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"Wenn das Licht geht, bleibt die Dunkelheit", sagte die Frau. "Sie ist gewesen, sie wird sein, sie schläft im Licht." Fast zwei Jahre ist es her, dass sich der verurteilte Mörder René Vath in seiner Gefängniszelle das Leben genommen hat. Am helllichten Tag hatte er an einer vielbefahrenen Straße in München eine junge Studentin kaltblütig getötet, doch durch sein beharrliches Schweigen ließ er Polizei und Öffentlichkeit über die Hintergründe der Tat im Dunkeln. Seit Vaths Selbstmord häufen sich verstörende Botschaften aus dem Internet, die dem Umfeld des Toten keine Ruhe lassen. Ausgerechnet Ben Feuerbach, der sich mit billig produzierten Geisterjägervideos über Wasser hält, wird von Vaths ehemaligem Freund und Geschäftspartner Philipp Monjau beauftragt, diese Nachstellungen aus dem Netz zu beenden. Auch wenn Feuerbach anfangs nicht an die Existenz einer verborgenen Macht hinter der grellbunten Fassade des Internets glaubt, wird er doch mehr und mehr in den gefährlichen Strudel aus unerklärlichen Phänomenen gezogen. Bei seinen Nachforschungen stößt er nicht nur auf Ungereimtheiten in Bezug auf Vath, sondern er wird im Netz auch mit einer jungen Frau konfrontiert, die sich als seine längst verstorbene Schwester ausgibt.
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Seitenzahl: 387
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Von wegen harmlos. Seine ganze Erscheinung, die doch so unbeholfen wirkte, war in Wirklichkeit nur ein gemeiner Schwindel, ein weiterer Beweis für die Boshaftigkeit, mit der er auf die Jagd nach Kinderseelen ging. Und zugegeben, auf den ersten Blick schien wirklich keine Gefahr von ihm auszugehen. Der gelbe Bauch hing zwischen den kurzen dicken Beinen bis auf den Boden, und die großen Zacken auf dem grünen Rücken zeigten schlaff nach links und nach rechts, so als müssten sie erst einmal ordentlich aufgepumpt werden. Nicht einmal Feuer konnte der schielende Drache speien, aus seinen Mundwinkeln krochen nur zwei harmlose Wölkchen. Ein Drache mit Fehlzündung.
Alles an ihm schien zu sagen: „Sei ohne Sorge, du kannst mich getrost in dein Zimmer holen, ich werde dir nichts tun. Sieh nur, ich drehe mich hinter den lustigen Zwergen auf der Lampe, und da wo wir sind, da ist es hell und fröhlich.“
Und tatsächlich – die vier Zwerge sausten um die Lampe, Geigen und Flöten in ihren Händen und schienen sich nicht darum zu kümmern, dass der Drache hinter ihnen seine Runden drehte. Das Licht der Lampe schickte die Zwerge quer durch das Zimmer an den Schrank und gleich weiter zum Fenster, wo eben noch der lachende Fliegenpilz vorbei gehuscht war. Dieser zog nun über das Regal mit den Modellautos, Tante Marienkäfer zauberte ihre Punkte über das Fußballposter. Sonne, Mond und Sterne kamen schon an der Tapete hinter der Lampe an. Gleich würden sie über die Ecke an die andere Wand hüpfen und über dem Gitterbettchen von Mia wieder anwachsen.
Fast alle Figuren der drehenden Babylampe warfen ihre lustigen Abbilder an die Wand, nur nicht der Drache. Wer auch immer diese Lampe entworfen hatte, konnte wohl nicht ahnen, welchen Dämon das Licht aus diesem freundlichen Drachen Nacht für Nacht gerade in diesem Kinderzimmer erschuf. Der Übergang vom Schrank zur Wand zerriss das Gesicht des Drachen zu einer hässlichen Fratze, die Augen, zu bösartigen Schlitzen gezogen, sprangen je nach Hintergrund aus dem scheußlichen Schädel heraus. Keine Spur mehr vom leuchtenden Grün und Gelb. Schmutzig fahl zog das verzerrte Biest seine Runden durch das Zimmer, über die Wände, das Fenster, die Tür und immer wieder über Bennys Bett.
Die Decke fest über den Kopf gezogen, nur einen Spalt zum Atmen freigelassen, wartete der Junge darauf, dass dieses scheußliche Ungetüm wieder über sein Bett kroch. Er musste es nicht sehen, er spürte, wenn das Böse über ihm war. Es gab wohl so etwas wie einen siebten Sinn, der dem Gejagten anzeigte, dass er sich in höchster Gefahr befand.
Als sein Großvater noch gelebt hatte, durfte Benny zusehen, wenn die Hühner geschlachtet wurden. Dabei hatte der Großvater die Angewohnheit, das Beil vor dem tödlichen Schlag zweimal langsam durch die Luft zu ziehen, genau über dem Hals des Huhns. Dadurch, so erklärte er, würde er genauer treffen, weil sich die Hand den Weg gemerkt hatte. Es gab aber noch einen zweiten Grund, wie Benny vermutete. Obwohl die Axt den Hals des Huhns bei diesem Ritual nicht berührte und auch kein Luftzug die drohende Klinge verriet, erstarrte das eben noch so unruhige Huhn und hörte auf zu zappeln.
Das Tier spürte die Gefahr und wurde von ihr gelähmt.
Genau so erging es nun Benny, jedes Mal, wenn der Dämon über sein Bett hinweg zog. Ob Mia die Gefahr auch spürte? Starr vor Angst war Mia auf jeden Fall nicht. Sie schrie ohne Luft in den Lungen, gepresst und schrill, dabei schlug sie immer wieder mit den Fersen und Fäusten auf ihre kleine Matratze. Nein, den Dämon konnte sie in ihrem Bettchen wohl nicht sehen, aber es ging ihr trotzdem nicht gut.
Mutters Lachen und die brummige Männerstimme waren seit einigen Augenblicken nicht mehr zu hören, Benny spähte durch den Spalt unter seiner Decke.
Die Tür ging auf. „Mein armer Schatz, was ist denn heute mit dir los?“ Bennys Mutter knipste das Licht an, sofort war der Dämon verschwunden.
Sie schloss die oberen Knöpfe ihrer Bluse und band sich die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. „Schau mal, was Mama für dich hat.“ Aus dem Bettchen fischte sie die Sonne aus Plüsch, die früher einmal Benny gehört hatte und die, wenn man eine Schnur aus ihren Bauch zog, die Melodie von Bruder Jakob klimperte.
„Wenn die liebe gute Sonne schlafen geht, schlafen geht, bist du nicht alleine, bist du nicht alleine, träume süß, träume süß“, sang die Mutter ihr selbstgedichtetes Lied. Dann steckte sie der Kleinen den Schnuller in den Mund.
„Du bist ja auch noch wach, Benjamin. Komm, deck dich nicht so fest zu, hier ist es doch sowieso schon so warm.“
„Hier im Zimmer fliegt ein Monster“, jammerte Benjamin.
Bennys Mutter setzte sich lachend auf das Bett. „Ein Monster? Ach Benjamin, in zwei Wochen kommst du in die Schule, so ein großer Junge hat doch keine Angst mehr vor Monstern. Versuche jetzt zu schlafen.“
„Wann kommt Papa wieder?“
„Papa muss morgen noch arbeiten. Sein Flieger landet in München, wenn du schon im Bett bist.“
„Darf ich wach bleiben?“
„Nur wenn du jetzt schnell schläfst.“ Bennys Mutter gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ging zur Tür.
