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Im Eis E-Book

Melanie McGrath

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Beschreibung

Drei vermummte Gestalten wandern durch die unwirt­liche Eislandschaft der Insel Craig: Edie Kiglatuk begleitet zwei Touristen auf eine Jagd­expedition; die Amerikaner wollen einen echten Abenteuerurlaub erleben. Die unwegsame Einsamkeit der Arktis ist der Inuk-Spurensucherin bestens vertraut. Doch einer der Männer kommt zu Tode. Ein Unfall, beschließen die Dorfältesten, denn ein Verbrechen würde sich negativ auf das Tourismusgeschäft auswirken. Wenig später ist Edie erneut gefragt: Zwei Reisende auf den Spuren des viktorianischen Forschers Sir James Fairfax engagieren sie als Führerin. Sie bricht ge­mein­sam mit den Männern und ihrem Stiefsohn Joe auf. Die Gruppe trennt sich, wenige Tage später kehrt Joe allein zurück: stark unterkühlt und geistig verwirrt. Von seinem Schützling fehlt jede Spur. Als die Ereig­nisse eine noch dramatischere Wendung nehmen, muss Edie erkennen, dass sich dahinter Umstände verbergen, die so gewaltig sind, dass sie zur Bedrohung für alles werden, was ihr am Herzen liegt. «Edie Kiglatuk ist die tougheste und smarteste arktische Heldin seit Fräulein Smilla.» (Liz Jensen, Autorin von «Endzeit»)

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Seitenzahl: 572

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Melanie McGrath

Im Eis

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Margarete Längsfeld und Sabine Maier-Längsfeld

Für Simon Booker

1

Während sie einen Brocken vom Eisberg schmolz, um Tee zu kochen, grübelte Edie Kiglatuk darüber nach, weshalb diese Jagdexpedition so vollkommen erfolglos verlief. Zum einen waren die beiden von ihr angeführten Männer miserable Schützen. Zum anderen schien es Felix Wagner und seinem Begleiter Andy Taylor egal zu sein, ob sie Beute machten oder nicht. Sie hatten die letzten zwei Tage überwiegend damit verbracht, Karten zu studieren und in ihre Notizbücher zu schreiben. Vielleicht hatten sie es lediglich auf die Romantik der Hocharktis abgesehen, auf das authentische Leben in der Wildnis mit den Eskimos, das die Expeditionsbroschüre versprach. Allerdings, dachte sie, wäre es mit dem romantischen Leben bald vorbei, wenn es ihnen nicht gelänge, etwas Essbares zu erlegen.

Sie goss das kochende Eisbergwasser in eine Thermoskanne mit qungik – die Weißen sagten Labrador-Tee dazu – und füllte den Rest für sich selbst ab. Hier, von Umingmak Nuna – Ellesmere Island – aus, musste man über 3000Kilometer nach Süden reisen, um in der Tundra auf qungik zu stoßen, aber da die Südler Labrador-Tee aus irgendeinem Grund authentisch fanden, servierte sie ihrer Jagdklientel eben den. Sie selbst bevorzugte English-Breakfast-Tee, aufgebrüht mit Eisbergwasser, mit viel Zucker gesüßt und mit einem Stückchen Robbenspeck angereichert. Einer ihrer Kunden hatte ihr mal erzählt, dass das Wasser im Süden durch Dinosauriereingeweide hindurchmusste, ehe es den Wasserhahn erreichte, während Eisbergwasser so ziemlich seit Anbeginn der Zeit gefroren und von Mensch und Tier unberührt war. Wahrscheinlich auch einer der Gründe, vermutete Edie, weshalb Südler bereit waren, Zehntausende Dollar zu bezahlen, um so weit in den Norden zu kommen. Wagner und Taylor jedenfalls waren bestimmt nicht wegen der Jagd hier.

Nicht mehr lange, und die beiden würden eine wesentlich größere Portion authentische Hocharktis serviert bekommen, als sie bestellt hatten. Sie wussten nur noch nichts davon. Während Edie Tee kochte, hatte der Wind gedreht. Ein stürmischer Ostwind fegte über den Grönländischen Eisschild heran und legte die Vermutung nahe, dass ein Schneesturm bevorstand. Nicht unmittelbar, aber in Kürze. Es blieb noch genug Zeit, die Thermosflaschen mit Tee zu füllen und zu dem Kiesstrand zurückzulaufen, wo die beiden Männer damit beschäftigt waren, ihr Lager aufzuschlagen.

Sie warf noch ein Stückchen Eisberg in den Kessel, und während das Wasser heiß wurde, suchte sie in ihrem Gepäck nach dem Kanten igunaq und schnitt sich von dem vergorenen Walrossdarm ein paar Riemen ab. Igunaq zu kauen brauchte Zeit, das gehörte dazu, und während Edie das Zeug mit den Zähnen bearbeitete, ließ sie ihre Gedanken zum Thema Geld zurückkehren, und dann zu ihrem Stiefsohn Joe Inukpuk, wegen dem sie jetzt hauptsächlich hier draußen war, in Begleitung zweier Männer, die nicht schießen konnten. Die Arbeit als Jagdführerin brachte mehr ein als das Unterrichten, womit sie ihre restliche Zeit verbrachte, und wenn Joe die Ausbildung zum Sanitäter je abschließen wollte, brauchte er Geld. Auf die Hilfe von seinem Vater Sammy, Edies Ex, konnte er nicht hoffen, genauso wenig wie auf die seiner Mutter Minnie. Edie war nicht leicht aus der Fassung zu bringen – um einer ehemaligen Eisbärenjägerin Angst zu machen, brauchte es schon einiges–, aber dass Joe seine Ausbildung zum Sanitäter fortsetzen konnte, wünschte sie sich so sehr, dass es sie erschreckte. In der Arktis wimmelte es von qalunaat-Fachkräften – weiße Ärzte, weiße Sanitäter, Anwälte und Ingenieure–, und obwohl es an den meisten von ihnen nichts auszusetzen gab, war es an der Zeit, dass die Inuit ihre eigenen Fachkräfte hervorbrachten. Joe war mit Sicherheit klug genug, und er wirkte engagiert. Wenn sie sparsam war und Glück mit ihren Kunden hatte, würde es Edie wahrscheinlich gelingen, diesen Sommer genug beiseitezulegen, um ihn durch das erste Schuljahr zu bringen. Eine Jagdexpedition zu leiten war keine große Sache; es war, als würde man mit ein paar Kleinkindern im Schlepptau raus aufs Land gehen. Im Umkreis von achthundert Kilometern kannte Edie hier jeden einzelnen Gletscher, Fjord oder Os. Und niemand konnte besser jagen als sie.

Das Eisstück war geschmolzen, und sie schraubte gerade die erste Thermosflasche auf, als ein scharfer, peitschender Knall die Dämmerung zerriss. Edie ließ vor Schreck die Flasche fallen. Augenblicklich verdampfte die heiße Flüssigkeit zu einer zart zitternden Schwade aus Eiskristallen. Die Jägerin in ihr kannte dieses Geräusch, diesen ganz besonderen Knall einer 7-mm-Patrone, abgefeuert aus einem Jagdgewehr, einem wie der Remington 700 ihrer Kunden.

In der Hoffnung auf einen Hinweis, was passiert war, spähte sie über das Meereis, doch der Eisberg versperrte ihr den Blick auf den Strand. Weiter vorn, östlich des Strandes, starrte unbewegt die Tundra zurück, unermesslich und unerbittlich. Eine Windböe peitschte Eisrauch über das Packeis. Sie spürte Ärger in sich aufsteigen. Was zum Teufel trieben die qalunaat da, statt ihr Lager aufzubauen? Schossen sie auf Wild? Eher unwahrscheinlich, da sie sich so wenig für die Jagd begeisterten. Vielleicht war ihnen ein Bär zu nahe gekommen, und sie hatten einen Warnschuss abgegeben, aber dann wäre es seltsam, dass Holzkopf, ihr Bärenhund, ihn nicht gewittert und angeschlagen hatte. Holzkopf war so empfindsam, er konnte einen Bären auf ein paar Kilometer Entfernung wittern. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als nachzusehen. Bis zur Rückkehr nach Autisaq hatte sie offiziell die Verantwortung für die Männer, und Edie Kiglatuk nahm ihre Verantwortung inzwischen sehr ernst. Sie hob die Flasche auf, ärgerlich, weil sie sie hatte fallen lassen, schüttete das restliche Wasser aus, überprüfte ihre Waffe und machte sich mit ihrem gewohnt gleichmäßigen, ruhigen Schritt auf den Weg zum Schneemobil. Holzkopf, der an den Anhänger geleint war, hob den Kopf und wedelte mit dem Schwanz. Hätte es auch nur den geringsten Hinweis auf einen Bären gegeben, wäre der Hund inzwischen völlig außer sich. Edie tätschelte ihn und verzurrte das Kochgeschirr. Gerade als sie die Flaschen unter der Plane verstaute, flog ein scharfer, atemloser Schrei vorbei und verhallte draußen über dem Meereis. Holzkopf fing an zu bellen. Edie erstarrte, und in ihrer Brust begann es zu pochen. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass jemand verletzt sein könnte.

Jemand rief um Hilfe. Welcher bescheuerte Idiot da auch schrie – ihren Rat, draußen auf dem Land still zu sein, hatte er offensichtlich schon wieder vergessen. Hier draußen konnte ein Schrei eine Eiswand zum Einsturz bringen oder eine Pulverschneelawine auslösen. Er konnte einen vorbeiziehenden Bären aufschrecken. Sie überlegte, dem Idioten zuzurufen, er solle nicht so einen Lärm machen, doch sie stand gegen den Wind, und ihre Stimme würde nicht bis zu den Jägern tragen.

