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"ZEIT ZURÜCK" verwebt die Leben verschiedener Charaktere zu einer Schweizer Saga, die die Grenzen von Zeit und Raum sprengt und die Protagonisten unauffällig durch mehrere Handlungsstränge zwischen Fiktion und Realität hin und her bewegt. Ob die profitgierige Hochfinanz oder eine aus der Zeit gefallene transatlantische Liebesgeschichte den Kampf um die Natur im Gebirgstal gewinnt, bleibt bis zum Ende offen.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2022
Thomas Schädler
Zeit zurück
Roman
Copyright: © 2022 Thomas Schädler
Lektorat: Sophie Niemann
Umschlag & Satz: Erik Kinting – buchlektorat.net
Titelbild: © Thomas Schädler
Verlag und Druck:
tredition GmbH
An der Strusbek 10
22926 Ahrensburg
Softcover
978-3-347-78604-2
Hardcover
978-3-347-78612-7
E-Book
978-3-347-78618-9
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So mancher vielleicht, der einem gar nicht auffällt und der dennoch Kunde trägt von Ungewöhnlichem. Und ohne es selbst zu wissen.
Saint-Exupéry
TEIL I
1.
Er hetzte vom sechsten über die neonbeleuchtete Nottreppe in den dritten Stock, stolperte kurz auf dem untersten Absatz, weil sich der Schnürsenkel seines linken Schuhs gelöst hatte, fing sich ächzend auf und stürzte entnervt in den Konferenzraum. Sein Team wartete bereits seit geraumer Zeit am langen, ellipsenförmigen Tisch, denn Pünktlichkeit war ihm wichtig. Seit seinem Antritt als CEO hatte er dies allen immer wieder klargemacht. Vor allem, wenn ihm die Ideen ausgingen und ihm keine kreativen Lösungen einfielen, um die stagnierenden Zahlen zu verbessern, klammerte er sich an diese Tugend und machte sich vor, es sei eine Führungseigenschaft.
Die sechste Etage wurde weiter unten „Olymp“ genannt. Dort oben arbeitete er zusammen mit dem CFO, den beiden persönlichen Assistenten und der charmanten Valeria Schöne, die nicht nur Kaffee servierte, Termine und Ausflüge organisierte, Protokolle schrieb und überflüssige Besucher abwimmelte, sondern seit Kurzem auch eine Affäre mit ihm eingegangen war, die manchmal mehr Zeit, Geld und Energie verschlang, als sie Lust und Freude bereitete. Vom „Olymp“ aus überblickte man durch prächtige, raumhohe Fenster ganz Zürich und konnte bei gutem Wetter sogar die Alpen in der Ferne sehen, während in den unteren Etagen die Aussicht eingeschränkt war. Je nach Dienstalter und Funktion wurden den leitenden Angestellten Büros zugewiesen, die entweder einen Blick auf die Stadt, das düstere Nebengebäude oder den nahen Park gewährten. Von der dritten Etage abwärts gab es nur noch Großraumbüros mit schallschluckenden Trennwänden, Gruppenräume, die moderne Kantine und in der Mitte das große Sitzungszimmer, verglast und von allen Seiten einsehbar. „Zur Schaffung von Transparenz“, hatte er bei der feierlichen Eröffnung des Bürogebäudes erklärt. Die Mitarbeitenden sollten zusehen, wie sich die Führungsriege zugunsten des gesamten Betriebes berät, diskutiert und Entscheidungen trifft. „Unternehmenskultur“ nannte er das.
Ein Anruf aus dem US-Hauptquartier hatte Peter Julen aufgehalten. Sie waren mit den Zahlen nicht zufrieden. Die Konzernchefin hatte ihn mit eindringlicher Stimme auf das hingewiesen, was er selbst schon längst wusste: Das Europageschäft lief nicht wie erwartet, die Wachstumsraten waren zu gering und die Investoren unzufrieden. Er solle sich dringend etwas einfallen lassen.