„Mama, was ist mit Mia?“
„Mia wird von ihren eigenen Monstern geplagt, das ist ganz normal.“
„Was ist“, wollte Benny wissen, „wenn sich Mias Monster mit meinem Monster trifft? Werden sie dann stärker?“
Bennys Mutter hielt die Tür einen Spalt weit offen und lauschte, ob etwas im Haus zu hören war. „Tu mir einen Gefallen“, sagte sie dann. „Wenn Mia wieder schreit und du deshalb nicht schlafen kannst, dann gib ihr bitte den Schnuller. Ich möchte nicht noch einmal nach oben kommen.“ Sie knipste das Licht aus und schloss die Tür. Sofort sah Benny den Dämon wieder fliegen. Er hatte sicherlich auch seine Runden gedreht, als die Mutter im Zimmer war, aber nur Benny wusste das. Nun verriet wieder das Licht der drehenden Babylampe den unförmigen Körper mit der hässlichen Fratze an den Wänden des halbdunklen Raums, und Benny verschwand schnell unter der Decke.
Von unten hörte er wieder die tiefe Männerstimme, nur Mutter lachte nicht mehr. Ein kurzes Plop verriet ihm, dass Mia ihren Schnuller auf die Matratze gespuckt hatte. Augenblicklich fing sie wieder an zu schreien, Benny sprang unter seiner Decke hervor und huschte geduckt zu ihrem Bettchen. Der Dämon hatte ihn eingekreist. Benny drückte Mia schnell den Schnuller in den Mund, zog die Schnur aus der Plüschsonne und flüchtete sich wieder in sein Bett. Doch Verstecken nutzte nichts. Benny spürte den Drachen wieder über sich, so wie das Huhn die tödliche Klinge spürte. Bei jedem Überflug kratzte das giftige Licht auf der Decke, begleitet von Mias quälenden Schreien.
Sie hatte den Schnuller schon wieder ausgespuckt und nach jedem Schrei sog sie krampfhaft nach Luft. Der Dämon tanzte durch den Raum, die Füße seiner Schwester schlugen noch heftiger als noch vor ein paar Minuten auf die Matratze. Mia schrie, als wollte sie sich die Lunge zerreißen, verzweifelt und wie aus einer anderen Welt. Jetzt schlugen die kleinen Fäustchen zwar langsamer, aber mit viel mehr Kraft, während die Stimme immer häufiger abriss.
Dann war es still im Zimmer. Auch die liebe gute Sonne hatte ihren letzten Ton mitten in der Strophe abgebrochen, die Schnur war bis zur Kugel an ihrem Ende im Bauch der Sonne verschwunden. Das einzige Geräusch, das keines war und das Benny trotzdem deutlich hören konnte, war das Licht der Lampe, das über die Wände scheuerte. So unnatürlich still klang es, dass Benny es nicht ertragen konnte.
Vielleicht ein Nuckeln am Schnuller? Ja, das wäre jetzt ein Geräusch, das Benny beruhigen würde. Aber Mia nahm den Schnuller nicht mehr an. Ihr Mund war unbeweglich wie der Mund einer Puppe, ihre Ärmchen blau angelaufen und die Haut wie Plastik. Die Augen von Mia starrten Benny an oder an ihm vorbei, je nachdem, an welche Seite des Bettchens er sich gerade stellte. Das gleiche Licht, das Bennys Monster erschaffen hatte, ließ nun Mias Monster aus ihren Augen blicken.
Benny sprang zur Lampe und riss den Stecker aus der Wand. Augenblicklich gab es keinen Dämon mehr und auch keine Augen. Alles schwarz. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sich Benny wieder sicher. Am nächsten Morgen, das wusste er, würde seine Mutter kommen, den Rollladen öffnen und das grausame Licht ins Zimmer und auf Mias starre Augen lassen. Aber für die nächsten Stunden war Benny in Sicherheit, für die nächsten Stunden saß er in einem dunklen Nichts, kein Dämon, keine Augen. Und es war still. Die tiefe Männerstimme war verstummt, so wie der Atem von Mia. Eine kurze Weile noch hörte Benny seine Mutter in Fetzen sprechen, dann minutenlanges unterdrücktes Stöhnen, dann war auch hier Stille.
Nirgendwo ein Abgrund, alles schwarz. Ben saß in absoluter Dunkelheit und hatte keinen Punkt vor sich, an dem er sich hätte orientieren können, keinen Punkt, der seinen Blick hätte fangen können. Nur ein unendliches Schwarz ohne Grenzen. Auch seine Arme, seine Beine zerflossen mit diesem Schwarz. Und nach einer Weile verschwanden auch die Mauern in seinem Kopf. Alles war ausgelöscht von einem reinen Schwarz. Keine Heavy Metal Poster, keine zugemüllten Regale, kein Festivalkalender, der schon seit drei Jahren abgelaufen war. Alles nur schwarz. Ben konnte nichts sehen, konnte dafür aber auch nicht gesehen werden.
Nur der hämmernde Bass aus dem Bürostudiowohnschlafesszimmer fand und packte ihn. Bam zweidreivier, babam zweidreivier. Duutsch Becker ließ die Seiten der Bassgitarre schnalzen. Bam zweidreivier, babam zweidreivier. Gleich würden sie ihn holen. Der Rhythmus wurde schneller. Bam zweidreivier, babam zweidreivier, bam zwei bam zwei bam bam bam bam.
Die Tür ging auf und gewährte dem schmutzig braunen Licht durch einen schmalen Spalt Einlass in das Zimmer.
„Der Film ist fertig.“ Sebastian wischte sich die langen roten Haare aus dem Gesicht und zupfte eine besonders rebellische Strähne aus dem dichten Bart. „Willst du ihn dir noch mal anschauen, bevor wir ihn hochladen?“
Ben stand auf. „Hast du die Fassade vom Getränkemarkt noch reingeschnitten? Okay, dann brauch ich es mir nicht mehr anzuschauen.“ Er setzte die Baseballkappe auf und folgte Sebastian durch den Gang, der dröhnende Bass wurde jetzt noch von einem martialischen „hey, hey, hey“ von Duutsch Becker und Gasmann begleitet.
„Erheben sie sich für Mister 350000.“ Sebastian gewährte Ben den Vortritt in den Raum.
„Boah!“, rief Ben. „Fenster auf, das stinkt ja wie Tigerpisse!“
Gasmann grinste. „Weiß gar nicht, was du hast. Passt doch zum Video. So ein bisschen morbide Grundstimmung, huhu.“
Ben drehte sich zu Sebastian: „Wie viel Zeit noch?“
„Sieben Minuten bis Mitternacht.“
„Sehr gut“, Ben hob den Zeigefinger. „Eine Rede.“
„Ach nein!“, stöhnte Gasmann.
„Ruhe!“ Ben legte eine Hand in die andere. „Freunde der finsteren Unterhaltung. Es gibt drei Arten von Langeweile.“
Duutsch Becker stellte grinsend den Bass an die Wand:
„Nummer eins: Feuerbach hält eine Rede.“
„Arsch!“ Ben drehte sich im Raum, als hätte er nicht nur drei Zuhörer um sich, sondern gleich ein voll besetztes Stadion: „Die erste Form der Langeweile haben wir, wenn wir nichts machen können, wenn wir krank sind, auf den Bus warten oder, oder, oder. Die zweite Form der Langeweile ist die vermeidende Langeweile. Die haben wir, wenn wir eigentlich etwas Wichtiges zu erledigen hätten, wir sitzen aber da und drücken uns vor der Arbeit. Diese Langeweile macht ein echt schlechtes Gewissen. Die dritte Form der Langeweile aber haben wir, wenn wir verwöhnt sind, wenn wir von den vielen Angeboten um uns herum abgestumpft sind und uns nichts mehr bockt. Diese Langeweile stellt uns vor die größte Herausforderung, uns, die Gaukler und Spielleute des World Wide Web. Ungefickt und immer auf der Jagd!“
„Hört, hört!“, grinste Gasmann.
