Zeitartefakt - Remy Matelot - E-Book

Zeitartefakt E-Book

Remy Matelot

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Beschreibung

Ein geheimnisvoller Auftrag führt die Privatdetektivin Rooney O´Hara und die Archäologieprofessorin Sophronia MacKenzie auf eine geheimnisvolle Reise durch die Zeit. Auf ihrer Suche nach dem mysteriösen Konstrukteur der Zeitmaschine geraten sie mit gefährlichen Widersachern aneinander. Doch auch neue Freunde begleiten die Frauen auf ihrer abenteuerlichen Reise. Kann es Rooney und Sophronia gelingen, den Konstrukteur zu finden, ehe die Zeit und die Welt, wie wir sie kennen, gänzlich aus den Fugen geraten? Eine abenteuerliche Jagd durch die Epochen nimmt ihren Anfang.

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Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2023

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INHALT

Prolog

Die Entführung – wie man fliegt

Die Mühle – Aufbruch in ein Abenteuer

Dampfschurken

London

Rätsel und Recherchen

Die Spur des Konstrukteurs

Der Maskenball – Wie es kommen musste

Die Insel

Verloren

Edward der Konstrukteur

Fragen und Antworten – Die Jagd beginnt

Betrug und Krieg

Feuer und Eis

Stadt aus Holz

Feuer

Zeitgefühl

Entscheidungen

PROLOG

– 2010 –

Die Archäologieprofessorin Sophronia MacKenzie und ihre Studentin Rooney O’Hara sahen sich lange an. Die beiden ungleichen Frauen verband in diesem Moment nicht nur das zwischen ihnen gespannte Kletterseil, sondern auch eine doppelte Empfindung: Unglaublich große Neugier, gepaart mit einer nicht minder großen Angst.

„Kann’s losgehen?“, fragte die blonde Professorin und musterte die junge Frau aufmerksam mit ihren dunkelgrünen, intelligenten Augen. Sie war aufgeregt, was ihrer Stimme eine leicht nasale, nordisch geprägte Klangfarbe verpasste.

„Klar. Kann losgehen“, bestätigte Rooney, zitternd vor Aufregung. Unentwegt spielte sie an dem dunklen Tuch unter ihrem Helm herum, mit dem sie versuchte, ihre braunen Locken im Zaum zu halten. Auch wenn es nicht die erste Expedition war, die sie mit den Professoren MacKenzie und Fitzgerald unternahm, war diese doch irgendwie anders. Nervenaufreibender. Und das nicht nur, weil hiervon ihr Abschluss an der University of York abhing. Irgendetwas war gänzlich anders. Es war eine Ahnung, bloß das Gefühl, dass etwas anders war. Rooney versuchte, es zu ignorieren und es ging los. Mit einem Team von insgesamt sieben Personen begann der Abstieg. Der Archäologieprofessor Dr. Felix Fitzgerald, Leiter dieser Expedition, kletterte voran in die Tiefe. Er war ein erfahrener Abenteurer, neben dem der Abenteuerfilmheld Indiana Jones verblassen würde, wie ein unerfahrener Schuljunge. Rooney bewunderte sein umfassendes Wissen und sein Talent, dieses Wissen stets gezielt einzusetzen. Ebenso beeindruckt war sie von der Unerschrockenheit, mit der Fitzgerald immer und immer wieder in unwegsame Gebiete vordrang. Und dies fast immer mit dem Ergebnis, Spuren längst vergessener oder als verschollen geltender Kulturen aufzustöbern. Fitzgerald wusste stets, wo es lang ging.

Der Professor hatte Rooney O’Hara, sowie vier weitere Studenten, die kurz vor ihren Abschlüssen standen, eingeladen, ihn und Professor MacKenzie auf die Expedition zu begleiten. Er war nicht damit herausgerückt, was er zu finden gedachte. Doch er hatte mit einem Funkeln in den kühlen, blauen Augen berichtet, dass er kurz davor sei, die Entdeckung des Jahrhunderts zu machen.

