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Zeichen im Schnee E-Book

Melanie McGrath

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Beschreibung

Geliebt und gefürchtet zugleich – das Iditarod, das längste und gefährlichste Schlittenhunderennen der Welt, hat in Anchorage begonnen. Die Arktis-Jägerin Edie Kiglatuk ist zur Unterstützung ihres Exmannes Sammy dabei, der bei dem Rennen startet. Kaum angekommen, entdeckt die Inuk-Frau jedoch eine Babyleiche im Wald, erfroren, in Tücher gewickelt, mit einem umgekehrten Kreuz aus Asche bemalt. Schnell nehmen die Ermittler in Anchorage die Gemeinde der Altgläubigen ins Visier, auf deren Land Edie das tote Baby gefunden hat. Doch Edie glaubt nicht an Opfermorde. Vielmehr führen ihre Ermittlungen in den Umkreis der Protagonisten des Wahlkampfs um den Gouverneursposten von Alaska, der gerade erbittert geführt wird. Während sich Edie mächtige Feinde macht, ist Sammy auf seinem Schlitten in der Wildnis allein unterwegs – jedem Anschlag hilflos ausgeliefert.

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Melanie McGrath

Zeichen im Schnee

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Margarete Längsfeld und Sabine Längsfeld

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. KapitelAnmerkungen zu InuktitutDanksagung

Für meine Mutter, Margaret McGrath

Prolog

Sammy Inukpuk lenkte den Hundeschlitten von der glatten Eisfläche des Meeres hinauf zur Baumgrenze. Nichts schien auf dem Pfad anders zu sein als an den vorhergehenden Tagen. Es war ein später, mondheller Abend, die Luft war kalt und trocken, der Schnee zernarbt von den Kufen der Schlitten vor ihnen, aber kompakt und reibungsfrei.

Die fünfzehn im Gespann verbliebenen Hunde – einer musste vor ein paar Tagen ausscheiden, weil er sich an einem Eissplitter die Pfote aufgeschnitten hatte – mühten sich mit hängenden Zungen die langgestreckte Steigung hinauf; ihre straff gespannten muskulösen Körper zeugten von Willenskraft und Anstrengung. Über die vergangenen zehn Tage und sechzehnhundert Kilometer hatte Sammy sie im leichten Galopp laufen lassen, mit proteinreichem Mischfutter in Schwung gehalten und ihnen nur dann Ruhe gegönnt, wenn die Regeln des Iditarod-Rennens es vorschrieben.

Als der Schlitten in den dunklen Schatten der Bäume eintauchte, trieb Sammy die Hunde mit lauten Rufen an; er kletterte vom Gefährt und lief neben dem Gespann her, um zu verhindern, dass die Tiere vor dem veränderten Licht oder der plötzlichen Stille zurückschreckten.

Einen halben Kilometer ging es weiter bergan. Kurz bevor sie den höchsten Punkt erreichten, legte die Leithündin in freudiger Erregung ein irrsinniges Tempo vor. Das Gespann taumelte im Geschirr nervös hinter ihr her. Auf dem Kamm holte Sammy tief Luft und ließ die Hunde verlangsamen. Er klappte die Bremsmatte herunter, die dem Schlitten bei der Abfahrt Widerstand verlieh. Die Leithündin schnupperte in die Luft und führte das Gespann vorsichtig den Hang hinab, wobei sie die Krallen der Vorderpfoten ins Eis grub, um Halt zu haben. Ein Stück weiter unten wurden die Hunde unruhig und nahmen Tempo auf. Sammy suchte mit den Augen die Gegend ab, fragte sich, ob sie vielleicht ein anderes Tier gewittert hatten, einen Fuchs womöglich. Er nahm jedoch keine Bewegung wahr, und es waren auch keine frischen Spuren zu sehen. Sammy befahl dem Gespann, zu verlangsamen, aber die Hunde waren jetzt so aufgeregt, dass sie nicht gehorchten. Quietschend sauste der Schlitten immer schneller bergab, schwankte gefährlich von einer Seite zur anderen. Sammy packte den Haltegriff, trat mit dem rechten Fuß auf die Bremse, zuerst sachte, dann fester, bis sie sich in den kompakten Schnee krallte. Sammy zitterte am ganzen Leib vor Anstrengung. Die Hunde sträubten sich kurz, gingen dann wieder in Formation und schlugen ein gemächlicheres Tempo an, wodurch der Schlitten wieder mehr Kontakt mit dem Pfad bekam. Just als Sammy sich ein bisschen entspannte, tat es unter ihm einen lauten Krach: Eine Seite der Bremsstange war komplett abgerissen. Unversehens schnellte der Schlitten vorwärts. Entsetzt, aber machtlos, klammerte Sammy sich an den Haltegriff, befahl den Hunden schreiend, langsamer zu laufen. Die Tiere deuteten den plötzlichen Ruck des Schlittens jedoch als Signal zum Beschleunigen. Immer schneller galoppierten sie den eisglatten Hang hinab.

Angst durchzuckte Sammy wie ein Blitz. Vor sich sah er einen Buckel, er rief nakilivaa!, langsam!, aber zu spät. Ein Stoß, ein Knirschen, und plötzlich flog der Schlitten in hohem Bogen durch die Luft. Sammy fühlte sich schwerelos und benommen und versuchte verzweifelt, den Haltegriff umklammert zu halten. Den Bruchteil einer Sekunde darauf schlug der Schlitten mit einem heftigen Krachen auf. Sammy schnappte nach Luft. Der Schlitten war nicht umgekippt, rutschte aber wie wild von einer Seite auf die andere. Sammy krallte sich mit aller Kraft fest. Dann passierte, was er am meisten befürchtete: Ein Hund rutschte aus. Taumelnd, aber noch im Geschirr, drehte er sich auf dem Eis, mitgerissen vom Tempo der vor ihm laufenden Hunde. Andere stolperten über das gestürzte Tier. Am Ende standen von den fünfzehn Hunden im Gespann nur noch sieben oder acht aufrecht. Die anderen, heillos im Geschirr und miteinander verheddert, purzelten und schlitterten den Pfad hinab.

Sammy spürte, wie der Schlitten heftig auf der Achse wankte. Ein Fichtenzweig peitschte ihm ins Gesicht, dann noch einer. Sie waren jetzt abseits vom Pfad und schlitterten durch die Bäume abwärts. Ein schwindelerregender Adrenalinstoß durchströmte Sammys Brust. Und da kippte der Schlitten um. Sammy wurde in die Luft geschleudert und starrte mit Schrecken auf die riesengroße, ungerührte Fichte, die in Windeseile auf ihn zuzurasen schien.

1

Edie Kiglatuk konnte nicht sagen, wie lange der Bär sie schon ansah. Seine runden braunen Augen waren wie in Pelzwolken gebettete dunkle Sterne am Sommerhimmel. Er hob die Nase, schnupperte, nahm Edies Witterung auf. Sein massiger Körper war eingerahmt von den verschneiten Bäumen des alaskischen Fichtenwaldes.

Edie hatte in ihrem Leben oft genug mit Eisbären zu tun gehabt, um sicher zu sein, dass dies hier trotz seiner Färbung keiner war. Eisbären hatten längere Köpfe, spitzere Schnauzen und kleinere Ohren. Dieses Tier sah anders aus, es war stumpfschnauzig und zottig und so groß wie ein Schwarzbär. Aber eben nicht schwarz. Und mit den braunen Augen auch kein Albino.

Auf dem langen Flug von Autisaq in der kanadischen Hocharktis, wo sie zu Hause war, hatte Edie sich die Zeit mit Handbüchern über die alaskische Flora und Fauna vertrieben, und jetzt kam ihr die Vermutung, dass dieses Tier ein Geisterbär war. Die qalunaat, die Weißen, nannten sie Kermodebären, doch die Gitga’at, die Einheimischen, kannten sie als mooksgm’ol und machten niemals Jagd auf sie. Sie sagten, diese Bären seien außerirdische Tiere, Wesen, denen die Macht gegeben war, Botschaften zwischen den Lebenden und den Toten zu übermitteln.

Irgendetwas drängte Edie, näher heranzugehen. Sie schwang sich von ihrem Schneemobil und landete mit einem dumpfen Plumps im Schnee. Das erschreckte Tier stieß ein kurzes Bellen aus und stellte sich auf die Hinterbeine. Es war etwa einen Meter achtzig groß, doch seine Haltung war weniger angriffslustig als … als was? Edie kannte Bären von klein auf, aber der hier hatte etwas an sich, das sie nicht deuten konnte.

Das Tier sah sie noch einen Moment an – seine Nüstern bebten, die kleinen braunen Augen glänzten wie ein regennasser Stein –, dann ließ es sich wieder auf alle viere fallen und stapfte langsam durch die Bäume davon. Von Zeit zu Zeit wandte es den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie ihm nicht folgte.

Oder vielleicht, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgte.

An einem sonnenbeschienenen Flecken zwischen zwei Fichten blieb der Bär stehen und sah sich um. Er stieß ein leises Husten aus, sein Atem trübte die Luft.

Er wartete.

Edie bewegte sich auf ihn zu, langsam zuerst, dann mit mehr Zuversicht. Einige Sekunden lang stand er unbewegt, dann drehte er sich um und schlurfte tiefer in den Wald hinein. Sie ging weiter vorwärts, überzeugt, dass der Bär sie irgendwohin führte, dass er sie auserkoren hatte.

Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun Uhr morgens. In zwei Stunden würde Sammy Inukpuk zum offiziellen Start des Iditarod-Hundeschlittenrennens in Willow eintreffen und seine Exfrau bei der Helfertruppe erwarten. Es war ihre Aufgabe, ihn mit allem Notwendigen zu versorgen und ihn zu Beginn der zwei wohl härtesten Wochen seines Lebens, in denen er mit sechzehn Hunden gut 1850 Kilometer durch eines der rauesten Gebiete der Erde rasen würde, moralisch zu unterstützen. Von da an würde sie in Anchorage bleiben, Vorräte organisieren und zur Stelle sein, um die Hunde in Empfang zu nehmen, die sich unterwegs verletzt hatten. Ihr Freund und Gefährte Derek Palliser war für Logistik und Kommunikation zuständig – im Nordwesten in der Stadt Nome, dem Zielort des Rennens.

Der Bär war etwa zwanzig Meter vor ihr; Edie ging weiter, vorbei an Weißfichten, dann an Zitterpappeln, stapfte durch Tiefschnee, während ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Ihrem Gefühl nach waren sie schon lange Zeit unterwegs, als der Bär jäh stehen blieb und sich umdrehte. Er war jetzt weit entfernt und zwischen den Bäumen nur undeutlich zu sehen, wie Nebelschwaden im Dunkeln. Er beobachtete eine Weile, wie Edie sich ihm näherte, dann hob er den Kopf, schnupperte in die Luft, machte kehrt und trabte davon.

Edie sah sich um. Zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben musste sie feststellen, dass sie nicht wusste, wo sie war. Ein Blick auf ihre Fußspuren, die längliche Achten ergaben, sagte ihr, dass der Bär sie in Kreisen herumgeführt hatte. Sie befand sich in einer nasskalten Welt voll beweglicher Schatten und seltsamen Geflüsters, wie in einem Kindertraum, und sie hatte absolut keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ihre Handflächen wurden feucht.

Sie tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug und stand lauschend da, nahm die Geräusche des Waldes in sich auf und versuchte, sich an ihnen zu orientieren. Dort, wo Edie herkam, auf der Insel Ellesmere, knapp achthundert Kilometer vom Nordpol entfernt, gab es keine Bäume, nur raue, steinige Tundra. An klaren Tagen konnte man die Krümmung der Erde sehen. Die unbekannte Landschaft Alaskas war auch so eine Sache, die Edie sich nicht richtig klargemacht hatte, als sie sich bereit erklärte, Sammy zu helfen, nachdem sein einziger noch lebender Sohn, Willa, sich den Arm gebrochen hatte. Jetzt frischte der Wind auf, fegte über den Waldboden und zerstieb den Schnee zu kleinen Flockenfontänen. Die Fichtenstämme ringsum knarrten ganz leise, und eine Pulverschneewehe schneite von den Ästen auf die Erde. Wäre sie länger als zwei Tage in Alaska gewesen, wüsste sie möglicherweise schon, woher der Wind überwiegend wehte, aber nicht mal damit war sie vertraut. Sie blickte nach oben, konnte die Sonne durch die Wipfel jedoch nicht sehen. Sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, in welche Richtung sie sich bewegte.

Weit entfernt krächzten Raben, ganz nah knackte ein Zweig, und dicht über dem Boden raschelte etwas, ein Fuchs vielleicht. Es war extrem unverantwortlich gewesen, ohne Gewehr hier herauszukommen, so wie sie es gemacht hatte, als sie noch trank. Eine Gewohnheit, die sie hoffentlich ein für alle Mal abgelegt hatte.

Sie nahm ein Vibrieren wahr, das sich dann langsam zum tiefen Heulen eines Motors steigerte. Sie war so erleichtert, dass sie hätte juchzen können. Das Geräusch näherte sich, und kurz darauf kam ein Schneemobil in Sicht. Edie grinste, winkte und wartete, aber das Gefährt setzte seinen Weg fort, ohne auch nur zu verlangsamen. Edie lief ihm in den Weg, schrie und gestikulierte wild mit den Händen. Der Fahrer schob sein Visier hoch, und heraus schauten zwei Augen, die inmitten des graumelierten Bartgewirrs fast verloren wirkten. Hinter ihm saß teilnahmslos eine Beifahrerin mit Silberfuchsfäustlingen an den Händen. Unter den Daunenparkas trugen beide anscheinend lange, bauschige Kasacks und dazu passende Hosen. Das Paar kam offensichtlich vom wöchentlichen Lebensmitteleinkauf. Das Schneemobil war über und über mit Taschen behängt.

«Hey, haben Sie mich nicht winken gesehen?» Edie war ärgerlich. Hatten die Leute hier unten keine Manieren? «Ich habe mich verirrt. Ich muss zum Hatcher Pass zurück.»

Der Mann zuckte die Achseln. «Sie sind hier auf Altgläubigen-Besitz», sagte er nur.

Sie hätte am liebsten gesagt, ihr sei schnuppe, ob sie auf Leckmich-Besitz sei, aber sie beherrschte sich. «Ich weiß nicht mehr, wo mein Fahrzeug ist.»

Der Mann blickte erstaunt, deutete dann aber mit dem Kopf in die Richtung, aus der er und seine Beifahrerin gerade gekommen waren. «Wenn Sie Ihre Spuren nicht finden können, folgen Sie unseren», sagte er. «Ist das Ihr Motorschlitten da unten auf dem Weg?»

Motorschlitten. So nannten sie die Gefährte hier unten im Süden, in Alaska. Wo Edie herkam, fuhr man nicht einfach vorbei, wenn man ein Schneemobil sah, auf dem niemand saß, sondern hielt an, um zu sehen, ob jemand Hilfe brauchte.

«Sind Sie immer so hilfsbereit?»

Der Mann sog missbilligend die Luft durch die Zähne. «Die Sorgen der Welthaften sind nicht unsere Sorgen», sagte er und drehte sich zu der Frau hinter sich um. Danach wirkte er ein wenig nachgiebiger. «Wir haben es nicht gern, wenn Fremde sich unbefugt auf unserem Besitz herumtreiben, das ist alles. Ich an Ihrer Stelle würde mich hüten, so bald wieder dieses Weges zu kommen.»

Damit löste er die Bremse, klappte sein Visier herunter und bediente den Gashebel. Das Schneemobil setzte sich in Bewegung, und Edie sah die zwei im finsteren Wald verschwinden. Sie kehrte um, die Spuren des Schneemobils immer im Blick behaltend, wie ihr der Mann geraten hatte. Kurze Zeit später war durch eine Lücke zwischen den Bäumen die Straße zu erkennen, die zurück in die Stadt führte, und in der Ferne erspähte sie ihr Schneemobil.

Erleichtert ging sie darauf zu. Wo die Spuren schließlich dem Weg mit festgefahrenem Schnee wichen, erblickte sie am Fuß einer Fichte einen leuchtend gelben Gegenstand, der durch die Äste des Baumes vor Schnee geschützt war. Ihr kam der Gedanke, dass das Paar womöglich etwas von seinem Schneemobil geworfen hatte. Sie verließ den Weg und ging hin, um nachzusehen.

Beim Näherkommen stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass das gelbe Ding ein Miniaturhaus aus Holzbohlen war, einer kleinen Hundehütte nicht unähnlich, einen Meter lang und halb so breit, mit einem Schrägdach und stabilen Seitenwänden. Die Vorderseite war mit blumigen Ornamenten verziert, das Türchen mit einem groben Holzhebel versperrt.

Edie sah sich um. Eine hauchdünne Schneeschicht hatte sich auf dem Dach angesammelt, aber an den Seiten war kein Schnee aufgehäuft, was darauf schließen ließ, dass die Hütte schon hier gestanden hatte, als es zuletzt schneite, aber höchstwahrscheinlich noch nicht viel länger. Ringsum waren weder Fußspuren von Tieren oder Menschen noch führten welche zu der Hütte hin. Sie stand da, als sei sie schon immer hier im Schnee gewesen, als würde sie einer anderen Wirklichkeit angehören und von kleinen Feen bewohnt.

Jeder Gedanke an das Iditarod-Rennen war aus Edies Kopf verschwunden. Sie rief etwas, ohne jede Ahnung, wer oder was ihr antworten mochte, aber da war nichts als Stille. Bei der Hütte angekommen, duckte sie sich und legte den Hebel des Türchens um. Sie sah, dass drinnen etwas war, doch es war zu dunkel, um es deutlich zu erkennen. Ihr erster Gedanke war, es herauszuziehen, aber etwas hielt sie zurück. Der Geisterbär kam ihr in den Sinn, die Macht seiner stillen, gespenstischen Blässe. Plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass der Bär sie hierhergeführt hatte, dass die Geister ihren Boten gesandt hatten, um sie an diesen Ort zu bringen.

Sie kehrte zum Schneemobil zurück, nahm ihre Taschenlampe aus der Satteltasche, stapfte wieder zu der Hütte und öffnete das Türchen ein zweites Mal. Der Strahl der Lampe fiel auf ein Paket, das in ein prächtig besticktes rotes Tuch gewickelt war. Edie streckte vorsichtig die Hand aus und fasste es an. Das Tuch war steif, aber nicht hart gefroren. Da schätzungsweise minus 25 Grad waren, war es selbst im relativen Schutz des Waldes unwahrscheinlich, dass es schon sehr lange dort lag. Edie machte das Türchen weit auf, griff hinein und zog an dem Ding. Es war nicht befestigt und kam leicht heraus. Der Stoff war kostbar, Satin, vermutete sie, über und über mit einem Muster aus Blumen und Ranken bestickt und mit mehreren zu Schleifen gebundenen Schnüren umwickelt. Was sich darin befand, war sehr hart, seit langem gefroren. Mit dem Paket in der Hand stand sie auf, ging zum Schneemobil und legte es auf den Sattel, um es genauer betrachten zu können. Unter dem verzierten Stoff befand sich ein viereckiges weißes Leinentuch. Sie hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, und sogleich löste sich das Tuch. Wie von selbst gingen die Schnüre um das Paket auf und enthüllten, was darin lag.