„Und immer auf der Jagd nach dem nächsten Abonnenten wollen wir auch denen einen Schauer über den Rücken jagen, die schon alles gesehen haben.“ Ben Feuerbach senkte die Stimme. „Und außerdem habe ich keinen Bock mehr, hier im Gewerbegebiet zu wohnen. Wie lange noch, Seppl?“
„Gleich zwölf“
„Gut. Ich möchte mich bei euch allen bedanken. Ohne euch wäre dieses Projekt, das uns hoffentlich Stoff für drei weitere Filme bietet, nicht möglich gewesen. Danke an Gasmann für den Kontakt zu den Werbepartnern, von irgendetwas muss ich ja leben. Danke auch an Duutsch Becker, du bist der beste Geist von Marie P., den ich mir denken kann.“
„Wir wissen schon, wie du dich revanchieren kannst“, warf Duutsch Becker ein.
„Später.“ Ben fuhr fort: „Und einen besonderen Dank möchte ich aussprechen natürlich meinem lieben Freund Sebastian. In einer Zeit der Selfies findet man nicht leicht einen Kameramann, der das Thema und nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Außerdem finde ich es stark, dass er neben seiner Arbeit in der Bank noch Zeit findet, für mich zu drehen. Und danke auch, jaja, ich bin gleich fertig, und danke auch an Siegmund Freud und Erich Fromm, die zwei alten Bananenverbieger, die mit ihren Ideen über den Todestrieb und die Nekrophilie diesen Film maßgeblich beeinflusst haben. Und jetzt, Seppl, geh auf veröffentlichen. Die Fans warten auf ihren samstäglichen Kick.“
Auf dem Bildschirm erschien vor blutrotem Hintergrund der langgezogene schwarze Schriftzug Custos Pavoris, darunter Schröfeln I, darunter als Logo eine schwarze Baseballmütze, eine schwarze Brille und ein schwarzer Vollbart. Das Gesicht dazwischen fehlte. Musikalisch unterlegt wurde der Titel mit einem gleichbleibenden Ton von einem Didgeridoo und einem stark verzerrten Bass.
Dann sah man Ben Feuerbach, nachts an einer alten Mauer stehend: „Das einzig gewisse im Leben ist der Tod! Mit diesem Satz des Psychoanalytikers Erich Fromm begrüße ich, der Wächter der Finsternis, euch zu einer weiteren Folge von 666 Scary Places to know.“
Feuerbach setzte sich in Bewegung und ging die Mauer entlang. „Glaubt man Fromm, dann führt ein Mangel an Anregung, ein uninteressantes, routiniertes Leben und eine mechanische Ordnung zu einer krankhaften Neigung, welche die Vorstellungskraft eines gesunden Menschen bei weitem übersteigt – die Nekrophilie. Ich befinde mich hier vor dem Friedhof in Schröfeln, einem Dorf 50 Kilometer vor München, in dem es einst zu einer grausigen Tat in Zusammenhang mit eben dieser Nekrophilie gekommen ist. Doch davon später mehr.“ Es folgten Bilder einer kleinen Ortschaft, bei Tage aufgenommen.
Dazu kam Bens Stimme aus dem Off: „Schröfeln ist ein beschauliches Dörfchen mit knapp 800 Einwohnern. Hier gibt es noch einen Tante Emma Laden und den Getränkemarkt Siegel, der auch die umliegenden Gemeinden versorgt. Zwei Bauernhöfe existieren noch, aber die meisten Einwohner arbeiten außerhalb. Alles in allem ein gemütliches Fleckchen Erde, auf dem es sich ruhig leben lassen würde, gäbe es da nicht den verstörenden Vorfall, der sich auf dem Friedhof vor 18 Jahren, kurz nach Allerheiligen, zugetragen hatte. Ich befrage Max Orgeldinger, den Wirt der hiesigen Gastwirtschaft zum Ochsen.“ Man sah einen alten Mann mit ledriger Haut, dessen vorspringendes Kinn fast die Spitze der mächtigen Hakennase berührte. Er polierte hinter einem Tresen aus den siebziger Jahren ein paar Gläser und blickte unsicher in die Kamera.
„Das hat die Marie nicht verdient“, lispelte der Alte zwischen einer doppelten Zahnlücke. „Und die arme Familie.“ „Was meinen sie genau?“, fragte Bens Stimme.
„Geschändet hat sie der Mistkerl! Ein Leben lang gearbeitet hat sie. Das hat sie niemals nicht verdient!“
„Sie meinen, er hat sie?“
Der alte Wirt hob die Faust. „Ausgegraben hat er sie in der dritten Nacht nach ihrer Beerdigung. Er hat den Sarg aufgebrochen und hat sie auf den Weg gelegt. Dann hat er sie, na, sie hat ja nur ein Totenhemd angehabt. Das war nach oben geschoben. So hat sie dann die Bernwieser Dora am nächsten Morgen gefunden.“
Bens Stimme blieb ruhig. „Hat man den Täter gefasst?“
„Aber woher denn! Hier sagt doch keiner was, nicht mal der Herr Pfarrer.“
„Und wieso reden sie über den Vorfall?“
„Ich bin alt, ich hab nicht mehr lange, und wenn‘s dann soweit ist, dann will ich unter der Erde meine Ruhe haben.“ „Eine schlimme Sache“, stimmte Ben zu. „Hat Marie denn jetzt ihre Ruhe?“
„Dazu sag ich nichts, das müsst ihr schon selber herausfinden.“ Schnitt. Ben wieder nachts vor der Mauer. „Marie P., mit 83 Jahren verstorben und nach ihrer Beerdigung hier auf dem Friedhof vergewaltigt. Das alles wäre schon schlimm genug, aber ich habe einen Hinweis bekommen, dass an diesem Ort seither unerklärliche Dinge geschehen, so, als laste auf dem Friedhof von Schröfeln ein Fluch.“ Ben ging weiter die Mauer entlang bis zu einem Tor.
„Dort hinten an der Hecke, in der zweiten Reihe, befindet sich das Grab von Marie. Besucher der Gastwirtschaft, die zu später Stunde auf dem Heimweg am Friedhof vorbei kommen, berichten davon, einen Schatten an eben diesem Grab stehen zu sehen. Wenn sie rufen, dann löst sich der Schatten in Luft auf. Ein Mann glaubte, in einer kalten Herbstnacht das Stöhnen einer alten Frau gehört zu haben. Oder war es nur der Wind? Ich selbst bleibe außerhalb des Friedhofs, um die Totenruhe nicht zu stören.“
Noch während Ben in die Kamera sprach, humpelte eine gebeugte Gestalt ganz in schwarz an einem Stock mit unter dem Kinn zusammengebundenen Kopftuch zwischen den Gräbern hindurch. Die Kamera wackelte, dann verschwammen die Bilder, der Kameramann atmete schwer, dann war der Bildschirm schwarz.