Zischend befahl sie Holzkopf, still zu sein, und sagte zu sich selbst: «Ikuliaq!» Ruhig bleiben!

Einer der Männer musste einen Unfall gehabt haben. Das war nichts Ungewöhnliches. In den zwölf Jahren, in denen sie jetzt Jäger aus dem Süden führte, hatte Edie mehr von ihnen gesehen als Saiblinge in einem Brutteich: aufgeblasene Egos, zum ersten Mal in der Arktis, strotzend vor Selbstgefälligkeit und Hightech-Ausrüstung. Die glaubten, ein Jagdausflug in der Hocharktis sei wie die Entenjagd, die sie letztes Jahr zu Thanksgiving in Iowa gemacht hatten, oder wie der Hirschabschuss zu Neujahr in Wyoming. Dann kamen sie raus aufs Meereis, und da waren die Dinge auf einmal nicht mehr so einfach. Wenn die Bären sie nicht das Fürchten lehrten, erledigten das im Normalfall die eisige Kälte, der heulende Wind, die grimmige Sonne und das brüllende Packeis. Sie wehrten ihre Angst mit betont lässigem Draufgängertum und Schnaps ab, und so kam es zu den Unfällen.

Sie startete das Schneemobil, bahnte sich einen Weg um den Eisberg herum und überquerte einen Grat aus tuniq, dichtem Presseis. Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt und blies Eiskristalle gegen die Haut um ihre Augen. Als sie die Schneebrille aufsetzte, wanderten die spitzen Kristalle zu der empfindlichen Mundpartie ab. Solange keiner ernsthaft verletzt war, sagte sie sich, konnten sie den Sturm aussitzen und darauf warten, dass Hilfe kam, wenn das Wetter sich beruhigt hatte. Sie würde ein Schneehaus bauen, damit sie es gemütlich hatten, außerdem besaß sie eine Erste-Hilfe-Ausrüstung und genügend Grundwissen, um sie anzuwenden.

Sie überlegte kurz, was die Ältesten in so einem Fall machen würden. Bis auf Sammy gab es keinen, der guthieß, dass eine Frau Männer führte. Sie suchten ständig nach einem Vorwand, um ihr die Aufgabe zu entziehen. Bis jetzt hatten sie keinen finden können. Sie wussten, dass Edie die verflucht nochmal beste Führerin der ganzen Hocharktis war. Sie hatte noch nie einen Kunden verloren.

Das Schneemobil fuhr holpernd über ein Feld kleiner Eissäulen und riss Edie aus ihren Gedanken. Wie Großvater Eliah zu sagen pflegte: Spekulation ist eine Krankheit des weißen Mannes. Doch sie war selbst zur Hälfte weiß, vielleicht konnte sie also nichts dafür. Außerdem würde ihr das jetzt auch nicht weiterhelfen. Um sie alle aus der Situation wieder herauszubekommen – wie auch immer die Situation sich darstellen mochte–, musste sie sich auf die Gegenwart konzentrieren. In der Hocharktis war immer nur Raum für das Jetzt.

Auf der anderen Seite des Presseisrückens löste sich aus der Finsternis der Umriss einer menschlichen Gestalt. Es war der Dürre, Wagners Assistent. Edie fiel sein Name nicht gleich ein. Für sie war er längst Stan Laurel, nur ohne dessen Charme. Andy, richtig, Andy Taylor. Er winkte wie verrückt. Sobald sie den Kiesstrand erreicht hatte, rannte er zurück zu der Stelle, wo sein Chef rücklings auf dem Boden lag. Edie brachte das Schneemobil auf dem Eisfuß zum Stehen und ging zu Fuß über den schneebedeckten Schiefer. Taylor gestikulierte, wollte, dass sie sich beeilte, das Arschloch. Sie behielt ihren Schritt bei. Rennen hieß schwitzen und schwitzen hieß Unterkühlung.

Als sie näher kam, sah sie, dass die Lage ernster war, als sie befürchtet hatte, und plötzlich konnte sie Taylors Panik nachvollziehen. Der Verletzte rührte sich nicht. Unter seinem rechten Arm hatte sich eine große Blutpfütze gebildet, die den Schnee zu purpurfarbenem Sorbet schmolz. Von der Stelle stieg ein dünner Faden Dampf auf.

«Was ist passiert?»

«Ich war drüben auf der anderen Seite», stammelte Taylor. «Ich habe das Geräusch gehört. Ich bin gerannt.» Er zeigte auf ein paar Spuren, die der Wind bereits verwehte. «Da, da, sehen Sie, sehen Sie?»

Denk nach, Mädchen! Trotz der Gesellschaft – oder vielleicht auch wegen der Gesellschaft – fühlte Edie sich absolut allein. Als Erstes musste sie via Satellitentelefon mit Robert Patma oder mit Joe sprechen. Ihr Liebling Joe, der in Patmas Krankenstation seit einem Jahr als Freiwilliger mithalf und inzwischen fast so viel Sachverstand hatte wie der Sanitäter selbst. Sie warf einen Blick auf den verletzten Mann. Nein, bei näherem Nachdenken musste zuallererst die Blutung gestillt werden.

Sie ging zurück zum Schneemobil, holte die Erste-Hilfe-Ausrüstung und hastete über den Strand wieder zu dem Verwundeten. Taylor hatte sich inzwischen neben Felix Wagner gekniet, blankes Entsetzen im Gesicht. Hektisch nestelten seine Hände an Wagners Körper herum und lockerten den Parka des verletzten Mannes. Edie ließ sich neben ihm zu Boden fallen und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, Platz zu machen.

«Ich schwör’s, der Schuss kam einfach so aus dem Nichts.» Taylors Stimme klang weinerlich und schrill. Irgendetwas zuckte über sein Gesicht, ein Augenblick der Verzweiflung, und als sei er sich bewusst, wie unwahrscheinlich das klang, wiederholte er es. «Aus dem Nichts.»

Edie hatte noch nie einen so schwer verletzten Menschen gesehen; brodelnder Schaum bedeckte seine Lippen, er hechelte, und die Augen zuckten in ihren Höhlen, ohne zu sehen. Das Gesicht war aschfahl. Uringeruch stieg auf, doch Edie war mit dem Geruch der Männer nicht vertraut genug, um sagen zu können, wer von den beiden in die Hose gemacht hatte. Sie zerrte Wagners Parka auf und inspizierte durch das Polarfleece hindurch die Wunde. Die Kugel war offenbar direkt über dem Herzen durch das Brustbein gedrungen. Das Blut sickerte aus der Wunde, es spritzte nicht, woraus Edie folgerte, dass die Kugel die Hauptschlagader verfehlt hatte: die größte Gefahr für Wagners Leben wäre im Augenblick also ein Lungenkollaps. Sie drehte sich kurz zu Taylor um.

«Haben Sie nichts gesehen? Niemanden?»

«Ich war das nicht, verdammte Scheiße, falls Sie das glauben!» Taylors Stimme erstarb, und er streckte ihr die Handflächen entgegen, als kapituliere er. «Ich habe doch gesagt, dass ich da drüben beim Pinkeln war.» Sie sah dem Kerl in die Augen und musste daran denken, dass sie ihn schon nicht hatte ausstehen können, als er vor zwei Tagen aus dem Flugzeug gestiegen war. Nichts von dem, was er in den letzten Minuten getan hatte, war geeignet, ihre Meinung zu ändern.

«Himmel nochmal, ich habe nichts damit zu tun!»

«Falsch», sagte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Verwundeten zu. «Wir haben beide jede Menge damit zu tun.»

Wagners Puls war schnell und schwach, und er schwitzte stark. Edie hatte Tiere in diesem Zustand erlebt. Schock. Selbst wenn die Lunge standhielt, würde es für Wagner schwer werden. Im Augenblick war es das Wichtigste, die Blutung zu stillen und ihn warm zu halten. Die Position der Wunde ließ es extrem unwahrscheinlich erscheinen, dass Wagner sich versehentlich selbst angeschossen hatte, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass Taylor nicht log. Sie sah zu ihm hinüber: keine Schmauchspuren an den Handschuhen, keine Druckstellen an Zeigefinger und Daumen.

Sie müsste sich schon sehr täuschen, wenn der Dürre der Schütze war. Sie beugte sich dicht über die Wunde, pickte ein paar Knochenfragmente aus dem Fleisch und winkte Taylor näher heran. Wagner keuchte ein bisschen und beruhigte sich wieder.

«Drücken Sie auf die Wunde und halten Sie den Druck konstant, ich rufe Hilfe.»

«Drücken? Womit denn?»

«Mit der Handfläche? Womit denn sonst?» Kannst natürlich auch deinen Schwanz nehmen! Sie löste ihren Schal vom Hals, damit er etwas hatte, was er auf die Wunde pressen konnte. Taylor griff mit der Linken danach und tat, was sie gesagt hatte.

«Und wenn der Schütze wiederkommt?»

Sie sah ihn lange und unerbittlich an. «Sie sind doch Jäger, oder?»

Das Satellitentelefon lag ganz unten in ihrer Packtasche in seiner Isolierhülle, dort, wo sie es hingetan hatte. Die Statuten des Ältestenrats von Autisaq verlangten, dass alle lokalen Führer, die mit Fremden unterwegs waren, ein Telefon bei sich trugen; sonst würde sie sich nicht mit so was herumschlagen. Durch die Kälte waren die Batterien unzuverlässig, und die Verbindung war meistens miserabel. Jedenfalls hatte sie bis jetzt noch nie Grund gehabt, es zu benutzen.

Sammy meldete sich. Edie holte tief Luft. Ausgerechnet heute hatte ihr Exmann Dienst im Funkraum. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Noch so eine Angewohnheit der Südler, würde Sammy sagen. Es war vierzehn Uhr.

