Zeelandgeheimnis - Martin Roos - E-Book
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Martin Roos

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Verschwörung in Zeeland In Vlissingen sorgt ein Doppelmord für Schlagzeilen. Ein Verdächtiger ist schnell ausgemacht: der ehemalige Kapitän Jakob Bokma. Um sich zu entlasten, begibt er sich quer durch Zeeland auf Spurensuche – bis er auf einen zweifachen Mord aus den 1930er Jahren stößt, der frappierende Ähnlichkeit mit den aktuellen Vorkommnissen aufweist. Als er schließlich selbst in den Fokus der Täter gerät und seine Familie bedroht wird, muss Bokma bis zum Äußersten gehen und sich den Geistern seiner eigenen Vergangenheit stellen.

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Martin Roos (*1967) wurde am Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik in Tübingen promoviert und arbeitete acht Jahre als Wirtschaftsredakteur für die Verlagsgruppe Handelsblatt. Heute ist er Autor, Journalist und Redenschreiber. Er hat an der Universiteit van Amsterdam (UvA) studiert und später als Stipendiat des deutsch-niederländischen Journalistenaustauschs (IJP) in Amsterdam für die niederländische Tageszeitung »Het Parool« geschrieben. In Zeeland verbringt er seit seiner Geburt regelmäßig seine Ferien.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: photocase.de/Reilika Landen

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-060-0

Originalausgabe

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Wir sind niemals zufrieden mit dem, was wir haben, sondern verlangen jederzeit etwas, das wir nicht besitzen.

Jacob de Bucquoy (*1693), Kartograf und Landvermesser

1

Da sein Hund Brioche normalerweise jede Art von Wasser mied, wunderte sich Jakob Bokma, als sich die kleine Französische Bulldogge unvermittelt in die Wogen stürzte. Die zeeländische See war an diesem kalten Frühjahrsmorgen stark aufgewühlt. Der Wind riss die Schaumkronen von den Wellenkämmen und fegte den Sand so mächtig über den Strand von Zoutelande, dass sich Bokma schützend die Hand vor Augen hielt.

»Brioche«, rief er. Die kraftvolle Gischt nahm ihm die Sicht. Der Hund war kein guter Schwimmer. Mit seinen kurzen Beinchen und dem viel zu schweren Kopf grenzte es für Bokma an ein physikalisches Wunder, dass er nicht sofort absoff. Einen Hund hatte er nie haben wollen. Doch Brioche war ein Erbstück seiner Tante. Und wenn seine Frau Tess auf Konzertreise war, musste er sich um ihn kümmern – auch in seinen Ferien in Zeeland, die er eigentlich lieber allein verbrachte. Hätte er geahnt, dass der Hund gerade auf eine Spur gestoßen war, die sein Leben und das seiner Familie noch in große Gefahr bringen würde, hätte er Brioche niemals als Erbe akzeptiert.

Jakob Bokma kniff die hellblauen Augen zusammen und blickte in die krachende Brandung. Irgendwann würde der Hund schon wieder auftauchen. Doch er war nirgends zu sehen.

»Brioche«, rief er wieder. Der Sturm aus Südwest schluckte jeden Ton. Endlich sah er ihn. Brioche schob etwas vor sich her. Treibgut, dachte Bokma. Oder gar eine Robbe? In jedem Fall musste es eine besondere Beute sein, denn anders konnte er sich den Eifer des Hundes nicht erklären. Kalt wirbelten die Böen über den Strand. Bokma schlug den Kragen seines dunkelblauen Colanis hoch und schob sich die wollene Dockermütze tiefer ins Gesicht, sodass am Hinterkopf das dunkle Haar struppig hervorlugte. Der Grauschleier war nach gut fünfzig Lebensjahren unübersehbar.

Brioche schien keinen Zentimeter voranzukommen. »Godverdorie«, fluchte Bokma leise und stakte dem Hund in seinen Gummistiefeln durch die kalte Strömung entgegen. Die See brach auch am oberen Teil des Strandes noch mit so viel Wucht, dass er sich mit aller Kraft gegen sie stemmen musste und klitschnass wurde. Es war etwas Blaues, das Brioche vor sich herschob. Die Stürme warfen immer wieder Ungewöhnliches an Land. Bokma hatte es oft beobachtet. Dieses Mal war es eine blaue Kunststofftonne. Und Brioche fühlte sich ganz offensichtlich als ihr neuer Besitzer.

Bokma zog beide aus dem Wasser. Die Tonne war schwer. Brioche knurrte und wollte nicht ablassen. Doch Bokma drückte ihn wortlos zur Seite. Dann setzte er das Fass aufrecht in den Sand und versuchte, den Spannring zu lösen. Er klemmte. Bokma zog noch einmal, zweimal, dreimal. Schließlich zerrte er so fest, dass der Deckel mit einem lauten Ploppen abrupt aufsprang und Bokma nach hinten in den Sand fiel. Die Tonne kippte mit ihm um. Hunderte von kleinen Fischen rutschten aus dem Fass. Heringe, das Silber des Meeres. Brioche warf sich sofort in den Fischhaufen und aalte sich lustvoll.

Bokma stand auf, schlug sich den Sand von den Hosen und stieß den Hund beiseite. Dann stutzte er. Zwischen den Heringen glänzten kleine kompakte Päckchen, dick verschweißt in helle Folie. Bokma griff nach einem, drückte es mehrmals zwischen Daumen und Zeigefinger und roch schließlich daran. Fisch. Brioche schaute eifrig jeder seiner Bewegungen hinterher, dass die Sabberfäden an seinem Maul immer länger wurden. Bokma überlegte nur kurz. Dann riss er eines der Päckchen auf. Weißes Pulver brach heraus. Er tippte mit dem Finger hinein und probierte. Es schmeckte bitter. Er kannte den Geschmack aus der Zeit, als er noch zur See fuhr.