Ihr stockte der Atem, ein beklemmendes Brennen schoss ihr den Rücken hinauf. Sie kniff die Augen zu, wollte das entsetzliche Etwas zum Verschwinden bringen, aber als sie die Augen wieder öffnete, war es noch da. Sie wich taumelnd zurück. Ihre Beine trugen sie nicht mehr, sie hielt sich am nächsten Baum fest. Sie glaubte ohnmächtig zu werden, sich übergeben zu müssen, aber keins von beidem geschah. Sie schlug die Arme um sich, schloss die Augen und drückte sie so fest zu, bis der Schmerz sie beruhigte. Als ihr Atem wiederkehrte, ungleichmäßig, keuchend, ging sie vorsichtig zurück zu dem Entsetzlichen, das sie aus dem gelben Miniaturhaus befreit hatte.

Auf dem Sattel des Schneemobils lag ein Baby, vielleicht ein, zwei Monate alt, auf dem Bauch, tot und steif gefroren. Die Ärmchen waren erhoben, die Händchen zu winzigen Fäusten geballt, die Haut glitzerte von Eiskristallen. An einer Schulter war die Haut narbig wie von Frostbrand, aber es gab keine weiteren Verletzungen oder Anzeichen, die darauf schließen ließen, wie oder wann das Baby gestorben war.

Unendlich behutsam fasste Edie mit ihren in Fäustlingen steckenden Händen das tote Kind an den Schultern und drehte es langsam herum. Es war die Leiche eines Jungen. Sein Gesichtchen war mit Eis überzogen, die Augen waren geschlossen, seine Miene sanft und friedlich. Er sah so wächsern aus, so abwesend, dass Edie sich einen winzigen Moment lang einredete, es sei eine Puppe, obwohl sie genau wusste, dass sie einen Leichnam vor sich hatte.

Auf die zarte neue Haut des Jungen hatte jemand mit Fett und Zeichenkohle, möglicherweise auch mit Asche, ein kunstvolles, auf dem Kopf stehendes Kreuz gemalt.

2

Chuck Hillingberg, der Bürgermeister von Anchorage, half seiner Frau Marsha vor der Zentrale des Iditarod-Rennens aus dem Dienstwagen und strahlte in die Kameras. J. G. Dillard, sein Kollege im Rathaus von Wasilla, der einzige Bürgermeister in ganz Alaska mit Überkämmfrisur, schritt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, seine mausgraue Frau hinter sich herziehend, begierig, mit auf die Fotos zu kommen. Chuck interessierte der Mann nicht – anders als er selbst, der bei den kommenden Wahlen als Kandidat für den Gouverneursposten ins Rennen ging, strebte Bürgermeister Dillard nichts an – aber heute kam es darauf an, sich leutselig zu geben.

«Es freut uns sehr, Sie beide hier zu haben», sagte Dillard. «Ich dachte, nach der langen Zeit in der Großstadt haben Sie womöglich ganz vergessen, dass Ihre Wurzeln hier in Wasilla sind.» Dies wurde in jovialem Ton geäußert, von Bürgermeister zu Bürgermeister, entbehrte aber nicht einer gewissen Spitze. Auf der Fahrt hierher (Chuck hatte den Bürgermeister-Hubschrauber nehmen wollen, doch Marsha hatte es ihm mit der Begründung ausgeredet, das wirke zu protzig, womit sie, wie so oft, richtig lag) hatte er beschlossen, sich in diesem Tagesabschnitt ganz und gar loyal zu geben. Jetzt war er noch keine fünf Minuten hier, und schon stellte Dillard seine Heimatverbundenheit in Frage. Das kotzte ihn an.

Chuck schüttelte ihm die Hand. «Die Heimat vergesse ich nie, J. G.», sagte er. Das entsprach insofern der Wahrheit, als Chuck Jersey City in New Jersey, seine eigentliche Heimat, nicht vergessen hatte. Mit vier Jahren hatte er sie verlassen, und bis heute empfand er eine fast schmerzliche Sehnsucht nach ihr. Gegen Wasilla aber hegte er eine leidenschaftliche Abneigung. Die Leute schwärmten von der spektakulären Lage der Stadt, die im Süden von grünen Tälern, im Osten vom Chugach-Gebirge und im Norden von den Talkeetnabergen begrenzt wurde. Sie faselten von dem klaren Wasser der Stadt, von den christlichen Werten und dem Gemeinschaftsgeist. Leute wie J. G. Dillard. Alles, woran Chuck sich im Zusammenhang mit Wasilla erinnerte, waren die grässlichen Winter, die er in seinem winzigen Zimmer in dem Häuschen seiner Familie auf der Willow-Seite der Stadt verbracht hatte, keine zehn Autominuten von hier entfernt. Dort hatte er seine Hippy-Aussteiger-Eltern belauscht, wenn sie ihre Enttäuschungen aneinander ausließen, dort hatte er sich danach gesehnt, woanders zu sein, egal wo, nur nicht in der Hinterwäldler-Hauptstadt Amerikas.

Von den Kameras führte Dillard sie zu einem Ü-Wagen, der unweit der Startlinie des Rennens parkte. Schon hatten sich auf beiden Seiten Menschentrauben gebildet, die stampfend die Kälte vertrieben und sich aufgeregt erzählten, auf wen sie gesetzt hatten. Andy Foulsham, Chucks PR-Manager, hatte ihn beim Frühstück an das Interview erinnert, das er und Marsha im Lokalfernsehen geben sollten. An der Wagentür blieb Chuck stehen, um Marsha den Vortritt zu lassen. Während ihrer langen Ehejahre hatten sie es in puncto öffentliche Zuneigungsbekundungen wahrhaft zu hoher Kunst gebracht, dachte er. Niemand würde glauben, dass sie sich seit ihres gemeinsamen Studiums an der Universität von Alaska nicht mehr aufrichtig geküsst hatten. In der Welt der Kommunal- und Staatspolitik waren sie ein Bombenerfolg; ihre Ehe wurde oft als eine der solidesten Partnerschaften weit und breit bezeichnet, und in gewisser Hinsicht war sie das auch. Es gab alles Mögliche, was Ehen zusammenhielt. Unter anderem Geheimnisse.

Den anstrengendsten Teil des Tages hatte er schon hinter sich, eine Rede fürs Frühstücksfernsehen, die er bei der feierlichen Eröffnung des Iditarod-Rennens in Anchorage gehalten hatte. Anders als beim offiziellen Start ging es bei der Eröffnung ganz familiär zu. Eltern ermunterten ihre Kinder, die Hunde zu streicheln und ein Stückchen mit den Schlitten der Teilnehmer zu fahren. Chucks Rede hatte von dem starken Gemeinschaftsgeist Alaskas gehandelt, davon, dass das Iditarod-Rennen – das seinen stolzen Urspung in einem dramatischen Wettlauf hatte, bei dem Diphterie-Impfstoff zu der abgelegenen Siedlung Nome gebracht worden war – Entschlossenheit und Großmut Alaskas verkörperte. Es war eine gelungene Rede gewesen, er hatte die positive Energie des Morgens nutzen und sich auf subtile Weise die Courage und Zähigkeit der damaligen Schlittenfahrer zu eigen machen können. Die Botschaft, die er in Anchorage hinterlassen zu haben hoffte, lautete, dass eine Stimme für Chuck Hillingberg im kommenden Rennen um den Gouverneursposten eine Stimme für den Geist von Iditarod war.

Als die Hillingbergs in den Wagen stiegen, beschloss Chuck, das Reden überwiegend Marsha zu überlassen. Er hörte zu, wie seine Frau den Interviewer mit etlichen heimatlichen Jagd- und Schießgeschichten aus ihrer Jugendzeit bezauberte. In Wahrheit war sie nicht oft jagen gewesen, sicher nicht so oft wie Chuck, der einen Großteil seiner Jugendjahre damit verbracht hatte, an allem seine Wut auszulassen, von der Bisamratte bis zum Elch. Doch Marsha machte immer ein großes Getue um ihr raues Leben in der Siedlung, wo sie aufgewachsen war, und weil sie ein Einzelkind war und ihre Adoptiveltern beide tot waren, gab es niemanden mehr, der ihr widersprechen konnte. Im Gegensatz zu ihm musste sie ihre Begeisterung für den Staat nicht heucheln. Sie hatte Chuck immer wieder gesagt, es gebe nicht viele Orte in Amerika, wo man mehr oder weniger tun und lassen konnte, was man wollte, ohne dafür belangt zu werden. Das Leben in diesem Grenzland war tatsächlich so, wie es in den Reiseprospekten stand: «Jenseits Ihrer Träume, innerhalb Ihrer Reichweite.» Der Trick sei, sagte Marsha immer, dafür zu sorgen, dass nichts jenseits der Träume lag.