„Du hast wohl zu viele Netflix-Serien gesehen und kannst mit deinem Tunnelblick und deiner genetisch bedingten Oberflächlichkeit nicht verstehen, dass es hier kulturelle Unterschiede gibt“, hatte er sie grob unterbrochen. „Hier funktioniert das Business nicht so wie bei euch. Hier zählt der langsame Aufbau von Kundenloyalität mehr als das schnelle Geld. Das habe ich dir schon tausendmal erklärt. Lass mich jetzt mal in Ruhe arbeiten, mach nicht immer Druck und gib mir Zeit.“
Sie kannten sich schon lange, und er wusste, dass Claire Price diesen Ton nicht nur akzeptierte, sondern auch propagierte. Sie war der Ansicht, dies sei dem Kampfgeist der Leadership förderlich. Für sie war das Geschäft schierer Krieg, und ihre engsten Mitarbeitenden waren die Truppe, mit der sie ihn gewinnen wollte. Ein bisschen ruppig durfte es dabei durchaus zugehen.
„Okay“, hatte sie geantwortet, „aber lange kann ich dir dabei nicht mehr zusehen. Es gibt Stimmen im Investmentboard, die denken, ein anderer CEO könnte das Europaproblem vielleicht schneller lösen. Nimm dich in Acht, mein Lieber.“
Peter Julen brachte das Team-Meeting im dritten Stock möglichst schnell hinter sich, akzeptierte zum Erstaunen aller ohne Einwände die vorgetragenen Berichte und erwähnte beiläufig, dass er den Nachmittag im Homeoffice verbringen würde. Natürlich stets erreichbar über die üblichen Kanäle.
*
Mark Wiesard sah auf, seufzte leise und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Seine eigenen Berührungen taten ihm gut. Er wunderte sich, wie warm und zart seine Haut war, und nach einer Weile wagte er es sogar, seine Finger so zu spreizen, dass das ohnehin spärliche Licht der alten Deckenleuchte seinen Augen erlaubte, den Raum verschwommen wahrzunehmen. Der dunkle Ort mit den bizarren Bildern an den holzgetäfelten Wänden, das verschlissene Sofa und die nicht dazu passenden Sessel auf einem abgetretenen Uralt-Teppich sowie der hinfällige Kachelofen in der Ecke wirkten so bedrückend wie früher. Bewegungslos saß er längere Zeit still, atmete tief und gleichmäßig, bis die Narbe an seinem rechten Oberschenkel wieder zu jucken begann und er dem Drang nachgeben musste, mit der Hand nach unten zu fahren. Das intensive Kratzen holte den fast besinnlichen Moment in die unbarmherzige Realität zurück.
„Freitag“ stand stumm vor ihm auf dem kleinen Holztisch und blickte ihn mit seinem weiß leuchtenden Bildschirm vorwurfsvoll an. Die paar mühsam hingeschriebenen Zeilen reichten bei Weitem nicht für den heutigen Tag, und um das vorgegebene Arbeitsziel zu erreichen, müsste er seine tägliche Schreibgeschwindigkeit erheblich steigern. Er konnte sich nicht genau daran erinnern, warum und wann er damit angefangen hatte, seinen Computer „Freitag“ zu nennen. Es war ursprünglich wohl die Idee seiner kleinen Nichte gewesen, als er ihr Robinson Crusoe vorgelesen und sie ihren Onkel wegen seiner Arbeit mit dem berühmten Einsiedler verglichen hatte.
Er kratzte mit der rechten Hand weiter, klappte das Schreibgerät mit der linken zu und schlurfte zum Kühlschrank. Wie konnte ich mich nur auf so etwas einlassen, ging es ihm durch den Kopf, als er eine weitere Dose öffnete und vor die Tür trat, um ein paar Sonnenstrahlen zu genießen. Das Bier schäumte über und tropfte von den Fingern auf die Hose. Verdammte Bergwelt! Die Sonne geht spät auf und früh unter. In den Häusern ist es dunkel und kalt und die bäuerlichen Nachbarn betrachten dich auch nach dreißig Jahren noch als Fremden. Sie reden wenig miteinander, geschweige denn mit jemandem, der aus Zürich kommt.
