ZehnUhrTermin - Nora Adams - E-Book

ZehnUhrTermin E-Book

Nora Adams

5,0

Beschreibung

"Leg dich auf den Küchentisch. Hände hinter den Kopf, Beine aufstellen und spreizen – so weit wie möglich." Björn Wissmann, Zahnarzt mit Leib und Seele, liebt nicht nur seinen Job, auch Frauen stehen auf seiner Prioritätenliste ganz oben. Sein Leben ist nahezu perfekt – bis zu diesem einen Tag, der ihn völlig aus der Bahn wirft. Begleitet von Schuldgefühlen, gefangen in einem Strudel tiefster Trauer, kämpft er sich durch den Alltag. Als er Jule Winter, seine Auszubildende, bei einem Absacker mit den Jungs in seiner Stammkneipe begegnet, bewahrt er sie vor dem womöglich größten Fehler ihres Lebens. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, welche Auswirkung sein selbstloses Eingreifen auf seine Zukunft haben wird. ZehnUhrTermin enthält erotische Szenen, die der Umgangssprache angepasst sind – obszöne Worte sind garantiert zu finden.   ***************************************************** Band 1: NeunUhrTermin – Vince Band 2: ZehnUhrTermin – Björn Band 3: ElfUhrTermin – Finn Band 4: ZwölfUhrTermin – Marc Alle Bücher sind unabhängig voneinander lesbar und in sich abgeschlossen.

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ZehnUhrTermin

Roman

Nora Adams

Erstausgabe im Dezember 2017

Copyright © 2017

Alle Rechte beim Booklounge Verlag

Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick

Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg

www.booklounge-verlag.de

978-3947115-05-1

Inhalt

Spiegel

Sonde

Pinzette

Matrize

Handscaler

Kürette

Scharfer Löffel

Heidemann-Spatel

Kugelstopfer

Excavator

Speichelsauger

Nadelhalter

Raspatorium

Zahnfleischschere

Klemmpinzette

Parodontometer

Kofferdam Bügel

Dappenglas

Skalpell

Aspirationsspritze

Tamponstopfer

Plombenheber

Teleskopzange

Wurzelheber

Hohlmeißelzange

Bonuskapitel

Fangirlgruppe

Spiegel

Björn starr­te in das dunk­le Loch im Boden, und doch blick­te er ins Lee­re. Wa­rum hat­te es nicht ihn er­wischt? Wie­so war es sei­ne Schwes­ter ge­we­sen, die ihr Le­ben las­sen muss­te? All das nur, weil ein über­näch­tig­ter LKW-Fah­rer ih­nen die Vor­fahrt ge­stoh­len hat­te. An­ge­sichts der Aus­weg­lo­sig­keit, die ihn seit Ta­gen ge­fan­gen hielt, strich er mit den Fin­gern durch sein ver­strub­bel­tes Haar. Sei­ne Schwes­ter hin­ter­ließ ei­nen lie­ben­den Ehe­mann so­wie ei­ne sechs­jäh­ri­ge Tochter, die sich Nacht für Nacht in den Schlaf wein­te, seit­dem ih­re Ma­ma ge­stor­ben war. Die Klei­ne tat ihm leid. Ver­damm­te Schei­ße! Wenn sie ein paar Se­kun­den spä­ter los­ge­fah­ren wä­ren, dann hät­te die­ser Dre­cksun­fall nie statt­ge­fun­den. Wie ver­ein­bart, wä­ren sie pünkt­lich um zehn Uhr bei Tan­te Mil­li an­ge­kom­men, um ih­ren Ge­burts­tag zu fei­ern. Sie hät­ten Häpp­chen zu sich ge­nom­men und ein paar Cham­pa­gner ge­schlürft – der jähr­li­che Pflicht­be­such eben. Auf der Heim­fahrt hät­ten sie über ih­re gan­ze Ver­wandt­schaft her­ge­zo­gen, wie es immer der Fall ge­we­sen war. Trä­nen hat­ten sie stän­dig ver­gos­sen, beim La­chen be­züg­lich ih­rer durch­ge­knall­ten Tan­te. Sie hat­te re­gel­mä­ßig fürst­lich – wie die Queen höch­stper­sön­lich – von ih­ren wö­chent­li­chen Tea­ti­me-Par­tys be­rich­tet, die fast schon le­gen­där waren, und das mit­ten in Köln. Statt­des­sen stand er nun am of­fe­nen Grab. An dem Grab, in das der Pfar­rer gleich die Ur­ne mit Le­nas Asche her­ab­las­sen soll­te. Ziel­los starr­te Björn in die Ge­sich­ter, die sich rund­he­rum ver­teilt hat­ten. Immer wie­der hoff­te er, bald aus die­sem per­fi­den Traum auf­zu­wachen. Das durf­te alles nicht wahr sein.

Sechs Ta­ge waren seit dem Un­fall ver­gan­gen. Sechs Ta­ge, an de­nen Björn nicht mehr rich­tig ge­ges­sen hat­te, er schlief kaum noch, konn­te außer­dem nie­man­dem direkt in die Augen bli­cken. Zwar trug der LKW-Fah­rer die Schuld an Le­nas Tod, doch waren wir mal ehr­lich: Björn hat­te am Lenk­rad des ver­schis­se­nen Autos ge­ses­sen. Ir­gend­wie wä­re der Un­fall be­stimmt zu ver­mei­den ge­we­sen. Hät­te er bloß das Lenk­rad schnel­ler her­um­ge­ris­sen oder bes­ser von vorn­her­ein ei­ne an­de­re Rou­te ge­wählt. Doch alles hät­te und wenn brach­te ihn nicht weiter. Fakt war, von Le­na exis­tier­te nur noch ein klei­ner Hau­fen Asche, der trost­los in die­ser Ur­ne steck­te, die ge­ra­de zu Gra­be ge­las­sen wur­de.

»Ma­ma«, ver­nahm er Jas­mins Schluch­zer. Die Klei­ne stand ne­ben ih­rem Pa­pa und Björns Eltern. Ih­re Wan­gen waren vom Wei­nen mit ro­ten Fle­cken über­sät und ih­re Augen fürch­ter­lich ge­schwol­len. Björns Herz zer­riss im Se­kun­den­takt ein Stück­chen weiter. Ver­fluch­te Schei­ße! Wa­rum muss­te das nur ge­sche­hen?