«Wir hatten einen Jagdunfall.» So einfach wie möglich, im Augenblick. «Sieht ziemlich schlimm aus. Schussverletzung im Brustraum. Wenn wir Glück haben, verblutet er nicht, aber er wirkt, als hätte er einen Schock. Wir brauchen Robert Patma und ein Flugzeug.»

«Wo seid ihr?»

«Auf Craig. Bei Uimmatisatsaq. Patma kennt es. Joe war da mal mit ihm fischen.»

Sammy schnalzte mit der Zunge. Das Geräusch seines Atems sagte ihr, dass er den Kopf schüttelte.

«Bleib dran. Ich prüfe Flugplan und Vorhersage.»

Während Edie wartete, kramte sie in ihrer Packtasche, fand ein Stück Polyurethan, nahm ihr Messer und schnitt ein grobes Rechteck heraus.

Im Telefon rauschte und knackte es, und einen Moment lang hörte sie leise fremde Gesprächsfetzen; zwei Stimmen in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann war Sammy wieder dran.

«Edie, da zieht ein Schneesturm auf.»

«Ja.» Heiliges Walross, konnte der Mann einen nerven. «Sieht nach einem dieser Frühjahrsstürme aus, die von Grönland rüberziehen.»

«Ein Flugzeug können wir erst schicken, wenn der durch ist.»

«Und die Luftambulanz aus Iqaluit?»

«Habe ich schon geprüft. Stecken wegen des Wetters irgendwo fest.»

Edie ging sämtliche Möglichkeiten durch. «Wenn wir einen Sanitäter herbekommen würden, ginge es vielleicht auch. Robert Patma könnte es mit dem Schneemobil schaffen.»

Schweigen in der Leitung, dann eine andere Stimme:

«Kigga.» Es war Joe. Edie entspannte sich ein wenig.

Kiggavituinnaaq, Falke – der Spitzname, den er ihr gegeben hatte. Er sagte immer, sie lebte in ihrer eigenen Welt, irgendwo oben in den Lüften. Streng genommen war sie nicht mehr seine Stiefmutter, jedenfalls nicht offiziell. Aber Kigga war sie immer noch.

«Robert Patma ist gestern nach Süden geflogen. Seine Mutter wurde bei einem Verkehrsunfall getötet, sein Dad ist im Krankenhaus. Es hieß zwar, sie schicken Ersatz, aber es ist noch niemand aufgetaucht.»

Edie stöhnte. «Sie», das waren die Behörden. «Sie» wurden für alles und jedes verantwortlich gemacht. «Die Geister waren böse auf meine Schwester, deshalb haben sie dafür gesorgt, dass die Behörden ihre Tuberkulose nicht rechtzeitig behandelt haben.»

«Wenn das rauskommt, kann Autisaq das Geschäft mit dem Touristenführen vergessen.» Sie war sauer. Nicht auf Robert, sondern auf ein System, das sie alle so verwundbar machte.

Joe sagte: «Genau.» Er klang ungeduldig, weil sie in dieser Situation, wenn auch nur für einen Moment, an so was denken konnte. «Aber der Kerl atmet noch, ja?»

«Gerade so. Wenn wir ihn stabilisieren und die Blutung stoppen können…»

«Hast du irgendwas aus Kunststoff dabei?»

«Ich habe schon was zurechtgeschnitten.»

Zwischen ihnen geriet etwas in Fluss. Liebe, Bewunderung, eine Mischung aus beidem vielleicht.

«Ich mache das Klinikmobil bereit und komme selbst», sagte Joe. «Und wenn sich der Schneesturm inzwischen legt, schicken sie das Flugzeug. Mach weiter, was du machst, aber gib ihm nichts oral.» Seine Stimme wurde weich. «Kigga, nichts, was du tust, wird es schlimmer machen.»

«Joe…» Sie wollte ihren Stiefsohn gerade ermahnen, vorsichtig zu sein, da merkte sie, dass er bereits aufgelegt hatte.

Edie kehrte zu den beiden Männern zurück, zog das Biwak von Taylors Anhänger, und wenige Minuten später stand das Zelt über dem Verletzten. Es hatte angefangen zu schneien. In ein paar Stunden würde der Schneesturm direkt über ihnen sein. Sie schob Taylor beiseite, beugte sich über Wagners Gesicht, fühlte an seinem Hals den Puls und die Temperatur, zog das Stückchen Schaumstoff aus der Tasche, schlitzte dem Mann mit dem Messer den Pullover auf und legte den Kunststoff auf die Wunde. Ein Gedanke jagte durch ihr Bewusstsein. Noch vor drei Tagen hatte dieser stämmige kleine Mann geglaubt, er bräche zu einem großen Abenteuer auf, mit dem er zu Hause in Wichita an der Bar des Clubhauses wunderbar angeben könnte. Die Chance, dass Felix Wagner sein Clubhaus je wiedersehen würde, hatte sich inzwischen erheblich verringert. Sie wandte sich Taylor zu.

«Tun Sie alles, damit keine Luft an die Wunde kommt, sonst könnte die Lunge kollabieren. Ich gehe einen Schneeschutz bauen. Der Sturm wird heftig, dem hält das Biwak nicht stand. Wenn sich irgendwas verändert, rufen Sie mich. Okay?»

Taylor sagte: «Suchen Sie denn nicht nach dem, der das getan hat?»

Edie schluckte ihren Ärger hinunter. Wenn sie eines nicht ausstehen konnte, dann waren das Jammerlappen.

«Also, wollen Sie jetzt Detektiv spielen oder Ihren Freund hier retten?»

Taylor seufzte. Sie sah ihn im Biwak verschwinden und fuhr dann mit dem Schneemobil zu den alten Verwehungen an der Klippe, den Kiesstreifen entlang und den Hang hinauf bis zum höchsten Punkt. Dabei hielt sie nach Fußspuren und leeren Hülsen Ausschau. Taylor brauchte nicht zu wissen, was sie tat; die Genugtuung gönnte sie ihm nicht. Aber sie wollte selbst sicher sein, dass der Schütze nicht mehr in der Nähe war. Oben auf der Ebene trieb der Wind den Schnee bereits heftig vor sich her. Sollten dort tatsächlich Spuren gewesen sein, waren sie inzwischen verweht. Sie wendete und passierte eine Felsnase, als sie auf dem Boden etwas entdeckte. Sie trat auf die Bremse, sprang ab und ging zurück, um nachzusehen. Tatsächlich, die Reste eines einzelnen Fußabdrucks, ein Felsen hatte ihn davor bewahrt, vollständig zuzuwehen. Sie betrachtete den Abdruck näher und vergegenwärtigte sich Taylors Fußabdrücke von vorhin. Dieser war anders. Er war frisch und eindeutig der eines Mannes. Vielleicht Wagners. Falls nicht, wahrscheinlich der des Schützen. Einen Augenblick lang stand sie da und prägte sich den Abdruck ein – das Zickzackmuster mit dem Umriss eines Eisbären in der Mitte–, während der Wind immer mehr Schnee darüberwehte. Als sie sich wieder erhob, konnte sie nur noch die sich schnell füllenden Mulden erkennen, die die Spur bildeten. Sie führte hinaus in die Tundra. Falls die Spur von dem Schützen stammte, war er längst verschwunden.

Sie kehrte zum Strand zurück und konzentrierte sich darauf, den zum Bauen geeigneten Schnee zu finden. War er zu hart, ließen sich die Blöcke nicht verkitten, war er zu weich, drohte die Konstruktion in sich zusammenzubrechen. In einem Lesebuch, das sie in der Schule mal benutzt hatte, war der perfekte Bauschnee mit einer Dichte von 0,3–0,35g/​cm³ und einer Härte von 150–200g/​cm³ angegeben. Sie konnte sich noch an die Werte erinnern, gerade weil sie ihr damals so abstrakt und absurd erschienen waren. Draußen auf dem Land musste man seine eigenen Berechnungen anstellen.

Ein glücklicher Zufall wollte es, dass sie in einer Schneewehe am Nordende des Strands genau die richtige Sorte Dreischichtenschnee fand. Eine Zeitlang arbeitete sie sich mit ihrem Schneemesser aus Walrossbein vor und zurück durch den Schnee, um rechteckige Blöcke in der Größe normaler Bauziegel herauszuschneiden, stapelte sie auf dem Anhänger und transportierte Fuhre um Fuhre von der Klippe zu der Stelle, an der das Biwak stand.

Das dauerte seine Zeit; Edie arbeitete langsam, damit ihr nicht der Schweiß ausbrach. Als alle Ziegel geschnitten waren, kroch sie in das Biwak, um nach Wagner zu sehen. Der Verwundete lag inzwischen ganz still und atmete flach. Sie warf einen prüfenden Blick auf die Stiefelsohlen. Kein Eisbär.

«Blutet er noch?»

Taylor schüttelte den Kopf.

«In dem Fall müssen Sie mir helfen.»

Sie zeigte ihm, wie er die Ziegel platzieren und verfugen musste, und hob dann, während er arbeitete, den Boden aus und ebnete ihn ein. Schließlich bauten sie den kleinen Eingangstunnel, etwas abschüssig, damit die warme Luft nicht entwich. Das Iglu war recht simpel, aber es würde reichen. Gemeinsam hievten sie Wagner ins Innere und betteten ihn auf einen kleinen Stapel Karibufelle. Edie leerte seine Taschen, warf einen weißen Plastikkugelschreiber, ein Taschenmesser und ein paar Münzen in ihre Tasche und ging dann ins Freie, um ihre eigenen Sachen zusammenzusammeln und Holzkopf loszumachen. Durch den Wind war die gefühlte Kälte inzwischen beachtlich, –45°C vielleicht, die Luft klirrte förmlich vor Frost. Edie baute einen groben kleinen Anbau an die Seite des Schneehauses, schob Holzkopf hinein und mauerte ihn ein. Der Schnee würde ihn warm halten. Dann kroch sie wieder in das Iglu, goss aus der Thermoskanne heißen Tee in zwei Tassen, reichte Andy Taylor eine und hob ihre in die Höhe:

«Eine schöne Suppe haben wir uns da wieder eingebrockt», sagte sie.