Fünf Sekunden später wurde der Bildschirm ausgefüllt von Bens Gesicht: “Sorry, wenn die Bildqualität gerade leidet, aber mein Kameramann weigert sich, weiter zu filmen. Jetzt muss ich den Kasten selbst bedienen und hoffe, dass ihr etwas seht. Tja, scheinbar ist da eben etwas auf dem Friedhof gewesen, von dem ich nichts mitbekommen habe. Wenn ihr dasselbe gesehen habt, wie mein Kameramann, dann wisst ihr schon mehr als ich. Ich werde zu Hause die Bilder auswerten und überlegen, was ich damit mache. Aber jetzt schon kann ich euch sagen, dass wir uns nächste Woche wieder sehen mit einem weiteren Beitrag aus Schröfeln. Dann werde ich euch mehr erzählen über Marie P. und ich spreche mit einem Augenzeugen, der auch einen Verdacht hat, wer der Leichenschänder sein könnte. Und wer weiß – vielleicht veranlassen mich die heutigen Aufnahmen ja dazu, noch mal eine Nacht auf dem Friedhof von Schröfeln zu verbringen. Bleibt wachsam, euer Ben Custos Pavoris, der Wächter der Finsternis.“
Abspann.
„Wow!“, Gasmann klatschte sich mit Ben ab. „Das ist ja noch besser als die Ruinen vom Nazisanatorium.“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Wir kriegen so einen Ärger mit den Bullen, das sag ich euch.“
„Das will ich hoffen“, grinste Ben. „Und außerdem, wir haben von außerhalb des Friedhofs gefilmt.“
„Aber Duutsch ist im Friedhof herumgelaufen.“
„Du meinst die schwarze Frau.“ Ben boxte Sebastian grinsend auf den Oberarm. „Können wir doch nichts dafür, wenn es in Schröfeln spukt. So, und jetzt wirf´ mir ein Bier rüber, ist doch ein Grund zum Feiern. Hey Gasmann, den Joint rauchst du aber draußen, klar!“
Duutsch Becker ließ sich aufs Sofa fallen. „Hör mal zu, Feuerbach, wir wollten doch noch mal wegen dem Kajakfilm reden. Hast du endlich darüber nachgedacht?“
„Da gibt es nichts nachzudenken. Entweder ich kommentiere eure Fahrt nachträglich hier bei mir, oder ihr filmt mich, dann wird aber nachts gedreht.“
„Nachts Kajakfahren ist doch scheiße, Mann. Jetzt komm, eine Hand wäscht die andere. Wir haben bei deinem Video mitgemacht, jetzt supportest du uns.“
„Klar, ihr helft mir, dafür könnt ihr aber auch meine Bude als Proberaum nutzen. Such mal in Bad Tölz eine Location, wo du etwas anderes als Blasmusik spielen darfst.“
„Das ist auch voll in Ordnung von dir, aber vergiss nicht, wir haben deine Filmmusik eingespielt. Und wenn du willst, dann filmen wir dich auch so, dass man deine Wampe nicht sieht. So wie eben eben.“
Das Telefon klingelte. „Wir sprechen später darüber. Ben Feuerbach, hallo?“
„Kaufmann hier. Ben, wir haben ein Problem mit der Inobhutnahmestelle in Wolfratshausen. Kerstin hat Magen-Darm, sie hat‘s versucht, aber es geht nicht mehr. Kannst du für den Rest der Nacht einspringen?“
„Ist ganz schön oft in letzter Zeit, meinst du nicht? Hättest mich halt nicht feuern sollen, dann bräuchtest du jetzt keinen Ersatz.“
„Du weißt genau, dass du bei unserem Träger nicht arbeiten kannst, wenn du deine Geisterfilmchen ins Netz stellst. Also?“
„Ich nehme die Fachleistungsstunde von 40€.“
„Dir steht wohl der Arsch offen!“
„Nein, das macht er gerade bei Kerstin, sonst bräuchtest du keine Vertretung mitten in der Nacht.“
„Feuerbach, du sollst hier nur Bereitschaft schieben. Ich sag dir mal, was ich dir zahle und da kannst du noch…!“
Feuerbach hatte aufgelegt. „Gibt‘s schon Bewegung?“
Sebastian setzte sich an den Computer: „278 Klicks, das sind die treuen Fans, die auf den Upload um 0:00 Uhr gewartet haben. Nicht schlecht für die ersten Minuten. Dein Telefon klingelt übrigens.“
„Ich weiß. Und wie viele Kommentare?“
„14. Willst du nicht rangehen?“
„Vielleicht. Was schreiben die so?“
„Moment. Ah, das Gebimmel macht mich wahnsinnig. Also. Fünf halten dich für krank, einer für pervers, aber den können wir wohl zu den Fünfen dazu rechnen. Acht gehören zur Kategorie geil, ich hab mir voll in die Hose geschissen. Bis jetzt ein ganz guter Schnitt. Oh Mann, geh endlich ans Telefon.“
„Feuerbach!“
„Leg nicht auf, hörst du!“, brüllte Kaufmann. „Ich zahle deine verdammte Fachleistungsstunde, aber denk daran, irgendwann bist du auch mal ganz unten, und dann brauchst du vielleicht mich!“
„Ich war schon ganz unten, Kaufmann. Ist ein gutes Gefühl, wenn man nicht weiter abstürzen kann.“
Sebastian machte den Platz am Computer frei. „Ben, schau´ dir das mal an, da passiert gerade was.“
Ben rutschte auf den Stuhl, Gasmann und Duutsch Becker drängten sich mit langen Hälsen hinter ihm und lasen die Kommentare, die jetzt auf dem Bildschirm erschienen.