Weiter unten, im kleinen Kurort des Tals, gab es einen erstaunlich gut sortierten Coop, wo er sich mit Fertiggerichten für die Mikrowelle, Kaffee, Müsli zum Frühstück und genügend Bier für zwischendurch eingedeckt hatte. Er wollte es hinter sich bringen, hatte sich entschlossen, sich an diesen einsamen Ort zurückzuziehen, den er aus seiner Kindheit gut kannte, um die angestaute Arbeit ungestört und schnell zu erledigen. Eine „billige Geschichte“ nannte er es. Eine, die Geld einbrachte, weil sie alle Klischees bediente, Emotionen hervorrief, Identifikationsfiguren skizzierte, einen nachvollziehbaren Spannungsbogen aufbaute und doch mit einer kleinen Überraschung enden sollte. Wenn es gut lief, würden sie ihm danach vielleicht tatsächlich den Auftrag geben, daraus eine Serie zu schreiben. Eine von den vielen Hunderten, die heute jedes Jahr produziert wurden, um das maßlose Bedürfnis des Publikums nach Unterhaltung zu befriedigen. Und wenn es schlecht lief, wäre es wenigstens ein weiteres dünnes Buch mit kümmerlicher Auflage und geringem Potenzial, um zu einem Vorabendfilm verarbeitet zu werden, der einmal gezeigt und dann im Archiv versenkt würde. Netflix war zu einem dämonischen Monster geworden, produzierte am laufenden Band mit unerschöpflichen Ressourcen eine Erfolgsserie nach der anderen. Dem hatten die TV-Sender, für die er ab und zu als freierschaffender Autor schrieb, nichts entgegenzusetzen. Sie waren dem Untergang geweiht.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. „Wie geht es dir?“, hörte er die schon leicht vertraute Frauenstimme fragen.
„Es läuft so“, sagte er trocken, konnte sich aber nach einer kleinen Pause nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Es war nicht mein dringlichster Wunsch, einen Trivialroman zu schreiben. Ich ziehe meine journalistische Seite vor.“
„Geldverdienen gehört einfach zum Leben dazu, und du weißt, dass deine freiberuflichen Beiträge für mediokre Zeitungen bisher nicht viel davon eingebracht haben“, kam es prompt und frech zurück, und dann, etwas beschwichtigender: „Aber ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst. Ich sehe viel Talent in dir als Autor. Ein bedeutendes Buch ist überfällig, und ich kann mir vorstellen, dass es diesmal ein Erfolg wird.“ Mark wollte nicht weiter darüber reden. Er hatte das Gefühl, dass Ulrike Kraft sich in eine Wunschvorstellung von ihm verliebt hatte, die ihrer Fantasie des exotisch-intellektuellen Liebhabers entsprach. Der Gedanke schnürte ihm den Hals zu, und er brauchte dringend frische Luft.
Nach einem kurzen Spaziergang durch die nahegelegenen Felder setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, klappte „Freitag“ von neuem auf und freute sich darüber, dass wenigstens die wenigen Zeilen vom frühen Morgen automatisch gespeichert worden waren, obwohl inzwischen der Akku gestorben und der Computer selbsttätig ins künstliche Koma versetzt worden war. Er starrte auf die Tastatur und ertappte sich bei dem Versuch, festzustellen, ob die etwas häufiger benutzten Buchstaben stärkere Abnutzungserscheinungen aufwiesen. Dann suchte er im integrierten Korrekturprogramm vergeblich nach einem Modus, der einmal begonnene Sätze selbstständig vervollständigen könnte. Er hatte davon gehört.