Bokma hatte früher als Erster Offizier auf den Fährschiffen der Olau Line gearbeitet, die einst zwischen Vlissingen und dem englischen Sheerness verkehrten. Dann wurde er Kapitän und steuerte Containerschiffe durch die Nordsee. Danach verheuerte er sich zwar auf weitere Frachtschiffe, die das Mittelmeer, den Indischen Ozean und den Pazifik kreuzten oder die Amerikaroute nahmen. Doch die Westerschelde blieb immer seine seefahrerische Heimat. Und schon damals war sie bei Kokainschmugglern beliebt.

Bokma wog die Päckchen in seinen Händen, um das Gewicht zu prüfen. Sie waren etwa ein Pfund schwer, jedes im Wert von einigen hunderttausend Euro, schätzte er. Nach Marktpreis vielleicht sogar zwei oder drei Millionen.

Er blickte nachdenklich in die raue See. Krachend und klatschend entluden sich die schäumenden Wellen vor ihm. Der Wind riss den Schaum der Kronen gleich wieder in die Höhe, pustete ihn auseinander und verteilte ihn wie kleine Wölkchen am Strand, bis diese im Nichts zerstoben. Weit hinten konnte Bokma die spärlichen Umrisse eines grauen Frachters ausmachen, der die Westerschelde hinaus ins offene Meer verließ, ein Pünktchen bloß, das gleich im konturlosen Übergang von wütendem Wasser und zornigem Himmel verschluckt würde. Für einen Moment riss das dunkle Wolkenband auf, und Sonnenlicht schoss hindurch.

Bokma drehte sich um. Im Strandpavillon De Zeeuwse Rivièra kurz vor den Dünen, die hier so steil wie nirgendwo anders auf der Halbinsel zum Strand hinabfielen, brannte nur spärlich Licht. Der Pavillon mit seinem Restaurant stand auf meterhohen Holzpfählen, um vor der Flut geschützt zu sein. Niemand war auf der großen hölzernen Außenterrasse zu sehen, keiner, der sich den Kopf vom Sturm durchpusten lassen wollte. Am Fahnenmast auf der Terrasse knatterte die rote Warnflagge im Wind.

Bokma überlegte. Entweder hatte eine Welle die Tonne von Bord eines Bootes gerissen, oder jemand hatte sie absichtlich ins Meer geworfen, um zu verhindern, dass der Zoll sie fand. Doch seit wann schmuggelten die Händler ihre Drogen in Fischtonnen, fragte er sich. In den vergangenen Jahren versteckten sie ihre Ware meist in Kisten mit Früchten aus Südamerika. Das war allgemein bekannt. Bokma packte die Fische und Päckchen wieder in die Tonne.

Da fiel ihm ein merkwürdig geformter Hering auf. Er steckte etwas tiefer im Fass und wirkte breiter und länger als die anderen, obwohl er offensichtlich keinen Kopf mehr hatte. An dem Stumpf mit seinen länglichen, dünnen Ausbuchtungen klebte Blut. Bokma griff danach. Kaum hatte er ihn angehoben, ließ er ihn entsetzt wieder ins Fass fallen. Es war kein Fisch. Es war eine abgeschlagene Hand. Bokma erstarrte für einen Moment. Dann nahm er den Deckel, schloss die Tonne und schleppte sie zum Aufgang der langen Holztreppe. Sie führte über die Dünen zu seinem Haus. Er würde die Tonne mitnehmen und die Polizei verständigen. Dass er bereits beobachtet wurde, ahnte er nicht.

2

Am selben Tag, es war der 4. März, betrat Kommissar René-Anton Polderman, eine hünenhafte Gestalt, gegen neun Uhr das Café Tramhalte am Nieuwendijk in Vlissingen. Das Café war von der Polizei weiträumig abgesperrt worden. Schaulustige standen um das weiß-rote Flatterband, zwei Fotografen vom Provinciale Zeeuwse Courant, kurz PZC, suchten Motive, ein Journalist befragte die Anwohner, ein Team des regionalen Fernsehens machte einige Aufnahmen. Drinnen im Café schauten die zwei Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen den Kommissar irritiert an. In seiner rechten Hand hielt er eine angezündete Sumatra-Zigarre, während die linke lässig in der Seitentasche seines zweireihigen Wintermantels steckte. Der üppige Kunstpelzkragen umrahmte sein gerötetes Gesicht mit dem ergrauten kurzen Spitzbart und dem gezwirbelten Moustache wie eine barocke Halskrause. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Fedora mit Hutband, breiter ovaler Krempe und den exakt gleichen Einbuchtungen an beiden Seiten der Hutkrone.

»Und? Sind Sie fertig?«, fragte er die Männer mit einem Grinsen.

»Nach was sieht es denn aus?«

Sie schüttelten genervt den Kopf und packten ihre Sachen weiter zusammen.

Kommissar Polderman schaute sich um, bis er seine Assistentin, Polizeiagentin Willa Carice Minderhout, entdeckte.

Sie hatte auf ihn gewartet und blickte ihn ausdruckslos an. Das dunkle, dicke Haar trug sie zu einem Zopf nach hinten gebunden. Sie war mehr als einen Kopf kleiner als der Kommissar und schmächtiger. Doch sie wirkte durchtrainiert. Ihre Gesichtszüge waren ernst, die Wangenknochen ausgeprägt, die Lippen voll, die Nase prägnant. Ihre Haut hatte einen dunklen Teint, ein Erbe, auf das sie stolz war. Ihre Mutter stammte aus Curaçao, der größten Insel der niederländischen Antillen, und hatte vor über fünfunddreißig Jahren ihren zeeländischen Vater geheiratet.

Polderman nickte ihr wortlos zu und ging mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zu den beiden Toten weiter hinten im Raum. Sie lagen blutüberströmt auf dem Boden. Es waren Bram und Fenna de Geer, die Pächter des Café Tramhalte. Polderman kannte sie. Er war in seiner dreißigjährigen Karriere als Ermittler in Zeeland schon vielen begegnet. Vor allem kannte er die Wirte der Kneipen und Nachtclubs. Er liebte es, auszugehen, sich in Gesellschaft zu zeigen und zu amüsieren. Das Café Tramhalte war zwar nicht sein stamkroeg, sein Stammlokal, aber gelegentlich zeigte er sich auch hier.