„Der Kellermeister Mue vor 21 Minuten: Wie nicht anders zu erwarten. Ich salutiere den gelehrten Herrn. Ihr habt mich weidlich schwitzen machen.“
„Borntolose 94 vor 18 Minuten: Voll krass!“
„Maddy by Class 03 vor 18 Minuten: Ist doch gestellt ist das.“
„V+M Solutions vor 17 Minuten: Sehr geehrter Herr Pavoris, ich benötige ihre Hilfe bei einem paranormalen Phänomen. Mit freundlichen Grüßen, P. Monjau.“
„Bärbeißer Collaps 83 vor 17 Minuten: Feuerbach du Arschloch, hör auf, meine Ideen zu klauen!“
„Gunslinger MSL 89 vor 15 Minuten: Mit ner Leiche poppen, wie kaputt is das denn! Die stinkt doch schon.“
„Caesarion 0491 vor 14 Minuten: Bääääääääääh! Sex mit Oma! Und dann noch mit toter Oma. Mit uns geht’s abwärts.“
„Sinsemillaseeker 87 vor 14 Minuten: Hey du paranormales Phänomen. Wenn du was vom Wächter der Finsternis willst, dann nerv uns net und schreib ihm PN.“
„V+M Solutions vor 13 Minuten: Vielen Dank. Wie geht das?“
„Sinsemillaseeker 87 vor 12 Minuten: Alder! Meißel in Marmor und schmeiß ihm vor die Tür!“
„November Pain 1999 vor 10 Minuten: Wenn ich mal abnippel, lass ich mir den Hintern zunähen hahaha.“
„Borntolose 94 vor 10 Minuten: Was denn für ein paranormales Phänomen?“
„V+M Solutions vor 9 Minuten: Das Internet verfolgt mich.“
„Gunslinger MSL 89 vor 8 Minuten: Hey Opa, natürlich macht es das!“
„November Pain 1999 vor 8 Minuten: Wie meinst du das?“
„V+M Solutions vor 7 Minuten: Es ist überall, es findet mich, egal wo ich bin. Selbst wenn ich nachts mein Haus versperre kommt es zu mir wie ein unsichtbarer Einbrecher, der jede Tür öffnen kann. Es kriecht zu mir, ohne dass ich es bemerke.“
„Borntolose 94 vor 4 Minuten: Hör auf, ich bin heut Nacht allein zu Hause. Mir reicht schon das mit der Oma!“
„V+M Solutions vor 3 Minuten: Bitte helfen Sie mir. Es gibt keine technische Erklärung, das habe ich schon prüfen lassen. Aber irgendetwas versteckt sich im Internet und von dort aus macht es Jagd auf mich.“
Feuerbach stand auf. „Dieser V+M schreibt ja wie ein Steuerberater. Hält der mich für einen Exorzisten oder so etwas?“
Sebastian nahm wieder Bens Platz am Computer ein. „Vielleicht so ein konservativer Spinner. Aber die sitzen doch nicht nachts vor dem Rechner und schauen sich deine Videos an. Vielleicht ein religiös Wahnhafter, die schlafen immer so schlecht. Oder einer, der einfach nur auf einem Trip hängen geblieben ist.“
Ben fischte sich die Jacke vom Haken. „Wahrscheinlich will der nur auf meinem Trittbrett mitfahren. Im Moment sorgt er noch für Traffic auf dem Kanal, aber behalte ihn im Auge. Ich muss jetzt nach Wolfratshausen.“
Ben sprang die dunkle Treppe hinunter, über den beleuchteten Hof und in den klapprigen Bus. Hier ließ Ben die Stirn auf das Lenkrad sinken und atmete tief durch. Kein Mensch außer ihm war um diese Zeit im Farchet, dem Tölzer Gewerbegebiet, unterwegs. Ben ließ den Diesel anspringen, die Scheinwerfer blieben aus. Die brauchte er im Wald noch nicht und er genoss jede Minute Dunkelheit, bevor ab Geretsried die Nacht vom Licht verschmutzt wurde. Das Handy auf dem Lenkrad aufgelegt, suchte er sich die Playlist von Gasmann und Duutsch Becker heraus, dann öffnete er seinen Kanal. 329 Aufrufe. Mit diesen und den drei nächsten Filmen wollte er im September auf 300.000 Klicks kommen. Er warf das Handy auf den Beifahrersitz. Auf Höhe von Hechenberg schaltete er die Scheinwerfer ein. Zur gleichen Zeit leuchtete das Display am Handy auf.
„V+M Solutions vor 1 Minute: Es wird schlimmer. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.“
Ohne Zweifel war es ein Segen für die Kinder im bayerischen Oberland, dass der Industrielle Otto Prauser seine Villa aus dem 19. Jahrhundert ausgerechnet der „Freien Jugendhilfe Brücken bauen e.V.“ vermacht hatte. Seit 2016 konnten Eltern ihre Kleinkinder während der Arbeit in der Krippe abgeben, die Erzieherinnen und Erzieher der Tagesstätte kümmerten sich um Schulkinder, die Probleme mit den Hausaufgaben und Gleichaltrigen hatten und die Inobhutnahmestelle bot den Kindern und Jugendlichen vorübergehend Schutz, die zu Hause geschlagen, missbraucht oder vernachlässigt wurden.
Aber von all dem Gewimmel zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bekam Ben Feuerbach nichts mehr mit. Seit er bei den Brückenbauern aufgrund seiner Nebentätigkeit als Wächter der Finsternis offiziell gefeuert worden war und er stattdessen die zahlreichen Vertretungsnächte übernahm, waren die Räume der Krippe und der Tagesstätte bei seinem Arbeitsantritt leer, das bei Tage von den Kindern angerichtete Chaos aufgeräumt und die Stühle hochgestellt. Nur der unverwechselbare Geruch nach Pfefferminz -und Früchtetee, vermischt mit dem scharfen Aroma von nassen Socken, Babykotze und vollen Windeln ließ erahnen, wer tagsüber die Räume bevölkerte.
Nachts bot die Villa eine stille Zuflucht für die geschundenen Seelen, die in der Inobhutnahmestelle untergebracht waren. Die Kinder und Jugendlichen, für die Ben während seines Dienstes die Verantwortung übernahm, waren vielleicht das erste Mal von zu Hause weg, sie hatten alles aufgeben müssen, was ihr bisheriges Leben bestimmte und viele wussten nicht, wohin ihr Weg sie führen sollte.
Ben ließ den Bus auf dem Kiesweg vor dem repräsentativen Anwesen ausrollen und kam kurz hinter dem Polizeiwagen zum Stehen.
„Na prima, auch das noch!“, murmelte er leise vor sich hin.
Die Hände in den Jackentaschen, schlenderte er am Beamten vorbei, der sich vor der Tür eine Zigarette angezündet hatte. Im Büro am Ende des Ganges stand der zweite Beamte, vor ihm ein Punker von vielleicht 16 Jahren.
Der Polizist nickte kurz. „Ihrer Kollegin geht‘s ja echt nicht gut.“
Vom Gang her hörte man die Toilettenspülung. Ben holte das Desinfektionsspray und ein Tuch aus dem Schrank. „Servus Kerstin, was hast du denn heute schon alles angefasst mit deinen verseuchten Fingern?“
„Leck mich!“, fluchte Bens Kollegin tonlos.