„Zweimal ein klares Nein“, murmelte er, schlich noch einmal zum Kühlschrank, kam zurück, tippte in fetten Großbuchstaben: „Reiß dich zusammen, Mark Wiesard!!!“, löschte es nach ein paar Minuten wieder und griff dann erneut in die Tasten.
*
Einhundertvierundzwanzig Kilometer nordwestlich, in der schicken Dachgeschosswohnung eines Altbaus im mittelalterlichen Zentrum der unaufgeregten Großstadt, goss Valeria Schöne sich ein Glas Rosé ein, legte sich auf das Freiluftsofa und schaute in den sonnigen Abendhimmel. Sie war froh, dass er wieder weg war. Zeit mit ihm zu verbringen, war immer aufregend und nervenaufreibend zugleich. Die Wände ihrer Wohnung waren abgeschrägt, was es am Anfang schwierig gemacht hatte, die Zimmer einzurichten. Die Beine des großen Bettes hatten beim Einzug gekürzt werden müssen, damit es hineinpasste, und ihre alten Schränke hatte sie entsorgt. Im Sommer wurde es drückend heiß, doch die zur Wohnung gehörende Dachterrasse mit Blick über die Altstadt entschädigte all das. Valeria Schöne verbrachte oft den ganzen Tag hier draußen. Sie hatte sich einen kleinen luftigen Arbeitsplatz eingerichtet, den sie in den letzten Monaten wegen der sporadischen Homeoffice-Pflicht tatsächlich ab und zu nutzte. Angesichts der vielen Likes auf Instagram für ihre Selfies mit Schmollmund und großen Augen vor der Kulisse der Stadtsilhouette oder des Sonnenuntergangs, verbunden mit einem schicken Hashtag, gab sie sich der Illusion hin, dass Freunde und Bekannte sie ein Stück weit um diesen Ort beneideten.
Dr. Peter Julen folgte ihr nicht öffentlich auf ihrem Account, denn das hätte anderen Followern unnötige Rückschlüsse ermöglicht. Aber inkognito starrte er häufig auf die Fotos und bildete sich ein, sie poste gewisse Selfies und Texte nur für ihn. Hidden Messages, brummte es in seinem Schädel, als er sich langsam von der Überdosis Viagra erholte, das Handy wegsteckte und beim Abendessen mit Frau und Kindern versuchte, sich für wenige Stunden ins Familienleben zu integrieren.
„Ich hatte einen harten Tag und stehe unter enormem Druck“, erklärte er sein verdrießliches Gesicht. „Claire Price ist ein brutaler Zahlenmensch. Du kennst sie von den Firmenanlässen nur als freundliche Firmenchefin und Frauenförderin. Aber in Tat und Wahrheit ist ihr jedes Mittel recht, die Wachstumsrate und den Aktienkurs hochzuhalten. Sie ist eine eiskalte, kalkulierende Frau, die zu allem bereit ist, um voranzukommen und die Investoren von ,Private Equity Solutions Inc.‘ zu begeistern. In Drucksituationen kennt sie keine Gefühle, um knallharte Entscheidungen zu treffen.“
Ulrike Kraft gähnte und bemühte sich, zuzuhören. Sie hatte die Geschichte schon mehrfach gehört, fand Claire Price aber gar nicht so übel. Ihr Mann und die Amerikanerin passten mit ihrem egozentrischen Narzissmus gut zusammen, und Claire war eine der wenigen Businessfrauen, von denen er beeindruckt schien.
„Im Gegensatz zu mir ist sie richtig skrupellos und hinterhältig. Sie ist bereit, für ihren Erfolg alles zu tun, was nötig ist, egal wie unanständig oder ethisch verwerflich es auch sein mag. Außerdem ist sie ausgesprochen intrigant und hat die stupide Angewohnheit, alle Probleme immer selbst in die Hand zu nehmen“, fuhr er fort.