Tief at­me­te er die lau­war­me Luft ein, um sei­ne Trä­nen zu un­ter­drü­cken. Sei­ne Ge­füh­le waren im Augen­blick zwei­tran­gig. Er muss­te jetzt funk­tio­nie­ren. Wich­tig war aus­schließ­lich, für sei­ne Nich­te da zu sein, sei­ne Eltern zu stüt­zen, die ja auch ihr Kind ver­lo­ren hat­ten, und Lu­kas bei­zu­ste­hen, der seit sechs Ta­gen ver­wit­wet war. Bei der Vor­stel­lung an sei­ne Zu­kunft über­kam ihn die blan­ke Pa­nik. Mei­ne Fres­se! Jas­min durf­te nie­mals mehr mit ih­rer Ma­ma zu­sam­men in die Schu­le ge­hen. Le­na durf­te der Klei­nen nicht mehr zum Ge­burts­tag gra­tu­lie­ren. Sie durf­te zu kei­ner Zeit mehr ih­ren Smar­tie­kuchen ba­cken, den Jas­min ver­göt­ter­te.

Da­mit war Schluss.

Ein­fach Schluss.

Ein­fach so.

End­lich war das Be­gräb­nis vor­bei. Der Pas­tor hat­te den Fried­hof ver­las­sen, um den trau­ern­den Gäs­ten den Weg frei­zu­ma­chen. Nach­ein­an­der tra­ten alle Leu­te nä­her, be­kun­de­ten ihr Bei­leid, in­dem sie sei­nen Eltern, Lu­kas und Jas­min die Hand schüt­tel­ten. So­gar Björns Freun­de waren er­schie­nen, die je­doch von Bei­leids­be­kun­dun­gen am Grab ab­sa­hen. Der Letz­te in der Rei­he drän­gel­te sich vor­bei, warf ei­ne Ro­se auf die Ur­ne und ver­ab­schie­de­te sich. Sei­ne Eltern tra­ten ge­mein­sam mit Jas­min und Lu­kas zu dem mit Blu­men um­ran­de­ten Loch in der Er­de. Ein An­blick, der sich direkt und deut­lich fühl­bar in sei­ne Iris brann­te. Schmer­zen der Trau­er lie­ßen ihn er­zit­tern, als er Jas­min be­ob­ach­te­te, die um ih­re Ma­ma wein­te. Sie klam­mer­te an Lu­kas’ Bein, der eben­falls um sei­ne Fas­sung käm­pfte. Die­ser gro­ße, stol­ze Mann war bloß noch ein Schat­ten sei­ner selbst. Man merk­te ihm an, dass er ein­zig für sei­ne Tochter stark blieb und alles da­ran setz­te, ihr Rück­halt zu bie­ten.

»Björn, kommst du?« Sein Vater leg­te ihm die Hand auf den Arm und sah ihn auf­for­dernd an.

Erst jetzt be­griff er, dass sie be­reits auf dem Weg waren, den Fried­hof zu ver­las­sen. »Ich blei­be noch kurz«, ant­wort­ete er mit be­ben­der Stim­me.

Vor­sich­tig mus­ter­te Hans Wiss­mann sei­nen Sohn. »Du darfst dir nicht die Schuld ge­ben. Es war ein Un­fall.« Es folg­te ein stum­mer Bli­ckkon­takt, den es nur zwi­schen Vater und Sohn gab. Dann dreh­te er sich um, ließ Björn allei­ne zurück.

Es war ein Un­fall!

Das hat­te er sich mitt­ler­wei­le tausend­mal an­hö­ren müs­sen. Ver­stand denn kei­ner, dass ihn die­ser aus­ge­lei­er­te Satz nicht im Ge­ring­sten be­sänf­tig­te? Im Ge­gen­teil. Die­se Aus­sage schür­te sei­ne Wut. Hät­te er doch eher um­ge­lenkt. Fuck! Jetzt, wo alle ge­gan­gen waren, hielt er sei­ne Trä­nen nicht mehr zurück. Le­na war tot! Er lieb­te sei­ne Schwes­ter, sie konn­te doch nicht weg sein. Nach­dem er ei­nen Schritt nä­her ge­tre­ten war, ging er in die Ho­cke. In sei­ner Brust beb­te es, als die un­ter­drück­te Trau­er sich ih­ren Weg bahn­te. Es schmerz­te so ge­wal­tig. Er hat­te noch ge­nau vor Augen, wie sie mit ih­rem ocker­gel­ben Som­mer­kleid in das Auto ge­stie­gen war. Ihr lan­ges schwar­zes Haar war glatt über ih­re schma­len Schul­tern ge­fal­len. »Hi, gro­ßer Bru­der«, hat­te Le­na ihn be­grüßt. Ih­re Stim­me klang in sei­nen Oh­ren nach. Mit der Hand wisch­te er sich die ver­rä­te­ri­schen Trä­nen von der Wan­ge. Lang­sam beug­te er sich nach vor­ne, leg­te sei­ne Ro­se ab. »Du warst die be­ste Schwes­ter, die man sich wün­schen kann.« Kurz hielt er in­ne, be­trach­te­te das glän­zen­de Schwarz der Ur­ne. »Ciao, Le­na.« Sei­ne Stim­me brach und es fühl­te sich an, als bra­chen tausend Däm­me. Ei­ni­ge Mi­nu­ten ver­weil­te er in die­ser Po­si­tion, bis er wie­der ei­ni­ger­ma­ßen nor­mal at­me­te. Mit wa­cke­li­gen Bei­nen drück­te er sich in den Stand. Immer noch haf­te­ten sei­ne Augen auf Le­nas Grab. Schließ­lich ent­schloss er sich da­zu, um­zu­dre­hen, um den lan­gen stei­ni­gen Weg bis zum gro­ßen Tor des Fried­hofs ent­lang­zu­ge­hen. Noch ein­mal blick­te er hin­ter sich, dann trat er hin­aus. Wäh­rend er sich die Son­nen­bril­le auf­setz­te, über­quer­te er die Stra­ße, ge­ra­de­wegs auf den et­was ab­ge­le­ge­nen Park­platz zu, wo er zwei Stun­den zu­vor sein Fahr­zeug ge­parkt hat­te. Mit ei­ner Hand öff­ne­te er sein Ja­ckett, wel­ches er für die Fahrt aus­zog. Tief in­ha­lier­te er fri­sche Luft in sei­ne Lun­gen, hielt sein Ge­sicht gen Son­ne und ver­such­te immer noch, das Un­mög­li­che zu rea­li­sie­ren. Erst kurz be­vor er sein Ziel er­reich­te, blick­te er auf … und er­starr­te.