Der Kommissar dehnte den Hals nach links und rechts, das tat er immer, wenn er nicht recht wusste, was er als Nächstes tun sollte, bis sein Nacken knackte. Dann steckte er sich die erloschene Zigarre wieder an. Mehrere Stühle waren umgefallen, zwei Tische verschoben, die Scherben zerbrochener Biergläser lagen verstreut auf den Holzbohlen des Bodens. Die Schranktüren hinter dem Tresen standen offen, Schubladen hingen heraus, die Metalllade für das Wechselgeld der Kasse war aufgebrochen. Polderman beugte sich über Bram, einen etwa fünfundvierzig Jahre alten Mann. Er lag flach auf dem Rücken, die Beine gestreckt, die offenen Augen starrten an die Decke. Das Gesicht hatte einige blutige Schrammen, vielleicht von einem Fausthieb, vielleicht von einem Bierglas. Am Hals klaffte eine gewaltige Fleischwunde, das Hemd war vom Kragen bis zur Brust dunkelrot eingefärbt, das Blut in den Boden eingesickert. Links und rechts vom Bauch waren in der Blutlache zwei Abdrücke zu erkennen. Wie beim Kartoffelstempeln, dachte Polderman, nur halt größer. Es waren wahrscheinlich die Abdrücke von Knien. Der Täter muss auf ihm gesessen haben. Der Kommissar nahm einen kräftigen Zug aus seiner Zigarre.

Dann ging er zu der Toten, Fenna de Geer. Sie lag vor der Treppe, die in die erste Etage hinauf zu den Privaträumen führte. War sie von oben gekommen, oder wollte sie nach oben gehen? Polderman rieb sich das Kinn. Ihr Körper wirkte verdreht, die Beine waren angewinkelt. Sie war jünger als Bram und hübsch. Ihre blonden, langen Haare lagen ausgebreitet um ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Ihre Augen waren geschlossen, der volle Mund leicht geöffnet. Sie trug eine schwarze Leggins, aber keine Schuhe und Strümpfe. Ihr schwarzes Langarmshirt war an der Brust zerrissen, verklebt mit Blut. Es mussten etliche Messerstiche gewesen sein. Auch am Hals. Manche Schnittwunden waren flach. Entweder sollten sie dem Opfer nur Schmerzen zufügen und nicht sofort den Tod. Oder der Täter hatte sich zunächst nicht getraut, richtig zuzustechen. Polderman nahm wieder einen Zug aus seiner Zigarre. Er machte eine kurze Denkpause.

Plötzlich drehte er sich um und brüllte: »Minderhout!« Er rief so laut und krächzend nach seiner Assistentin, dass sich seine Stimme überschlug und er husten musste.

Minderhout nahm sofort Haltung an. »Ja, Commissaris?«

»Godverdomme«, fluchte Polderman und hustete noch einmal, »stehen Sie nicht rum.«

Minderhout ging zur Bar und brachte ihm ein Glas Mineralwasser.

Polderman kippte es in einem Zug herunter. Ohne sie anzuschauen, reichte er ihr das leere Glas und sagte mit gewichtiger Miene: »Hören Sie gut zu, Minderhout, die meisten Verbrechen sind banal.« Er hielt für drei, vier Sekunden dramatisch inne. »Dieses hier ist es nicht.« Dann lächelte er ahnungsvoll.

Minderhout sah ihn nur stumm an.

Polderman zog an seiner Zigarre, während sein Blick an die Decke wanderte. In der Ecke fehlte die Überwachungskamera. Nur ein Verbindungskabel hing noch an der Aufhängevorrichtung.

»Nun«, setzte er wieder an und zwirbelte an seinem Moustache, »dann sagen Sie mir doch mal, was hier passiert ist.« Er drehte seine Zigarre geschickt zwischen den Fingern und betrachtete sie lauernd.

Minderhout sammelte sich kurz. »Die Rechtsmediziner haben bereits alles aufgenommen.« Sie sprach zögerlich, als ob sie sich genau überlegte, was sie sagen wollte. »Sie haben mehrere Messerstiche im Brustbereich der Frau gezählt, etwa neun, ein zehnter traf die Halsschlagader. Der Mann hingegen ist mit einem einzigen Stich ins Herz getötet worden.«

»Das weiß ich selbst«, polterte Polderman barsch. »Ich will wissen, was hier passiert ist. Sagen Sie bloß, Sie haben noch nicht darüber nachgedacht?« Er schaute die Polizeiagentin theatralisch an.

Minderhout blieb ruhig.

»Ist Ihnen zum Beispiel noch nicht aufgefallen, dass die Frau hier in einer Art Nachtgewand liegt und ihr Mann noch angezogen ist? Zwei Tote, ein Doppelmord, ein Café, mehrere Messerstiche. Klingelt es da nicht bei Ihnen?«

»Doch, Commissaris«, wandte Minderhout stoisch ein, »das ist mir aufgefallen.« Sie räusperte sich. »Und ja, Commissaris, ich weiß, welchen Fall Sie meinen. Den Raub mit zweifacher Todesfolge in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1937 im Café Keersluis. Auch hier in Vlissingen.«

Der Keersluis-Mord galt als der mysteriöseste Fall Zeelands im 20. Jahrhundert. Der Wirt Jan Lauwereins und seine Ehefrau Maria van der Staal wurden am Morgen des 4. März in ihrer Kneipe in der Nähe des Hafens erstochen aufgefunden. Die Ermittlungen zogen sich, der Zweite Weltkrieg brach an. Der Fall konnte nie gelöst werden.

»Aha!«, rief der Kommissar schulmeisterlich. »Und es kommt Ihnen hier nichts merkwürdig vor? Sehen Sie nicht vielleicht einen Zusammenhang zwischen den Fällen?«

Minderhout hielt inne in der Erwartung, dass ihr cholerischer Vorgesetzter gleich richtig aus der Haut fahren würde. Doch es passierte nichts. Endlich sagte sie: »Nein, Commissaris, keinen.«

Polderman schaute sie entgeistert an. Pikiert drehte er sich schließlich um und ging einige Schritte durch das Café. Dann sagte er ungehalten: »Sie kennen den Fall nicht gut genug, sonst wäre Ihnen aufgefallen, dass alles ähnlich ist.« Abermals ging er einige Schritte wuchtig auf und ab, dass der Holzboden bei jedem seiner Schritte knarrte.