Andy hob den Blick und starrte sie über seinen Tee hinweg an. Verständnislos, vielleicht. Verächtlich, das war wahrscheinlicher.

«Laurel und Hardy.»

«Das weiß ich auch!» Andy Taylor schüttelte den Kopf und gackerte wie eine empörte Ente, deren Nest zerstört worden ist: «Gott, haben Sie eine Ahnung, wie unpassend das ist?»

Edie rümpfte die Nase und starrte auf ihre Hände. Sie musste sich zusammenreißen, um ihm nicht eine reinzuhauen. Wäre er ein Inuk gewesen, hätte sie sich keinen Zwang angetan. In solchen Situationen erzählte man sich Geschichten, trank heißen Tee und riss Witze. Das war alles, was man machen konnte, um nicht den Verstand zu verlieren. Fünfzehn Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte. Der Schneesturm war noch ein ganzes Stück entfernt. Sie würden lange warten müssen.

Nach einer Weile sagte sie: «Wir sollten was essen.» Seit der letzten Mahlzeit waren Stunden vergangen, und beim Bau der Schutzhütte hatten sie beide reichlich Energie verbraucht. Hungrige Menschen hatten ein schlechtes Urteilsvermögen. Sie schenkte Tee nach, holte einen Zugbeutel aus ihrem Gepäck, machte sich mit dem Taschenmesser am Inhalt zu schaffen und reichte Andy Taylor schließlich eine Scheibe. Taylor nahm, was ihm angeboten wurde, und beäugte es misstrauisch.

Sie schnitt sich selbst ebenfalls eine Scheibe ab, begann zu kauen und zeigte Taylor den gereckten Daumen. «Gut.»

Taylor nahm einen Bissen. Langsam setzte sich sein Kiefer in Bewegung. Dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. Er spuckte das Fleisch in seinen Handschuh.

«Was ist das denn?»

«Igunaq. Vergorener Walrossdarm. Ist gut für Sie. Hält warm.»

Der Wind heulte. Edie kaute. Taylor saß da und schwieg. Hagel prasselte gegen die Wände des Iglus wie ferner Donner. Taylor gab ein ängstliches Wimmern von sich.

«Dieser Typ, der da kommt», platzte es aus ihm heraus. «Weiß der überhaupt, was er tut?» Er musste schreien, um sich über den tosenden Sturm hinweg verständlich zu machen. «Und woher wissen wir überhaupt, dass er wirklich kommt?»

Die Frage war seltsam, typisch für einen Südler. Wieso sollte Joe sich auf den Weg machen, wenn er nicht sicher wäre, dass er sein Ziel auch erreichte? «So schlimm ist es nicht», sagte sie.

Taylor warf ihr einen verzweifelten Blick zu. «Klingt aber schlimm. Und wenn es nicht schlimm ist, warum schickt dann verdammt nochmal niemand ein Flugzeug?»

«Der Wind bläst von Osten.»

Taylor rieb sich mit dem Handschuh über das Gesicht. In seiner Stimme schwang Aggression mit, oder vielleicht auch Frustration, dachte Edie. Aber womöglich irrte sie sich. Südler waren schwer zu deuten. Sie erklärte ihm, dass die Winde sich in den Lücken zwischen den Bergpässen fingen, dort heftiger wurden und sich zu lokalen Fallwinden entwickelten, wie Mini-Tornados. Ein Flugzeug müsste direkt durch diese Winde fliegen, und das konnte unglaublich gefährlich werden. Die Reise über Land war dagegen ein bisschen einfacher. Zwar auch keine Spazierfahrt – zu holprig, um Felix Wagner auf dem Hänger zu transportieren–, aber Joe hatte große Erfahrung darin, unter widrigen Umständen zu reisen, er hatte eine ordentliche medizinische Ausrüstung dabei und mehr Sachverstand, als sie allein zu bieten hatte.

Edie schnitt sich noch einen Riemen igunaq ab und biss ein Stück ab. Sie merkte, dass Taylor leicht zusammenzuckte.

«Ihnen ist klar, dass ich nichts damit zu tun habe, oder?»

«Wenn Sie mich fragen, ich glaube nicht, dass Sie’s waren.» Sie überlegte, ob sie ihm von dem Fußabdruck erzählen sollte, und kam zu dem Schluss, dass er das im Augenblick nicht verdiente. «Aber das wird schwer zu beweisen sein.»

Eine heftige Böe fegte über das Schneehaus. Kittschnee löste sich, und ein paar Brocken fielen auf Wagner. Er stöhnte wieder.

«Was, wenn Ihr Freund uns nicht findet?»

Edie schnitt noch etwas igunaq ab.

«Sie sollten wirklich etwas essen.»

«Verdammte Scheiße, wir haben hier einen Schwerverletzten!»

Edie betrachtete Wagner prüfend. «Ich glaube nicht, dass er Hunger hat.»

Taylor zog sich die Mütze vom Kopf und raufte sich die Haare. «Kann Sie eigentlich irgendwas erschüttern?»

Sie dachte einen Augenblick darüber nach. Es war zwar nicht die interessanteste Frage, aber immerhin trug sie dazu bei, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Sie machten also Fortschritte. «Es gibt da diese Szene in Feet First», fing sie an.

«Szene?» Seine Stimme hatte den Klang eines brünftigen Fuchses angenommen. Edie stellte fest, dass sie sich trotz der widrigen Umstände amüsierte.

«Ja, in diesem Harold-Lloyd-Film. Jedenfalls gibt es da diese Szene, wo Harold Lloyd am Baugerüst eines riesigen Wolkenkratzers baumelt, als ob er sich gerade noch mit einer Hand an eine Klippe klammert und der Wind an ihm zerrt.»

Andy Taylor sah sie an, als hätte er es mit einer Irren zu tun.

«Was soll denn das, verdammt? Sie reden von einem Film?»

Diesen Fehler machten die Leute ständig. Jedes Mal wieder musste Edie die Sache richtigstellen. «Klar ist es ein Film, aber Harold Lloyd hat sämtliche Stunts selbst gemacht.»

Taylor lachte, auch wenn es wohl kein gutes Lachen war.

«Ungelogen», sagte sie. «Kein Double, kein Stuntman, keine Kameratricks, nichts.»

Der dürre qalunaat wischte sich über die Stirn und schüttelte den Kopf. Danach sagte er eine ganze Weile nichts mehr. Die Zeit verging. Der Wind steigerte sich zu einem fürchterlichen Heulen. Dann fing Taylor an, unruhig hin und her zu rutschen.

«Erzählt sich Volk wie ihr in solchen Momenten nicht Geschichten über die Tiere und die Ahnen und so was?» Volk wie ihr. Das sagte der Richtige, dachte Edie. Einer von uns beiden bezahlt dafür, «Volk wie ihr» zu sein, und ich bin es nicht.

«Habe ich gerade», sagte sie.

«Nein, nein, ich meinte richtige Geschichten, Eskimoscheiß.»

«Aha.» In Edies rechtem Auge meldete sich ein vertrautes Pochen, in ihren Ohren summte es. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr Großvater immer gesagt, das wären die Ahnen, die durch ihren Körper zogen. «Horch», flüsterte er dann. «Einer deiner Ahnen möchte seine Geschichte erzählen.» Sie schloss die Augen, diese kohlrabenschwarzen Scheiben, von denen Sammy früher gesagt hatte, sie erinnerten ihn an die Sonnenfinsternis. Die vollendet geschwungenen Augenbrauen bogen sich auf ihrer breiten, flachen Stirn wie die Erdkrümmung.

Sie dachte an ihre Großmutter Anna, die den ganzen weiten Weg von Quebec gekommen war und Eliah auf einem Jagdausflug kennengelernt hatte, an Eliah, der den ganzen weiten Weg von Etah in Grönland hergekommen war, um bei ihr zu sein. Ihre Gedanken schweiften zu Eliahs Großvater Welatok, der die weißen Männer geführt hatte und den ganzen weiten Weg von Baffin Island gekommen war, um sich schließlich in Etah niederzulassen. Sie dachte an ihre Mutter Maggie, die bis nach Iqaluit hinuntergeflogen war, um ihren Mann zu suchen, den sie nicht fand, weil er sie betrogen hatte und nicht da war.

«Wie wäre es mit einer Ahnengeschichte?», sagte sie. «Warum fangen Sie nicht an?»

«Was?» Taylor starrte sie fassungslos an.

«Erzählen Sie mir von Ihren Ahnen.»

«Von meinen was?», fragte Taylor verwirrt. Sein ganzes Gesicht zog sich zusammen, als versuche er, den Saft herauszuquetschen. «Scheiße, keine Ahnung.» Er winkte ab. «Mein Großvater mütterlicherseits kam aus Irland rüber. Wir haben uns nie sonderlich um diesen Familienkram gekümmert.»

Die Wucht seiner Antwort, die Geringschätzung, die sein Tonfall ausdrückte. «Wie können Sie so leben? Ohne zu wissen, woher Sie kommen?», fragte Edie.

«Ziemlich gut. Saugut sogar.»

«Mein Urururgroßvater führte qalunaat-Forscher.»