Da war sie – sei­ne Zweit­fa­mi­lie, die ihm immer Halt ge­bo­ten hat­te. Ver­dien­te er das über­haupt? Rein recht­lich ge­se­hen, war die­ser be­schis­se­ne Un­fall nicht sei­ne Schuld ge­we­sen. Sein In­ne­res sag­te ihm aller­dings et­was an­de­res, und ge­nau das war auch sein größ­tes Pro­blem. Björn war ein in­tel­li­gen­ter Mann und wuss­te, dass er sich mit die­sen Selbst­vor­wür­fen das Le­ben er­schwer­te.

Links war­te­te Marc. Sei­ne Hand steck­te läs­sig in sei­ner An­zug­ho­se. Ne­ben ihm stand Vin­ce, der sei­ne Freun­din Va­ni an der Hand hielt, des­sen Augen eben­falls von ei­ner Son­nen­bril­le ver­deckt waren. Tom lehn­te an sei­nem Auto. Ge­nau­so wie Finn, der erst seit Kur­zem zu sei­nem en­ge­ren Freun­des­kreis zähl­te. Fuck! Björn käm­pfte um sei­ne Fas­sung. Sein Herz schwoll an. In den schwär­zes­ten Stun­den sei­nes Lebens waren sie alle an sei­ner Sei­te. Va­ni war die Er­ste, die ei­nen Schritt auf ihn zu­ging, ih­re Ar­me um ihn schlang und ihm so, dass kei­ner sonst es hör­te, ihr Bei­leid be­kun­de­te. »Ich bin für dich da, Björn, wie alle an­de­ren.« Da­rauf­hin drück­te sie ihm ei­nen Kuss auf die Wan­ge und mach­te Platz für Vin­ce. »Mann, Al­ter, komm her!« Auch er zog ihn in ei­ne fes­te Um­ar­mung. Nach­ein­an­der ka­men Tom, Finn und Marc zu ihm, wech­sel­ten ein paar Wor­te. Es war ei­ne Schan­de, den­noch muss­te er sich ein­ge­ste­hen, dass es ihm gut­tat, sei­ne Freun­de um sich zu ha­ben. Kei­ner konn­te den Riss in sei­nem Her­zen re­pa­rie­ren. Die­se Lü­cke wür­de immer schmerz­haft wie ei­ne of­fe­ne Wun­de klaf­fen und ihn an das er­in­nern, was ge­sche­hen war – des­sen war er sich si­cher. Sei­ne Freun­de schaff­ten es trotz­dem mit ih­rer blo­ßen An­we­sen­heit, die­ses Leid we­nigs­ten et­was zu lin­dern. Doch ge­nau das war das be­sag­te Pro­blem. Er durf­te sich nicht bes­ser füh­len, rief er sich in Ge­dan­ken – ge­ra­de erst hat­te er schließ­lich sei­ne Schwes­ter zu Gra­be ge­tra­gen. Gott, steh ihm bei! Die Schuld­ge­füh­le schie­nen ihn augen­bli­cklich zu zer­fres­sen. »Tut mir leid, Leu­te. Ich muss …« Weiter kam er nicht, oh­ne vor sei­nen Kum­pels zu­sam­men­zu­bre­chen.

Prompt ließ er sich in sein Auto glei­ten, schnall­te sich an und ra­ste vom Park­platz. Die Musik bis zum An­schlag auf­ge­dreht, fuhr er die Stra­ßen ent­lang. Er brauch­te un­ge­fähr zwan­zig Mi­nu­ten, bis er sei­ne Ga­ra­ge in Kölns at­trak­ti­vem Stadt­teil See­berg er­reich­te. Immer zwei Stufen auf ein­mal neh­mend, rann­te er die Trep­pen zu sei­ner Dach­ge­schoss­woh­nung hin­auf. Die Tür fiel ins Schloss, da knöpf­te er be­reits sein Hemd auf, zog sich aus und ver­schwand im Bad.

Was­ser­dampf füll­te den gan­zen Raum. Das gro­ße Dach­fens­ter und der Spiegel waren voll­kom­men be­schla­gen. Ge­gen die Glas­tür der Du­sche pras­sel­te das hei­ße Was­ser eben­so wie auf Björns Rü­cken. Re­gungs­los stand er mi­nu­ten­lang da. Er seif­te sich nicht ein, stemm­te sich aus­schließ­lich mit bei­den Hän­den an den Flie­sen ab und ging un­ge­niert sei­ner Trau­er nach. Björn wein­te un­auf­hör­lich, lehn­te sei­nen Kopf da­bei auf sei­nen mus­ku­lö­sen rech­ten Arm ab, und be­griff die Welt nicht mehr. Erst als sich das Was­ser et­was her­un­ter­kühl­te, wur­de ihm be­wusst, dass er schon ziem­lich lan­ge ge­dan­ken­ver­lo­ren un­ter der Du­sche stand. Er ent­schied sich da­zu, das Brau­se­bad ab­zu­stel­len.

Nach­dem er sich ab­ge­trock­net und an­ge­zo­gen hat­te, griff er sich ei­ne Fla­sche Jack Da­niels, ein Glas und ging auf sei­ne Dach­ter­ras­se. Es war an der Zeit, sich die Kan­te zu ge­ben. Heu­te muss­te das ein­fach sein. An­ders über­stand er die­sen sau­mä­ßi­gen Tag nicht. Sein Ge­dan­ken­ka­rus­sell brach­te ihn sonst noch ins Ir­ren­haus. Das Glas ig­no­rie­rend, setz­te er die Fla­sche an und trank gut ei­nen Vier­tel in ei­nem Zug weg. »Schei­ße, ist das ab­ar­tig«, fluch­te er, wäh­rend er die Fla­sche et­was zu kräf­tig auf den Tisch knall­te. Der be­rau­schen­de Ef­fekt setz­te un­ver­züg­lich ein.

In sei­nem Stuhl lehn­te er sich nach hin­ten, be­ob­ach­te­te die Wol­ken, wie sie viel zu lang­sam von dan­nen zo­gen. Kurz nahm er sein Han­dy zur Hand, scroll­te sich durch die Fa­ce­book Ti­me­li­ne, was ihn nur noch mehr her­un­ter­zog. Le­na war sehr be­liebt ge­we­sen, je­der hat­te sie ge­mocht, wes­halb ihr Tod im Netz ei­ne gäh­nen­de Lee­re und un­end­li­che R.I.P.-Posts mit sich brach­ten. Selbst in sei­ner Chro­nik fan­den sich ei­ni­ge Bei­trä­ge mit Bei­leids­be­kun­dun­gen, die er aber be­wusst ig­no­rier­te. Björn konn­te sich das auf kei­nen Fall an­tun, da­her öff­ne­te er den Chat mit sei­nen Kum­pels.