Ulrike Kraft verdrehte die Augen, denn eigentlich wollte sie nur ihre Ruhe haben. „Trotz dieser angeblichen Erbarmungslosigkeit hat sie doch auch eine liebenswerte Seite“, versuchte sie abzulenken. „Sie zeigt meiner Meinung nach zum Beispiel wahre Leidenschaft für ihre Kinder und teilt die Verantwortung für sie mit ihrem Ex-Mann. Auch, wenn die Ehe der beiden in die Brüche gegangen ist. Das hat sie mir von Frau zu Frau erzählt, und davon könntest du dir ein Stück abschneiden!“
„Jetzt fang nicht schon wieder damit an“, brauste Peter Julen auf. „Das ist das Letzte, was ich heute hören will!“
„Ist schon gut, mein Lieber, du kannst dich jetzt entspannen und abschalten“, entgegnete sie zynisch. „Die Kinder haben schon ihre Hausaufgaben gemacht und vielleicht könnt ihr zusammen eine Folge ,Der Bergretter‘ schauen, bevor sie ins Bett gehen.“ Sie wusste, dass ihm dabei regelmäßig die Augen zufielen, sodass sie sich danach weitere Gespräche ersparen konnte, um noch ein wenig Zeit für sich selbst zu finden.
Wie erwartet taumelte er mitten in der Nacht, nach einem letzten Toilettengang, vom Sofa ins übergroße Ehebett, wo sie in sicherer Entfernung längst schon über einem Buch eingeschlafen war. Aufgeschreckt durch den explosionsartigen Aufprall seines schweren Körpers auf der gegenüberliegenden Seite der Matratze, drehte sie sich um und stieß im Dunkeln den Stapel Bücher um, der auf ihrem Nachttisch nie kleiner zu werden schien.
Durch das laute Krachen erst richtig wach geworden, griff sie, entgegen allen guten Vorsätzen, nach den Pillen in der Schublade. Liebevoll und verächtlich zugleich murmelte sie: „Hallo, ihr verfluchten Schlafgefährten“, und tastete nach dem Glas, nur um festzustellen, dass es ebenfalls auf dem Boden lag und den Teppich mit einem großen Fleck versehen hatte. Darum kümmere ich morgen früh, dachte sie, während ihr Mann neben ihr bereits laut schnarchte.
„Im Mund viel Spucke sammeln und Trockeneinwurf“, hatte Mark Wiesard beim letzten Mal empfohlen, als es im billigen Hotelzimmer ebenfalls kein Wasser gegeben hatte. Sie liebte die wenigen Nächte, die sie ab und zu mit ihm verbringen konnte. Erstaunlicherweise fand sie aber auch dann immer nur schwerlich Ruhe.
Die Flasche Rosé war ausgetrunken und auf dem Dach begann Valeria Schöne zu frösteln. Eben noch hatte sie mit ihrer Freundin gefacetimed und davon geschwärmt, wie sehr sie das Alleinsein genoss. Sie hatte ihr den Panoramablick von der Terrasse live auf ihrem Handy gezeigt, ein weiteres Selfie mit einem Weinglas hinterhergeschickt und glaubte, die Online-Eifersucht förmlich spüren zu können, bevor wieder der Moment kam, in dem sie sich wünschte, jemanden zu haben, der sie ins Bett brachte. Sie hatte zu viel getrunken und ehrlich gesagt, waren die Tage, an denen sie bis spät in der Nacht im Freien sitzen konnte, sowieso selten.
„Egal, immer noch äußerst wertvoll für Instagram“, murmelte sie, konnte im Dunkeln den Lichtschalter nicht finden, beschloss, das Zähneputzen auf den Morgen zu verschieben, und schlug mit dem Kopf hart gegen die Dachschräge, bevor sie ins Bett fiel. Die Unordnung der Decken und Kissen erinnerte sie unangenehm an den Nachmittag mit Peter Julen, wobei ihr auch sein zurückgelassener Körpergeruch wieder in die Nase stieg. Das war zu viel für sie. Sie stieg nochmals mit Mühe aus dem Bett, schlurfte ins Bad, hängte sich ans Waschbecken, warf keinen Blick auf das jämmerliche Bild im Spiegel und steckte sich die goldene Philipps Soniclear in den Mund, nachdem sie ihr zuvor dreimal auf den Fußboden gefallen war.