Sie war Chuck zuerst als kluge, entschlossene Sechzehnjährige aufgefallen, als sie sich um den Vorsitz des Vorbereitungskomitees für den Abschlussball an der Highschool von Wasilla beworben hatte. Schön war sie damals gewesen, die langen kastanienbraunen Haare dicht und glänzend, die schlanke Taille vom Alter noch unberührt. Aber es war nicht so sehr ihr Äußeres gewesen, das ihn angezogen hatte, als vielmehr ein Anflug von Skrupellosigkeit, den er in ihrem Lächeln entdeckt hatte. Die Geschichte ihrer Adoption rührte ihn, weil er sah, wie entschlossen sie war, sich anzupassen, die Umstände ihrer Geburt zu ändern, eine echte Alaskanerin zu werden. Seit jener ersten Begegnung hatte er gewusst, dass sie es weit bringen und sich von niemandem aufhalten lassen würde.

Einmal hatten sie sich für kurze Zeit getrennt, als er die Praktikantenstelle im Washingtoner Büro von Steven Horowitz antrat, dem republikanischen Junior Senator für South Carolina. Aber als er, an der Last seines Hinterwäldlertums leidend, kleinlaut zurückgekehrt war, hatte sie ihn wieder aufgenommen. Noch im selben Jahr hatten sie geheiratet. Es war nicht so sehr eine Vernunftheirat als vielmehr ein Zusammentreffen gemeinsamer Interessen gewesen.

Während des vergangenen Jahres hatte sein Interesse sich auf den Gouverneurswahlkampf konzentriert. Bis vor wenigen Wochen schien Tom Shippon, der Amtsinhaber, so gut wie unbesiegbar zu sein. Shippon war durch und durch Alaskaner. Er stammte aus einer alteingesessenen Familie. Sie waren Alaskaner, ehe Alaska 1959 ein Bundesstaat der USA wurde. Sein Vater Scoot hatte sich schon vorher stark in der alaskischen Politik engagiert. Die Shippons hatten überall ihre Finger im Spiel, von der Lachsfischerei über Nutzholzgewinnung bis zur Öl- und Gasförderung. Die einzigen Geschäfte, bei denen sie nicht unmittelbar mitmischten, waren Tourismus und Erholung. Weichei-Geschäfte sagte Tom Shippon dazu, allerdings nur im privaten Kreis.

Chuck besaß weder den Vorteil, ein Amt zu bekleiden, noch war seine Herkunft der Art, dass sie ihn in der Staatspolitik automatisch dahin brachte, wohin er strebte. Für einen Jungen aus New Jersey war es schwer, sich dagegen zu stemmen und auf den Sieg zu hoffen. Andere Außenseiter hatten es versucht, aber nur wenige mit Erfolg; für gewöhnlich wurden ihnen die Spitzenpositionen verwehrt. Er sah zu sehr nach einem cheechako aus, einem Neuling ohne Erfahrung. Im Frühstadium des Wahlkampfes gab es einige, die ihm sogar vorwarfen, Alaska im Stich gelassen zu haben, weil er nach Washington und damit außer Landes gegangen war. Was einfach lächerlich war angesichts der Tatsache, dass das zwanzig Jahre her war. Aber die Alaskaner betrachteten sich beharrlich als isoliert. Man war entweder für sie oder gegen sie, und deswegen wurde die Episode in Washington von manchem Großmaul noch heute als Verrat bezeichnet.

Im vergangenen Jahr hatte er doppelt hart arbeiten müssen, um diese Leute davon zu überzeugen, dass er von ganzem Herzen Alaskaner war – was umso schwieriger war, als es nicht der Wahrheit entsprach. Als er erst Stadtrat und dann Bürgermeister von Anchorage wurde, hatten es seine Gegner nicht allzu schwer gehabt, ihn als Großstadtmenschen hinzustellen, der mit echten Alaskanern und ihren Interessen wenig gemein hatte. Und hier war Marsha auf den Plan getreten. Ihre aufrichtige Begeisterung für den Staat hatte dazu beigetragen, ihn mehr wie einen hiesigen Landsmann aussehen zu lassen. Diese Verbesserung seines Images hatte ihm sehr geholfen, was sich nicht zuletzt in Form von Wahlkampf-Spenden ausgedrückt hatte. Er war sich bewusst, dass kein noch so schmeichelhaftes Gerede über seine Liebe zum neunundvierzigsten Bundesstaat die wohlhabenden Alteingesessenen von Alaska anspornen würde, für seinen Gouverneurswahlkampf so tief in die Tasche zu greifen, wie sie es nahezu automatisch für Shippon getan hatten, aber es war ihm gelungen, genügend Spenden aufzubringen, um zumindest eine Herausforderung darzustellen. Noch letzte Woche hätte sein Wahlkampfteam auch angesichts der optimistischsten Prognosen gesagt, dass seine Chancen, Shippon auszustechen, äußerst gering seien. Doch das war, bevor die Arbeitslosenzahlen veröffentlicht wurden und die Umfragen zeigten, dass Shippons Stern am Sinken war. Diese Statistiken bargen eine Gelegenheit – die größte Gelegenheit in Chuck Hillingbergs Leben. Aber um die Kampagne durchzuziehen, brauchten sie Geld, und deswegen begab er sich unmittelbar, nachdem er den Startschuss zur Eröffnung des Iditarod-Rennens abgefeuert hatte, zu einem Lunch ins Sheraton im Zentrum von Anchorage, für den zehntausend Dollar pro Gedeck zu berappen waren. Seine Rede zum Zweck der Geldbeschaffung hatte er schon x-mal gehalten. Sie beinhaltete das, was Geschäftsleute und Unternehmer immer gerne hörten. Alaska müsse die Staatsausgaben drosseln und neue, innovative Wege finden, damit Privatunternehmen sich entwickeln und wachsen konnten. Aber der Glaube, dass er knapp siegen könnte, hatte seiner Rede neuen Schwung verliehen. Beim Frühstück hatten Marsha, Andy und er beschlossen, dass seine heutige Rede die neue Zuversicht der Wahlkampagne widerspiegeln müsse. Er wollte sich auf das Staatsmotto Alaskas beziehen – «North to the Future», Dem Norden die Zukunft – und sagen, dass diese Zukunft nur ein Gouverneur Chuck Hillingberg gestalten könne.

Er ging die Stufen des Ü-Wagens hinunter und trat wieder in die kalte Sonne des alaskischen Märzmorgens. Während der fünfzehn Minuten, die er und Marsha sich in dem mobilen Studio aufgehalten hatten, war die Menschenmenge beträchtlich angewachsen, und hinter der Presseabsperrung bemerkte er erfreut eine Reihe Fernsehkameras. Als er an der Absperrung entlangging, fühlte er sich geschmeichelt, weil er freundliche Gesichter entdeckte, Bekannte, die nach vorne drängten, um hallo zu sagen oder ihm die Hand zu schütteln – bis ihm einfiel, dass Andy es ja so arrangiert hatte. Aber egal. Davon wussten die Fernsehteams ja nichts.

Der Umstand, dass die feierliche Eröffnung des Rennens in Anchorage stattfand, verlieh Chuck einen der wenigen Vorteile gegenüber Tom Shippon, und den gedachte er gründlich für sich auszunutzen. Als Bürgermeister der Stadt war es ihm ein Leichtes, das Rennen zu seiner Sache zu machen, auch wenn der offizielle Start in Wasilla war, und Shippon, der in seiner Gouverneursresidenz in Juneau festsaß, konnte nichts dagegen tun. Das Rennen genoss im Staat hohes Ansehen, war aber auch von nationaler und internationaler Bedeutung. Das Iditarod-Rennen mochte nicht das einzige Hunderennen auf Erden sein, es war aber dasjenige mit dem höchsten Bekanntheitsgrad und für viele das einzige, das wirklich zählte. Auch wer sich überhaupt nicht für Hunderennen interessierte, hatte schon von dem «Great Run of Mercy» gehört. Der heldenhafte Staffellauf hatte fünfeinhalb Tage gedauert, zwanzig Hundeschlittenführer und 150 Hunde hatten eine Strecke von 1085 Kilometern zurückgelegt, um ein Diphterieantitoxin über das alaskische Eis in die ferne Goldgräberstadt Nome zu bringen und so eine Epidemie zu verhindern. Und selbst wenn die Leute die Einzelheiten der Geschichte nicht kannten, hatten viele Balto gesehen, den Leithund des Gespanns der letzten Staffel, der im Central Park von New York in Bronze verewigt ist. Seit dem ersten Rennen, das 1973 zur Erinnerung an den Serumlauf stattfand, war das Iditarod-Rennen gewaltig gewachsen, sowohl im Hinblick auf die Zahl der Teilnehmer als auch – für Chuck noch wichtiger – im Hinblick auf die Bekanntheit. Damals in den 1920er Jahren wurde die Nachricht von der heldenhaften Fahrt im Radio, dem neuen Medium, übertragen. Heutzutage flogen Fernsehteams aus aller Welt hierher, und da rund um die Uhr gesendet wurde, hatten sie viel Zeit zu füllen. Nur wenige Minuten nach dem Start des Rennens wurden die Clips im Internet verbreitet, und Chuck hoffte, wenigstens in einigen davon präsent zu sein. Andy lag ihm ständig in den Ohren, dass ein ordentliches Internetprofil im einundzwanzigsten Jahrhundert für den Wahlerfolg eines Politikers so wichtig war, wie es im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert Wahlfeldzüge durchs ganze Land gewesen waren. Das Internet sei eine billige und dynamische Plattform, von der aus sich die Hillingberg-Kampagne verbreiten ließe. Wer die Blog- und Twitterwelt beherrsche, sei schon halb am Ziel. Hatte Obama es nicht genauso gemacht?