„Nicht, solange du noch die Scheißerei hast.“
Der Beamte, der eben noch seine Zigarette geraucht hatte, holte den Kollegen ab. „Also, dann noch viel Spaß mit dem Früchtchen. Seid ihr jetzt voll?“
Kerstin nahm die Tasche vom Schreibtisch. „Bis unters Dach, wenn noch was ist, dann könnt ihr hier nicht mehr abliefern. Gute Nacht.“
Ben rief den dreien hinterher: „Danke übrigens für die professionelle Übergabe.“
Dann setzte er sich auf die Tischkante vor den Punker. „Alles muss man hier selber machen. So, dann erzähl mal, wer bist du, wo kommst du her und wo willst du hin?“
Der Punker schaute auf. „Krass, Custos Pavoris!“
„Für heute Abend Ben. Also?“
„Was machst du denn hier? Drehst du einen Film?“
„Im Moment will ich aufschreiben, wer du bist.“
„Oh Kacke, heute ist ja Samstag. Hast du was hochgeladen?“ „Gut, noch mal von Anfang an. Wie heißt du und wie alt bist du?“
„Nenn mich Flo. Und 15.“
„Hast du auch einen ganzen Namen und eine Adresse?“
„Wozu brauchst du den Scheiß?“
„Weil ich heute Nacht für dich den Kopf hin halte.“
„Frag die Orziekowsky vom Jugendamt in Unna, die betreut mich, seit ich klein bin. Die weiß alles.“
„Unna also. Bist ganz schön rumgekommen. Na gut, dann sollen die Kollegen morgen den Rest machen. Nur eins noch – nimmst du Medikamente?“
„Alles, was du da hast.“
„Okay, dann brauch ich nach dem Rauchen wohl nicht zu fragen. Du bist nicht das erste Mal in so einer Einrichtung? Gut, dann mach ich`s kurz und schmerzlos: Hier gelten dieselben Regeln wie anderswo. Klar? Und jetzt erzähl mal, warum bist du hier?“
„Die Bullen haben uns hochgenommen. Ich wohne gerade mit ein paar Kollegen bei einem Kollegen in Gauting. Und den Kollegen haben die Bullen auf dem Kieker.“
„Also ein Nest. Sind die anderen Kollegen auch untergebracht worden?“
„Nicht nötig, die sind schon alle alt genug. Da hättest du dabei sein müssen. Wir haben heute Nacht die Geister befragt. Voll krass.“
„Und was haben die Geister so erzählt?“
„Dass irgendwann mal im Krieg das Haus zerbombt wurde. Und jetzt finden die früheren Bewohner keine Ruhe.“
„Weil die neuen Bewohner kiffen und saufen. Ja klar. Sag mal, wie soll es jetzt mit dir weitergehen. Willst du ewig bei irgendwelchen Leuten auf dem Boden schlafen?“
„Wieso nicht, ist doch cool.“
„Nein, cool ist mit Kopfkissen und Bettdecke. Das ist der Unterschied zwischen deinen Kollegen und dir. Die haben Kopfkissen und Bettdecke. Wenn du willst, dann suchen wir dir eine Bleibe, wo‘s dir taugt.“
„Ne, lass mal. Ich hab lieber kein Kopfkissen und dafür auch niemanden, der mich volllabert. Typen wie du sitzen immer auf der gemütlicheren Seite vom Schreibtisch. Wie‘s wirklich im Heim zugeht, davon habt ihr keine Ahnung.“
Ben zerbrach seinen Bleistift und starrte dem überraschten Flo zwischen die Augen: „So, hab ich nicht?“, zischte er dann. „Wenn deine Familie aus der Bahn gerissen wird, aber so richtig, wenn deine Eltern sich in Etappen umbringen, du zu den Großeltern kommst und es dort nicht funktioniert, weil die immer denken, wieso die kleine Maus und nicht ihr Bruder und sie lassen dich das den ganzen Tag spüren bis du nicht mehr kannst und du zu Pflegeeltern kommst, aber da klappt es auch nicht, weil die gerne ein Kind für den Tag wollen und du das nicht bringst, dann weißt du, wie es wirklich auf der anderen Seite vom Schreibtisch aussieht.“
Flo hatte die Augenbrauen nach oben gezogen. „Alter, keine Ahnung was du laberst, aber klingt krass.“
Ben wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und stand auf. „Ich zeige dir jetzt dein Zimmer.“
Vor dem Büro zweigte der Gang in den Westflügel der Villa ab. Ben kontrollierte die Belegungsliste und schloss im hinteren Bereich der Gruppe ein Zimmer für Flo auf. Zurück im Büro löschte er das Licht und setzte sich auf den Boden.
Nach ein paar Minuten klingelte sein Handy. „Seppl, was gibt‘s?“
„Ich hab den Typen mit der Internetparanoia gecheckt. Du kennst ihn.“
„Quatsch!“
„Philipp Monjau, Geschäftsführer von V+M Solutions. Die stellen so Teile für Kläranlagen her.“
„Noch nie gehört.“
„Ihr seid aber befreundet. Seit eineinhalb Jahren ist er auf deiner Freundesliste.“
„Kann nicht sein.“
„Doch, doch. Und jetzt pass mal auf. Das V steht für René Vath, seinen Geschäftspartner. Er wurde zu lebenslänglich verurteilt, weil er eine Studentin umgebracht hat. Am helllichten Tag und ohne Motiv. Einfach so. Ich erinnere mich, weil ich damals noch mit Anne zusammen war. Die hat ja auch studiert.“
„Können wir da was draus machen, dunkle Geheimnisse enthüllen oder so? Vielleicht ein Justizskandal, Unternehmer zu Unrecht im Gefängnis. Meistens sind es ja auch die Geschäftspartner, oder? Dann würde dieser Monjau keine blöden Kommentare mehr bei mir einstellen.“
„Nein, keine Chance. Vath wurde bei der Tat beobachtet. In einem Blog hieß es, er war vor Gericht so ruhig wie eine Viper vor dem Biss. Monjau dagegen scheint ein ganz müder Furz zu sein. Meldest du dich bei ihm?“
„Hab ich was davon? Nein. Außerdem gibt es schon eine Idee für den Film nach Schröfeln: schwarze Messen in Gauting.“ „Wollen wir nicht erst das Jägergrab abdrehen? Das Konzept steht schon, der Gastwirt Haberer schießt was dazu, wenn wir seine Kneipe erwähnen. Und hör mal, Ben, du solltest echt was mit unseren Paddlern machen. Die knien sich bei deinen Projekten voll rein.“
Eine Scheibe im Westflügel klirrte. „Ich muss Schluss machen!“, sagte Ben in ruhigem Ton.
„Okay, aber überlege dir das mit den beiden. Morgen Abend Isar?“ Ben steckte sein Handy in die Gesäßtasche und lief durch den Gang. Schräg vor dem Zimmer, in dem er Flo untergebracht hatte, gab es zwei große Fenster, die fast bis auf den Boden reichten. Eines der beiden Fenster war zerbrochen. Durch den zersplitterten Rand der Fensterscheibe sah er den Punker durch den Park zum Waldrand laufen. Auf der Schulter schleppte Flo ein Kopfkissen und die Bettdecke.
Die Isar hatte es heute besonders eilig, an Lenggries vorbeizukommen. Schäumend jagte sie durch die Postkartenlandschaft, wolkenloser Himmel, heller Kieselstrand, Wald, Berge. Vom Brauneck segelten noch zwei Gleitschirmflieger herab ins Tal, die Sonne war längst hinter dem Bergmassiv verschwunden aber auf dem Ufer der Isar, an dem nun die letzten Eltern die Badesachen ihrer Kinder zusammensuchten, lag noch eine Ahnung von der Kraft des Tageslichts.
Ein Raftingguide befreite nacheinander ein knappes Dutzend nasser Paddler aus ihren Schwimmwesten. „Hey Ben“, rief er über die Schulter. „Krasses Video! So eine tote Oma wär doch auch mal was für dich. Endlich eine Freundin, die dir nicht wegläuft.“
Ben streckte dem Guide im Vorbeigehen den Mittelfinger entgegen. „Zähl du lieber deine Kundschaft durch, ob nicht wieder einer fehlt. Sonst dreh ich mal ein Video über verschollene Touris.“
Die Paddler schnatterten aufgeregt durcheinander, Ben angelte sich eine Flasche Bier aus einem Kasten. „Grüß dich Seppl, hast du den Kasten spendiert?“
Sebastian saß mit nacktem Oberkörper an einem Feuer und stimmte seine Gitarre. „Nein, die zwei Freaks. Die Rucksäcke sind auch von ihnen, ich soll darauf aufpassen.“
„Alles klar bei dir?“, wollte Ben wissen.
„Sicher doch.“
Ben setzte sich ans Feuer und öffnete sein Bier. „Hey, ich habe eben Nicki gesehen. Mit ihrem neuen Stecher.