«Na großartig!», sagte er ziemlich sarkastisch. «Da habt ihr ja ein hübsches Familienunternehmen aufgezogen, mit der Erfahrung von Generationen, um Leute am Arsch der Welt verrecken zu lassen.»

«Sein Name war Welatok.» Sie ignorierte den Tonfall des Mannes. «Er hat einen Mann namens Fairfax geführt.»

Andy Taylor stutzte. «Aha?» Er griff in die Jackentasche, zog einen Flachmann heraus und wirkte auf einmal ganz ruhig. Er nahm ein paar Schlückchen und wedelte damit in der Luft herum.

«Meinen Sie, der gute alte Felix könnte auch einen Schluck gebrauchen?»

«Er schläft.»

Taylor schob den Flachmann zurück in die Tasche. Sie wusste, weshalb er ihr nichts angeboten hatte. Inuit und Alkohol: Der Bund war in der Hölle geschmiedet worden. Sie hätte sowieso abgelehnt. Die Zeiten, in denen sie getrunken hatte, waren lange vorbei.

«Unser guter alter Felix hier weiß ganz gut Bescheid über die alten Arktisforscher, die ganzen Helden: Peary, Stefansson, Scott, Fairfax, Frobisher. Ziemlich interessante Geschichten», sagte Taylor.

«Hat er mal Welatok erwähnt?», wollte sie wissen.

Taylor zuckte mit den Achseln.

«Wahrscheinlich nicht», sagte sie. «Wir haben noch nie viel Anerkennung bekommen.»

Neben ihnen fing Wagner leise an zu stöhnen. Edie dachte an Joe, der sich in diesem Moment über das Meereis kämpfte, um zu ihnen zu gelangen, und daran, was für eine Zukunft er in der Arktis – oder dem, was davon dann noch übrig war – haben würde, wenn die Erschließungsunternehmer und Goldsucher und Forscher wieder weg wären. Es war Gier, die diese Leute antrieb, das wusste sie, auch wenn sie das Gefühl nicht kannte. Gut, Gier nach Liebe vielleicht, sogar nach Sex, aber nach Dingen? Nie. Edie hielt es wie die meisten Inuit: man besaß genug, man jagte genug, man aß genug und man hinterließ genug, damit Kinder und Kindeskinder einen respektierten. Es ging nicht um Überfluss. Es ging um Genügsamkeit.

Etwas später spürte Edie, dass Holzkopf anfing, in seinem Eiskäfig zu scharren. Andy Taylor war eingeschlafen. Wagner rührte sich nicht, aber er atmete noch. Sie warf sich ihren Robbenparka über und kroch durch den Eingangstunnel. Im Freien tanzten Kristalle und Eisrauch durch die Luft, und der Wind heulte wie ein verwundeter Bär. Edie ging um das Iglu herum, holte ihr Schneemesser hervor und schnitt ein Loch in Holzkopfs Bau. In einer Wolke aus Schneeflocken bahnte der Hund sich seinen Weg in die Freiheit, begrüßte sie flüchtig und stürmte in die Finsternis, Joe entgegen.

Sie krabbelte zurück in den Unterschlupf und weckte Taylor, um ihm zu sagen, dass Joe auf dem Weg war. Das Schneemobil hörten sie beide erst, als es in unmittelbarer Nähe war. Kurz darauf erschien Joe selbst im Eingang des Iglus.

«Was ist passiert?» Ehe jemand antworten konnte, kroch Joe zu dem Verletzten. Er zog sich die Handschuhe aus, legte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand an Wagners Hals und fühlte den Puls an der Halsschlagader. Er zog ein blaues Kliniknotizheft aus seinem Rucksack und schrieb etwas hinein.

Edie hob den Daumen, doch Joe zuckte nur die Achseln. Sie beobachtete ihn dabei, wie er die Wunde inspizierte, und spürte den vertrauten Stolz auf ihren Jungen in sich aufsteigen.

«Wie viel Blut hat er verloren?»

«Viel, womöglich mehr als einen Liter.»

Joe beugte sich über den Rucksack, nahm ein paar Desinfektionstücher heraus und reinigte sich sorgfältig die Hände. Fünf Minuten später hatte er einen Zugang gelegt und gab Felix Wagner eine mit Kodein versetzte Kochsalzinfusion gegen die Schmerzen. Die Situation war ziemlich ernst, erklärte Joe. Der Verletzte stand inzwischen vollständig unter hypovolämischem Schock. Seine Überlebenschancen hingen vom Grad des Schockzustands ab, und der ließ sich erst eindeutig ermitteln, wenn er auf der Krankenstation lag. War der Schockzustand ernst, würden als Erstes die Nieren und dann nach und nach die anderen Organe versagen. Das konnte ein paar Stunden oder auch eine Woche dauern, das Ergebnis wäre jedoch dasselbe, falls Wagner nicht außerordentlich großes Glück hatte.

«Wir brauchen dieses Flugzeug, Sammy.» Edie war wieder an ihrem Satellitentelefon.

«Wir werden hier immer noch gebeutelt.»

«Kannst du in Thule nachfragen?» Das war ziemlich viel verlangt. Aber die US-Airbase drüben in Grönland besaß größere Maschinen, die den arktischen Witterungsbedingungen sehr viel besser standhielten als die Twin Otters aus Autisaq. Die Amerikaner waren im Normalfall nicht bereit, sich in innerkanadische Angelegenheiten einzumischen, es sei denn, es handelte sich um einen Ausbruch von Tuberkulose oder Masern oder einer anderen ansteckenden Krankheit, aber Wagner war einer von ihnen, ein Amerikaner.

Als Augenblicke später die Antwort kam, konnte sie kaum etwas verstehen, und sie bat Sammy zu wiederholen, was er gesagt hatte, dann war das Signal ganz weg. Ein paar Minuten später klingelte das Telefon. Das Signal war zwar immer noch schwach, doch durch das Rauschen konnte Edie gerade so die Stimme eines Mannes verstehen, er sagte irgendetwas von Sichtverhältnissen.

«Sammy, hörst du mich?» Sie musste schreien, um den pfeifenden Wind zu übertönen. «Was ist mit Thule?» Doch sie hatte keine Verbindung mehr.

«Fliegen sie?», fragte Joe hoffnungsvoll.

Taylor öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

«Nicht.» Edie hob die Hand. «Bitte nicht.»

Sie tranken den letzten Rest Tee und warteten. Es war noch immer stürmisch, aber der Wind zog in Richtung Nordwesten weiter und flaute langsam ab. Wenig später fing Holzkopf an zu scharren und zu bellen. Edie legte ein Ohr an den Boden und spürte Vibrationen, die von einem Motor stammen mussten. Martie. Wer sollte es sonst sein? Niemand außer ihrer Tante wäre verrückt genug, durch den Ausläufer eines Schneesturms zu fliegen.

In Windeseile verluden sie den Patienten, die Schneemobile und die gesamte Ausrüstung in Martie Kiglatuks Otter. Martie war groß, zumindest für Inuit-Verhältnisse, hatte eine Haut wie ein uralter Koffer und eine Stimme, die klang wie eine kaputte Dampflokomotive in einem Zeichentrickfilm. Und sie war Edies beste Freundin.

Das Flugzeug folgte dem Küstenfesteis am Südkap und drehte nach Westen, um die Küste von Ellesmere entlangzufliegen. Bald hatte es so weit aufgeklart, dass Edie die vorbeiziehende Landschaft betrachten konnte. Auf jedem ihrer seltenen Flüge fiel ihr wieder auf, wie sehr die Arktis in sich selbst zusammenschmolz, Scholle um Scholle, Gletscher um Gletscher. Es war, als würde man seine geliebten, betagten Eltern allmählich und unaufhaltsam schwinden sehen. Jahr um Jahr ein bisschen mehr Tod und Sterben und ein bisschen weniger Leben. Sie fragte sich, ob in dreizehn Jahren, wenn Joe so alt war wie sie heute, überhaupt noch irgendetwas übrig wäre.

Langsam wurden die schroffen Felsen niedriger und machten einer flachen Küste Platz, und dann kamen die nördlichen Ausläufer von Autisaq in Sicht, kleine Dörfer, die sich unbehaglich an das knochige Uferland klammerten wie ein Gebiss uralter Zähne, lückenhaft und rau von Alter und Gebrauch. Hinter ihr stieß Joe einen Freudenruf aus.

Martie sagte: «Anschnallen, Leute, wir landen.»

Edie spürte das vertraute Ploppen im Ohr, als sie den Sinkflug begannen, und dann hörte sie, gedämpft, aber unverwechselbar, wieder Joes Stimme, beunruhigt diesmal. Als sie einen Blick über die Schulter warf, sah sie Felix Wagner mit Schaum vor dem Mund, die Augen verdreht, am ganzen Körper zitternd und zuckend, und sie sah Joe, der Andy Taylor fieberhaft bedeutete, den Verwundeten stabil zu halten, während er eine Spritze aufzog. Die Zeit dehnte sich. Edie registrierte den steilen Sinkflug, ein paar abgehackte Rufe und scharfe Befehle. Sie versuchte, den Gurt zu lösen, um zu helfen, doch sie bekam ihn nicht zu fassen. Hinter ihr massierte Joe das Herz des Mannes, beatmete ihn, und das Flugzeug raste wie im Sturzflug auf die Landebahn zu.

Plötzlich schrie Martie: «Anschnallen, Leute! Jetzt! Tuarvirit! Schnell!», und die beiden Männer ließen Wagner los, als hätten sie sich plötzlich an ihm verbrannt.

Sekunden später verkündete das vertraute Schleifen und Knirschen von Reifen auf Schotter, dass sie gelandet waren, und als Edie herumfuhr, sah sie, dass sich Felix Wagners Arm von der Decke befreit hatte.