Minderhout stand ungerührt da.

»Wer hat die Leichen als Erster entdeckt?«, raunzte Polderman in den Raum und zog an seiner Zigarre.

»Der Zeitungsbote«, antwortete Minderhout, »ein gewisser Adriaan Lijnse. Die Eingangstür des Cafés stand offen. Das kam ihm verdächtig vor, und so ging er hinein und fand die beiden Toten. Wir haben seine Zeugenaussage festgehalten.«

»Was ist gestohlen worden?«

»Das wissen wir noch nicht. Aber die junge Bedienung des Cafés hat uns eine Liste der Gäste zusammengestellt, die gestern noch hier waren, als sie das Café bei ihrem Dienstende verlassen hat. Es waren wohl alles Stammgäste.« Sie reichte ihm ein Stück Papier, auf das einige Namen gekritzelt waren.

Polderman nahm es und las. Es waren nur wenige Personen vermerkt. Er schaute konzentriert. Doch auf einmal hellte sich sein Blick auf. Einen Namen kannte er gut, sehr gut sogar. Er griente vor sich hin und sagte: »Minderhout, Sie gehen jetzt auf der Stelle zu diesem Herrn hier.« Er tippte mit dem Finger auf die Liste: »Jakob Bokma!«

Er hob die Augenbrauen und schürzte vergnügt die Lippen. »Gucken Sie nicht so, machen Sie schon.« Dann nahm er einen tiefen Zug aus seiner Zigarre und ließ den Rauch genüsslich hoch unter die Decke des Cafés steigen.

3

Bokmas Ferienhaus stand so hoch in den Dünen, dass es von der Landseite der Halbinsel Walcheren schon von Weitem zu sehen war. Es war ein kleines Backsteinhaus mit weißer Fassade. Es besaß eine Veranda aus Holz und ein spitzes Dach mit roten Ziegeln. Drum herum wucherten das Dünengras und der Strandroggen mit seinen graublauen Halmen. Einen angelegten Garten gab es nicht, auch keinen Zaun. Bokma mochte die geschleckten Gärten seiner Nachbarn unten im Dorf nicht, diese Miniparkanlagen mit ihren weißen, knirschenden Kieswegen, den penibel angelegten Beeten und knallgrünen Rasenflächen. Nutzloses Gras war das, dachte er, Gras, das man noch nicht mal rauchen konnte. Wiesen so tot wie Garageneinfahrten.

Vorne zum Weg neben dem weißen Flaggenmast hatte er zwei Pfosten in den Boden geschlagen und dazwischen ein kleines Holztörchen montiert, das nur dafür da war, dem dunkelgrünen Briefkasten eine Befestigung zu bieten. Das Meer war von hier aus nicht zu sehen, denn die dahinterliegenden Dünen türmten sich noch höher auf als die Düne, auf der sein Haus stand. Insgesamt waren es die höchsten in Zeeland. Bokma konnte aber von hier aus das Meer hören. Er liebte dies alles, das Spiel des Windes, die Abgeschiedenheit seiner Düne, das Rauschen der See.

Vor wenigen Minuten war er vom Strandgang mit Brioche zurückgekommen. Die Tonne war so schwer gewesen, dass er sie die Hälfte des rutschigen Fußweges über die Anhöhe rollen musste. Er hatte überlegt, sie gleich in sein Auto, einen alten beigefarbenen Renault, eine Fourgonnette von 1983, zu verfrachten. Wegen seiner großen Heckklappe war es leicht, schweres Gepäck in den Kastenwagen zu laden. Doch der Renault stand den Weg hinunter am Duinweg. Und Bokma hatte sich zu durchgefroren gefühlt, um weiterzugehen. Bei jedem Schritt spürte er, wie seine Füße in den nassen Gummistiefeln unangenehm rutschten und knirschten. So hatte er die Tonne zunächst einmal über die Veranda am Eingang des Hauses in die Küche gehievt. Erst da fiel ihm auf, dass er seit zwei Tagen nicht mehr abgewaschen hatte. Das Geschirr stapelte sich in dem altmodischen Spülstein. Er ließ die Sachen stehen und schob die Tonne hinter die Tiefkühltruhe.

Gerade als er sein Gesicht vom Salzwasser und die Hände vom Fischgeruch befreit hatte, klingelte es an der Tür. Er schlurfte zum Hauseingang und öffnete die Pforte nur einen Spaltbreit. Sofort schoss der Wind heulend herein. Als er die Haustür weiter aufmachte, sah er eine Frau in blauer Polizeiuniform, etwa einen Kopf kleiner als er. Den Schirm ihrer Kappe hatte sie weit ins Gesicht gezogen. Der dunkle Teint ihrer Haut glänzte vom Regen. An ihrem Hinterkopf ragte ein dunkler Zopf hervor. Die blaue Jacke, über die in Brusthöhe ein gelb leuchtender Streifen verlief, wirkte genauso durchnässt wie die blaue Hose. Auch ihre Stiefel tropften. Bokma fiel sofort die Leiterschnürung an den Schuhen auf. Er kannte diese Schnürung vom Militär.

»Hoi«, sagte er schließlich, »wie kann ich Ihnen helfen?«

Minderhout stellte sich kurz vor, fragte anschließend nach Bokmas Namen und bat angesichts des schlechten Wetters, doch endlich eintreten zu dürfen. Brioche schnüffelte neugierig an ihren Stiefeln. Bokma zog den Hund zurück und ließ die Polizistin herein. Es gefiel ihm nicht, wie sie ihn und seine Sachen observierte, seine nassen Schuhe, die in der Diele standen, seine seewasserdurchtränkte Hose, an der sich bereits einige Salzlinien abzeichneten, den Schweiß, der sich an den Ärmeln seines Hemdes fleckig ausgebreitet hatte, seine Haare, die nass und fransig an seiner Stirn klebten.