Felix Fitzgerald war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit dunkelbraunem Militärhaarschnitt. Rooney fühlte sich immer absolut sicher, wenn er die Führung übernahm. Ob sie ihn für einen guten Menschen hielt oder nicht, spielte dabei kaum eine Rolle. Es ging ihr eher darum: Wo sein breites Kreuz durchpasste, würde auch sie ohne Probleme hindurch kommen. Es ging abwärts und immer tiefer in das bisher unerforschte Höhlensystem, mitten in den Schweizer Alpen. Hinter Fitzgerald kletterte die zierliche Alice MacMillan, die mit ihrem Püppchengesicht und den engelsgleichen Locken im starken Kontrast zu ihrem – von ihr mehr oder weniger heimlich angehimmelten – Professor stand. Gleich hinter Alice begaben sich die Brüder Paul und Tim Peterson in die Tiefe. Die beiden hatte Rooney erst wenige Wochen vor der Expedition kennengelernt und auch jetzt noch konnte sie die Brüder kaum auseinanderhalten. Amanda Sebastian, eine junge Frau mit knallroten Haaren, stieg hinter Paul (oder Tim?) in die Höhle hinab. Rooney und Amanda kannten sich bereits seit dem dritten Semester. Wobei auch hier von „kennen“ kaum die Rede sein konnte. Viel mehr als ihren Namen und ihr Forschungsinteresse kannte Rooney von Amanda nicht. Die Dunkelhaarige warf einen knappen Blick hinter sich. Sophronia lächelte ihr aufmunternd zu. Rooney erwiderte das Lächeln. Die Studentin war seit etwa zwei Jahren mit der Professorin befreundet. Sophronia hatte die junge Frau längst ins Herz geschlossen und sie bei vielen Dingen ins Vertrauen gezogen. Unter anderem hatte sie Rooney auch erzählt, dass sie seit geraumer Zeit eine Beziehung zu Felix Fitzgerald pflegte, die weit mehr war, als bloße Freundschaft. Ihre unschlagbare fachliche Kompetenz war also nicht der einzige Grund, warum Professor Fitzgerald gerne mit Sophronia zusammenarbeitete. Seit Jahren hatte das Professorenduo viele ähnliche Expeditionen unternommen. Sie waren bisher ein perfekt eingespieltes und in jeder Hinsicht harmonisches Team.

Durch Seile aneinander gesichert stieg die Gruppe nun durch eine sich zunehmend verjüngende und immer kälter werdende Schlucht. Erleichtertes und erschöpftes Schnaufen erklang, als sie nach dem langwierigen, kräftezehrenden Abstieg durch zahlreiche, kaum zugängliche Tunnel endlich in einer riesigen Höhle ankamen. Professor Fitzgerald begann sogleich damit, die mitgebrachten Scheinwerfer aufzubauen, um die vor ihnen liegende Höhle auszuleuchten. Als er die Lampen einschaltete, erstarb das erschöpfte Keuchen der Gruppe augenblicklich und wurde von ungläubigem Staunen ersetzt, denn vor ihnen wurden Teile einer gigantischen aus Eis und Stein erbauten Stadt sichtbar. Rooney erschauderte und sah sich zu Sophronia um. Die Professorin schüttelte sprachlos den Kopf. Im gleißenden Licht der mitgebrachten Scheinwerfer sah es beinahe so aus, als stünde die Blondhaarige unter den gewaltigen Toren zu einer Stadt aus Eiskristallen. Professor Fritzgeralds eisblaue Augen glühten vor Euphorie, als er sich jetzt vor der Gruppe aufbaute und mit widerhallender Stimme zu sprechen begann:

„Ich habe euch die Entdeckung des Jahrhunderts versprochen. Nun, da wären wir. Ich vermute, einige der uns umgebenden Höhlen wurden bereits in der Steinzeit genutzt. Aber diese Gebäude hier konnte ich noch überhaupt nicht einordnen. Ich war bisher weder in der Lage, ihr Alter, noch ihren Zweck zu bestimmen. Und ich kann euch auch nicht sagen, warum diese gigantische Stadt noch von keinem vor uns entdeckt wurde. Ich habe ein paar Theorien hierzu, die ich gerne mit euch erörtern möchte, sobald wir zurück in der Zivilisation sind. Jedenfalls hat es etwas Vergleichbares noch nie gegeben. Ich hoffe, ihr seid bereit, diese Höhlen zu erkunden. Achtet besonders auf Unregelmäßigkeiten. Ein Kratzer in einer Mauer könnte durchaus ein Schlüsselloch, ein Schriftzeichen oder ähnliches sein.“ Er breitete eine Karte auf einem Sockel vor sich aus. „Wir werden drei Gruppen bilden, die drei vorab festgelegte Sektoren erkunden. Gruppe eins, das sind Rooney und Sophronia, übernimmt Sektor eins.“ Er klopfte auf die Karte und machte deutlich, welches Gebiet er meinte. Die Frauen tauschten einen kurzen Blick und nickten knapp. „Sektor zwei übernehmen Amanda, Paul und Tim. Dann bleibt noch Alice, du kommst mit mir. Wir übernehmen Sektor drei, das ist hier.“ Erneut pochte sein behandschuhter Finger auf die Karte. Die in der Höhle vorherrschende Kälte ließ bei jedem Wort und jedem Atemzug Wölkchen vor seinem Gesicht entstehen. „Es gelten dieselben vier Regeln wie sonst auch. Erstens: Alle zehn Minuten gibt jedes Team per Funk Bescheid, dass alles in Ordnung ist. Sollte es nicht so sein, gilt Regel Nummer zwei: Falls etwas passiert – egal was – treffen wir uns umgehend wieder hier. Drittens: Alle bleiben an ihre Partner geseilt. Keine Alleingänge! Viertens: Die Helme bleiben auf. Wahrscheinlich muss ich euch das nicht zusätzlich sagen, aber macht bitte möglichst wenig Lärm, die Höhle sieht zwar recht stabil aus, aber sicher ist sicher. Wir treffen uns in exakt zwei Stunden wieder hier. Habt ihr noch Fragen? Nein? Dann viel Erfolg.“

Die Gruppen teilten sich auf und begannen mit der Erforschung des unbekannten Terrains. Rooney und Sophronia machten sich sogleich auf den Weg zum höchsten Gebäude in dem ihnen zugeteilten Sektor. Rooney fühlte sich in ihrer Annahme bestätigt, dass etwas anders war als sonst. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass Fitzgerald und Sophronia getrennt voneinander arbeiteten, jedoch die Art und Weise, wie knapp und lieblos er sie verabschiedet hatte, war ihr negativ aufgefallen. Sicherlich war der Professor ein eher nüchterner, sachlicher Mann, doch gegenüber Sophronia hatte er immer – zumindest mit kleinen Gesten – seine Gefühle zum Ausdruck gebracht. Besonders glücklich schien es zwischen den Beiden wohl gerade nicht zu laufen.

„Sophronia? Ist alles in Ordnung?“, fragte Rooney leise, als sie gerade durch die schmale, niedrige Öffnung in das hohe Gebäude getreten waren. Die Professorin mit den dunkelblond gefärbten Haaren nickte knapp. Ihre Helmlampe verstärkte die Geste. Dass sie nicht mit Worten antwortete, wie es gewöhnlich ihre Art war, machte Rooney stutzig.

„Nun ja, ich möchte nicht indiskret sein... Aber was ist mit dir und Felix los?“

Sophronia schwieg. Rooney war sich beinahe sicher, Tränen in ihren dunklen Augen schimmern zu sehen. Behutsam berührte sie Sophronia am Unterarm. Die Blonde wurde von der durch die dicke Jacke gedämpfte Empfindung zurück ins Hier und Jetzt geholt und zuckte knapp mit den Schultern.

„Ist jetzt nicht wichtig, Rooney. Komm, hier entlang. Dort drüben ist das Licht besser“, lenkte Sophronia mit deutlich hörbarem Kloß im Hals schließlich ab und wischte sich durchs Gesicht. Rooney folgte ihr eine schmale Treppe empor.

Die Scheinwerfer in der Vorhöhle reichten sogar aus, um die Gebäude von innen dämmrig zu beleuchten. Gerade, als die Frauen im ersten Stockwerk ankamen, fiel draußen das Licht aus. Die beiden schalteten ihre kleinen Helmlampen auf die stärkste Stufe. Die Professorin versuchte, über das Funkgerät Felix und den Rest der Gruppe zu erreichen. Nichts. Bloß Rauschen.

„Zurück zum Ausgang?“, fragte Rooney besorgt. Sie hatte eine durch und durch üble Vorahnung. Sophronia nickte und sie gingen die schmalen Treppenstufen wieder hinab.

Das Funkgerät piepte und Amanda aus dem Team in Sektor zwei meldete sich, um nachzufragen, was geschehen sei. Sophronia gab unverblümt zu, es nicht zu wissen und ordnete an, schnellstmöglich zurück zum Ausgangspunkt zu kommen.

„Was denkst du? Können die Akkus der Scheinwerfer schon leer sein?“, wollte Rooney wissen.