Martie lenkte das Flugzeug ans Ende der Schotterpiste und stellte die Motoren ab.

«Was haben wir?»

Joe sagte: «Ärger.» Er war schon wieder aus seinem Sitz aufgestanden und kniete neben Felix Wagner. Er wirkte geknickt. «Der qalunaat ist gestorben.»

«Iquq, Scheiße!» Martie betrachtete durch das Fenster das Willkommenskomitee, das auf die Maschine zukam. Es bestand aus Sammy Inukpuk und seinem Bruder Simeonie, dem Bürgermeister von Autisaq.

«Dann sollte ich die guten Nachrichten wohl mal verkünden.»

Die Cockpittür schwang auf, und Martie kletterte hinunter auf die Piste. Es folgte eine kurze Diskussion, Martie gab ein Zeichen, damit jemand die Hauptluke öffnete und die Treppe hinunterließ, und Sammy und Simeonie kamen an Bord.

Simeonie, gewiefter und berechnender als sein Bruder, wandte sich an Edie:

«Versteht der dürre qalunaat Inuktitut?»

Andy Taylor reagierte nicht.

«Da hast du deine Antwort», sagte Edie. Sie mochte Simeonie nicht. Hatte ihn noch nie gemocht, auch nicht, als er noch ihr Schwager war.

«Hat er irgendwas damit zu tun?»

Edie sah, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann, wie er sich eine Geschichte ausdachte, die Tatsachen zu der Version formte, die Simeonie Inukpuk am besten zupasskam.

Sie ging im Kopf alles nochmal durch. Andy Taylor hatte zwei Gewehre bei sich, eine Remington 700 und eine Weatherby Magnum. Felix Wagner hatte auf dreien bestanden, einer Remington, einer 30-60Springfield und einer Winchester, höchstwahrscheinlich eine 308.Beide Männer hatten ihre Remingtons am Morgen bei einer erfolglosen Hasenjagd entladen, seitdem jedoch nicht mehr. Kurz erwog sie noch einmal die Möglichkeit, dass Felix Wagner sich selbst angeschossen hatte, doch die Position der Wunde machte dies so unwahrscheinlich, dass der Gedanke kaum die Energie wert war, die er beanspruchte. Dann war da noch der Zickzackfußabdruck mit dem Eisbären in der Mitte. Und plötzlich hatte sie eine Theorie.

Auf Inuktitut sagte Edie: «So wie ich das sehe, hat ein Jäger Wagner für Wild gehalten und auf ihn geschossen.» Vermutlich war derjenige in diesem Augenblick auf dem Rückweg nach Autisaq oder in eins der anderen Dörfer. Wahrscheinlich würde er erst ein paar Tage lang abtauchen und dann gestehen. Das war schon vorgekommen; die qalunaat hatten eine Erklärung unterzeichnet, in der sie die Gemeinschaft im Falle eines Unfalls von jeglicher Verantwortung entbanden. Es war ein Unglück, aber keine Katastrophe. Die Ältesten würden die Achseln zucken, ayaynuaq, da kann man nichts machen, Wagners Familie würde von der Versicherung eine großzügige Summe erhalten, und damit wäre die Angelegenheit erledigt und vergessen. Die Arktis steckte voller Gefahren. Edie hatte im Vorfeld sichergestellt, dass Felix Wagner sich dessen bewusst war.

Simeonie hustete, warf Taylor einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass der Mann nichts mitbekam, richtete sich zu voller Größe auf und sagte:

«Spekulation ist eine Krankheit des weißen Mannes. Bring den anderen qalunaat ins Hotel und sieh zu, dass er bekommt, was er braucht.»

Sie nickte.

«Eins noch. Er hat kein Satellitentelefon, oder?»

Edie schüttelte den Kopf.

«Gut. Lass ihn nicht telefonieren.» Er wandte sich an Andy Taylor: «Dieser Unfall tut uns sehr leid, Mr.Taylor. Wir müssen Sie bitten, hierzubleiben, bis wir ein paar Ermittlungen durchgeführt haben. Kleinigkeiten, nur ein paar Details.»

Andy Taylor blinzelte zustimmend.

Joe beugte sich vor und raunte: «Onkel, nichts davon ist Edies Schuld.»

Inukpuk ignorierte ihn und verfiel wieder in Inuktitut:

«Morgen wird eine Versammlung des Ältestenrates zusammentreten und entscheiden, welche Schritte als Nächstes unternommen werden», sagte er, verließ das Flugzeug und kletterte über die Treppe zurück auf die Landepiste. Sein Tonfall hatte etwas Bedrohliches an sich.

Joe schüttelte den Kopf. «Aitiathlimaqtsi arit.» Du mich auch.

Wieder im Hotel, zeigte Andy Taylor keinerlei Interesse daran, irgendwelche Anrufe zu tätigen. Alles, was er wollte, war duschen und sich ausruhen. Ein Mann, der den Tod nicht gewohnt ist, dachte Edie, als sie beobachtete, wie er seine Packtasche über den Flur zu seinem Zimmer am Ende des Gebäudes schleifte. Ihr kam in den Sinn, dass sie nach Hause gehen und auf Joe warten sollte. Sie hatte so eine Vorahnung, das Gefühl, dass sie und Joe in etwas hineingezogen werden würden. Nichts Greifbares, doch die Art, wie Simeonie Inukpuk gesprochen hatte, gefiel ihr nicht. Sie hatte dem Mann noch nie getraut, auch nicht, als sie zu seiner Sippschaft gehörte. Jetzt traute sie ihm noch weniger.

Sie wartete unten im Hotel, bis sie Taylor schnarchen hörte, dann ging sie nach Hause. In dem Augenblick, als sie die Stufen zur Schneefangtür hinaufstieg, wusste sie, dass Joe bereits da war und auf sie wartete. So wie ein vor Kälte starres Schneehuhn langsam wieder zum Leben erwachte, wenn man es neben die Heizung setzte, so schien ihr das Haus langsam wieder zum Leben zu erwachen, wenn Joe da war. Sie zog die Tür auf, schälte sich aus ihren Stiefeln und der Kälteschutzkleidung und ging hinein.

Joe saß auf dem Sofa und sah sich eine DVD an. Charlie Chaplin ließ zwei auf Gabeln gespießte Brötchen Ballett tanzen. Sie sackte neben ihren Stiefsohn und strich ihm übers Haar.

«Ich werde den Gedanken nicht los, dass es meine Schuld ist, Kigga.»

«Bist du verrückt? Niemand wird dich dafür verantwortlich machen, Joe, nicht mal für eine Minute. Und wenn doch, dann bekommt er’s mit mir zu tun.»

Auf dem Bildschirm ließ Charlie Chaplin die Brötchen weiter ihre Pirouetten drehen. «Es war ein Unfall. Das war irgendwer aus Autisaq oder aus einer anderen Siedlung. Vielleicht konnte er nichts sehen, vielleicht hat er ein bisschen zu viel getrunken. So was kommt eben vor.»

Joe sagte: «Glaubst du?»

«Klar», sagte sie. «Das geht vorbei, wirst sehen.»

Die Brötchenballerina verneigte sich, und Edie schaltete aus. Zwischen ihnen schwebte ein Moment des Bedauerns.

Joe sagte: «Aber ein Mann ist tot, Kigga.»

Sie sah ihn an, beschämt, weil sie ihre eigenen Grundsätze verletzt hatte. Ihre besten Seiten kamen immer dann zum Vorschein, wenn er bei ihr war, dafür sorgte er.

2

«Es Pe E Ce Ka.» Geistesabwesend malte Edie die Buchstaben an die Tafel. Sie hatte schlecht geschlafen, und es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, weil sie an Wagners Tod und an die Versammlung des Ältestenrates dachte, vor dem sie sich für ihr Verhalten würde rechtfertigen müssen.

Pauloosie Allakarialak hob die Hand.

Edie unterstrich das Wort mit dem Finger. «Speck.»

Pauloosie winkte mit dem Arm. «Miss, ist der qalunaat ermordet worden?»

Edie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Scheiße, wenn Pauloosie es wusste, wussten es alle.

«Nicht jetzt, Pauloosie.» Edie deutete auf das Wort an der Tafel. «Weißt du, was das heißt?»

Der Junge sah verständnislos drein. Armes Kind. Manchmal fragte sich Edie, was sie da eigentlich trieb, wenn sie ihre Tage damit verbrachte, der Jugend von Autisaq Wörter einzubläuen, die sie mit Sicherheit niemals auf Englisch verwenden würde. Barten, Geröll, Gletscher, Speck– Wörter für Dinge, die sich auf Inuktitut viel feinsinniger ausdrücken ließen und geschrieben viel hübscher aussahen. Natürlich hatte die Regierung in Ottawa die Hoffnung, dass einige von ihnen die Highschool absolvierten, vielleicht sogar einen Abschluss im Süden machten, so wie Joe es vorhatte, aber Inuit mit solchen Ambitionen gab es nicht viele. Nach Süden gehen, das hieß Familie, Freunde und alles, was einem vertraut war, zurücklassen für eine Stadt, in der Straßen von Gebäuden gesäumt waren, Autos sich aneinanderdrängten wie Saiblinge in einem schrumpfenden Sommerteich und in der mindestens sechs Monate im Jahr unerträgliche Hitze herrschte. Wieso sollte man sich das antun, nur um der vagen Hoffnung willen, zu Hause tatsächlich die Sorte Job zu ergattern, die seit Jahrzehnten immer nur an qalunaat vergeben wurde?