Mit einem unmerklichen Lächeln sagte sie schließlich: »’t Is stille waer as ’t nie waoit.«

Bokma verstand nicht viel Zeeländisch. Wo es nicht weht, da ist es still, musste es wohl bedeutet haben. Er war im Norden der Niederlande groß geworden und hatte mit dem südlichen, weichen Dialekt der Zeeländer seine Mühe.

»Ja, ja«, erwiderte er knapp, »das Wetter.«

»Keine Sorge«, antwortete sie prompt, »ich kann gar kein richtiges Zeeländisch. Da ist mein Papiamentu schon noch besser.« Sie grinste, dass ihre weißen Zähne blitzten. Papiamentu war eine Mischung aus Portugiesisch, Spanisch und Niederländisch und die Sprache der Einheimischen auf Curaçao.

Bokma schaute sie überrascht an, lächelte etwas verkrampft und bat sie in die Wohnkammer. Sie war geräumig und hell. Ein breites beigefarbenes Sofa mit großzügigen Polstern und einigen braun-weiß gefleckten Kuhfellkissen stand neben zwei seegrünen Loungesesseln. Dahinter ein Schränkchen. Einen Fernseher gab es nicht. Geräusche durchzogen das Haus, ein Knacken in den Heizungsrohren, ein Rumpeln vom Kühlschrank, ein Rauschen im Kessel. Im offenen Kamin lagen noch ein paar verkohlte Holzscheite vom Vortag. Daneben links an der Wand hingen einige Barometer, Polymeter, Thermohygroskope und Kompasse in Holzgehäusen in scheinbar zufälliger Anordnung. Rechts ergänzten verschiedene Schiffschronometer, manche aus Messing, andere verchromt, manche mit Bullaugenuhrengehäuse und einige im flachen Holzrahmen, Bokmas nautische Sammlung. Direkt gegenüber hing an der glatt verputzten weißen Wand nur ein einziges, sehr großes Gemälde. Es zeigte die Seeschlacht von Michiel de Ruyter, dem zeeländischen Admiral und Nationalhelden, gegen die Flotte des Grafen Jean d’Estrées. De Ruyter, ein geborener Vlissinger, bezwang 1673 die französischen und englischen Schiffe vor der Insel Texel. Seine Kämpfe waren als die Seeschlacht von Kijkduin in die Geschichte eingegangen.

Minderhout schritt an dem Gemälde vorbei, als ob sie dem Admiral noch einmal ein Defilee bieten wollte, ging auf das große und breite Erkerfenster zu, das den Raum zur anderen Seite abrundete, und starrte hinaus. Draußen zerrten immer noch heftige Böen an den Bäumen. An klaren Tagen konnte man von hier aus bis weit ins Land zum Langen Jan, dem alten Abteiturm von Middelburg, blicken. Jetzt liefen am Himmel dunkle Wolken um die Wette, der Regen prasselte ans Fenster, und der Wind zog und drückte zugleich an den Scheiben. Der Sturm hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Minderhout drehte sich zur Seite. Im Erker stand ein wuchtiger Sekretär aus hellem Mahagoni mit vier Schubladen in jedem Sockel. Davor ein Dreiecksstuhl. Die Schreibtischplatte war mit blauem Filz bezogen. Auf ihr lagen einige ausgerollte Seekarten, eine Marinelupe mit langem Griff, zwei Zirkel, ein Lineal und verschiedene Bleistifte. Neben der Lampe stand zudem ein Metronom, ein Wittner Taktell, rubinrot, geöffnet. Minderhout nahm die Lupe in die Hand und prüfte sie, indem sie sie über die Karten hielt und durch sie hindurchschaute. Dann fragte sie: »Sind Sie Navigator?«

»War ich mal«, erklärte Bokma immer noch kurz angebunden. Als Minderhout ihn fragend anschaute, ergänzte er schließlich: »Heute bin ich Kartograf.«

Links vom Schreibtisch befand sich ein schmaler und nicht allzu hoher Bücherschrank. Er war mit Nachschlagewerken über Steuermannskunst und Seefahrt in verschiedenen Sprachen, mit Naturkundebüchern, Atlanten und Sondereditionen über die Kartierung von Inseln und künstlichen Archipelen gefüllt. Besonders die Folianten über die niederländische und belgische Kunst der Kartografie stachen mit ihren breiten und hohen Buchrücken heraus, darunter Neudrucke alter Werke von Abraham Ortelius, Gerhard Mercator, Jodocus Hondius oder Jacob de Bucquoy.

»Das hier«, er holte ein dickes gebundenes Exemplar hervor, »ist ein Buch von mir.« Er hielt es Minderhout hin.

Sie nahm es entgegen. Es trug den Titel »Die Macht der Karten«. Schweigend blätterte sie in den farbigen Seiten. Es waren vor allem Seekarten von Joan Blaeu zu sehen, dem Kartografen der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Die Karten zeigten Zeeland als eine noch nicht miteinander verbundene Gruppe von Inseln. Schließlich hob sie den Kopf und schaute Bokma mit gewisser Wertschätzung an.

»Mooi«, sagte sie, was so viel wie »schön« bedeutete.

»Danke«, erwiderte Bokma, »aber fürs Komplimentemachen sind Sie wohl kaum gekommen. Was wollen Sie?«

Minderhout räusperte sich. »Kommissar Polderman schickt mich.«

»Polderman?« Bokmas Gesicht zog sich mürrisch zusammen.

Der Kommissar war für ihn kein Unbekannter. Gleich bei seinen ersten Einsätzen für die Fahrten der Olau Line vor dreißig Jahren war er ihm begegnet. Bokma fuhr als junger Offizier auf den Fährschiffen Olau Hollandia und Olau Britannia die Vlissingen-Sheerness-Route. Polderman arbeitete damals noch für die Zollabfertigung und führte sich ziemlich wichtig auf. Bokma konnte ihn deswegen nicht leiden, und sie hatten viel Streit. Zudem hatte er Polderman stets im Verdacht, mit Schmugglern zusammenzuarbeiten, statt sie zu bekämpfen.