Björn: Wer­de mich vor­erst zurück­zie­hen. Sor­ry, Leu­te!

Es dau­er­te nicht lan­ge, bis er Ant­wort be­kam.

Marc: Kein Ding, Al­ter. Wenn was ist, mel­de dich!

Tom: Ver­ständ­lich.

Vin­ce: Du kannst dich je­der­zeit mel­den, wenn dir nach ei­nem Ge­spräch ist, oder auch nur, wenn du Ab­len­kung brauchst.

Finn: Schlie­ße mich den an­de­ren an.

Die Fla­sche fand wie­der den Weg zu sei­nem Mund, in­des er sein Smart­pho­ne in der Ho­sen­ta­sche ver­stau­te. Die Fü­ße leg­te er auf dem Tisch ab. »Ist das ei­ne ver­fick­te Schei­ße«, brumm­te er in die Stil­le der abend­li­chen Däm­me­rung und gab sich sei­nen quä­lenden Schuld­ge­füh­len und der Trau­er um sei­ne Schwes­ter hin.

Sonde

»Guck, dass du heu­te aus­nahms­wei­se mal kei­ne Schei­ße baust. Der Chef hat am Wo­che­nen­de sei­ne Schwes­ter be­er­digt. Er ist nicht gut ge­launt.« El­ke, Ju­les Ar­beits­kol­le­gin, sah sie vor­wurfs­voll an, als wä­re sie da­für ver­ant­wort­lich. Vor sechs Wo­chen hat­te sie ih­re Aus­bil­dung zur Zahn­me­di­zi­ni­schen Fach­an­ge­stell­ten in der Zahn­arzt­praxis Wiss­mann be­gon­nen. Bis­her war aller­dings kaum ein Tag ver­gan­gen, an dem Ju­le kei­nen An­schiss be­kom­men hat­te. Nicht von Dok­tor Wiss­mann, son­dern von dem Haus­dra­chen – El­ke Münch. Sie war so et­was Ähn­li­ches wie die rech­te Hand des Chefs, re­gel­te den gan­zen Ab­rech­nungs­kram, der Ju­le noch fremd war, und war ein Ass da­rin, ihr den Tag zu ver­mie­sen. Sie schaff­te es wahr­schein­lich nie, ihr ge­recht zu wer­den, das hat­te sie schon am er­sten Tag ge­merkt, als El­ke hin­ter­fragt hat­te, wo­her sie stamm­te. Ih­re de­mü­ti­gen­de Re­ak­tion war ein her­ab­las­sen­des Augen­rol­len ge­we­sen. Sie hat­te ihr zu ver­ste­hen ge­ge­ben, dass sie ge­nau wuss­te, wie es in Chor­wei­ler vons­tat­ten­ging. Wo­mit sie auch lei­der recht hat­te. Ju­le kam aus den Tie­fen des Ab­schaums, das war ihr be­wusst. Wes­halb sie um­so dank­ba­rer war, dass Dok­tor Wiss­mann ihr die Chan­ce ge­ge­ben hat­te, ei­ne Aus­bil­dung bei ihm zu ab­sol­vie­ren. Immer­hin war das der Grund­stein für ei­ne Per­spek­ti­ve, die sie aus Chor­wei­ler her­aus­brach­te. Um­so mehr stör­ten sie El­kes stän­di­ge An­fein­dun­gen.

Kei­nes­falls woll­te sie so en­den wie ih­re Eltern, das war ihr täg­li­ches Man­tra. Ju­les Mutter war im letz­ten Jahr ge­stor­ben. Ihr von Al­ko­hol ge­schä­dig­tes Herz und ih­re Nie­ren hat­ten ver­sagt. Es war nicht so, als hat­te sie mit ih­rem Ab­le­ben das Weih­nachts­fest ver­saut – Weih­nach­ten hieß bei Fa­mi­lie Win­ter bloß, dass mehr ge­sof­fen wur­de als üb­lich. Viel­leicht gönn­ten sie sich zur Krö­nung des Tages auch ei­nen Jo­int oder zo­gen et­was Speed. Eigent­lich war es nur ei­ne Fra­ge der Zeit ge­we­sen, bis ei­ner ih­rer Eltern­tei­le den Löf­fel ab­gab. Ei­nem der­ar­ti­gen Lebens­stil hielt so­gar ein kern­ge­sun­der Körper nur be­dingt stand. Sie er­in­ner­te sich, wie die er­bärm­li­chen Freun­de ih­rer Mutter zu de­ren Be­er­di­gung ge­kom­men waren. So un­fass­bar re­spekt­los, sich be­reits vor­her zu be­trin­ken. Aber was soll­te man von sol­chen Men­schen er­war­ten. Es war eben ge­nau das, was ih­re Mutter mit ih­ren Leu­ten ver­bun­den hat­te. Wahr­schein­lich dau­er­te es nicht lan­ge, bis der Näch­ste von ih­nen ins Gras bei­ßen wür­de. Was Ju­le je­doch sehr ver­un­si­cher­te, und ihr zu­dem ei­ne un­ter­schwel­li­ge Angst ein­jag­te, waren die schlim­mer wer­den­den Aus­set­zer ih­res Vaters. Er for­der­te das Geld, was sie ver­dien­te, immer öf­ter ein.