„Denke ich nicht. Du warst doch bei den Vorbereitungen dabei. Die Akkus müssten alle geladen sein. Und normalerweise ist Felix immer zu erreichen. Wir müssen zurück zum Lager.“

Die beiden verließen das Gebäude. Sophronia wirkte nicht sonderlich nervös, eher verärgert.

„Sophronia? Mal ehrlich, ich merke doch, dass etwas nicht in Ordnung ist. Also, was ist los?“

„Ich weiß es nicht. Aber wenn Felix mich dadurch verunsichern oder verletzen will, hat er ein mächtiges Eigentor geschossen“, antwortete die Professorin mit bebender Stimme. Sie bebte weniger vor Kälte, als vor Wut.

„Wieso sollte er denn so etwas gemeines und unprofessionelles tun?“

„Ich... Wir… Wir haben uns getrennt. Kurz nachdem wir in der Schweiz angekommen sind. Ich habe herausgefunden, dass er mich mehrfach betrogen hat“, gestand Sophronia.

„Oh, Scheiße“, murmelte Rooney und wusste nicht, was sie sonst sagen, fühlen oder denken sollte.

Sophronia war ebenfalls nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen. Sie nickte knapp. Ihre Gefühle hatten sie endgültig übermannt und sie schniefte leise. Ohne weitere Worte beeilten sie sich, zurück in die Basis zu kommen. Die Professorin brachte es fertig, ihre Gefühle niederzuringen. Dann trafen sie im Lager auf Amanda, Paul und Tim.

Felix Fitzgerald und Alice MacMillan waren weit und breit nicht zu sehen. Sophronia betätigte den Schalter, um die großen Scheinwerfer wieder anzuwerfen. Im nächsten Augenblick brach die Hölle los. Ein enormes Beben zwang die fünf in die Knie. Das Licht der Scheinwerfer flackerte kurz auf, gleich darauf wurde es wieder dunkel. Ein gewitterartiges Grollen ließ die Luft erzittern. Die hellen Lampen ihrer Helme zuckten wie aufgescheuchte Glühwürmchen durch die Dunkelheit. Ein weiteres Beben erschütterte die Höhle, die ersten Steine lösten sich von der Decke.

„Sofort raus hier!“, schrie Rooney den anderen zu. Als Erste überwand sie ihre Angststarre und führte die Gruppe – an dem Sicherungsseil ziehend – aus der Höhle hinaus. Die Helmlampen waren dabei in etwa so hilfreich wie Streichhölzer im Regen. Gerade, als Sophronia den Studenten in den Tunnel folgen wollte, durch den sie kaum eine Stunde zuvor die eisige Höhle betreten hatten, gellte Professor Fitzgeralds Schrei so laut durch die Höhle, dass er das unheilvolle, andauernde Donnern der herabstürzenden Steine und Felsbrocken übertönte. Sophronia sah ihn nicht, jedoch erblickte sie ein zitterndes Licht weit hinten in der Dunkelheit. Immer größere Geröllbrocken schlugen zu Boden. Mit vor Panik gewarteten Augen stand die Professorin in dem Durchgang.

„Komm, Sophronia! Hier stürzt alles ein!“, drang die sich überschlagende Stimme von Rooney zu ihr durch.

„Felix ist noch drin! Und Alice sicher auch!“, schrie sie panisch und deutete in die Richtung, wo sie das Licht gesehen hatte. Das Grollen und Donnern wurde immer lauter, inzwischen regneten Steine jeglicher Größe ununterbrochen auf sie hinab. Die plötzlich staubige Luft schien noch kälter zu werden und schnitt Rooney den Atem ab.

„Komm! Wir können nichts mehr tun!“, ertönte Pauls Stimme plötzlich aus dem Tunnel. Rooney nahm Sophronia am Arm und zog sie mit sich, so dass der Professorin gar nichts anderes übrig blieb, als der Gruppe zu folgen. Keine Sekunde später wurde der Höhleneingang von herabstürzenden Stalaktiten restlos verschüttet.

Die fünf kletterten durch bebende, staubige, eiskalte Gänge. Immer wieder stürzten Steine auf sie hinab und der Boden riss unter ihren Schritten auf. Schließlich, eine Ewigkeit später, gelang es ihnen, verschrammt, blutend, durchgefroren und völlig atemlos – aber lebendig – das Höhlensystem zu verlassen.