»Was will er von mir?«

Minderhout zögerte. Sie schien wieder nach der richtigen Formulierung zu suchen. »Wir haben das Ehepaar de Geer heute Morgen tot in ihrem Café aufgefunden.«

Bokma starrte sie an. »Wer ist tot?«

»Bram und Fenna de Geer.«

Er setzte sich. Immer wenn er in Zeeland war, besuchte er das Café Tramhalte. Bram war kein Freund von ihm, aber er kannte ihn so gut, dass er in ordentlichem Ausmaß mit ihm trinken konnte. Bram galt als schwieriger Typ, er war ein Draufgänger, ein ehemaliger Soldat, der in Afghanistan gekämpft hatte, ein Raubein und eben gelegentlicher Säufer, der schnell zuschlagen konnte. Doch Bokma mochte ihn, weil er mit ihm seine Leidenschaft für alte Seekarten teilen konnte. In früheren Zeiten wäre Bram wahrscheinlich Schatzsucher oder auch Pirat geworden.

»Wie? Tot?«, fragte er schließlich.

»Sehr tot«, erklärte Minderhout trocken. »Wie es aussieht, sind sie ermordet worden.«

Bokma machte ein nun doch sehr bestürztes Gesicht. Er stand auf, holte aus dem kleinen Schränkchen, das hinter dem grünen Sessel stand, eine Flasche Jenever, öffnete den Korkverschluss mit einem Ploppen, setzte die Flasche an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. »Godverdomme.« Er hielt Minderhout die Flasche hin.

Die Agentin lehnte dankend ab. »Wo waren Sie gestern Abend?«

Bokma schaute sie misstrauisch an. »Das wissen Sie doch schon längst, sonst wären Sie nicht hier.«

»Gut«, erklärte Minderhout, »Sie waren gestern Abend im Café Tramhalte. Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

Bokma starrte nach draußen. Dann sagte er: »Nein, überhaupt nichts. Es war ruhig. Wir haben nett geplaudert. Ich bin dann gegen dreiundzwanzig Uhr gegangen.«

»Wer war noch im Café?«

»Ich glaube, niemand. Ich war der letzte Gast.«

»Und es stand auch niemand vor der Tür, als Sie das Café verließen?«

»Nein. Ich habe nichts Auffälliges bemerkt«, antwortete Bokma. Er nahm noch einen Schluck aus der Pulle. »Was genau ist passiert?«

»Das wissen wir noch nicht. Die beiden lagen auf dem Boden des Cafés. Erstochen.«

»Und jetzt verdächtigen Sie mich?«

»Wir verdächtigen erst mal jeden.« Minderhout räusperte sich erneut. »Ich muss Sie bitten, auf das Kommissariat mitzukommen.«

»Heute kann ich nicht«, log Bokma. Er dachte an die Tonne voll Kokain in seiner Küche. Sie jetzt der Polizei zu übergeben würde ihn wohl in eine heikle Lage bringen.

Minderhout hielt einen Moment inne. Sie spitzte den Mund und kniff die Augen zusammen. »Okay«, sagte sie schließlich, »dann kommen Sie morgen um zwölf Uhr. Die Adresse wissen Sie? Middelburg, Achter de Houttuinen.«

Bokma knurrte etwas, das wie ein Ja klang.

»Gut, seien Sie pünktlich.« Minderhout verabschiedete sich und verließ das Haus.

4

Luuk Dubois stoppte vor dem Tor des Hafengebiets von Vlissingen-Oost. Drei Männer in Latzhosen und gelben Warnschutzwesten stiegen aus dem dunklen Mercedes-Transporter. Es waren Hafenmitarbeiter. Einer trug einen schwarzen Rucksack, die anderen beiden hatten jeder eine große Tasche über die Schulter geworfen. Sie marschierten sofort los. Der Wind wehte die Taschen mühelos hin und her. Sie waren leer. Dubois ließ die getönte Fensterscheibe seines Fahrersitzes runter und rief ihnen mit schnarrender Stimme zu: »In zwanzig Minuten seid ihr wieder da.«

Dann steckte er sich eine Zigarette an und schaute ihnen hinterher. Sein dunkles Haar stand nach allen Seiten ab, das Gesicht mit dem kräftigen Kiefer und dem großen Mund war braun gebrannt. Seine Nase, ein richtiger Zinken, wirkte ein wenig verbogen. Und weil sie so groß war, nannten ihn diejenigen, die ihn gut kannten, nur »Die Nase«. Dubois rauchte weitere zwei, drei Minuten, dann fuhr er davon.

Die Männer liefen schnurstracks auf den vergitterten Eingang zu, hielten ihre Mitarbeiterausweise vor den Zugangsleser und schoben sich nacheinander durch das Edelstahldrehkreuz auf das Hafengelände. Einige Montagekräne hoben sich wie riesige Stahlskulpturen über die Piers. Weiter hinten Richtung Terneuzen sausten die gewaltigen weißen Rotorblätter der Windräder durch die Luft und schienen am höchsten Punkt die dichten Wolken aufzuschneiden. Vlissingen-Oost bildete zusammen mit dem auf der anderen Seite der Schelde gelegenen Terneuzen das drittgrößte Hafen- und Industriegebiet der Niederlande, nach Rotterdam und Amsterdam. Hier wurden jährlich Tausende Tonnen Waren aus aller Welt umgeschlagen, Autos, Metall, Chemie, Baustoffe, Holz, Papier, Erz und Lebensmittel, vor allem Früchte. Die Fracht der großen Containerschiffe, oft bunt wie Legobaukästen, und der tief liegenden Tanker, die wegen der regelmäßig aufkommenden Ebbe Antwerpen, das dreißig Kilometer entfernt am Ende der schmaler werdenden Westerschelde lag, nur schwer oder auch gar nicht anlaufen konnten, musste in Vlissingen gelöscht werden.