Bürgermeister Dillard führte sie zu den Hundegespannen, damit sie sich diese ansehen und ein paar Worte mit den ganz großen Assen wechseln konnten – mit Steve Nicols, dem Favoriten und letztjährigen Sieger, und seinem Herausforderer Duncan Wright. Während Chuck sich mit den beiden Favoriten unterhielt, machte Dillards mausgraue Frau Marsha mit zwei Außenseitern bekannt, die Andy Foulsham kürzlich als nachrichtentauglich klassifiziert hatte: einer Witwe, deren Mann bei einem Bohrinsel-Unglück im North-Slope-Ölfeld ums Leben gekommen war, und einem Ureinwohner, der den ganzen Weg von der kanadischen Hocharktis gekommen war und die Teilnahme am Rennen seinem verstorbenen Sohn gewidmet hatte.

Anschließend begaben Chuck und Marsha sich auf das Podium neben der Startlinie. Die Menge tobte jetzt, die Blicke waren auf die Hunde und Schlitten sowie auf die heldenhaften Fahrer gerichtet, die im Begriff waren, zu ihrer dramatischen zweiwöchigen 1850-Kilometer-Tour über Gebirgsketten und Eisfelder aufzubrechen, über die Geröllhalde von Farewell Burn, das breite Eisband auf dem Yukon River und das Treibeis des Norton Sund bis zum Zielort Nome – wohl wissend, dass zwanzig bis vierzig von den siebenundneunzig startenden Gespannen gezwungen sein würden, aufzugeben.

Dillard erklomm die Stufen zum Podium und begann, die Teilnehmer vorzustellen. Dröhnende Musik erschallte, und auf ein Zeichen von Andy Foulsham folgten Chuck und Marsha Dillard Hand in Hand die Stufen hinauf; Chuck grinste leutselig, Marsha lächelte stumm an seiner Seite. Chuck stellte sich ans Mikrophon und sprach ein paar Worte, danach hob er die Startpistole und schoss in die Luft. Ein gewaltiger Chor aus Schlittenführerrufen und Hundegeheul erhob sich, gefolgt vom Zischen der Schlittenkufen auf dem kompakten Schnee. Als die Gefährte vorübersausten und die Hunde Tempo aufnahmen, geriet die Menge völlig außer sich.

Chuck trat einen Schritt zurück. Er war dermaßen gefesselt von dem Begeisterungstaumel, dass er die kleine, hübsche Einheimische, die sich in einem Parka aus Robbenfell durch die Menschenmenge schob und hektisch mit den Armen gestikulierte und schrie, erst bemerkte, als sie fast mit ihm zusammenstieß.

3

Im Polizeirevier in der Innenstadt von Anchorage trat eine Frau, die ein Klemmbrett schwenkte, aus einer Tür und rief «Edith Kiglake» auf.

Edie wandte ruckartig den Kopf, nickte, warf sich ihren Parka über den Arm und stand auf. Es war acht Uhr abends, und sie wartete bereits seit der Mittagszeit. Der Fund im Wald hatte sie erschüttert, aber noch war ihr das gewaltige Ausmaß des Geschehens nicht recht bewusst. Es war, als hätte man sich verletzt. Man wusste wohl, dass es höllisch weh tun musste, doch das Adrenalin dämpfte die Schmerzen. Im Augenblick waren Müdigkeit und Hunger ihre vorherrschenden Empfindungen, noch überwältigender aber waren die Hitze und der Lärm. Das Studium der Tier- und Pflanzenwelt Alaskas hatte sie nicht auf das dröhnende Durcheinander des Stadt-Dschungels vorbereitet. Ununterbrochen surrte hier menschlicher Lärm. Das machte sie reizbar, und sie fühlte sich isoliert. Acht Stunden lang war sie den Geräuschen des Getränkeautomaten ausgesetzt gewesen, den Lautsprecherdurchsagen und den vielen Betrunkenen und Nutten, die wie ein ständiger Gezeitenstrom herein- und hinausfluteten.

«Miss Kiglake?» Die Frau blickte ungeduldig aus zusammengekniffenen Augen. Sie war eine füllige Einheimische, keine Inuit – dafür sprang die Nase zu weit vor –, und sie hatte die herablassende Miene von jemandem, der Probleme damit hat, morgens zum Frühstück schon etwas zu essen, und der darüber vergessen hat, dass es noch andere Probleme gibt.

«Mein Name ist Kiglatuk», sagte Edie.

Die Frau sah auf ihrem Klemmbrett nach, nickte und winkte Edie in ein Großraumbüro voller Arbeitskabinen, in denen Leute telefonierten, tippten oder auf ihre Bildschirme sahen. Dazwischen stand, ins Gespräch vertieft, eine Gruppe uniformierter Polizisten.

Die Frau führte Edie an den Kabinen vorbei in einen Raum, in dem ein etwa fünfzigjähriger Mann mit schütterem Haar an einem Schreibtisch saß und Akten studierte. Sein Gesicht ließ so etwas wie konservative Klugheit erkennen, fand Edie. Die Falten waren wie erstarrter Wellengang, Anzeichen für ein spärliches Repertoire an mimischen Reaktionen. Daran gewöhnt, seine Gefühle für sich zu behalten, dachte sie. Er stand auf, gab ihr die Hand, stellte sich als Detective Bob Truro vor und bedeutete Edie, Platz zu nehmen.

«Kann Kathy Ihnen etwas bringen?», fragte der Beamte in beiläufigem Ton. «Kaffee? Wasser?»

«Sie haben wohl keine Robbenfleischsuppe oder vielleicht Flossenbraten?», fragte Edie, obwohl sie die Antwort kannte. Unerklärlicherweise schienen Alaskaner sich für Nordstaatler zu halten, dabei war Alaska nach allem, was sie gesehen hatte, ein südliches Land, auch wenn es hier und da mit nördlichem Eis bedeckt war. Der Blick, den Truro seiner Kollegin zuwarf, bestätigte nur Edies Mutmaßungen. Schon hielt man sie für leicht verrückt.

«Einen Hamburger können wir Ihnen vielleicht besorgen», sagte er trocken.

Edie nahm den Raum in Augenschein. Sie fühlte sich jetzt seltsam betäubt, wie entrückt. Vor ein paar Stunden war sie einem Geisterbären gefolgt, der sie zu einem toten Jungen in einem gelben Häuschen im Schnee geführt hatte.

«Lassen Sie mich feststellen, weshalb Sie hier sind», fuhr Truro fort, als sei das nicht offensichtlich. Er sprach weiter. Wasilla fiel unter die Zuständigkeit des APD, des Anchorage Police Department – der für den gesamten Hauptstadtbezirk Anchorage zuständigen Zentrale –, und weil es sich hier um einen ernsten Fall handelte, hatte das APD die Ermittlungen von der Polizei von Wasilla übernommen, was zum Teil die Verzögerung von Edies Befragung erklärte. Truro hatte die Notizen von diesem Morgen studiert und musste nun etliche Dinge klären. Er entnahm einer geprägten Ledermappe ein paar Papiere und klappte dann den Deckel zu. Die geprägte Aufschrift lautete «Paradise Gospel Church of the Holy» – der Rest war verblasst und unlesbar.

«Der Mann und die Frau auf dem Motorschlitten …»

«Es war ein Schneemobil.»

Er sah müde aus und klang ungeduldig. «In Alaska sagen wir Motorschlitten.» Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken. «Also, diese Altgläubigen …»

Edie beugte sich vor. «Die Leute haben mir nicht gesagt, dass sie Altgläubige sind.»

Truro rieb sich wieder den Nacken.

«In den Unterlagen steht, Sie hätten dem Polizisten Wilde, nachdem er Sie von Bürgermeister Hillingberg fortgezogen hat, erzählt, die zwei auf dem Motorschlitten seien Altgläubige. Übrigens hatte der Bürgermeister die Güte, den Vorfall nicht anzuzeigen.»

Edie zuckte die Achseln. «Der Mann auf dem Schneemobil hat gesagt, ich sei auf Altgläubigen-Besitz, dabei weiß ich nicht mal, was das bedeutet.»

Truro biss sich auf die Lippe.

Die Tür sprang auf, und Kathy kam mit einem Tablett herein. Darauf lagen zwei in gelbes Wachspapier gewickelte Hamburger.

Detective Truro ließ Edie einen Moment Zeit zum Essen. Er sah zu, wie sie das Fleisch aus dem Teig zog und alles, was nicht Fleisch war, in das Papier zurückschob. Die Hamburger holten Edie ein bisschen auf den Boden zurück. Statt sich entrückt zu fühlen, wurde sie jetzt von aufwallendem Entsetzen über ihren Fund im Wald erfasst.

«Okay», sagte Truro. «Noch mal von vorne.» Er schaltete eine Kamera ein. «Weshalb sind Sie hier, Miss Kiglatuk?»

«Weil mein Stiefsohn sich den Finger gebrochen hat.» Sie biss in den zweiten Hamburger. Der befriedigende, fette Fleischgeschmack wich sogleich einem abstoßend chemischen Aroma. Sie spuckte das Zeug wieder auf das Brötchen und schob es fort. «Mein Exstiefsohn, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Und das wollen Sie, davon bin ich überzeugt. Mein Exstiefsohn Willa hat sich den Finger gebrochen, deshalb musste ich einspringen.»

«Ich meinte, was ist der Zweck Ihres Besuches?»

Sie wandte sich ihm zu. Er hielt den Blick auf sie gerichtet, ruhig, reglos.

