeichneten. Was zum Teufel passierte gerade? Ein kleiner Blutstropfen trat aus einem der kreisrunden Stellen heraus und lief in Zeitlupe meinen Hals herunter. Paralysiert verfolgte mein Blick dem Blutstropfen im Spiegel. Ein eisiger Schauer legte sich über meine Haut, als mein Finger wie in Trance meinen Hals entlang strich und den Weg des Blutstropfens abfing. Als die Bürste, die sich dabei aus meinem Griff löste, im Waschbecken aufschlug, zuckte ich erschrocken zusammen. Beim nächsten Blick in den Spiegel waren sowohl das Blut, als auch die kreisrunden Stellen am Hals verschwunden…

Was war das gerade? Ich musste mich erst wieder sammeln, bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte. Das musste der Schock von letzter Nacht sein, was auch immer letzte Nacht passiert ist… Ja, so musste es sein!

Diese Nacht plagte mich ein schrecklicher Albtraum. Ich sah mich aus der Vogelperspektive im Bett liegen. Mein Körper zitterte erst leicht, dann immer stärker. Im selben Moment erstreckte sich ein riesiger schwarzer Schatten über mir. Da war sie wieder, diese dämonische Kreatur! Zähne, lange spitze Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. Und dann dieser Schmerz, der unaufhaltsam all meine Glieder durchdrang.

Ich schreckte hoch und rang nach Luft. Es war mitten in der Nacht und das Schlafzimmer in völlige Dunkelheit getaucht. Die beiden Gardinen, die noch aus den Zeiten meiner Großeltern über dem Fenster befestigt waren, wehten in dem hereinschneidenden Wind des offenen Fensters. Schlagartig überkam mich ein Anfall von Übelkeit. Ich rannte ins Badezimmer, klappte den Toilettendeckel hoch und musste mich zweimal übergeben. Völlig kraftlos ließ ich mich neben der Toilette auf die kalten Fussbodenfliesen sinken und schloss die Augen.

Als mich am Morgen mein dröhnender Kopf wach werden ließ, schaute ich mich verdutzt um, warum ich um Himmels Willen neben der Toilette liege, bis mir die Ereignisse der letzten Nacht in Erinnerung traten. Dieser Albtraum, der mich in dieser Nacht heimgesucht hatte, war so real gewesen… Mühevoll stützte ich mich am Rand der Toilette ab und hangelte mich mit einer Hand zum Waschbecken vor. Mit der anderen Hand hielt ich mir den Bauch vor Übelkeit. Wieder quälten mich diese üblen Krämpfe im Magen. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, doch es brachte keine Besserung. Welcher Tag war heute überhaupt? Und wie spät war es? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, ich wusste nicht einmal wie lange ich geschlafen hatte. Schritt für Schritt taumelte ich ins Schlafzimmer und schaute auf mein Handy.

Samstag, 4. Mai, 12:03 Uhr

Erstaunlich, ich hatte über 14 Stunden geschlafen und fühlte mich trotzdem völlig erschöpft. Vielleicht brütete ich etwas aus? Eine Magen-Darm-Grippe oder so etwas. Ich fasste mir wehleidig an die Stirn, tatsächlich fühlte sie sich etwas warm an. Langsam taumelte ich die Treppe hinunter in die Küche und machte mir ein Müsli, schaltete im Wohnzimmer den Fernseher ein und kuschelte mich mit einer mollig warmen Decke auf das Sofa. Nach wenigen Minuten fielen mir bereits wieder die Augen zu.

Als ich aufwachte, ging die Sonne bereits unter. Bibbernd vor Kälte zog ich die Decke über meine Schultern. Meine Güte, was hatte ich mir bloß eingefangen? Mühsam quälte ich mich von der Couch hoch, um ein Fieberthermometer zu suchen, konnte aber keines finden. „Wie kann man nur so unordentlich sein, Mirjam Selford“, schimpfte ich laut über mich selber. Ich gab schließlich auf, schleppte mich erschöpft die Treppe hoch und krabbelte frierend ins Bett.