Ab ih­rem sechs­zehn­ten Lebens­jahr, direkt nach ih­rem Re­al­schul­ab­schluss, war Ju­le da­zu ver­don­nert wor­den, in der aller­letz­ten Knei­pe ih­res Vier­tels zu ar­bei­ten – Be­sof­fe­nen Bier und Schnaps ser­vie­ren. So et­was wie Jugend­schutz hat­te man er­folg­reich ig­no­riert. Heim­lich hat­te sie sich stets et­was Geld zur Sei­te ge­legt, so­dass sie sich ein­mal im Jahr neue Kla­mot­ten leis­ten konn­te. Wenn sie es selbst nicht ge­tan hät­te, wä­re kei­ner so gnä­dig ge­we­sen, ihr et­was zum An­zie­hen zu be­sor­gen. Es gab Gott sei Dank Di­scoun­ter, dort be­kam man ei­ne Je­ans­ho­se schon für zehn Eu­ro. Das waren ih­re An­laufs­tel­len ge­we­sen und ge­nau dort hat­te sie auch ein Han­dy ent­deckt, wel­ches im An­ge­bot ge­we­sen war, für sieb­zig Eu­ro. Lan­ge hat­te sie nach­ge­dacht und ab­ge­wägt, ent­schied sich letz­tend­lich da­für. Ihr hart Er­spar­tes da­für aus­zu­ge­ben, hat­te ihr den­noch in der See­le weh­ge­tan. Rück­bli­ckend be­trach­tet, be­reu­te sie die­se An­schaf­fung nicht. So ver­schaff­te sie sich we­nigs­tens di­ver­se Ac­counts auf So­ci­al-Me­dia-Platt­for­men. In solch ei­ner An­ony­mi­tät leb­te es sich viel bes­ser. Dort gab es nie­man­den, der sie auf­grund ih­rer schlech­ten Klei­dung oder ih­rer Her­kunft ab­wer­tend an­starr­te, gar mus­ter­te. Das waren näm­lich die üb­li­chen Re­ak­tio­nen auf ih­re Per­son. Du kommst aus Chor­wei­ler? Na­se­rümp­fen, als stank sie des­we­gen, war nur ein Teil der ober­fläch­li­chen Ein­drü­cke. Na gut, wenn sie ihr Um­feld so be­trach­te­te, dann war das teil­wei­se ge­recht­fer­tigt. So­bald Ju­le ih­rem Vater ge­gen­über­stand, käm­pfte sie eben­falls mit ih­rer Be­herr­schung, da­mit sie sich auf­grund der Ge­rü­che nicht über­ge­ben muss­te. Er war in stän­di­ger Be­glei­tung ei­ner Al­ko­hol­fah­ne, ei­nes zor­ni­gen Bli­ckes und ei­ner qual­men­den Kip­pe. Wi­der­wär­tig. Sei­ne Sauf­kum­pa­nen fei­er­ten ihn als wah­ren Helden, da er immer et­was Trink­ba­res und meis­tens auch Dro­gen in sei­nem Dre­cksloch – ih­rem zu Hau­se – hat­te. Dass er sei­ner Tochter das hart ver­dien­te Geld weg­nahm, woll­te kei­ner wahr­ha­ben, oder es war ih­nen schlicht­weg egal.

»Was ist? Geh abends frü­her ins Bett, wenn du mor­gens so mü­de drein­schaust.« El­ke ver­ließ augen­rol­lend den Auf­ent­halts­raum. Ju­le durf­te sich von ihr nicht stän­dig aus dem Kon­zept brin­gen las­sen. Sie woll­te schließ­lich ih­ren Job nicht ris­kie­ren, immer­hin leg­te sie all ih­re Hoff­nung in die­se Aus­bil­dung. So­bald sie die­se be­en­den und über­nom­men wer­den soll­te, reich­te ihr Ge­halt für ei­ne klei­ne Woh­nung und ih­ren Lebens­un­ter­halt. Ju­le war be­schei­den. Sie be­nö­tig­te bloß ein bis zwei Mal am Tag ein Stück Brot, da­mit ihr Körper Ener­gie hat­te. Das Was­ser aus dem Was­ser­hahn reich­te ihr als Flüs­sig­keits­zu­fuhr. Das konn­te sie sich mit ih­rem Ver­dienst al­le­mal leis­ten, so­fern El­ke Münch sie nicht rau­se­kel­te. Nein! Ju­le hat­te in ih­rem Le­ben schon wei­taus Schlim­me­res über­stan­den, da war es doch wohl ei­ne Leich­tig­keit, mit so ei­ner ge­frus­te­ten äl­te­ren Da­me fer­tig zu wer­den.

Ju­le be­gab sich in den Ste­ri­li­sa­tions­raum, in dem am Mor­gen die Des­in­fek­tions­bä­der für die be­nutz­ten In­stru­men­te vor­be­rei­tet wur­den. Sie be­eil­te sich, weil der er­ste Pa­tient be­reits im Zim­mer war­te­te. Seit ei­ni­ger Zeit durf­te sie am Stuhl as­sis­tie­ren, was ihr sehr viel Spaß mach­te. Da­mit sie immer Hil­fe hat­te, die sie oft in An­spruch nahm, sie war ja noch nicht lan­ge hier, kam Son­ja, ih­re an­de­re Ar­beits­kol­le­gin, stets mit ins Zim­mer. Sie blieb hin­ter ihr ste­hen, schrieb Be­fun­de auf und reich­te ihr die In­stru­men­te oder Fül­lungs­ma­te­ria­li­en an.

»Hal­lo, Ju­le«, be­grüß­te Son­ja sie flüs­ternd, wäh­rend sich Dok­tor Wiss­mann schon der Pa­tien­tin wid­me­te. Herr­gott, er sah wirk­lich mit­ge­nom­men aus. Was durch­aus ver­ständ­lich war, wenn man be­dach­te, wel­chen Schick­sals­schlag er in der ver­gan­ge­nen Wo­che er­lit­ten hat­te.

Stumm setz­te sie sich auf den Stuhl und lausch­te dem Ge­spräch. »Ein klop­fen­der Schmerz?«, frag­te ihr Chef mit sei­ner ty­pisch tie­fen Stim­me. Wie alle an­de­ren hat­te er ei­ne wei­ße Ho­se, wei­ße Turn­schu­he und ein tür­ki­ses Po­lo­hemd an. Ein Mund­schutz ver­hüll­te sein hal­bes Ge­sicht und sei­ne Hän­de steck­ten in Gum­mi­hand­schu­hen.