*
Eine sternenklare Nacht hatte sich über die Berge gelegt. Doch davon bekam Mark Wiesard nichts mit. Erst gegen Mitternacht und nach dem fünften Bier hatte es plötzlich geklappt und die Worte hatten begonnen, sich wie von Geisterhand geführt auf den Bildschirm zu zaubern. Ohne viel nachzudenken, hatte er das erste Kapitel zusammengeschrieben, mit dem Korrekturprogramm kurz die Rechtschreibung und Grammatik überprüft und es nicht lassen können, sich auch die geschriebene Wort- und Silbenzahl anzeigen zu lassen. Das sind fünf Prozent eines durchschnittlichen Romans von zweihundertzwanzig Seiten, hatte er ausgerechnet. Wenn es so weitergeht, kann ich mich in drei Wochen wieder von dieser Scheißbergwelt verabschieden. Gegen zwei Uhr morgens hatte er die Mikrowellennudeln auf Hühnersoße mit einem letzten Bier hinuntergespült, sich auf das abgewetzte Sofa gelegt, kurz an Ulrike Kraft gedacht, bevor er in der Nacht von Bukowski träumte, der in einem Boxring aus Kakteen gegen Castaneda um den Literaturnobelpreis kämpfte, bis Schiedsrichter Neruda beschwichtigend darauf hinwies, dass sie alle im falschen Jahrhundert lebten und solche Preise nicht erboxt, sondern verkauft würden.
2.
„Absolut einfache Geschichte, standardisierte Flugplanung, alltägliche Route, fest kalkulierte Treibstoffmenge, unspektakuläre Wettervorhersage“, sagte er. „Ich reiche im Briefing Room den Flugplan ein und du überprüfst die Passagierliste und zur Sicherheit nochmals das Wetter.“
Kapitän John Walker hatte an diesem Morgen einen Uber XL von Lower Manhattan genommen und war eine Stunde später am Gate der Business Aviation des Newark Liberty Airports abgesetzt worden. Am Abend zuvor hatte er mit Freunden seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, zu viel getrunken und fühlte sich nun entsprechend schwach. Auf dem Weg zum Flughafen hatten sie in Greenville einen mexikanischen Co-Piloten abgeholt, der dort in einer billigen Übergangswohnung für Neuankömmlinge untergebracht war.
Das Geschäft mit den Privatjets boomte wegen Corona und seine Firma hatte derzeit Probleme, genügend Flugpersonal zu finden. Bei den Piloten aus Mexiko handelte es sich zumeist um ausgediente Flugkapitäne der Luftwaffe, die viel Erfahrung und eine gültige internationale Lizenz mitbrachten. Sie arbeiteten für wenig Geld. Die Firma kaufte von der omanischen Luftwaffe ausrangierte Jets, die in Indien saniert, umgebaut und neu gestrichen wurden. In Panama registriert, sahen sie für das unkundige Auge gar nicht übel aus.
John Walker hatte seinen ersten Offizier zuvor noch nie getroffen und sprach Fernan Roduro mehrfach mit falschem Namen an, als sie unterwegs den Flugauftrag besprachen. Der Co-Pilot roch Walkers Alkoholfahne, traute sich aber nicht, etwas zu sagen, da er die eben erst angetretene Stelle nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wollte. Angekündigter Fluggast war Claire Price, CEO von „Private Equity Solutions Inc.“, die zusammen mit ihrem CFO und Assistenten auf schnellstem Weg nach Zürich geflogen werden wollte. Die zwei Border Collies des Hauptinvestors waren ebenfalls mit an Bord. Sie wurden von einem der tierliebenden Hausmädchen begleitet und sollten nach der Landung sofort nach Lugano gebracht werden, um dort einige Wochen in der Villa der getrennt lebenden Ehefrau Urlaub zu machen. Für den Auftrag war ihnen eine Gulfstream III zugeteilt worden, die schon über dreißig Dienstjahre auf dem Buckel hatte. Ein bisschen zu groß ausgelegt für die kleine Gruppe, war sie in der Lage, den Viertausend-Meilen-Flug ohne Zwischenstopp zu bewältigen.