Die drei Männer eilten über das Gelände vorbei an den Gabelstaplern und gelben mobilen Kränen mit ihren schulterhohen Gummireifen, die kreuz und quer über den Asphalt fuhren. Die Männer kannten den Weg. Nach weiteren zweihundert Metern hatten sie die Lagerhallen am Bijleveldhaven erreicht, dem Fruchthafen, wo frische Lebensmittel und vor allem Bananen, Ananas und Mangos umgeschlagen wurden. Das Schiff, das sie suchten, lag hinter dem Containerterminal Kloosterboer. Es war wegen des schlechten Wetters erst heute Morgen eingelaufen. Schon in einigen Stunden würde es wieder gen Lateinamerika gehen. Die Männer schauten sich noch einmal um. Ein salziger Wind zog über die Piers. Als sie sich sicher waren, dass niemand sie beobachtete, marschierten sie auf die kleine Gangway zu und verschwanden an Bord des Bananenfrachters.

Ein paar Silbermöwen zogen kreischend ihre Bahnen und schossen unter dem dunkel bewölkten Himmel am Schiff vorbei. Draußen hinter der Mole stürmte noch stets die Westerschelde, und auch im Hafenbecken riss der Wind einige Wasserfetzen von den Wellenkämmen. Der Frachter lag gut vertäut, nur die oberarmdicken Tampen ächzten unter dem starken Sog des Windes. Nach wenigen Minuten tauchten die Männer an der Reling wieder auf. Nacheinander verließen sie über die kleine Zugangsbrücke das Schiff. Der eine hatte seine Daumen hinter die Riemen unter den Rucksack geklemmt. Er schien eine schwere Last zu buckeln. Die beiden anderen trugen ihre Taschen in der Hand. Ein starkes Gewicht zog wohl auch an ihren Armen, so krumm gingen sie. Sie eilten zurück zum Containerterminal und schließlich zum Ausgang. Als sie das Drehkreuz passierten, steuerte Dubois mit dem Transporter auf sie zu. Wortlos stiegen sie ein und fuhren los.

»Hat alles geklappt?«, fragte Dubois nach einiger Zeit.

Die Männer nickten kaum merklich und stierten weiter stumm zum Fenster hinaus.

Dubois beobachtete sie durch den Rückspiegel. »Kommt nicht auf dumme Gedanken«, zischte er auf einmal, »das Zeug gehört mir.«

Die Männer schauten ihn an und nickten wieder. Dann fragte einer: »Was ist da gestern eigentlich passiert?«

Doch Dubois antwortete nicht. Sie bogen ab, nahmen die Ausfahrtstraße aus dem Hafen, vorbei an gewaltigen graublauen Strommasten, ließen einige Kilometer später rechts eine Parade drehender Windräder und links zwei riesige Werftgebäude des Schiffbauunternehmens »Damen« liegen, umkurvten die Innenstadt von Vlissingen und fuhren schließlich weiter gen Westen Richtung Koudekerke. Die Felder waren zu dieser Jahreszeit noch karg, die alten Bunker aus der Zeit der deutschen Besatzung ragten jetzt noch grauer aus den Äckern hervor. Einige Kühe nutzten sie als Schutz gegen den Wind. Nach zwanzig Minuten passierten die Männer in ihrem Auto den backsteinernen Leuchtturm von Westkapelle mit seinem roten Turmwärterhäuschen. Hier und da rissen die Wolken auf, und ein helles Blau schob sich hindurch.

Als sie die schmucklosen Fabrikhallen am nördlichen Ende des Dorfes, in denen sie das Kokain lagerten, erreicht hatten, drehte sich Dubois zu ihnen um, fixierte sie und raunte ihnen zu: »Jeder, der mich verarscht, wird schlafen geschickt.«

5

»Captain«, dröhnte es am nächsten Morgen von draußen in Bokmas Schlafzimmer hinein. Er drehte sich in seinem Bett um und suchte die Uhr auf dem Nachttisch. Er öffnete nur ein Auge, als fürchtete er, dass beide ihm allzu deutlich die frühe Stunde an diesem Morgen bestätigen würden. Halb sieben. Er grummelte und zog die Decke über den Kopf.

»Captain!«, schallte es nun wie aus einer Kommandotröte zu ihm herauf.

Bokma stöhnte. Es gab nur einen, der ihn Captain nannte. Er streckte sich, stand ächzend auf und öffnete das Fenster. Der Sturm hatte sich gelegt. Von den Dünen schwang aber noch das kräftige Rauschen des Meeres herüber. Es war noch nicht wirklich hell, aber ein Stückchen gelblich weißer Himmel zwischen den Wolken gab ihm die Hoffnung, dass es ein viel angenehmerer Tag als gestern werden würde. In den Kiefern, die sich am Rande des Weges hinauf zu seinem Haus erhoben, gurrten heiser die Tauben. Ein paar Rotkehlchen und Singdrosseln spielten ihr Lied und flogen mühelos von Baum zu Baum. Bokma hatte Mühe, am Fenster zu stehen. Er fühlte sich einfach noch zu schwach vom zu kurzen Schlaf.

Unten stand sein Freund John Cevaal. Er war schlank, hoch aufgeschossen, trug einen gasflammenblauen Overall und auf dem großen Kopf einen platten, abgerundeten dunklen Hut, der an einen zu klein geratenen Bowler erinnerte. Seine Hände waren groß, genauso seine Schuhe, seine Nase, sein Mund und selbst seine Frisur, die unter dem Hut wild hervorquoll. Er hatte die langen Arme in die Hüften gestützt, lachte über beide Backen und schien an diesem frühen Morgen vor Gesundheit und Lebenskraft schier zu bersten.

»John«, röhrte Bokma gedehnt und halb taumelnd. Er strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuchte er seinen letzten Traum. Frische Luft schoss ihm in die Lunge. Er hustete kräftig und atmete schließlich durch. »Was machst du so früh hier?«

John war einer der letzten mobilen Milchbauern Zeelands, ein ambulante melkboer, der seinen Kunden morgens frische Milch, Butter, Joghurt, Vla oder Obst und Gemüse brachte. Und das Ganze mit einem elektro-bakfiets, einem Lastenfahrrad. Johns Großvater war Milchbauer in Biggekerke, zwei Dörfer weiter, gewesen und hatte den kleinen Milchhandel gegründet. Vor einigen Jahren war er gestorben. In der Region kannte man ihn, vor allem, weil er immer eine dunkle Hose aus schwerem Filzstoff, ein dunkelblaues Hemd, dazu eine Schiebermütze und Holzschuhe, echte niederländische Klompen, getragen hatte.