«Das habe ich dem Polizisten schon gesagt. Ich bin zum Iditarod-Rennen gekommen, um Sammy Inukpuk zu unterstützen. Der auch mein Ex –»

Der Beamte sah sie gequält an und hob die Hand.

«Würden Sie einfach nur meine Fragen beantworten.» Sein Ton war keineswegs freundlich. Edie kam die Galle hoch.

«Hören Sie, ich bin in Autisaq auf Ellesmere geboren. Autisaq hat siebzig Einwohner. Vor dieser Reise habe ich Ellesmere zweimal verlassen, einmal war ich in Iqaluit, das zweite Mal in Grönland. Ich sehe fern, unterrichte an der Schule, aber Ihre Welt, diese Welt hier, ist heiß, beengt und laut, und Sie essen Sachen, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit Lebensmitteln haben, und ich habe ein totes Baby gefunden, und dann musste ich hier acht Stunden auf dem Flur warten.»

Truro seufzte, wirkte aber besänftigt. «Ich will versuchen, das zu berücksichtigen.»

Es entstand eine Pause.

«Wissen Sie schon, wer die Mutter ist?», fragte Edie. Plötzlich erschien es ihr wichtig, der Frau zu sagen, wie friedlich ihr Baby ausgesehen hatte, und dass es nicht gelitten zu haben schien.

«Wir sind dabei, sie ausfindig zu machen.»

«Ich möchte gern mit ihr sprechen.»

«Miss Kiglatuk», sagte Truro seufzend, als verfüge er über unerschöpfliche Reserven an Geduld. «Erstens: Das hier ist die polizeiliche Ermittlung in einem möglichen Mordfall. Zweitens: Es ist notwendig, dass Sie meine Fragen beantworten. Dass Sie Forderungen stellen, ist nicht notwendig.»

Detective Truro blätterte in seinen Unterlagen. Edie betrachtete die Nadel in Fischgestalt an seinem Revers. Demnach war er Christ. Evangelikal, schloss sie aus dem Namen der Kirche auf der Ledermappe. Daheim auf Ellesmere tauchten des Öfteren evangelikale qalunaat auf. Missionsarbeit. Allerdings nur im Sommer. Die meisten Dorfbewohner waren zufrieden damit, Anglikaner oder Katholiken zu sein. Oder sie hingen, wie Edie selbst, den alten Glaubensvorstellungen an. Doch den Evangelikalen gelang es für gewöhnlich, den einen oder anderen zum Konvertieren zu bewegen. Edie vermutete, dass sie deswegen immer wiederkamen.

«Der Mann, mit dem Sie gesprochen haben, hatte der einen Akzent?»

«Einen Akzent, verglichen womit?» Edie gestattete sich, gekränkt zu sein, weil ihr das für einen Augenblick die Oberhand gab. Truro zog die Stirn in Falten, als warte er, dass sie weitersprach. Edie dachte an den kleinen Jungen im Schnee und wurde entgegenkommender. «Eine Art Akzent, ja.»

Truro nickte und fuhr fort. «Die Kleidung der beiden, die langen Gewänder, der Bartwuchs des Mannes. Ist Ihnen klar, dass das, was Sie beschrieben haben, typisch für die Altgläubigen ist?»

«Da ich Ihnen schon gesagt habe, dass ich nicht weiß, was das bedeutet, muss die Antwort wohl nein lauten.»

Detective Truro strich über seine Krawatte. Er begegnete Edies Blick und sah fort. Dann schaltete er die Kamera aus.

«Miss Kiglatuk, ich muss Sie fragen, warum haben Sie das tote Kind an sich genommen?»

Warum sie das getan hatte? Schwer zu sagen. In jenem Moment waren ihre Gedanken wie ein Schneesturm in ihrem Kopf herumgewirbelt.

«Ich wusste nicht, was in dem Paket war, als ich es an mich nahm. Und als ich es dann wusste, da wollte ich den Kleinen wohl trösten.» Sie hatte an die Geister der Menschen gedacht, die sie geliebt und verloren hatte.

Truro hob den Blick vom Schreibtisch und sah sie eiskalt an.

«Trösten Sie öfter die Toten, Miss Kiglatuk? Ist Ihnen klar, dass Sie unsere Ermittlungen damit ernsthaft hätten gefährden können?»

Sie antwortete nicht.

Truro sah sie weiterhin an, sein Blick verfinsterte sich. Sie hielt ihm stand. So verharrten sie einen Moment.

«Die Altgläubigen sind ein Glaubenskult. Ist Ihnen dieser Begriff geläufig?»

Sie atmete scharf durch die Nase aus. «Ich bin eine Inuit, keine Idiotin.»

«Natürlich.» Sein Blick überflog eine getippte Seite. «Ihr Volk nennt sich hier, nebenbei gesagt, Eskimos.»

«Ich nehme an, es nennt sich auch Alaskaner», sagte sie, «und das macht es, nebenbei gesagt, genau genommen zu Ihrem Volk.»

«Glauben Sie an Gott, Miss Kiglatuk?» Truro wirkte konsterniert.

Sie blickte auf die Nadel an seinem Revers.

«Nicht so wie Sie.»

«Dann an das Böse.»

«Sie meinen den Teufel?» Sie dachte an den kleinen Jungen, der gefroren im Wald gelegen hatte. Hätte Truro gefragt, ob sie an das Teuflische glaubte, hätte sie gesagt: O ja, davon habe ich jede Menge gesehen. Aber einen roten Kerl mit einem gegabelten Schwanz? Sie schüttelte den Kopf.

Ein Ausdruck von Desillusionierung, vielleicht aber auch von Enttäuschung, überzog Detective Truros Gesicht.

«Ich will Ihnen etwas über diese Leute erzählen, auf die Sie gestoßen sind. Die Altgläubigen – das sind keine normalen Menschen wie Sie und ich.»

Sie musste sich kneifen, um nicht unverschämt zu werden. Normale Menschen? Was sollte das denn heißen?

Truro schien ihren Gesichtsausdruck nicht zu bemerken und fuhr fort: «Sie kamen ursprünglich aus Russland. Hier nennt man sie immer noch Russen, obwohl sie schon nicht mehr dort leben, seit sie sich vor mehreren hundert Jahren von der russisch-orthodoxen Kirche abgespalten und ihre Wanderung über den Erdball begonnen haben. Sie sind seit vierzig Jahren hier in Alaska, und einige sprechen nicht mal Englisch. Sie sind ein verschlossenes Volk, sie bleiben unter sich, nennen Menschen wie uns ‹welthaft› und meiden uns nach Kräften», sagte er. «Wir wissen nicht viel über sie, aber was wir wissen, das gefällt uns nicht besonders.»

Er nahm einen Stift und drehte ihn zwischen den Fingern.

«Erinnern Sie sich an das Kreuz, das auf den Leichnam gezeichnet war?»

Sie sah ihn entgeistert an. Wie konnte er annehmen, dass sie das vergessen würde?

«Den Seidenstoff, der um den kleinen Jungen gewickelt war, den Sie gefunden haben? Den benutzen die Gläubigen bei ihren religiösen Zeremonien. Die Hütte ist ein Geisterhaus. Das ist eine Tradition der athabaskischen Ureinwohner.»

Er schaltete die Kamera wieder ein, und Edie fragte sich, ob irgendetwas von dem, was er gesagt hatte, auf Mutmaßungen, gar Vorurteilen beruhte.

«So, kommen wir darauf zurück, wann Sie die zwei Altgläubigen auf dem Motorschlitten gesehen haben.»

Sie wollte ihm berichten, wie wenig Schnee rund um das Häuschen angeweht worden war, dass keinerlei Fußabdrücke oder Spuren zu ihm hingeführt hatten, und was das alles darüber aussagte, wann das Häuschen verlassen worden war. Sie wollte ihm erklären, dass die Eiskristalle gebrochen waren, als sie mit dem gefrorenen Leichnam in Berührung kamen, dass sie nicht verstand, was das hieß, sich aber sicher war, dass es von Bedeutung war, doch sie vertraute nicht mehr darauf, dass er ihr zuhören würde.

 

Es war nach zehn Uhr abends, als sie nach der Befragung die Fourth Avenue hinunterging. Die Luft war klar, doch die Straßenlaternen bildeten über Edies Kopf ein Dach aus Licht und verdeckten ihr die Sicht auf die Sterne. Der Gegensatz zwischen der stickigen Hitze im APD-Gebäude und dem kalten Märzabend trieb ihr einen pochenden Schmerz in die Wangen. Sie kam an mehreren Souvenirgeschäften vorüber, die billiges einheimisches Kunsthandwerk verkauften, schäbige Schnitzereien aus imitierten Mammut-Stoßzähnen, Felle, unsäglich zusammengenäht zu Kopien der Pelztiere, von denen sie ursprünglich stammten. Schund aller Art. Ein Pärchen, das einen Schaufensterbummel machte, stand dicht an der Scheibe. Auf der Straße neben Edie rumpelten Lastwagen vorbei und hinterließen eine Woge aus Dieselabgasen.

Sie ging zu dem billigen Einzimmerapartment, das sie für die Dauer des Iditarod-Rennens gemietet hatte, und wurde nicht zum ersten Mal, seit sie das grausige Paket im Wald geöffnet hatte, von dem gewaltigen Verlangen erfasst, sich bewusstlos zu saufen. Nicht, dass saufen für irgendetwas eine Lösung wäre, außer für den momentanen Schmerz, doch der momentane Schmerz hatte sie so mächtig im Griff, dass sie sich die Worte laut vorsagen musste, um sich zu zwingen, sie zu befolgen: Ich werde nicht trinken.