Claire Price und ihr Team machten es sich in den großen Ledersesseln bequem, schnallten sich an, Kapitän Walker begrüßte die Fluggäste persönlich, verneinte die Frage, ob die Hunde auch angeschnallt werden sollten, und startete kurz darauf die Triebwerke. Nach Erreichen der Reiseflughöhe zogen im vorderen Passagierraum alle ihre Laptops und Tablets hervor und machten sich daran, die unzähligen Zahlen und Daten ein weiteres Mal zu überprüfen, um eine Strategie zu entwickeln, mit der man Peter Julen in den Griff kriegen konnte. Die Konzernchefin hatte genug von seinen ständig ausweichenden Antworten und sich deshalb vorgenommen, den Europahauptsitz in Zürich bei ihrem Überraschungsbesuch gründlich zu durchleuchten. Erst als sie sich schon über dem nördlichen Atlantik befanden, informierte sie ihn mit einer kurzen Textnachricht über die bevorstehende Visite, während die beiden Hunde weiter hinten in der Passagierkabine der Gulfstream III schon bald eine Magenverstimmung entwickelten, da das überängstliche Dienstmädchen ihnen kurz vor dem Abflug zwei Lexotanil ins Futter gemischt hatte, ohne zu wissen, dass Hunde keine Beruhigungsmittel vertragen.
Peter Julen hatte sich regelrecht verzockt. Seit Jahren hatte er auf die Gelegenheit gewartet, mit einem wirklich großen Deal auf einen Schlag so viel Geld zu verdienen, dass er sich zur Ruhe setzen konnte, ohne jemals wieder einen Finger zu krümmen. Sein eigenes Geld reichte dafür nicht aus, aber die Position der Firma und die Entfernung zum Hauptsitz in New York hatten es ihm ermöglicht, einen großen Betrag aus dem Investmentfonds der „Private Equity Solutions Inc.“ abzuzweigen, um ihn für eine kurze Zeit ausschließlich für sich persönlich arbeiten zu lassen. Die Gelegenheit hatte sich vor ein paar Wochen in Form einer vertraulichen Anfrage eines alten Schulfreundes ergeben, der sich in den letzten Jahren zum Vorstandsvorsitzenden eines gigantischen Baugeneralunternehmens hochgearbeitet hatte. Sie hatten sich um einen der größten Aufträge in der europäischen Bergbaugeschichte beworben und standen kurz vor der Vertragsunterzeichnung, als einer der Mitbewerber aus der EU ihr Angebot im letzten Moment um zwanzig Millionen Euro unterbot.