„Ja, ich auch, sind hier vorbeigelaufen.“
„Ach deshalb das lange Gesicht“, nickte Ben. „Darf ich dich daran erinnern, dass du Schluss gemacht hast?“
„Ach ja?“ Sebastian hatte aufgehört, seine Gitarre zu stimmen. „Und nach welchen Kriterien beurteilst du, wer Schluss gemacht hat? Der eine provoziert die Trennung, der andere spricht sie aus. Wer hat jetzt Schluss gemacht?“
„Oder der eine ist dafür verantwortlich, dass der andere die Trennung provoziert, die der eine dann ausspricht.“
„Ja, ist ja gut.“ Sebastian klang genervt. „Völlig wurscht, ob Nicki Schluss gemacht hat oder ich. Wir sind doch hier nicht bei der Polizei. Wir sind nicht mehr zusammen, das reicht. Mich kotzt nur an, dass sie so viel von mir weiß und gesehen hat, und das trägt sie dann mit sich herum, wenn sie mit dem Arschloch zusammen ist. Verstehst du? Ein Teil von mir ist dabei, wenn die beiden poppen.“
Ben nahm einen tiefen Schluck und wischte sich mit der Hand über den Mund. “Stimmt, das ist unerhört. Die beiden treiben es, und sie denkt an deine krumme Gurke. Wie unpassend. Es müsste so etwas wie ein Recht auf Erinnerungen geben. Wenn dir Nicki deine Bücher und deine Klamotten vor die Füße wirft, dann müsste sie dir auch deine Erinnerungen zurückgeben. Aber leider sind Ex-Freundinnen wie das Internet, sie vergessen nie.“
Sebastian starrte auf den Fluss. „Dann wünsche ich ihr, dass die Erinnerung an mich in ihr fault und sie zerfrisst wie eine Säure.“
Am Ufer liefen zwei junge Frauen vorbei, jede mit einem Sarong um die Hüften und sonst nur mit einem Bikini-Oberteil bekleidet.
Ben folgte ihnen mit dem Blick. „Sag mal Seppl, woher kommen eigentlich die Sommermädchen?“
Sebastian beugte sich über den Gitarrenhals und dämpfte eine Saite beim Zupfen mit dem Finger ab. „Wie meinst du das?“
„Ist dir noch nicht aufgefallen“, antwortete Ben, „dass im Sommer ganz andere Frauen unterwegs sind als im Winter? Hübschere, und Interessantere.“
„Die sehen im Sommer nur frischer aus und haben weniger an“, stellte Sebastian klar.
„Eben nicht“, erwiderte Ben und blickte den beiden Frauen in den Sarongs nach. „Das sind nicht die Frauen, die im Winter blass und eingepackt herumlaufen. Die hier haben eine ganz eigene Mechanik. Und du siehst sie nur im Sommer.“
Sebastian lachte und warf die langen roten Haare nach hinten. „Du schon wieder.“
„Nein im Ernst. Die normalen Frauen sind immer da. Mal sehen sie gut aus, mal greifst du bei ihnen ins Klo. Aber mit den Sommermädchen, wenn sie mal da sind, hast du always high end.“
„Und sie furzen nicht.“
„Nein, Sommermädchen furzen natürlich nicht. Und sie schwitzen nur, wenn sie vollkommen nackt sind, verstehst du? Die Frage ist doch, wo verstecken sie sich für die restliche Zeit des Jahres?“
Sebastian schlug die Saiten und improvisierte einen Blues: „Ich wache auf heute Morgen, und mein Sommermädchen ist weg. Ich wache auf heute Morgen, und mein Sommermädchen ist weg. Ich hab kein Sommermädchen mehr, denn es ist schon Dezembeheheher.“
„Ah, hör auf damit, das ist ja fürchterlich“, stöhnte Ben.
Aber Sebastian ließ sich nicht beirren: „Im September gibt‘s den letzten Kuss, das ist der Sommermädchen Blues.“
Ben legte sich grinsend zurück auf die Kieselsteine und drückte sich die Schildkappe ins Gesicht, obwohl es schon dämmerte. „Was müssen wir vor Samstag noch regeln?“
„Die Friedhofszenen haben wir abgedreht, jetzt fehlen noch die Fahrt durch Schröfeln und der Augenzeugenbericht. Dann kann ich es im Prinzip schon schneiden.“
Von der Isar her kam ein Johlen und Jauchzen. Duutsch Becker und Gasmann schossen mit ihren Kajaks durch die Wellen, dann wendeten sie und rutschten mit ein paar kräftigen Paddelschlägen aufs Ufer.
„Ich hab mir was überlegt für die beiden“, raunte Ben zu Sebastian.
„Das ist gut. Du brauchst sie.“
„Hey Mädels!“ Die beiden Kajakfahrer klatschten Ben und Sebastian ab, dann holten sie sich trockenes Zeug aus den Rucksäcken. „Ziemlich viel Wasser im Bach, oder?“
„Oh ja.“ Duutsch Becker zog den Neoprenanzug aus und schaute zur Raftinggruppe hinüber. „Weiter möchte ich heute nicht fahren. Schubert ist auch schon vor der Isarburg rausgegangen. Besser das.“
Gasmann klickte die Action Cam vom Helm. „Ach was, der alte Hosenscheißer. Die Isarburg macht bei dem Wasserstand erst richtig Spaß. Da siehst du die Felsen nicht mehr, alles weißes Wasser. Das hätte heute ein feines Filmchen gegeben.“
„Passt mal auf“, Ben schob sich die Schildkappe ins Genick. „Ich hab mir das mit dem Kajak-Video noch mal durch den Kopf gehen lassen. Ich kann echt nicht am Tag mit euch drehen.“ Gasmann schaute Duutsch Becker mit diesem „hab ich‘s dir nicht gesagt Blick“ an.
„Stellt euch das mal vor“, erklärte Ben weiter. „Der Wächter der Finsternis in praller Sonne am Strand, das ist ja schon beinah geschäftsschädigend. Aber ich habe da eine Idee.“
„Keine Nachtfahrt!“, fiel ihm Gasmann ins Wort.
„Moment“, beschwichtigte ihn Ben. „Keine gewöhnliche Nachtfahrt. Aber wie findet ihr das: Ich moderiere im Dunkeln, dann kommt ihr mit Leuchtstreifen auf den Neoprenanzügen angeheizt.“
„Was denn für Leuchtstreifen?“ Duutsch Becker und Gasmann hatten sich hingesetzt.
„Fluoresziere Streifen. Die leuchten wir dann vom Ufer aus mit einem Scheinwerfer an.“
Duutsch Becker spielte mit einem Kieselstein.
„Fluoreszierende Streifen? Gar nicht mal so uninteressant, als Anfangsidee. Mit den Streifen kann man ja einiges anstellen.“
Ben nickte. „Die könnt ihr dann auf eure Ober- und Unterarme kleben, einen auf die Brust, dann seht ihr aus wie fahrende Strichmännchen.“
„Und wir können die Streifen auf die Boote kleben, das sieht ziemlich cool aus.“ Gasmann haute Duutsch Becker mit dem Handrücken gegen die Brust. „Ich klebe mir Rippen auf die Brust und mach mir einen Totenkopf ins Gesicht. Geil! Sowas gibt es noch nicht.“
Duutsch Becker sprang auf. „Schauen wir doch gleich mal, wo wir drehen können.“ Er zog sich sein weißes T-Shirt aus und legte es über einen der beiden Rucksäcke. Dann tippte er auf seinem Handy und kurz darauf erschien eine digitale Karte auf dem Shirt
„Ein Beamer-Handy!“, lachte Sebastian. „Wie abgefahren ist das denn? Damit kannst du deinen Pimmel doch glatt um fünf Zentimeter verlängern.“
„Hast du eine Ahnung.“ Duutsch Becker legte das Handy auf den umgekippten zweiten Rucksack. „Wenn die anderen Jungs auf der Party ein cooles Video von sich zeigen wollen, dann hängen vier oder fünf Köpfe über so einem scheiß kleinen Handy. Aber ich werfe meine Wildwasserfahrten an die Wand, da werden die Mädels gleich feucht im Schlüpfer. Ich muss dann nur noch sagen: du und du und du, mitkommen. Also ich hab hier mal die Isar. Würde vorschlagen wir setzen in Fleck ein.“
Gasmann hatte drei Zigarettenpapers mit der Zunge angefeuchtet, verklebt und mit Tabak bestreut. Jetzt drehte er einen braunen Brocken über einer kleinen Flamme und krümelte die heißen Körner auf den Tabak. „Du könntest die Anmoderation am Strand machen, dann fahren wir los, parken unsere Kajaks in irgendeinem Kehrwasser“, Duutsch Becker unterbrach Gasmann, „das wir bei dieser Strömung nicht finden werden.“
„Du und Seppl filmt uns von unterschiedlichen Stellen vor oder nach Lenggries.“
Gasmann rollte den Joint zusammen und zwirbelte das dicke Ende zu einem Stachel. „Das wird so endgeil!“
„Und kurz vor der Isarburg gehen wir dann an Land. Hier ungefähr.“ Duutsch Becker deutete auf eine hellere Stelle auf der Karte. „Seppl, bist du auch dabei?“
„Wenn ihr mir sagt, was die Isarburg ist?“
„Das ist die Felsbarriere in der Isar, da, wo du deinen Autoschlüssel verloren hast.“
„Ach so heißt das. Klar. Ich bin dabei.“
Gasmann ließ einen Jubelschrei durchs Isartal erschallen und Sebastian improvisierte wieder auf seiner Gitarre.