Diese Nacht hatte ich einen weiteren Albtraum. Ich befand mich stehend auf dem Dach meines Hauses. Es fegte ein eisiger Wind hier oben. Plötzlich hob der Wind mich über das Dach. Ich schwebte regelrecht ein paar Meter über den alten, von Moos bedeckten Dachziegeln. Dann trug der Wind mich weiter in Richtung Garten, vorbei an den hohen Eichen, bis ich auf einmal blitzartig Richtung Boden preschte und ungebremst auf den Boden aufklatschte.

Ich schreckte hoch und schmiss keuchend die Bettdecke von mir. Mein Herz pochte wie verrückt, ich war klitschnass geschwitzt. All meine Glieder schmerzten unerträglich. Wahnsinn, so einen schlimmen Fieber-Traum hatte ich noch nie gehabt. Bibbernd rieb ich meine Arme und Beine, bis meine Finger so sehr vor Kälte zitterten, dass ich mich schließlich aus dem Bett quälte, um das Fenster zu schließen. Zurück im Bett schlang ich meine Arme fest um meinen Körper.

Ich dachte zurück an das Erlebnis auf dem rumänischen Friedhof. Hatte ich dort bereits solch einen Fiebertraum erlitten? Vielleicht war das der Grund für mein Zusammenbrechen im Wald. Das würde auch die Schrammen im Gesicht erklären und warum außer ihnen keine weiteren Verletzungen, wie Einstichwunden am Hals, zu sehen waren. Ja, das klang absolut plausibel. Dieser Gedanke ließ mich etwas beruhigter weiterschlafen.

5

Am nächsten Tag ging es mir noch nicht besser. Ich meldete mich für Montag krank und versicherte, am Dienstag wiederzukommen. Anschließend schrieb ich den ersten Entwurf für meinen Artikel über die Grabstätten in Osteuropa uns schickte ihn per Mail zu meiner Kollegin Anna. Das Fertigstellen des Entwurfes dauerte den ganzen Nachmittag, da meine Konzentration aufgrund der Magen-Darm-Grippe immer wieder nachließ. Als ich fertig war, kochte ich mir eine heiße Brühe, hockte mich auf die Couch vor den Fernseher und ging abends nach oben. Bevor ich ins Bett ging, öffnete ich wie fast jeden Abend das Schlafzimmerfenster, schaltete den Fernseher ein, der an der Wand gegenüber meines Bettes hing, um die Serie über eine komplizierte Dreiecksbeziehung in der Renaissancezeit zu Ende zu schauen, die ich unten begonnen hatte, und legte mich anschließend ins Bett.

In der Nacht wachte ich von einem schrecklichen Gekreische auf. Im Fernseher lief ein uralter, schlecht gemachter Horrorfilm aus den 70ern. Das Licht des Bildschirmes flimmerte im Rhythmus der Filmszenen auf. Als ich mich aufrichtete, um nach der Fernbedienung zu greifen, spürte ich, wie eine leichte Gänsehaut meinen Körper überzog. Dabei war mir nicht einmal kalt. Im Gegenteil, lauwarme Nachtluft strömte durch das Fenster hinein und umspielte sacht mein Gesicht.

Verschlafen tastete ich mein Bett nach der Fernbedienung ab, während ich zu dem Gekreische im Fernseher herüberschaute, als ich plötzlich den riesigen Schatten an der Wand direkt neben dem Fernseher wahrnahm, der im Rhythmus des flackernden Lichtes auftauchte und wieder in der Dunkelheit verschwand.

Ach du scheiße! Ich schreckte nach hinten und rammte mit den Schultern an das Bettgestell. Mein Puls raste und die leichte Gänsehaut verstärkte sich in ein heftiges Zittern.

Zwei gierige Augen visierten mich starr an, die in dem Flimmern des Bildschirmlichtes immer wieder hell aufblitzten. Mit aller Kraft presste ich mich gegen das Bettgestell, als würde die Hoffnung bestehen, nach hinten gäbe es irgendein Entkommen. Um Himmels willen, wer oder was zum Teufel war das?