Stattdessen ging sie zur Kochnische und setzte Teewasser auf. Durch die Wand hörte sie die abendlichen Geräusche ihrer Nachbarn: Fernsehgeplapper, das Gehuste und Geseufze von Männern und Frauen, die sich zum Schlafengehen bereit machten. Als sie vor zwei Tagen angekommen war, hatte sie mit der Absicht, sich vorzustellen, an die Türen auf ihrer Etage geklopft, doch kaum jemand hatte geöffnet, und den erstaunten und argwöhnischen Mienen derjenigen, die es doch taten, entnahm sie, dass man sie für verrückt hielt. Sie sagte ihnen nicht, was sie wirklich dachte, dass sie lebten wie Klippenvögel, eingekeilt in ihren winzig kleinen Festungen, allen Impulsen gegenüber argwöhnisch, die nicht ihren eigenen entsprachen.

Sie trat an das einzige Fenster und ließ das Rollo herunter, um den Lichtschein einer Neonröhre auszublenden, der vom Gehsteig hereindrang. Dann ging sie mit einem Becher Tee in der Hand zum Telefon und wählte die Nummer, die Derek ihr von seinem Quartier in Nome gegeben hatte, dem Zielort des Iditarod-Rennens. Eine unbekannte Stimme meldete sich und bat sie zu warten, dann hörte sie Dereks leisen, vertrauten Ton.

«Edie, hi. Ich habe auf deinen Anruf gewartet.»

«Wer war das eben am Apparat?»

«Zach Barefoot. Der Freund vom Verband der einheimischen Polizei, von dem ich dir erzählt habe. Ich wohne in seinem Gästezimmer.»

Richtig, Derek hatte es ihr gesagt. Sie war erleichtert und kam sich dabei ein bisschen albern vor. Im Verlauf des Tages hatte sie fast vergessen, weshalb sie eigentlich nach Alaska gekommen war. Dennoch wollte sie das Geschehene so geheim wie möglich halten, bis sie Zeit hatten, ausführlich darüber zu sprechen.

«Ist Zach noch bei dir?»

«Nein, warum?» Dereks Stimme klang beunruhigt. Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er: «Ist Sammy gut weggekommen?»

«Ja. Glaub ich zumindest. Ich war nicht dabei.»

«Ich denke, wir hatten vereinbart, dass du bei seinem Start dabei bist.» Derek klang verärgert.

Sie schilderte ihm alles, was passiert war. «Was mich wahnsinnig gemacht hat – ich hatte den Eindruck, dieser Truro wollte mich in eine bestimme Ecke drängen und von mir hören, diese Altgläubigen hätten es getan.» Sie wusste, dass Derek ihre Vorbehalte gegen fromme Spinner aller Art verstehen würde. Es waren Missionare und Fanatiker gewesen, die ihnen gesagt hatten, die alten Gebräuche seien von Übel, auch wenn sie in einigen Fällen Leben retteten, zum Beispiel, wenn der Bruder eines toten Jägers dessen Witwe zu seiner zweiten Frau nahm. Aber es war hauptsächlich die absolute moralische Kompromisslosigkeit, die sie verärgerte. Man war entweder für sie oder gegen sie. Man zählte zu den Geretteten, oder man war Teufelswerk.

Derek hörte Edie bis zum Ende an und zeigte sich mitfühlend. Er versuchte, sie zu bewegen, für ein paar Tage nach Nome zu kommen. «Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du allein bist.»

Sie stieß ein trockenes Lachen aus.

«Ich weiß», sagte er. «Der einsame Wolf. Auch einsame Wölfe müssen manchmal zum Rudel zurückkehren.»

«Bist du das, Derek? Das Rudel?»

«Das ist lächerlich, Edie.» Wieder klang er verärgert. «Ich bin dein Freund.»

Der Rüffel fuchste sie ein wenig, aber sie wusste, er war verdient. Sie schwieg einen Moment, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.

«Dann tu mir als mein Freund einen Gefallen. Sag Sammy nichts davon, okay?» Sie hatte bereits beschlossen, für die Dauer des Rennens nicht mit ihrem Ex zu sprechen, es sei denn, es ließ sich nicht vermeiden. So, wie sie ihre Rolle verstand, gab es keinerlei Notwendigkeit, mit ihm zu reden, sofern während des Rennens nichts passierte, das ihren Beistand erforderte. Die laufende Verständigung mit ihm erfolgte über Derek bei der Iditarod-Zentrale in Nome. Sie traute sich nicht zu, so selbstlos zu sein, Sammy nichts von dieser Geschichte zu erzählen.

«Wenn du es für das Beste hältst», meinte Derek, klang aber nicht überzeugt.

«Es ist bloß, er wollte das Iditarod-Rennen fahren, seit ich ihn kenne. Er hat immerzu davon gesprochen, als wir verheiratet waren. Wenn er Wind davon kriegt, was hier los ist, setzt er sich ins nächste Flugzeug nach Anchorage, weil er meint, er könnte mich retten.»

«Verstehe», sagte Derek nur.

Edie lächelte vor sich hin. Ihrer Erfahrung nach hegten die meisten Männer Rettungsphantasien, besonders, wenn es um Frauen ging.

«Aber weißt du, Edie, ich glaube wirklich, dies ist eine Sache für die Polizei. Willst du nicht herkommen?»

«Ich überleg’s mir», sagte sie, um ihn bei Laune zu halten. Sie hatte Derek gern, bewunderte ihn sogar. Zugleich war ihr aber klar, dass es einiges an ihr gab, das er nie verstehen würde.

Später, im Bett, bemühte sie sich, das Bild des toten Babys aus ihren Gedanken zu verbannen.

«Warum ich?», fragte sie sich, als ob ihr Herz die Antwort nicht schon wüsste.

4

Derek Palliser wurde von einem ungewohnten Geräusch geweckt. Zuerst dachte er, es sei die Türklingel vom Polizeirevier daheim in Kuujuaq, dann besann er sich, dass er im Haus seines Freundes Zach Barefoot in Nome an der Nordwestküste Alaskas war. Gleich darauf fiel ihm auch wieder ein, weshalb er hier war. Edie Kiglatuk hatte ihn dazu verleitet, seinen Jahresurlaub zu nehmen, um nach Alaska zu kommen und Sammy Inukpuk beim Iditarod-Rennen zu unterstützen, das dieser mit der Begründung antrat, er kenne seine Hunde und habe kein anderes Leben. Derek hatte zugesagt, unter der Bedingung, dass er sich an der Ziellinie des Rennens in Nome postierte und Edie in Anchorage blieb. Dereks Rolle bestand hauptsächlich darin, als Kontaktperson für Sammy zu fungieren. Alles, was Sammy an Vorräten benötigte – Hundefutter, Pfotenschuhe, Kleidung zum Wechseln, Hundegeschirr, Ersatzbeläge für die Schlittenkufen und dergleichen –, war vor dem Start des Rennens zu den jeweiligen Kontrollpunkten gebracht worden, und sofern nicht etwas schrecklich schiefging, rechnete Derek nicht damit, vor Ende des Rennens gebraucht zu werden. Sammy wünschte keine Ablenkung dadurch, dass Leute, die er kannte, an den Kontrollpunkten aufkreuzten, schon gar nicht seine Exfrau.

Derek sah gähnend zum Fenster. Dünne dunkelgraue Lichtstreifen drangen durch das Rollo. Er sah sich um, und ihm wurde mulmig, als ihm das spätabendliche Telefongespräch wieder einfiel. Warum war er so blöd gewesen, mehr oder weniger darauf zu bestehen, Edie solle zu ihm nach Nome kommen? Nicht, dass er sie nicht mochte. Im Gegenteil, er mochte sie so sehr, dass er sich zuweilen fragte, ob es nicht mehr war als nur mögen, aber die Frau trieb ihn auch komplett in den Wahnsinn. Andererseits fühlte er sich zwangsläufig als ihr Beschützer; er traute ihr einfach nicht zu, nicht immer wieder in eine Klemme zu geraten. Edie schien Scherereien anzuziehen, wie Köderfallen Füchse anzogen.

Er hörte leise Stimmen, dann klopfte es an die Tür, und Zach rief seinen Namen.

«Aileen Logan, die Iditarod-Chefin, ist da und will dich sprechen. Ich mach Kaffee.»

Zach und Derek hatten sich vor ein paar Jahren auf der Jahreskonferenz des Verbandes der einheimischen Polizei in Yellowstone kennengelernt und waren in Kontakt geblieben. Sie verband ein entspanntes Verhältnis zum Gesetzesvollzug. Zach arbeitete außerhalb von Nome als Naturschutzpolizist. Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, auf die Einhaltung der Jagd- und Fischereivorschriften zu achten, und in der schiffbaren Zeit arbeitete er bei der Beobachtung des Schiffsverkehrs in der Beringstraße eng mit der Küstenwache zusammen. Er lebte in einer Polizistenfamilie. Wenn seine Frau Megan Avuluq nicht im Mutterschaftsurlaub war, arbeitete sie als Sicherheitsbeauftragte für die Siedlungen; ihr Einsatzgebiet reichte von der Sicherheitsstation wenige Kilometer östlich von Nome bis zu dem Inupiaq-Dorf White Mountain.

Derek stand taumelnd von seinem Klappbett auf, zog Hemd und Hose von gestern an und ging in Zachs Wohnzimmer.