Duutsch Becker studierte noch einmal die Karte. „Nicht schlecht, Ben. Wirklich nicht schlecht.“ Dann drehte er sich um. Mit einem Kopfnicken gab er Ben ein Zeichen.
Von den Bäumen her näherten sich zwei Männer der Gruppe, groß, braun gebrannt und in einem tadellosen Anzug der eine. Der zweite etwas kleiner, in Jeans, T-Shirt und Holzfällerhemd. Unter dem offenen Hemd sah man den Holster und die Pistole.
Der Anzugträger stellte sich hinter Sebastian und lauschte ein paar Sekunden, dann breitete er die Arme aus und sprach wie ein Pfarrer: „Ist nicht der Blues die eindringlichste Methode, eine Depression in Tönen auszudrücken? Herrlich, nicht?“
Sebastian tat, als habe er nichts gehört.
„Was ist los Vornberger?“, fragte stattdessen Ben. „Hat das Solarium in Tölz geschlossen oder beschattet die Kripo neuerdings die Fliegenfischer an der Isar?“
„Nein, nein, ich muss mich leider schon wieder um eines deiner putzigen Filmchen kümmern. Also wirklich Feuerbach, Leichenschändung mit einer alten Frau. Wie bist du denn nur auf so eine Idee gekommen?“
„Schräges bringt Abos“, erklärte Ben.
„Na dann dürfen wir uns wohl auch bald auf einen Film mit deinem neuen Freund Monjau freuen.“ Der gut gekleidete Kripobeamte betrachtete, die Hände in die Hüften gestemmt, den Lauf der Isar unter der Brücke hindurch in Richtung Bad Tölz. „Wir haben in der Inspektion nicht schlecht gestaunt, als der auf deiner Seite auftauchte.“
„Der Langweiler?“
Vornberger drehte sich wieder zu Ben. „Naja, mag sein, dass Monjau nicht der bunteste Vogel in Herrgotts Tiergarten ist. Aber seine Geschichte ist auch schräg. Sogar ziemlich schräg. Aber wegen Monjau bin ich ja gar nicht hier. Du kannst dir wahrscheinlich denken, weshalb.“
Ben nickte. „Na klar, sie wollen meinen Film aus dem Netz nehmen, obwohl ich nicht auf dem Friedhof war.“
„Gott bewahre!“ Vornberger gab sich theatralisch. „Das würde mir ja im Traum nicht einfallen, wo ich doch so ein glühender Verehrer deiner Kunst bin.“ Er machte eine kurze Pause. „Natürlich, wenn ich es recht bedenke, müsstet ihr die Kamera gar nicht in den Friedhof stellen, um die Totenruhe zu stören. Die Nummer mit der Hexe zwischen den Gräbern reicht schon. Außerdem weiß jeder in Schröfeln, wen ihr meint. Ja, man könnte den Film tatsächlich aus dem Netz ziehen. Wenn man wollte.“
Vornberger gab Gasmann ein Zeichen mit der Hand, dieser zuckte erst mit den Schultern, holte dann aber den Joint hinter seinem Rücken hervor und gab ihn dem Kripobeamten.
Vornberger begutachtete den Joint. „Zeitlos und formschön!“ Dann warf er ihn ins Feuer. „Aber nein, die Familie der spukenden Oma ist von deinem Film ebenso angetan wie ich. Im Ernst. Und sie haben sich zusammen mit mir die Frage gestellt, ob man mit dem Film und mit den geplanten Sequels nicht den Täter ein wenig aufscheuchen könnte.“
Sebastian hatte aufgehört zu spielen und pfiff leise durch die Zähne. Sein Blick war auf Ben gerichtet, dieser überlegte laut: „Sie meinen, dass sich der Leichenficker bei mir meldet?“
„Ich meine“, korrigierte Vornberger, „dass Öffentlichkeit das Letzte ist, womit so eine kaputte Kreatur umgehen kann. Und wie viele Klicks hast du jetzt schon? 8000 nach einem Tag? Und es geht weiter. Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass dem Täter die Nerven flattern und er etwas Unvorsichtiges macht.“
„Und was wäre mein Job?“, wollte Ben wissen.
„Weitermachen wie bisher. Du drehst ein paar lustige Filme über die Leichenschändung in Schröfeln. Eigentlich wie gehabt. Nur deinen Text haben wir etwas überarbeitet, dafür hast du aber von der Familie die Erlaubnis, direkt am Grab zu drehen. Wer soll denn deinen angeblichen Augenzeugen spielen?“
„Stanislaus Kaiser.“
„Stinke Stani? Hat der nicht erst seinen Entzug abgebrochen? Der kann doch keinen Satz mehr unfallfrei über die Lippen bringen. Nein, nein, die Rolle des Augenzeugen übernimmt unser junger Kollege Steigerwald hier. So richtig professionell mit Gegenlicht hinter einer Leinwand, verstehst du? Und du bekommst noch echte Bilder und darfst zeigen, wie die Oma zu Lebzeiten ausgesehen hat.“
„Darf man das denn? Das verstößt doch gegen den Datenschutz!“
„Ach was“, winkte Vornberger ab. „Datenschutz ist Tä-terschutz.“
„Und wenn ich nicht mit mache?“
„Ja dann nehmen wir deinen Film natürlich aus dem Netz.“ Vornberger stand auf und gab seinem Kollegen das Zeichen, zu gehen. „Wir melden uns wegen der geänderten Fassung des Drehbuchs.“
Ben war aufgestanden. „Moment mal, Vornberger. Eine Frage hätte ich noch. Was meinen sie mit schräg in Bezug auf diesen Monjau?“
„Da musst du Prantl fragen, der hat die Ermittlungen damals geleitet und der Fall hat ihm den Rest gegeben. Er lebt in der Jachenau als Indianer. Deine zwei Kumpels kennen ihn bestimmt vom Kiffen.“
Die beiden Kripobeamten waren schon auf dem Weg zu den Bäumen, als Ben ihnen nachrief: „Hey Vornberger, die Kurzversion!“
Vornberger drehte sich um. „Die Kurzversion? Vath, der psychopathische Geschäftspartner von Monjau nutzt die Abwesenheit von Monjau und seiner Frau aus, um eine Studentin, einziges Kind ihrer Eltern aus Zwickau,