Das ist nicht real, du träumst noch, Miri. Das kann nicht real sein!, wiederholte mein Unterbewusstsein wieder und wieder. Schließlich konnte ich die Silhouette eines großen Mannes wahrnehmen, der sich einen Schritt auf mich zubewegte und somit in den dezenten Schein des Mondes trat, der durch das Fenster fiel. Sein Mund war zu einem furchteinflößenden Zähnefletschen geformt und seine Augen von tiefroten Adern umrandet. Er starrte mich direkt an.

Dieses Wesen hatte im dem Licht des Mondes eher etwas von einem bestialischen Raubtier, als von einem Menschen. Wie sein Blick mich durchdrang…Mordlustig, hungrig… Meine Lippen bebten im selben Takt wie mein Körper, als mein Mund vergeblich versuchte einen Hilfe-Schrei von sich zu geben. Doch mein Körper war zu gelähmt, um auch nur einen Laut hervorzubringen. Nichts würde mir in diesem Augenblick helfen können. Mir war bei dem Anblick dieser Bestie bewusst, dass dies mein Ende sein würde…

Beim nächsten Aufflackern war die Gestalt von der Wand verschwunden. Als er in derselben Sekunde neben meinem Bett stand, schloss ich ergebend die Augen. Meine Haut brannte wie Feuer an der Stelle meines Kopfes, an der seine Hände mich ergriffen und zur Seite ins Kopfkissen drückten. Ich versuchte vergebens meinen letzten Gedanken nicht dem Schmerz zu widmen, der sich in meinen Adern wie ein ätzendes Gift ausbreitete, als seine Zähne meinen Hals durchbohrten. Doch die Schmerzen wurden immer unerträglicher, bis mein Körper sich schließlich blutleer zusammenkrümmte. Dann wurde alles schwarz.

Nach Luft ringend schreckte ich hoch. Das Zimmer war leer. Nur der lauwarme Wind schnellte durch das offene Fenster. Kalter Schweiß überzog meine Haut. War ich tot? Fühlte sich so der Tod an? War das überhaupt alles wirklich passiert? Oder hatte ich wieder einen schrecklichen Albtraum, weil mein Verstand seit Rumänien nun völlig verrücktspielte? Hastig umfasste ich mit den Händen meinen Hals und begann reflexartig alles abzutasten. Doch es war nichts zu spüren. Keine Einstichwunden, kein Blut… nichts!

Nein, das war zu real für einen Traum! Ich rannte ins Badezimmer vor den Spiegel und streckte meinen Hals in sämtliche Richtungen. Nichts. Das war einfach nicht möglich! Völlig ratlos und erschöpft stützte ich mich mit beiden Händen am Rand des Waschbeckens ab und schüttelte entgeistert den Kopf. Diese Fieberträume würden mich noch an den Rand des Wahnsinns treiben. Und plötzlich überkam sie mich wieder: die Übelkeit, die auch nach vier Tagen keineswegs nachgelassen hatte. Mir wurde heiß und ich spürte erneut einen kalten Schweiß auf der Stirn, bevor ich mich übergeben musste. Kraftlos ließ ich mich neben dem Waschbecken auf meine Knie fallen. So konnte es keinesfalls weitergehen! Es war zwar noch nicht einmal hell draußen, doch ich musste dringend an die frische Luft.

6

Die Sonne ging langsam auf und erstreckte den Wald in einen warmen Orange-Ton. Überall raschelte es in den Büschen und aus allen Ecken huschten kleine Eichhörnchen und Kaninchen aus ihren Verstecken, um sich auf die Suche nach Futter zu begeben. Verschiedenste Vogelarten lieferten ein lautstarkes Konzert, das wie Balsam in meinen Ohren klang, nachdem ich das Wochenende in völliger Isolation verbracht hatte. Obwohl es um diese Uhrzeit schon warm war, schlang ich meine dick gefütterte Jacke fest um meinen geschwächten Körper. Das Sonnenlicht blendete meine Augen, ich hatte seit Tagen kein wirkliches Tageslicht mehr gesehen. Doch die frische Luft tat unendlich gut. Ich atmete die herrliche Waldluft tief ein, als ich weiter in den Wald hineinging. Doch die wenigen Schritte strengten mich bereits so sehr an, dass ich mich nach kurzer Zeit ausruhen und auf einem Baumstamm Rast machen musste. Ich schloss die Augen, ließ die Sonne, die durch die raschelnden Blätter hindurchschimmerte, auf mein Gesicht scheinen, und genoss eine ganze Weile die friedliche Atmosphäre, die diesen Moment umgab.