Alice MacMillan und Professor Dr. Felix Fitzgerald hatten weniger Glück. Ihre Leichen wurden zwar nie gefunden, die beiden aber ein Jahr später für tot erklärt.

DIE ENTFÜHRUNG – WIE MAN FLIEGT

– 2015 – 1890 –

Professor Sophronia MacKenzie verließ den Hörsaal der Universität mit ihrem Laptop und einem Bücherstapel in den Armen. Der Aufzug war wieder einmal defekt, also lief die zierliche Frau trotz hoher Absätze die Treppe hinauf bis unters Dach in den dritten Stock, in dem ihr Büro lag. Das Gewicht von Büchern und Laptop machten es ihr nicht eben leichter. Oben angekommen, legte sie die Bücher lustlos auf ihren Schreibtisch und klappte den Laptop auf. Der schwarze Bildschirm spiegelte ihr müdes Gesicht. Die dunkelgrünen Augen lagen ungewohnt tief in den Höhlen, die Fältchen, die ihrem Gesicht ansonsten sanfte, kluge Züge verliehen, ließen sie im Moment einfach nur alt aussehen. Sophronia seufzte. „Wozu mache ich das bloß?“

Sie wurde auch jetzt noch – 5 Jahre nach dem tragischen Unglück – von Albträumen heimgesucht und hatte lange nicht mehr richtig geschlafen. Betrübt und erschöpft strich sie sich die dunkelblond gefärbten, knapp schulterlangen Haare aus dem Gesicht. Sie räusperte sich in der Hoffnung, ihre Konzentration zurück zu erlangen und dieses elende Selbstmitleid los zu werden. Mutlos sah sie auf den Bücherstapel und auf ihre Ablage, wo sich noch mehr staubtrockene Schreibtischarbeit türmte.

„Ich will das alles nicht mehr“, flüsterte sie zu sich selbst und blickte aus dem hohen Fenster. Der Himmel war mit dicken, grauen Wolken behangen und es würde nicht mehr lange dauern, bis der Regen auch den Rest der Stadt grau tönen würde. Ihr Blick wanderte zu einer Zeichnung, die eingerahmt über ihrem Schreibtisch hing. Sie zeigte einen zylinderförmigen, fünfeckigen Gegenstand, der mit komplizierten, ihr nicht bekannten Mustern verziert war. Dieses Blatt – mit seinen Kaffee-Flecken und Knicken – hatte sie aus dem Nachlass Fitzgeralds geborgen und über ihren Schreibtisch gehängt. Obwohl sie dessen Bedeutung bisher noch nicht herausgefunden hatte, oder vielleicht genau deswegen, gab es ihr oft das gute Gefühl, dass ihre Arbeit doch nicht gänzlich sinnlos war. Sie wollte unbedingt herausfinden, woran Felix zuletzt gearbeitet hatte. Doch heute machte die Skizze sie nur traurig. Bevor Sophronia noch tiefer in Melancholie versinken konnte, schreckte das Vibrieren ihres Smartphones sie auf. Eine Nachricht ihrer ehemaligen Studentin Rooney O’Hara leuchtete auf dem Display. Der Kontakt zu der jungen Frau war nie gänzlich abgebrochen, auch wenn Rooney der Archäologie nach dem Unglück in den Schweizer Alpen den Rücken gekehrt hatte. Sophronia öffne den Messenger:

„Bist Du im Büro? LG R.O.“

Die Nachricht war für Rooneys Verhältnisse ungewöhnlich kurz. Normalerweise schrieb sie detailliert, was sie wollte und nutzte Emojis anstelle von Satzzeichen. Sophronia bekam das ungute Gefühl, dass Rooney ihre Hilfe brauchte.