»Weißt du’s noch nicht?«, fragte John.

Bokma gähnte und blickte gleichgültig drein.

»Steht in allen Zeitungen, Captain.« Er grinste breit über das ganze Gesicht.

»Dass ich ein Mörder bin?«, fragte Bokma gelangweilt.

»Was?«, rief John und stutzte. »Eh, nee! Wieso du?«

Bokma erzählte von Minderhouts Besuch und dass ihn Polderman heute im Kommissariat in Middelburg erwarten würde.

»Ausgerechnet der Polderman, die alte Qualle«, sagte John und lachte laut auf, »dein liebster Feind! Wie lange ist das jetzt her? Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig?«

»Ich habe ihn seit damals nicht mehr gesehen.«

Als Kapitän eines Containerschiffes hatte Bokma vor der libyschen Küste hundertfünfzig Flüchtlinge aufgenommen. Tagelang musste er im Mittelmeer herumkreuzen, da ihm Malta und Italien ein Anlegen verweigert hatten. Schließlich durfte das Schiff doch festmachen, vor der italienischen Insel Salina im Tyrrhenischen Meer. Bokma wurde mehrfach von der Polizei vernommen und schließlich vor Gericht gestellt. Ihm wurde vorgeworfen, sich den behördlichen Anweisungen während der Seenotrettung widersetzt zu haben. Bokma hatte sich geweigert, die Flüchtlinge an die libysche Küstenwache zu übergeben. Die Angst der Geretteten, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu müssen, war groß. Es kam deswegen sogar zu Tumulten an Bord. Einige waren so verzweifelt, dass sie ins Meer sprangen, obwohl sie nicht schwimmen konnten. Manche ertranken. Zur Gerichtsverhandlung wurden auch Zeugen aus den Niederlanden geladen. Einer von ihnen war Polderman. Er hatte gegen ihn ausgesagt, indem er seine Redlichkeit in Frage stellte. Bokma wurde schließlich wegen Einschleusung von Ausländern angeklagt und erst fünf Jahr später freigesprochen. Das Urteil machte ihm nichts aus. Dennoch brach für ihn eine Welt zusammen. Die Unmenschlichkeit der Behörden im Umgang mit Ertrinkenden hatte er nicht ertragen können. Auch die dramatischen Erlebnisse an Bord des Containerschiffes wirkten in ihm nach. Seitdem weigerte er sich, ein Schiffsdeck zu betreten.

»Captain, das ist doch die Gelegenheit, diesem mafketel endlich die Meinung zu sagen.« Mafketel, der Blödmann, war eines von Johns Lieblingswörtern.

»Genau. Und dann erkläre ich ihm gleich noch, wie ich den armen Bram und seine Frau umgebracht habe.«

John zuckte seufzend mit den Schultern. »Captain, du musst über die Sache endlich hinwegkommen. Es wird Zeit!«

Bokma antwortete nicht. Stattdessen machte er Anstalten, das Gespräch zu beenden.

John spürte seine Gereiztheit sofort und sagte freudig: »Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass sie den Hof in Schellach verkaufen. Steht zumindest in der Zeitung.«

Der Bauernhof mit Kühen, Ziegen, Käseproduktion und Ackerland in der Nähe von Middelburg war Johns Traum. Immer schon wollte er ihn kaufen. Und nachdem ihm sein Großvater überraschend eine große Summe Geld vererbt hatte, schien dies zumindest finanziell auch machbar. Bokma sollte sich an dem Kauf beteiligen, als Investition für seine Rente.

»Oh, oh«, meinte Bokma fahrig, »ja, äh, das ist ja eine tolle Überraschung.« Er wirkte nicht sehr begeistert.

»Okay«, lenkte John sogleich ein, »ich verstehe, ist jetzt kein guter Moment. Trink ’n kopje koffie. Wir sprechen ein anderes Mal.« Er hob die Hand zum Hutrand, salutierte übertrieben stramm und pfiff fünf bis sechs Sekunden zwei lange Töne, die Ehrerweisung an einen Kapitän. Dann grinste er. »Kauf dir aber auf jeden Fall die Zeitung.« Er grüßte noch einmal und ging leichten Schrittes den mit Klinkerstein gepflasterten Fußweg hinunter zum Duinweg, wo sein Lastenfahrrad stand.

6

Die Türklingel schrillte hell, als Jakob Bokma zwei Stunden später das Geschäft der alten Dingemanse betrat. Edna Dingemanse war eine Institution im Dorf. Seit achtzig Jahren lebte sie an der Langstraat, die gleich hinter dem Deich den alten Ortskern von Zoutelande durchzog. In ihrem Kurzwarengeschäft verkaufte sie so gut wie alles, was man in letzter Sekunde noch brauchte. Kaminholz, Grillkohle, Feuerzeuge, Schrauben, Werkzeug, Vorschlaghammer, Schlüssel, Malerbedarf, Fischereigerät, Tauwerk, Mützen, aufblasbare Palmeninseln, Postkarten, Zeitschriften, Getränke, Karamellbonbons, Büchsennahrung, Whisky und natürlich Zigarren. Manchmal lagerte sie Schweinekoteletts und Würstchen in der kleinen Kühltruhe hinter der Kasse. Auch Bikinis, Schlüpfer und Seidenkimonos hatte sie im Angebot. Diese konnten in einem kleinen Nebenraum anprobiert werden. Und nur Edna wusste, dass es nicht nur Frauen und Mädchen waren, die sich dort die Ein- und Zweiteiler überstreiften.

»Goedemorgen«, rief Bokma zögerlich, als er eingetreten war. Er schaute sich um, doch niemand war zu sehen. Das Geschäft hatte mehrere Regalreihen, und an den Wänden hing ein merkwürdiges Sammelsurium von Werbeplakaten, Blechdrucken und einigen holzgerahmten Acrylgemälden mit bäuerlichen Motiven. Da hörte Bokma ein Rascheln aus dem hinteren Bereich, der zu den Privaträumen und dem Wohnhaus führte, das gleich nebenan lag.