Als ich die Augen wieder öffnete, dachte ich an meine Großeltern, mit denen ich als Kind hier in diesem Waldabschnitt gewesen war. Mein Großvater hatte mich an die Hand genommen und mir die besten Stellen gezeigt, an denen man die aller größten Pilze finden konnte. Meine Oma sammelte indes alle möglichen Kräuter, die sie zur Verfeinerung des Abendessens benötigte. Ich habe es ihm nie verraten, aber ich beobachtete meinen Großvater immer dabei, wie er meine Oma verliebt anschaute, wenn sie beim Pflücken der Kräuter laut vor sich hin summte.

Doch nach und nach verblassten die Erinnerungen an meine Großeltern und schafften Platz für die grausamen Ereignisse der letzten Tage, die ich für einen klitzekleinen Moment vergessen durfte. Der Geruch des Waldbodens, der bis eben noch ein wohliges Gefühl in mir ausgelöst hatte, ließ mich nun unweigerlich an meine Nacht in Rumänien denken… Nein! Nicht wieder diese abscheulichen Gedanken! Ich versuchte krampfhaft die schrecklichen Bilder aus meinen Gedanken zu verdrängen und mir die schönen Erinnerungen an meine Großeltern vor Augen zu halten, doch immer wieder schob sich das Bild dieser bestienartigen Gestalt vor die Erinnerungen an meine Großeltern. Diese Augen, kalt, starr, eindringlich. Das waren keine menschlichen Augen gewesen! Und diese Zähne… Lange, scharfe Reißzähne. Dies alles erinnerte mich vielmehr an ein tollwütiges Wesen, als an einen Menschen. Ein Wesen, das zähnefletschend vor mir steht und dessen Blick mich gierig wie ein Stück Fleisch durchbohrt. Ja, das war es! Wie ein Stück Fleisch, wie… Beute!

Waren das alles vielleicht gar keine Träume und die dämonische Kreatur, die mich überfallen hatte, eine tollwütige Version eines Menschen? War es an der Zeit das vermeintliche Wort auszusprechen, dass ich seither krampfhaft versuchte zu verdrängen? Ich war eine kluge Frau, ich wusste welche Wesen auf eine reine Fiktion unseres Verstandes beruhten. Und doch konnte ich nicht verhindern, wie meine Lippen das vermeintliche Wort formten, das in meinem Kopf herumgeisterte:

„Vampir…“, hörte ich mich in die Stille hineinflüstern.

Beklommen schüttelte ich den Kopf. Das ist doch alles surreal, Miri!

Obwohl ich wusste, dass die Gedanken, die mir im Wald gekommen waren, absolut abstrus waren, schloss ich in dieser Nacht vorsichtshalber das Schlafzimmerfenster bevor ich zu Bett ging. Morgen würden mich wieder die herrlich normalen Probleme meines Arbeitsalltages erwarten und ich musste zugeben, dass ich mich wahnsinnig darauf freute. Wie weit Anna wohl bei unserem süßen Kollegen John gekommen war? Es lief zwischen den beiden schon seit Monaten das alt bekannte Spiel ab:

Anna stand total auf John, suchte nach Vorwänden, um an seinem Schreibtisch vorbeizugehen. Sie trug plötzlich aufreizende Kleider und zupfte jedes Mal nervös daran herum, bevor sie an ihm vorbeistolzierte. Doch er, so höflich und nett er auch zu ihr war, erwiderte ihre Schwärmerei einfach nicht. Stattdessen war es für jeden anderen offensichtlich, dass er unserer Sekretärin hinterherschaute, während diese im Minirock und High Heels durchs Büro stöckelte und beim Lachen ihr langes Haar hinter die Schultern warf.