„Nur eine kurzfristige, angemessene Eigenkapitalfinanzierung könnte den Vertrag noch retten“, hatte er am Rande eines Treffens des Rotary Clubs gesagt. „Ich brauche ein privates Darlehen, das wir – ganz easy – als Eigenkapital ausweisen, bis der Vertrag unterzeichnet ist. Für dich, mein Freund, bedeutet dies lediglich, zwanzig Kisten für zwei Monate zu investieren und sie mit achtzehn Prozent Gewinn zurückzubekommen.“
Peter Julen hatte zugegriffen. Um das private Geschäft zu verschleiern, hatte er für „Private Equity Solutions Inc.“ zunächst an der Börse ein größeres Aktienpaket des Bau-Generalunternehmens in Höhe von hundert Millionen Euro gekauft. Er tat dies via Mittelsmänner in mehreren kleinen Tranchen, die seine eigene Investitionsgrenze nicht überschritten und ohne Rücksprache mit dem Investmentboard in New York. Im Schatten dieser offiziellen Beteiligung, so dachte er, würde das zusätzliche private Engagement über den Freund nicht auffallen. In seinem Business war es üblich, Regeln und Vorschriften großzügig auszulegen oder zu umgehen. „Wenn dann der große Gewinn kommt und die Kassen klingeln, interessiert es niemanden mehr, wie das Wunder zustande gekommen ist“, pflegte er im Freundeskreis zu prahlen. „Für uns zählt nur das Endresultat!“
Aus zwei waren inzwischen sechs Monate geworden und der Vertrag war immer noch nicht unterzeichnet. Es wurde immer schwieriger, das Finanzloch in den Cayman-Konten vor den Mitarbeitenden zu verbergen, und Peter Julens Wohlbefinden war sowohl psychisch als auch physisch auf dem Tiefpunkt. Der Freund vom Rotary Club hielt ihn mit der Erklärung hin, dass im wirklich allerletzten Moment von Seiten des Naturschutzes nochmals ein Einspruch gegen das gesamte Projekt eingegangen sei. „Die verdammten Grünen“, hatte er zu beschwichtigen versucht, „das führt zu einer kleinen Verzögerung, aber wir haben alles im Griff und wissen auch, wo und wie eine weitere kleine Finanzspritze helfen könnte.“ Seitdem ging der Freund nicht mehr ans Telefon und war auch nicht mehr zu den wöchentlichen Zusammenkünften des Clubs erschienen.
Auch privat lief es nicht optimal. Valeria Schöne kam seit Kurzem regelmäßig zu spät zur Arbeit, schien leicht erkältet und war schlecht gelaunt.
„Ich kann mich im Alltag nicht immer nach deinem Zeitplan richten“, zischte sie ihm nun zu, als er sie in einem unbeobachteten Moment leicht am Po berührte. „Wäre es nicht an der Zeit, dass du mich auf eine deiner Geschäftsreisen auf die Cayman Islands mitnimmst? Mit ein paar Tagen Strandurlaub als Zugabe? Business Class, Fünf-Sterne-Hotels und so weiter?“ Sie hatte diese Version der Geschäftsreise schon oft für ihn gebucht und wusste genau, dass er regelmäßig mehrere Tage länger auf der Insel verbrachte, als für die Trust-Meetings nötig wäre.
Ausgerechnet die Cayman-Inseln, dachte Peter Julen. Noch einmal reichlich Champagner, Hummer und Sex à discrétion, um sich dann buchstäblich kopfüber in das Finanzloch zu stürzen. Die Klippen am südlichen Ende der Inseln würden sich dafür eignen. Ende der Geschichte, keine weiteren Erklärungen nötig. Weder für Claire Price noch für Valeria Schöne oder seine Frau, geschweige denn für die Geschäftsleitung und die gesamte Belegschaft. Er würde einfach weg sein. So wie in den guten alten Neunzig-Minuten-Filmen, bevor sie durch Serien aus mehreren Staffeln von zig Folgen ersetzt wurden, in denen die wichtigsten Figuren immer irgendwie überlebten oder wieder auftauchten, bis nur noch die Zuschauerquote über das endgültige Ableben der Protagonisten entschied.
„Gute Idee, das müssen wir auf jeden Fall in Betracht ziehen“, flüsterte er, überrascht von seiner eigenen Unerschrockenheit, „aber bitte kein Wort zu irgendjemandem, kein gemeinsames Fliegen, gestaffelte An- und Abflüge und nichts auf Instagram!“
Damit war ihre gute Laune schon fast verflogen und sie fühlte sich gleich wieder so beschissen wie beim Aufwachen ein paar Stunden zuvor. Sie übergab sich mehrmals in der genderneutralen Geschäftstoilette, schwor sich, nie wieder Rosé zu trinken, und buchte die Flüge.
*