Nein, Tatsache war, dass die meisten Gesichter, die Edie jetzt vor sich hatte, bereits verheiratet sein und Kinder haben würden, wenn sie alt genug zum Wählen waren. Die meisten hatten schon Glück, wenn sie es überhaupt bis Iqaluit schafften, in die Provinzhauptstadt, vom Süden ganz zu schweigen, und die überwältigende Mehrheit würde nie die Gelegenheit bekommen, «Speck» auf Englisch zu buchstabieren. Die eigentliche Ironie der ganzen Sache lag im Grunde jedoch darin, dass diese Kinder all die Zeit, die sie in Reih und Glied stillsaßen und lernten, wie man «Barten» schrieb, auf dem Land hätten sein können, um traditionelle Fertigkeiten zu erlernen und zu entdecken, wie man Inuk war.

Die Pausenklingel ertönte. Auf dem Weg zum Lehrerzimmer hatte Edie eine Idee. John Tisdale, der Direktor, würde es zweifellos als «unorthodoxe Pädagogik» bezeichnen, als disziplinarisches Vergehen. Nicht, dass Edie sich darum geschert hätte. Sie war schon so oft zu ihm zitiert worden, weil sie absichtlich die Regeln missachtet hatte – seine Regeln, Südlerregeln–, dass sie geradezu damit rechnete. Sie vermutete allerdings, dass Tisdale ihre Methoden insgeheim guthieß, auch wenn er ihr dafür regelmäßig auf die Finger klopfte. Der Mann hatte einen langen Weg hinter sich gebracht. Als er vor ein paar Jahren mit dem Auftrag angekommen war, «die Bildung in der Arktis zu erweitern», hatte sie ihn gefragt, wozu genau sie die Kinder von Autisaq erziehen wollten.

«Dazu, ihren Platz in der Welt einzunehmen», hatte seine Antwort gelautet. Er war damals wirklich ein aufgeblasener Wichtigtuer gewesen.

Sie hatte gewartet, bis sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck etwas nachließ, und hatte gesagt: «Vielleicht ist Ihnen das nicht klar, aber das ist ihre Welt, genau hier.»

Tisdale hatte sie in die Schublade Querulantin gesteckt, doch Edie hatte sich von seiner herablassenden Haltung nicht beeindrucken lassen. Sie wusste, dass es nicht so bleiben würde. Er würde bald von seinem hohen Ross heruntersteigen und mit eingekniffenem Schwanz zu ihr gelaufen kommen.

Es geschah sogar noch früher, als sie erwartet hatte, nach einer Moralpredigt über die Gefahren gewalttätiger Computerspiele, die er den Eltern von Autisaq gehalten hatte. Was für ein Witz! Die Leute hatten ihn ausgelacht. Hatte er noch nicht gemerkt, wo er war? Hier oben war fast alles von Gewalt durchdrungen: die gnadenlos grimmige Sonne, der mörderische Wind, die gewaltigen Kräfte des Eises.

Außerdem hatten die meisten Kinder in Autisaq weder die Zeit noch das Geld für Computerspiele; ihre Freizeit war damit ausgefüllt, mit der Schlinge auf Schneehuhnjagd zu gehen, Hasen und Füchsen Fallen zu stellen oder mit ihren Vätern auf Robbenjagd zu gehen. Sie verbrachten den Großteil der Zeit, die sie nicht in der Schule waren, damit, gewalttätig zu sein.

Am Tag nach dem Vortrag hing quer vor dem Schneefang des Direktors ein toter Fuchs, doch anstatt das nächste Flugzeug Richtung Süden zu besteigen, klopfte er erst an Edies und dann an viele weitere Türen, um zu erfahren, was er falsch gemacht hatte. Er gab nicht auf, und im Laufe der Jahre wurde ihm klar, dass der Auftrag, «die Bildung in der Arktis zu erweitern», auch ihn selbst einbezog.

Er würde vorgeben, die heutige «unorthodoxe pädagogische Maßnahme» zu missbilligen, doch das diente im Grunde nur der Beschwichtigung seiner Vorgesetzten in Ottawa. Mit gesenktem Kopf, um sich unterwegs mit niemandem unterhalten zu müssen, stapfte Edie durch trockenen, quietschenden Schnee zum Fleischlager hinter ihrem Haus, wählte die kleine Sattelrobbe, die sie vor ein paar Wochen erlegt hatte, band ihr einen Strick um den Hals und zog sie über das Eis zurück zur Schule. Sie wartete, bis die Luft rein war, und schmuggelte das tote Tier durch den Seiteneingang ins Schulgebäude.

In dem Augenblick, als die Kinder aus der Pause zurückkehrten und das Tier erblickten, erstrahlten die Gesichter wie Laternen, weil sie ahnten, dass der zähe, rein theoretische Sprachunterricht nun ein Ende hatte. Edie bat zwei große Jungen, ihr dabei zu helfen, die Robbe auf das Lehrerpult zu hieven. Dann verteilte sie zwei Jagdmesser und erlaubte den Kindern, sich ans Fleischerhandwerk zu machen. Sie leitete die Großen an, damit sie den anderen Kindern zeigen konnten, wie man mit dem Messer umging. Außerdem mussten sie den Namen von allem an die Tafel schreiben, was sie berührten, und dazu die Verben, die ihre Handlungen beschrieben, und zwar auf Englisch und Inuktitut.

Es funktionierte. Nicht lange, und die Robbe lag säuberlich zerteilt auf dem Tisch, und die Kinder ermutigten einander, tiefer und präziser zu schneiden. Jeder wollte der Erste sein, der «Milz», «Barthaar» oder «auslösen» an die Tafel schrieb. Das Tier zu zerlegen und seine Einzelteile aufzuschreiben war ein fröhliches und für Inuit durchaus typisches Spiel geworden. Sogar Pauloosie Allakarialak machte mit. Er hatte den Tod des weißen Mannes vergessen und auch die Tatsache, dass er nicht wusste, wie man «Speck» buchstabiert.

In der Mittagspause stapfte Edie zum Northern Store hinüber, um Frischhaltefolie und Plastiktüten zu kaufen. Sie wollte die zerlegte Robbe verpacken, ehe sie auftaute und schwerer zu handhaben war. Sie machte die Tür zum Schneefang auf, klopfte sich am Stiefelknecht die Stiefel ab, warf aus reiner Gewohnheit einen Blick auf die Anschlagtafel (nichts über Wagner) und betrat den Laden.

Der Northern Store war offiziell eine Kooperative im Gemeinschaftsbesitz der Bewohner von Autisaq. Jeder Einzelne hatte Anspruch auf einen Teil des Gewinns, falls es denn je einen gab. Der Laden wurde von Mike und Etok Nungaq geführt.

Mike war ein leutseliger, zuverlässiger Mensch. Sein Interesse an Geologie kultivierte er, wann immer Geologen aus dem Süden in den Ort kamen. Als Dankeschön für einen Gefallen hatte ihm ein amerikanischer Geologe vor ein paar Sommern einen Laptop dagelassen, und jetzt war Mike derjenige, zu dem die Leute kamen, wenn sie Computerprobleme hatten. Es waren nicht viele. Ein paar aus der jüngeren Generation besaßen Spielkonsolen, aber ansonsten plagten sich nur wenige in der Gemeinschaft mit Computern herum, und im öffentlichen Gebrauch gab es gerade mal drei Rechner mit Internetanschluss: einen im Büro des Bürgermeisters, einen in der Krankenstation und einen in der Schulbücherei.

Wenn er keine Steine freilegte oder an Computern herumbastelte, lebte Mike Nungaq für den Klatsch, wenn auch selten für bösartigen. Mike wusste nur einfach gerne, wer was tat, mit wem und wann. Er hatte da eine Veranlagung, gegen die er nicht ankam. Wollte man wissen, was im Ort vor sich ging, musste man nur Mike fragen.

Mikes Frau Etok missbilligte das Getratsche ihres Mannes. In der Gegend von Autisaq war Etok als Uismuitissaliaqungak bekannt, als «Frau mit krummen Zähnen, furchteinflößend wie eine Bärenmutter». Die Leute nahmen sich vor ihr in Acht. Sie sah harmlos aus, doch beim kleinsten Hinweis auf Klatsch gefror Etoks Blick, und sie entblößte ein paar Fangzähne, die einem Walross Ehre gemacht hätten. Doch die Gerüchte und Andeutungen hatten Bestand, trotz all ihrer Bemühungen, sie im Keim zu ersticken. Sie wehten durch die Gänge des Northern Store hinaus bis in die hintersten Winkel der Siedlung und verwandelten sich auf der Reise oft von harmlosen Leckerbissen in übelste Nachrede und abscheuliche Verleumdungen.

Edie schaute immer an der Kasse vorbei und sagte Mike hallo, ehe sie ihren Einkauf begann. Doch ihr war klar, dass er heute etwas über die Wagner-Geschichte würde wissen wollen, und sie hatte keine Lust, darüber zu reden. Sie bog direkt in den dritten Gang ab und ging nach hinten zu den Plastikartikeln, die zwischen den Reinigungsmitteln und der Abteilung für Schneemobilzubehör ihren Platz hatten. Die extrabreite Frischhaltefolie, die Edie in einer Anzeige gesehen hatte, gab es nicht, also nahm sie eine Rolle normale Folie und ein paar Plastiktüten dazu und machte sich auf den Weg zur Kasse, als ihr die Mutter von Pauloosie Allakarialak entgegenkam. Nancy Allakarialak war eine fröhliche Frau, die es zutiefst bereute, ihren Sohn mit Fetalem Alkoholsyndrom auf die Welt gebracht zu haben. Sie tat alles, um es wiedergutzumachen. Sie verfolgte Pauloosies Unterricht mit großem Interesse und verpasste keine Gelegenheit, sich mit Edie über seine Fortschritte zu unterhalten. Heute lächelte sie nur und bog in einen anderen Gang ab.