»Es fängt immer an, wenn ich zu­bei­ße.«

»Ich schaue mir das mal an. Vor­her neh­me ich aber schnell ih­ren Be­fund auf.«

Frau Meier lehn­te ih­ren Kopf an die Stüt­ze, wäh­rend Dok­tor Wiss­mann den Stuhl in ei­ne lie­gen­de Po­si­tion fuhr, so­dass sich die Pa­tien­tin zwi­schen Ju­le und ihm be­fand. Sie stell­te das Licht so ein, dass der Strahl den Mund der Pa­tien­tin er­hell­te. Dok­tor Wiss­mann griff nach dem klei­nen run­den Spiegel und dem spit­zen In­stru­ment – hier sag­te man Son­de da­zu. Dann be­gann er, ih­re Zäh­ne zu un­ter­su­chen. »Rechts oben, 1 bis 7, oh­ne Be­fund. Alle 8er feh­len«, zähl­te er auf. »Links oben – 1, 2 über­kront. 3 Brü­cken­glied. 4 Kro­ne. Der Rest ist oh­ne Be­fund.« Mit der Son­de tas­te­te er den Zahn ab. »Hier ha­ben Sie aller­dings ei­ne Ka­ries. Das ist auch der Zahn, der Ih­nen Schmer­zen be­rei­tet, stimmts?« Die Pa­tien­tin gab ein zu­stim­men­des Ge­räusch von sich. Dok­tor Wiss­mann sah Ju­le an, wink­te sie nä­her zu sich. »Se­hen Sie, Frau Win­ter. Hier blei­be ich mit der Son­de hän­gen. Dort ist ei­ne Ka­ries. Wenn ich über das ge­sun­de Den­tin krat­ze …« Er mach­te es vor. »Hört sich das so an.« Ei­ne Gän­se­haut über­kam sie, denn das Ge­räusch hör­te sich fast so an, als zog je­mand sei­ne Fin­ger­nä­gel an ei­ner Schul­tafel her­un­ter. »Ka­ries ist ei­ne wei­che Sub­stanz«, er­klär­te er weiter. Ab und zu ver­ge­wiss­er­te er sich mit ei­nem Blick, ob Ju­le ihm fol­gen konn­te. Das tat sie, denn sie in­te­res­sier­te das alles wirk­lich sehr. Mit gro­ßen Augen lug­te sie in den Mund der Pa­tien­tin. Dok­tor Wiss­mann war ein kom­pe­ten­ter Vor­ge­setz­ter. Er er­klär­te viel und aus­führ­lich, war äu­ßerst ge­dul­dig, ob­wohl er sonst eher zurück­hal­tend war.

Nach­dem der Chef den Zahn wur­zel­be­han­delt hat­te, ver­ließ Son­ja mit Frau Meier das Zim­mer. Dok­tor Wiss­mann saß am Com­pu­ter, tipp­te den Be­fund un­ter das Rönt­gen­bild ein.

»Dok­tor Wiss­mann?«

»Hm?«, brumm­te er kon­zen­triert.

»Mein Bei­leid«, sag­te sie, wäh­rend sie die Boh­rer von den Win­kel­stü­cken ent­fern­te. Das ge­hör­te sich doch so, oder et­wa nicht? Ein kaum er­kenn­ba­res, aber doch of­fen­sicht­li­ches Zu­cken er­reich­te sei­nen Körper. Ein paar Se­kun­den starr­te er auf den Bild­schirm, oh­ne sich zu be­we­gen. Da­rauf­hin stand er auf, mur­mel­te ein lei­ses »Dan­ke«, oh­ne sie an­zu­bli­cken, und ver­ließ das Zim­mer. Hat­te sie et­was falsch ge­macht?

Sie hat­te kei­ne Zeit, sich weiter da­mit zu be­fas­sen, denn kurz da­rauf trat El­ke ein. »Wa­rum bist du noch nicht fer­tig? Du wirst hier nicht fürs Rums­te­hen be­zahlt. Der näch­ste Pa­tient war­tet. Hopp, hopp!« Ihr däm­li­ches Ge­hop­pe un­ter­mal­te sie, in­dem sie schal­lend in die Hän­de klatsch­te. Was für ei­ne blö­de Kuh! Ju­le muss­te sich be­herr­schen, da­mit sie nicht wie ein trot­zi­ges Kind auf den Boden stam­pfte, sie war schließ­lich schon fünf­und­zwan­zig Jah­re alt. Reiß dich zu­sam­men, Ju­le Win­ter! Die­se Fu­rie wird dich nicht un­ter­krie­gen. Nie­mals!

Der rest­li­che Tag war ein­fach nur ka­ta­stro­phal ge­we­sen, ihr woll­te nichts ge­lin­gen. El­ke hat­te sie auf dem Kie­ker ge­habt und ihr Chef hat­te ei­ne Lau­ne, die zum Himmel stank – ver­ständ­lich. Schnell flitz­te sie durch die Stra­ßen Chor­wei­lers, be­trat nach ei­ni­gen Mi­nu­ten den mie­fen­den Flur des Hoch­hau­ses, in dem sie seit ih­rer Ge­burt leb­te. Stu­fe um Stu­fe kam sie ih­rer per­sön­li­chen Höl­le nä­her. Bei­läu­fig kick­te sie ei­ne lee­re Co­la­do­se die Trep­pen hi­nab, die sich schep­pernd zu dem an­de­ren Dreck im Haus­ein­gang ge­sell­te. Ih­re Hand zit­ter­te lan­ge nicht mehr, als sie die Tür auf­schloss, denn sie hat­te in­zwi­schen ge­lernt, mit den tät­li­chen und ver­ba­len An­grif­fen ih­res Vaters um­zu­ge­hen. Auf lei­sen Soh­len schlich sie durch den Flur, mach­te gro­ße Schrit­te, um nicht über Kla­mot­ten oder al­te Zei­tun­gen zu stol­pern, die hem­mungs­los ver­streut auf dem Boden lagen. Fas­sungs­los sah sie sich um – Müll­berg an Müll­berg. Be­vor sie heu­te Mor­gen zur Ar­beit ge­gan­gen war, hat­te sie den Flur so­wie das Wohn­zim­mer auf­ge­räumt. Ju­le war es satt! Es kotz­te sie re­gel­recht an, ihm immer alles hin­ter­her­tra­gen zu müs­sen, nur weil er sich so der­ma­ßen weg­bal­ler­te, dass er nicht mehr ge­ra­de­aus lau­fen konn­te. Wie es zu dem jäm­mer­li­chen Ab­sturz ih­rer Eltern ge­kom­men war? Da war Ju­le un­si­cher, ei­ne rich­ti­ge Ant­wort hat­te sie nicht pa­rat. Immer­hin waren ih­re Eltern immer so ge­we­sen, sie kann­te sie nicht an­ders. Schon in de­ren Jugend hat­ten sie Dro­gen kon­su­miert. Ju­le war ein Un­fall, so wie ih­re Mutter stets zu sa­gen ge­pflegt hat­te. Sie waren auch nie ver­hei­ra­tet ge­we­sen, leb­ten das jugend­li­che ver­küm­mer­te Da­sein ge­mein­sam bis zu ih­rem Tod — nur mit die­ser häss­li­chen Last am Bein, namens Ju­le —, was ihr Vater nun im Allein­gang er­folg­reich weiter­führ­te. Zu ih­ren Groß­eltern hat­te sie nie Kon­takt. Wenn sie ehr­lich war, wuss­te sie oh­ne­hin nicht, wo de­ren Heimat ge­we­sen war. Kein Wun­der, dass sie sich von ih­ren Kin­dern, Ju­les Eltern, los­ge­sagt hat­ten.