„Bin da. Kannst gerne kommen. Gruß Sophronia“

Die Professorin war froh, von Rooney auf andere Gedanken gebracht zu werden. Sie rätselte jedoch, welchem Umstand sie den spontanen Besuch verdankte. Was für ein Problem mochte Rooney haben? Die junge Frau arbeitete seit etwa zwei Jahren in der mäßig gut laufenden Privatdetektei ihres Vaters. Zwar nannte sie sich nun Detektivin, aber genau genommen war sie das Mädchen für alles. Von Internetrecherchen, über fingierte Anrufe bis hin zu Beschattungen untreuer Ehemänner und Schuldnern, erledigte sie alle ihr zugetragenen Aufgaben. Rooney war nicht die Art Mensch, die sich über ihr Los beschwerte, doch vielleicht hatte sie gerade irgendwelche Schwierigkeiten, die sie nicht ohne Unterstützung lösen konnte. Sophronia war unsicher, ob sie Rooney eine besonders gute Hilfe sein konnte. Schließlich schlingerte ihr eigenes Leben gerade selbst überaus unruhig hin und her. Sie griff nach einem der Bücher auf dem Stapel. Herum zu jammern war völlig sinnlos, es änderte schließlich nichts. Also wollte sie sich mit etwas Arbeit ablenken. Gerade als die Professorin damit begann, das Inhaltsverzeichnis zu überfliegen, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, dann zersplitterte das große Fenster. Sophronia duckte sich instinktiv hinter den Schreibtisch und schützte sich durch Zusammenkauern vor den herabregnenden Glasscherben. Sekunden, nachdem die letzten Scherben zu Boden gefallen waren, schwang sich eine Gestalt elegant durch das gewaltsam geöffnete Fenster. Vorsichtig lugte Sophronia hinter ihrem Schreibtisch hervor. Unter einem nassen Ledermantel trug die Gestalt ein dunkles Korsett über schwarzen Hosen. Das Gesicht des Eindringlings war kaum zu erkennen. Augen und Nase waren von einer Maske verdeckt, die altertümlich wirkte. Die Haare der definitiv weiblichen Maskierten wurden von einem breitkrempigen Hut verborgen, der mit einem Band unter ihrem Kinn fixiert war. Eine Strickleiter hinter sich herziehend machte die Frau einen Schritt auf Sophronia zu, die vor Angst wie erstarrt war und regungslos an der Fremden emporblickte. Die Frau mit der Maske überragte Sophronia etwa um zwei Köpfe. Kein großes Kunststück, denn Sophronia war ziemlich klein. Die Maskierte streckte der Professorin eine Hand entgegen. „Komm bitte näher, ich darf die Leiter nicht loslassen“, sagte sie mit leiser, gedämpft wirkender Stimme. Sophronia hatte trotzdem das Gefühl, die Stimme zu kennen. Sie war jedoch noch viel zu erschrocken, um sie einzuordnen.

„Bitte“, flüsterte die Maskierte nach kurzer Pause. Die Professorin wollte etwas sagen, doch die Frau schüttelte den Kopf und legte den Finger auf die Lippen, bevor sie Sophronia wieder die Hand entgegenstreckte. Sophronia stand zitternd auf und machte einen Schritt zurück. Ob sie die Türe erreichen konnte, bevor noch etwas Schlimmes passieren würde?

„Nein, bitte lauf nicht weg. Die Gefahr geht nicht von mir aus. Vertraut mir.“

„Welche Gefahr?“, wollte Sophronia wissen. Inzwischen war sie sich ziemlich sicher, wen sie hier vor sich hatte.

„Ich erzähle dir alles später, versprochen. Aber zunächst müssen wir hier weg.“ Die Dringlichkeit in der vertrauten Stimme ließ für die Archäologin keinerlei Zweifel daran, dass die Maskierte von ihren Worten überzeugt war.

Sophronias Lippen formten lautlos „Rooney?“.

Die Augen hinter der Maske schienen aufzuleuchten, es war jedoch keine weitere Regung zu sehen. Sophronia machte einen Schritt auf die Frau zu, um einen genaueren Blick auf sie werfen zu können und begab sich dadurch unbeabsichtigt in Griffweite. Die Maskierte machte einen raschen Schritt nach vorne, umfasste Sophronias Arm, zog sie mit einem Ruck an sich heran und legte ein stabiles Sicherungsseil um die schmale Taille der Professorin. Es ging so schnell, dass Sophronia angeseilt war, bevor sie realisieren konnte, was vor sich ging.