Neulich gingen wir alle nach der Arbeit zusammen aus. Ich beobachtete John, wie er der Sekretärin am laufenden Band Drinks spendierte und sich beim Tanzen von hinten an sie heranpirschte. Sie ließ sich darauf ein und tanzte eng umschlungen mit ihm. Doch nach zwei Liedern ließ sie ihn einfach auf der Tanzfläche stehen, um sich von unserem Abteilungsleiter sämtliche Cocktails an der Bar ausgeben zu lassen. Anna bekam das Szenario mit, tat jedoch so, als hätte sie es übersehen. Es machte ihr auch nichts aus, dass John direkt nach der Abfuhr der Sekretärin bei Anna ankam und sie zum Tanzen aufforderte. Stattdessen strahlte sie wie ein verliebter Teenager und verbrachte den Rest des Abends an seiner Seite, um seine volle Aufmerksamkeit zu ergattern. Arme Anna, nach dieser Nacht kotzte sie sich einmal mehr bei mir aus, warum John sich niemals von alleine bei ihr meldete und nur sporadisch auf ihre Nachrichten antwortete. Ja, auf genau diese Probleme freute ich mich schon wahnsinnig nach den letzten Tagen.

Wieder einmal schreckte ich in der Nacht auf. Ich wusste nicht, was mich dieses Mal aus dem Schlaf gerissen hatte, doch ich spürte erneut diese Gänsehaut, wie bereits die Nächte zuvor. Ich richtete mich auf und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Als das kleine Licht den Raum etwas erhellte, sah ich ihn an derselben Wand neben dem Fernseher stehen, wie bereits in der Nacht zuvor.

Stocksteif blickte ich ihn an. War er wieder hier, um mich anzugreifen? Mich blutleer zu saugen, bis auch der letzte Tropfen meinen Körper verlassen hatte? Und das ab jetzt Nacht für Nacht? Mein Körper bebte vor Angst bei der Erinnerung daran, was für furchtbare Schmerzen ich bei seinem Überfall erlitten hatte. Doch hatte dieses Monster mich gestern noch in Lauerstellung wie Beute anvisiert, lehnte er nun lässig an der Wand, seine Hände in die Vordertaschen seiner grauen Jeans gesteckt. Man konnte in dem helleren Licht der Nachttischlampe die Silhouette eines normalen Menschen erkennen. Die dunkelbraunen kurzen Haare waren perfekt gestylt und der anthrazitfarbene, makellos sitzende Pullover schmeichelte seinem definierten Oberkörper. Seine Augen blitzten jedoch unverändert kalt und finster auf, die die andere Seite, das Raubtier in ihm, erahnen ließen. Dieser Abscheu versprühende, herablassende Blick, der mich abermals schaudern ließ, und doch eine so große Faszination in mir auslöste, dass es mir unmöglich war, meinen Blick von ihm abzuwenden.

„Du törichtes Ding willst einfach nicht sterben, nicht wahr?!“

Seine tiefe Stimme war unglaublich eindringlich und respekteinflößend, während die Worte noch tief in mir nachhallten. Nicht sterben? Ich will einfach nicht sterben? Was genau meinte er damit? Wie paralysiert blickte ich ihn an, unfähig, mich auch nur einen Millimeter zu rühren. Mein Verstand war nicht in der Lage diesen Satz, der unmissverständlich zu verstehen gab, in was für einer lebensbedrohlichen und ausweglosen Lage ich mich gerade befand, zu verarbeiten.

Ein starker Windzug, der durchs Fenster in mein Gesicht stieß, ermöglichte mir schließlich, mich aus meiner Starre zu befreien. Ich schaffte es, meinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde von ihm abzuwenden und auf das Schlafzimmerfenster zu richten, dass nun sperrangelweit offenstand.

Momentmal, offenstand? Aber ich war mir hundert Prozentig sicher, dass ich es gestern…