»Lu… Lu… Juu­le?«, er­tön­te es lal­lend vom So­fa. Her­bert hus­te­te den fest­sit­zen­den Schleim der vier Mil­lio­nen Kip­pen, die er mit Si­cher­heit in sei­nem Le­ben ge­qualmt hat­te, her­aus. Dann stand er auf, öff­ne­te das Fens­ter und rotz­te in ho­hem Bogen aus dem drit­ten Stock. Er sah nicht mal hin­aus, ob er je­man­den ge­trof­fen hat­te. Gleich­gül­tig dreh­te er sich um, kratz­te sich an sei­nen Ei­ern und furz­te, als wür­de in Cat­te­nom das Atom­kraft­werk in die Luft flie­gen. Himmel! Ju­le käm­pfte um ih­re Selbst­be­herr­schung, da­mit sie sich nicht über­ge­ben muss­te. Es gab kei­ne Stei­ge­rung für das Ekel­ge­fühl, wel­ches sie für die­sen Men­schen emp­fand. Wenn er den Mund öff­ne­te, wur­de das Gan­ze nicht bes­ser. Ihm fehl­ten in der Front drei Zäh­ne und alle an­de­ren waren ver­fault. Ihr Chef hät­te bei ihm viel Ar­beit, soll­te er sich in sei­ne Praxis be­ge­ben. Gott sei Dank kam ihr Er­zeu­ger nie­mals auf die­sen ab­sur­den Ge­dan­ken, et­was für sei­ne Ge­sund­heit zu tun. Sein Lebens­in­halt be­stand viel­mehr da­rin, sich zu ver­nich­ten. Sei es nun der Al­ko­hol oder die Dro­gen. Haupt­sa­che es knall­te!

Fluch­tar­tig woll­te sie den Raum ver­las­sen, der sie na­he an den Er­sti­ckungs­tod brach­te, doch ihr Vater hielt sie auf. »Ich brau­che Geld!« Sei­ne Fin­ger fuh­ren rei­bend über sei­ne Kopf­haut, was das fet­ti­ge Haar in alle Him­mels­rich­tun­gen ab­ste­hen ließ.

Das konn­te nicht wahr sein. »Du hast mein kom­plet­tes er­stes Ge­halt be­kom­men. Ich krie­ge erst in zwei Wo­chen wie­der Geld. Es ist nichts da, was ich dir ge­ben könn­te.« Außer sich vor Ent­set­zen wü­te­te sie ihn an.

»Schlag ei­nen an­de­ren Ton an, du un­dank­ba­res Stück Schei­ße.« Mit schlei­chen­den Schrit­ten kam er ihr ge­fähr­lich na­he.

Ju­le wich ihm aus. Viel­leicht war ihr Ton tat­säch­lich un­an­ge­bracht, doch wo­her soll­te sie jetzt Geld be­kom­men? Das war ver­rückt! »Ich ha­be kein Geld.«

»Du hät­test dei­nen Job in Wil­lys Knei­pe be­hal­ten sol­len. Aber nein, du muss­test ja alles hin­schmei­ßen. Du treibst mich in den Ru­in.«

Ju­le ver­kniff sich ein bit­te­res Auf­la­chen. Sie trieb ihn in den Ru­in? So et­was Schwach­sin­ni­ges hat­te sie lan­ge nicht mehr ge­hört. »Ich ver­su­che, im Ge­gen­satz zu dir, et­was aus mei­nem Le­ben zu ma­chen«, brach­te sie ihm mu­tig ent­ge­gen.

»Mir ist scheiß­egal, was du ver­suchst. Du bringst kei­nen Schot­ter heim, das ist hier das Pro­blem.«

»Ich ha­be nichts mehr!« Es war die Wahr­heit. Wo­her soll­te sie das Geld neh­men? Ver­flucht!

»Du bringst mir näch­ste Wo­che drei­tausend­fünf­hun­dert Eu­ro. Hast du mich ver­stan­den?« Be­droh­lich rag­te er vor ihr auf, schüch­ter­te sie so sehr ein, dass ih­re Knie zu zit­tern be­gon­nen hat­ten.

»Wo­für brauchst du so viel Geld?« Ju­le war ent­setzt, wuss­te lang­sam nicht mehr, wo vor­ne und hin­ten war. Er ver­lang­te immer mehr von ihr, so­dass sie nichts mehr ab­lie­fern konn­te, weil sie nie­mals so viel ver­dien­te. Er war sich da­rüber auch im Kla­ren, so hoff­te sie zu­min­dest. Frag­lich war aller­dings, wa­rum er es über­haupt for­der­te. Egal, wie sie es dreh­te und wen­de­te, sie ver­stand ihn nicht mehr. Kein Vater ging so mit sei­ner Tochter um. Kei­ner!

»Jo kommt vor­bei.«

»Du willst das Geld für Dro­gen ha­ben? Das kannst du nicht ma­chen. Was soll das?«

»Nein! Ich brau­che das Geld nicht für Dro­gen, son­dern um mei­ne Schul­den zu be­glei­chen.«

»Dann gib den Stoff zurück.« Ihr war be­kannt, dass Jo sein De­aler war, des­we­gen konn­te es sich hier­bei nur um Dro­gen­schuld­geld han­deln.