Ein schlechtes Zeichen. Offensichtlich hatte sich herumgesprochen, dass unter Edies Führung ein qalunaat gestorben war.

Edie legte die Rolle Plastikbeutel und die Frischhaltefolie auf den Kassentisch. Etok stand mit dem Rücken zu ihr hinter der Theke und sortierte die Post. Sie drehte sich um, sah Edie und verschwand durch die Tür ins Hinterzimmer. Mike Nungaq sah seiner Frau nach und schlängelte sich an der Theke entlang zur Kasse.

«Hey, Edie. Schöner Tag heute.» Er sah ihr in die Augen und lächelte. Als er ihr das Wechselgeld gab, verharrten seine Finger über ihrer Hand in der Luft.

«Man meidet mich bereits.»

«O nein», sagte Mike. «Wegen gestern? Die Leute sind nur ein bisschen aufgewühlt deswegen. Sobald die Versammlung des Ältestenrats vorbei ist, beruhigt sich die ganze Sache wieder.»

Sie erwiderte nickend sein Lächeln, dankbar für den Versuch, ihr Mut zu machen. Sie fragte sich, ob der Ältestenrat die Dinge genauso sehen würde. Der Rat hatte das Recht, ihr die Führungslizenz zu entziehen, und zumindest Simeonie hatte auch die entsprechende Motivation. Er hatte sich damals gerade zur Wiederwahl als Bürgermeister aufstellen lassen, als die Sache mit Ida und Samwillie Brown aufflog.

Bis Edie in den Fall verwickelt wurde, waren im Grunde alle in Autisaq bereit gewesen, Samwillies Tod als Unfall abzuhaken. Er war unbeliebt gewesen und hatte bekanntermaßen seine Frau geschlagen. Edies Eingreifen – «Rumschnüffelei», hatte Simeonie Inukpuk es genannt – hatte dazu geführt, dass Ida den Mord an ihrem Mann gestanden hatte. Es herrschte allgemein die Annahme, dass Simeonie die Wahl wegen der schlechten Publicity verloren hatte, und die Affäre hatte ein derart schlechtes Licht auf seine politischen Ambitionen geworfen, dass es weitere vier Jahre dauerte, bis er schließlich wiedergewählt wurde. Edie fragte sich oft, ob Simeonie für die Todesdrohung verantwortlich war, die sie kurz nach dem Beginn von Idas Gerichtsverfahren erhalten hatte.

Ihr Exschwager hatte noch mehr Grund, sie zu hassen. Er machte sie dafür verantwortlich, dass ihre Beziehung mit Sammy auseinandergegangen war. Damals hatte er gesagt, sie wäre zu sehr zur Frauenrechtlerin geworden. Hatte ein Mann nicht schließlich auch ein Recht darauf, dass seine Frau ihm zur Seite steht? Simeonie war es egal, dass sie und Sammy sich damals, ehe sie ging, gemeinsam in Grund und Boden soffen. Hätten die beiden sich nicht getrennt, wären sie wahrscheinlich inzwischen beide tot. Vielleicht wäre das Simeonie Inukpuk lieber gewesen. Er nahm die Familie eher locker. Sammy war ihm gegenüber immer loyal geblieben, aber Simeonie hatte ihr nicht den Gefallen getan, es genauso zu halten.

Edie wusste, dass sie viel zu verlieren hatte. Vor der Anhörung selbst hatte sie keine Angst. Joe hatte recht. Ein Mann war gestorben, weit weg von zu Hause, und es war seiner Familie gegenüber nur fair, der Sache auf den Grund zu gehen. Aber sie befürchtete, dass Simeonie Wagners Tod zum Anlass nehmen würde, die Ältesten dazu zu bringen, ihr die Führungslizenz zu entziehen. Bis auf Sammy hielt keiner der Ältesten viel von weiblichen Jagdführern. Wahrscheinlich suchten einige schon seit Jahren nach einem Vorwand, um sie loszuwerden. Jedenfalls dürften die meisten froh sein, wenn sie gehen müsste.

Es ging ihr dabei gar nicht mal um sich selbst. Die Jahre des Trinkens hatten ihr allen Stolz genommen, den sie einst besessen hatte. Doch ohne die Einnahmen als Führerin hatte Edie keine Möglichkeit, Joe bei seiner Ausbildung zu unterstützen. Die Teilzeitstelle als Lehrerin deckte kaum ihre Lebenshaltungskosten. An Sammy und Minnie konnte er sich nicht wenden. Seine Mutter versoff ihre Sozialhilfe, und sein Vater hatte eine altmodische Vorstellung von dem, was einen echten Inuk-Mann ausmachte. Eine Ausbildung zum Krankenpfleger gehörte definitiv nicht dazu. Außerdem wollte Sammy nicht, dass sein Sohn irgendetwas tat, bei dem er Autisaq verlassen musste. Im Laufe der Jahre war Sammy so manches durch die Finger geronnen: ein paar gute Jobs, ein paar Ehefrauen und eine ganze Menge Geld. Von Alkohol und amerikanischen Krimiserien abgesehen, waren seine Söhne der einzige Trost, der ihm geblieben war.

Nach der Schule ging Edie auf dem Weg nach Hause am Laden und an der kleinen Kirche vorbei, die sie zuletzt an dem Tag betreten hatte, als ihre Mutter beerdigt worden war. In ihrem Schneefang lagen Sammys Treter, und am Haken hing sein blauer Regierungsparka. Zwei Jahre nachdem sie ihn rausgeworfen hatte, betrachtete Sammy Edies Haus immer noch regelmäßig als sein Zuhause. Am Anfang hatte sie sich dagegen gewehrt, dann hatte sie nachgegeben, vor allem, weil auch Joe mehr Zeit bei ihr verbrachte, wenn Sammy bei ihr war.

Bierdunst wehte aus dem Wohnzimmer herein, dazu ein anderer, chemischer Geruch. Edie streifte die Stiefel ab, hängte Mütze, Schals und Parka auf und öffnete die Haustür. Sammy und Joe saßen auf dem Sofa und sahen fern.

Edie sagte: «Hallo, allummiipaa, Liebling.» Das war an Joe gerichtet, aber Sammy sah mit hoffnungsvollem Lächeln auf. Edie vermisste die Tage nicht, als sie ihren Ex Liebling genannt hatte, Sammy schon. Wäre es nach ihm gegangen, wären sie immer noch verheiratet und sie immer noch eine Säuferin.

«Ich habe meine Sachen in mein Zimmer geräumt, Kigga», sagte Joe. Zurzeit zog der Junge ständig hin und her – ein paar Nächte bei Sammy, ein oder zwei Wochen bei Minnie–, doch im Augenblick verbrachte er mehr Zeit als üblich bei seiner Stiefmutter, und sie musste zugeben, dass es ihr gefiel.

«Hast du dich von Lisa getrennt, Sammy?» In den letzten Jahren hatte Sammy Frauen verbraucht wie Wasser. Lisa war nur die letzte in einer langen Reihe gewesen. Wann immer eine mit ihm fertig war, kam er ausgerechnet zu Edie, um seine Wunden zu lecken. Er zuckte still die Achseln und sah weg.

«Tut mir leid», sagte sie. Sie war nicht absichtlich gemein zu ihm, aber ab und zu stieg wie von selbst eine Blase aus Gehässigkeit an die Oberfläche. Sie vermutete, dass sie irgendwo in ihrem Inneren noch wütend über die Situation war, und das bedeutete wahrscheinlich, dass sie irgendwo irgendwie immer noch Gefühle für Sammy hegte und ihr Bestes gab, sie zu ignorieren.

«Mein Fernseher ist kaputt», sagte Sammy.

Edie holte ein Stück Robbenfleisch aus dem Rucksack, legte es in der Küche auf die Arbeitsfläche und setzte den Kessel auf, um Tee zu kochen.

«Und ich habe mich von Lisa getrennt.»

Sie lachten. Sammy verdrehte die Augen. Er betrachtete sein Liebesleben inzwischen selbst als schlechten Witz. Solange kein anderer sich darüber lustig machte.

«Hast du wieder jemanden?»

Sammy nickte schuldbewusst.

«Wen?», fragte Edie ein bisschen zu schnell.

«Nancy.»

«Nancy Allakarialak? Pauloosies Mutter?»

«Hmhm.»

Einen kurzen Augenblick lang sahen die drei einander an, und genauso schnell sahen sie wieder weg. Es war seltsam, dass sie sich manchmal immer noch wie eine Familie fühlten. Seltsam und verwirrend. Joe stand auf und ging in sein Zimmer.

«Ruft mich, wenn wir losmüssen.» Nicht seine Sache, diese alte Geschichte zwischen ihr und Sammy.

Nachdem er verschwunden war, entstand eine Pause.

«Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich bei dir zu bedanken, weil du mit Felix Wagner geholfen hast», sagte Edie, um das Thema zu wechseln.

Sammy trank einen Schluck Bier und sagte nichts.

Edie sagte: «Hast du mit Andy Taylor gesprochen?»

«Simeonie ist eben bei ihm gewesen. Scheint ganz versessen darauf zu sein, die ganze Sache zu vergessen und wieder nach Süden zu kommen.»

«Es wird doch vermutlich eine polizeiliche Untersuchung geben, oder?», fragte Edie. «Sie werden sicher Derek Palliser dazu rufen wollen.»

Sammy räusperte sich und musterte interessiert seine Füße.

«Davon habe ich noch nichts gehört», sagte er auf eine Art, die darauf schließen ließ, dass er mehr wusste als er sagte. Edie sah ihn lange und eindringlich an.

«Hör mal», sagte er abwehrend. «Ich habe keine Kontrolle über den Ältestenrat.»