Auf dem Sofa saß eine mollige Frau mit einer Wolke von schmutzig blonden Haaren. Vor ihr stand ein Kaffeebecher.

«Morgenstund hat Gold im Mund.» Sie hatte eine Stimme wie ein brünftiger Moschusochse.

Derek rieb sich die Augen, gähnte und sah auf die Uhr. Halb sechs. Er war nur wenige Stunden im Bett gewesen.

Aileen lachte schallend. «Ihr Iditarod-Neulinge haltet mich auf Trab», sagte sie. «Mann, hier bei uns ist man morgens um halb sechs ausgeschlafen.»

Zach brachte ihm Kaffee, und Derek saß mit seinem Becher da und wärmte sich erst mal auf. Bloß nicht zu schnell bewegen. Der frühe Morgen war noch nie seine Zeit gewesen.

«Hören Sie», sagte Aileen, «ich habe von Ihrer Freundin in Anchorage gehört. Schlimm, was da passiert ist.»

Sie sah das Erstaunen in Dereks Gesicht.

«Willkommen in Alaska, der größten Kleinstadt der Welt.» Sie gab wieder ihr schallendes Lachen von sich. «Aber ich habe Sie nicht bei Ihrem Schönheitsschlaf gestört, um Mitgefühl mit Ihrer Freundin auszudrücken. Der Mann hat ein kleines Problem.»

Vom Kontrollpunkt Yentna, nur gut hundert Kilometer von Wasilla entfernt, war der Funkruf eingegangen, dass Sammy auf seinen Leithund verzichten musste.

«Doch nicht Holzkopf?», fragte Derek. Nachdem zwei Hunde von Sammys Gespann sich beim Training die Ballen an einem Stück Nadeleis aufgerissen hatten, hatte Sammy sich von Edie Holzkopf ausgeliehen. Der Hund war ein Pfundskerl.

«Genau der», sagte Aileen. «Pfote aufgerissen. Er hat seinen Schuh verloren und ist auf Glaseis getreten.» Die Aufseher in Yentna würden den Hund bei sich behalten, bis eins von den Buschflugzeugen der selbsternannten Iditarod Air, die während des Rennverlaufs die Route überflogen, ihn nach Anchorage bringen konnte.

«Sie müssen ihn dann aus dem Knast abholen.» Die Wärterin der Frauenjustizvollzugsanstalt in Anchorage hatte ein Rehabilitationsprogramm für Insassinnen am Ende ihrer Strafzeit erdacht, bei dem sie sich um kranke oder verletzte Hunde kümmern mussten, bis die Besitzer sie abholen konnten. Das stand in dem Handbuch, das Derek auf dem Flug hierher zu hastig gelesen hatte. «Sie behalten ihn notfalls ein paar Tage, aber Sie haben doch Ihre Freundin dort, die sich um solche Sachen kümmert, nicht? Sie braucht was, um sich von dem ganzen Schlamassel mit dem Baby abzulenken.»

5

In dem Moment, als Edie das Licht ausmachte, erschien das Gesicht des toten Babys in ihrem Kopf, als hätte jemand es dort eingraviert. Schließlich gab sie jeden Gedanken an Schlaf auf. Sie stieg früh aus dem Bett, duschte, und während sie sich die Haare flocht, versuchte sie sich auf Sammy zu konzentrieren. Ihr Ex dürfte inzwischen gute hundertfünfzig Kilometer hinter sich haben. In wenigen Tagen würde er die hohen Gipfel der Alaska-Gebirgskette erreichen. Dahinter lag der Kuskokwim-Gebirgszug, dem folgte eine 240 Kilometer lange schwierige, holprige Strecke über das Eis auf dem Yukon River, ehe er dann zum Packeis des Norton Sunds gelangen würde.

Sammy ging es nicht um den Sieg, auf den er auch keine großen Aussichten hatte. Dennoch brauchte er dieses Rennen so dringend, wie er in seinem Leben nur etwas brauchen konnte. Mit Sicherheit so sehr, wie er sie, Edie, jemals gebraucht hatte. Ungefähr drei Monate nach Joes Tod hatte er begonnen, von seiner Teilnahme an dem Rennen zu sprechen, und seitdem hatte er nicht mehr damit aufgehört. Er hatte das brennende Bedürfnis, etwas anderes zu tun, sich auf nie gewagte Weise zu beweisen. Sobald sein Entschluss feststand, das Rennen zu fahren, hatte er seine ganze Energie auf die Instandsetzung seines Schlittens, das Trainieren seines Hundegespanns und das Aufbringen des Geldes verwandt. Alle diese Betätigungen hielten ihn bei Verstand. Nach einem Jahr hatte er sich den Tod seines Sohnes noch nicht verziehen. Für Sammy war das Iditarod-Rennen die perfekte Verdrängungsaktion, doch es war noch mehr als das. Die Teilnahme war eine Chance, seinen verletzten Stolz zu heilen, sich selbst davon zu überzeugen, dass er, obwohl er als Beschützer seines Sohnes versagt hatte, immer noch ein Mann und Dinge zu leisten imstande war, derentwegen die Männer in die Welt gesetzt wurden.

Es war lange her, seit Edie und Sammy vertraut miteinander gewesen waren, doch das Wissen, dass er so weit fort war, steigerte ihr Gefühl des Alleinseins, und das Wachsein in den frühen Morgenstunden verstärkte nur noch ihre Einsamkeit. Ihr war, als sei sie in etwas hineingesogen worden, das sie nicht verstand und das aufzuhalten sie nicht die Kraft hatte. Emotionen, die über Jahre in Schach gehalten worden waren, schlichen sich wieder in ihr Bewusstsein, als beginne sich eine Art Muskelgedächtnis zu regen. Der Junge im Schnee zog sie zurück in eine Zeit, die sie vergessen wollte. Manche Gefühle werden Teil des Körpers, dachte sie. Man kann sie jahrelang ignorieren, und dann melden sie sich eines Tages zurück, und es ist schier unmöglich, an etwas anderes zu denken.

Sie zog ihre Kälteschutzkleidung über, verließ das Apartment und stapfte durch den festgetretenen Schnee, der noch mit nächtlichem Eis überkrustet war. Sie ging die J Street entlang zum Café Schneeeule, dem einzigen Lokal, das sie in Anchorage aufgetrieben hatte, wo man etwas annähernd Anständiges zu essen bekam. Stacey, die Frühschichtkellnerin, eilte herbei und führte sie an einen Tisch. Sie und Stacey hatten sich schon darüber ausgetauscht, was für Mühe lange Haare machten – das Bürsten und Trocknen und Bändigen, das sie erforderten –, und jetzt bewunderte die Kellnerin das Zickzackmuster, zu dem Edie ihre Zöpfe geflochten hatte. Nicht, dass Stacey selbst auf Zickzackzöpfe Wert legte. Sie begriff sich, erzählte sie Edie, als Nord-Gruftie und trug zum Beweis Schädel-Tattoos an den Handgelenken.

«Meine Oma hatte eine Tätowierung», sagte Edie, und Staceys Blick besagte, dass sie den Rest dieser Geschichte hören wollte. «Es war ein Initiationsritus. Man hat kleine blaue Strahlen und Barthaare eintätowiert, hier oben.» Sie fuhr mit dem Finger über ihre Oberlippe. «Das war ein Tribut an die ugjuq, die Bartrobben, die uns damals am Leben erhalten haben. Das tun sie jetzt nicht mehr.»

Stacey machte ein langes Gesicht. «Ich nehme an, ihr habt heute andere Sachen, die euch am Leben erhalten.»

Edie lachte. «Manchmal frage ich mich, welche das sind.» Stacey war natürlich eine qalunaat und gehörte somit zu einer anderen Welt, doch etwas an ihrer funkelnden Energie und den wissbegierigen, zornigen Augen erinnerte Edie an ihr jüngeres Ich, und einen Moment lang drängte es sie, Stacey von dem Geisterbären zu erzählen und davon, was sie im Wald gefunden und warum sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Doch da schwang die Tür auf, ein Gast kam herein, und der Moment war vorüber.

Um die Zeit totzuschlagen, während sie auf das Frühstück wartete, blätterte Edie die Sonntagsausgabe des Anchorage Courier durch. Nachrichten vom Iditarod-Rennen beherrschten die Titelseite. Steve Nicols, der Favorit, lag in Führung und hatte bereits den Kontrollpunkt Yentna passiert, als die Zeitung in Druck gegangen war. Inzwischen dürfte er den Ausläufern der Alaska-Gebirgskette zustreben. Darunter stand ein Artikel über kürzlich herausgegebene Statistiken, die besagten, dass sexuelle Belästigung und Vergewaltigung in der Stadt doppelt so oft vorkamen wie im Landesdurchschnitt. Ganz unten auf der Seite war in einer kleinen Spalte vermerkt, dass bei der feierlichen Eröffnung eine «verzweifelte Einheimische» für Überraschung gesorgt habe, die sich auf Chuck Hillingberg, den Bürgermeister von Anchorage, gestürzt hatte. Am Ende der Meldung wurde auf den Leitartikel im Inneren des Blattes hingewiesen, der mit «Hillingberg – eine frische Brise» überschrieben war, aber Edie hatte keine Lust, sich lange genug mit dem Artikel zu befassen, um zu ergründen, was damit gemeint war. Sie blätterte lieber weiter, auf der Suche nach einer Meldung über die Entdeckung des toten Babys, und fand sie in einem einzigen Absatz unten auf Seite 4 neben dem Falz.