»Der Stoff exis­tiert nicht mehr.«

»Du hast Dro­gen im Wert von drei­tausend­fünf­hun­dert Eu­ro ver­bal­lert? Bist du ver­rückt?«

In die­sem Mo­ment schritt Her­bert auf sie zu, hol­te weit aus und schlug ihr mit vol­ler Wucht ge­gen den Kopf, so­dass sie zur Sei­te fiel. »So sprichst du nicht mit mir. Ver­stan­den?« Sei­ne stin­ken­de Hand er­griff ih­ren Pfer­de­schwanz, riss so sehr da­ran, dass ih­re Kopf­haut brann­te. »Näch­ste Wo­che ist das Geld da. Sonst wer­de ich Jo mit sei­nen Schlä­ger­ty­pen zu dir schi­cken.«

Ihr Über­lebens­ins­tinkt brach­te sie jetzt nur noch da­zu, sich von ihm zu rei­ßen und in ihr Zim­mer zu krie­chen. Kaum war die Tür hin­ter ihr ver­schlos­sen, schob sie mit aller Kraft, die sie noch ir­gend­wie auf­brach­te, ih­ren Klei­der­schrank ein Stück vor, so­dass die­ser die Tür blo­ckier­te. Das wie­der­um war nur mach­bar, weil sich nicht viel in ih­rem Schrank be­fand. Sie hoff­te, das Sper­ri­ge ver­wehr­te ih­rem Er­zeu­ger den Zu­tritt, falls er auf die Idee kä­me, sie noch ein­mal auf­zu­su­chen.

Das war es wohl mit ih­rem neu­en Job. Un­ter kei­nen Um­stän­den konn­te sie um ei­nen Vor­schuss bet­teln, zu­mal das so­wie­so der Lohn von gleich fünf Mo­na­ten war. Immer­hin be­kam sie das Aus­bil­dungs­ge­halt ei­nes er­sten Lehr­jah­res. Selbst wenn sie hin­schmiss und wie­der in der Knei­pe an­fing, zu­sätz­lich des gan­zen Trink­gel­des, war es nicht mach­bar, die­sen Be­trag bis näch­ste Wo­che auf­zu­trei­ben. Ver­zweif­lung brei­te­te sich in ihr aus.

Das Un­fass­ba­re: Ihr Vater hat­te mehr­mals ver­sucht, sie zu er­mu­ti­gen, et­was Spaß mit sei­nen Freun­den zu ha­ben. Er war der Mei­nung, sie war mitt­ler­wei­le alt ge­nug, um end­lich die Bei­ne breit­zu­ma­chen. Die Be­zah­lung stimm­te, be­harr­te er. Her­bert ver­lang­te, dass sie sich für ihn pro­sti­tui­er­te, um das auf den Punkt zu brin­gen. Ju­le war noch Jung­frau. Da­raus mach­te auch ihr Vater kei­nen Hehl und bot eben­dies an. Mit Ge­wiss­heit konn­te das Ekel­paket nicht mal sa­gen, dass sie noch un­be­rührt war – eigent­lich kann­te er sie gar nicht. Ihr Vater war ein Arsch­loch.

Sie hass­te ihn!

Wie so oft spiel­te sie mit dem Ge­dan­ken, alles hin­ter sich zu las­sen und ir­gend­wo kom­plett von vor­ne an­zu­fan­gen. Was sie zurück­hielt, und ja, sie wuss­te selbst, es war fei­ge, war die Angst, durch ih­re Mittel­lo­sig­keit ge­nau­so zu en­den wie ih­re Eltern. Hier lief sie nie­mals Ge­fahr, in ih­re Fuß­stap­fen zu tre­ten. Zu sehr ver­ab­scheu­te sie das Le­ben mit die­sem Mons­ter un­ter ei­nem Dach. Täg­lich führ­te er ihr vor Augen, wie sie nicht wer­den woll­te. Ih­re Zu­kunft war aller­dings be­reits per­fekt durch­ge­plant. So­gar so per­fekt, dass sie schon mehr­mals da­von ge­träumt hat­te: Ju­le be­en­de­te ih­re Aus­bil­dung er­folg­reich und ein ge­re­gel­tes Ein­kom­men war vor­han­den. Sie such­te sich ei­ne Woh­nung und leb­te wie ein nor­ma­ler Mensch ihr zu­frie­de­nes Le­ben. Da­bei war sie immer da­rauf be­dacht, ih­rem Vater kei­ne Ge­le­gen­heit zu ge­wäh­ren, um her­aus­zu­fin­den, wo sie wohn­te. Die Mög­lich­keit, er könn­te wie­der und wie­der Geld von ihr ver­lan­gen, war zu ris­kant. Er hat­te letzt­lich Freun­de, die er sonst mit Ju­les Geld durch­füt­ter­te, die ihm wich­ti­ger waren als sei­ne eige­ne Tochter. Mög­li­cher­wei­se ver­stand er dann, wer die­se an­ge­bli­chen Freun­de wirk­lich waren – Freun­de, die ihn nur aus­nutz­ten.

Ein ab­sur­der Ge­dan­ke kroch in ihr empor: ih­re Jung­fräu­lich­keit! Viel­leicht soll­te sie die­se wahr­haf­tig an­bie­ten, wenn sie sich da­durch die Schlä­ger vom Hals hal­ten konn­te. Es war denk­bar, so aus der gan­zen Si­tua­tion zu flie­hen. Shit! Das war doch völ­lig ver­rückt! Ju­le dreh­te bald durch, des­sen war sie sich si­cher.

Pinzette

»Hi, Schwes­ter­herz«, mur­mel­te Björn, als er atem­los den Fried­hof er­reich­te. Sei­ne Jog­ging­run­den nah­men ein immer grö­ßer wer­den­des Aus­maß an. Es tat ihm gut, sich zu ver­aus­ga­ben. Mit dem Adre­na­lin, was durch sei­nen Körper jag­te, be­täub­te er sei­ne Schuld­ge­füh­le, die er we­gen Le­nas Tod hat­te. »Ich ver­mis­se dich«, flüs­ter­te er. »Es tut mir so leid.« Mit dem Fin­ger strich er über das ed­le Holz­kreuz, auf dem ihr Na­me schwung­voll prang­te.

So ver­lie­fen sei­ne Be­su­che je­des Mal. Er schaff­te es ein­fach nicht, in die Nor­mal­ität zurück­zu­keh­ren und so zu tun, als wä­re nie et­was vor­ge­fal­len. Er kau­er­te in der Ho­cke und starr­te auf das Grab sei­ner Schwes­ter, die er so sehr ver­miss­te. Le­na und Björn hat­ten sich zwar nicht täg­lich ge­se­hen, den­noch war der Tele­fon­kon­takt re­ge aus­ge­prägt ge­we­sen – vor al­lem via Mess­en­ger. Allei­ne die­se sel­ten­däm­li­chen Spaß­bild­chen, die sie so sehr ge­liebt hat­te, hat­ten ihn manch­mal mehr­mals täg­lich er­reicht. Sie war eben ei­ne Froh­natur ge­we­sen, hat­te viel ge­lacht und pu­re Lebens­freu­de aus­ge­strahlt. Die Be­to­nung lag je­doch auf war!