„Was zum-“

„Halt dich an mir fest.“

Bevor Sophronia noch etwas entgegnen oder sich befreien konnte, drückte die Maskierte einen Knopf auf einer schmalen Metallsprosse der Strickleiter. Ein Ruck durchfuhr die beiden Frauen und in der nächsten Sekunde wurden sie von der nach oben fliegenden Leiter von den Füßen gerissen. Die Maskierte stieß sich kraftvoll vom Boden ab und mit einem eleganten Sprung beförderte sie sich selbst mit der Professorin im Schlepptau aus dem Fenster. Sophronia schrie kurz erschrocken auf, dann verschlug ihr die Geschwindigkeit, mit der es aufwärts ging, den Atem. Ob der Schrei oder das vorab zersplitterte Glas laut genug gewesen waren, um die Aufmerksamkeit irgendwelcher Leute gen Himmel zu lenken, war ungewiss. Sophronia hatte die Augen fest geschlossen und spürte nun, wie die Strickleiter sie rasend schnell durch die dicke Wolkendecke zog und sie plötzlich so nass war, als wäre sie durch einen starken Regenguss gelaufen. Einen Augenblick später spürte die Archäologin auch schon wieder festen Boden unter ihren Füßen. Wäre sie nicht an der Maskierten festgebunden gewesen, wäre sie gestürzt, denn ihre Knie gaben zitternd nach. Doch die Frau mit der Maske hielt sie fest.

„Sachte, Sophronia. Du kannst deine Augen ruhig wieder öffnen, der Flug ist vorbei. Hier, setz dich“, mit diesen Worten zog sie einen Hocker zu sich, löste den Gurt von Sophronias Taille und ließ sie auf den Sitz sinken. Vor den Augen der Archäologieprofessorin tanzten Sterne durch dichten Nebel, der sich nur langsam zu lüften schien. Die Maskierte verschwand. Obwohl sie nur wenige Sekunden weg war, wurde Sophronia von dem Gefühl übermannt, vollkommen allein zu sein. Als die Frau zurückkam, zitterte die Archäologin immer noch am ganzen Körper.

„Rooney?“, fragte sie unsicher, mit bebender Stimme.

Die junge Frau zog mit einer fließenden Bewegung Maske und Hut vom Kopf. Ihre dunkelbraunen Locken fielen auf ihren nassen Ledermantel. Es war tatsächlich Rooney O’Hara. Ihr Gesicht sah noch schmaler aus, als üblich und ihre grün-braunen Augen musterten Sophronia besorgt. Die Professorin war überzeugt davon, dass alles nur ein ganz und gar absonderlicher Albtraum war. Rooney reichte ihr ein Glas Wasser.

„Möchtest du etwas zur Beruhigung haben?“, fragte sie und hielt ihr eine kleine, braune Ampulle entgegen. Sophronia nickte und nahm das Fläschchen. Da sie davon ausging, dass ihre Handlungen in diesem absurden Traum keinerlei Konsequenzen hätten, leerte sie die Ampulle in einem Zug, bevor Rooney etwas sagen konnte. Erst als die zähflüssige Masse ihre Speiseröhre hinab lief, wurde Sophronia bewusst, dass dies ganz bestimmt kein Schnaps war. Und wahrscheinlich auch kein Traum. Angeekelt von der teerartigen Konsistenz und dem viel zu intensiven Geschmack nach Kräutern und irgendetwas Abscheulichem und durch und durch Fremden, trank Sophronia das Wasserglas aus. Die Professorin würgte, aber das Wasser hatte geholfen. Rooneys Gesicht verschwamm vor ihren Augen. Sie erkannte große Sorge in dem Blick der jungen Frau. Sophronia konnte kaum noch aufrecht sitzen, sie hatte das Gefühl, völlig betrunken zu sein.

„Hab keine Angst, Phronie. Das wird bald wieder besser. Komm, halt dich an mir fest, ich bringe dich in die Koje.“ Die Frau tat, was Rooney sagte, legte den Arm um sie und – Nichts weiter.

Sophronia verlor das Bewusstsein und sank in einen tiefen Schlaf. Rooney trug ihren erschlafften Körper so behutsam wie möglich in eine der kleinen Kajüten, die von dem schmalen, dämmrigen Korridor abgingen. Sie hätte Sophronia wohl vorab sagen sollen, dass sie bloß einen Tropfen von dem Zeug in Wasser gelöst trinken musste, um zur Ruhe zu kommen. Von „Flasche ausleeren“ hatte sie zu keiner Zeit etwas gesagt. Aber viel würde wohl nicht passieren. Sophronia würde einige Stunden tief und fest schlafen, vielleicht mit einem leichten Kater aufwachen. Nichts Dramatisches also. Außerdem sah Sophronia so aus, als könne sie den Schlaf gut gebrauchen. Als Rooney die zierliche Frau auf die Koje bettete, seufzte Sophronia leise und versuchte, die Augen zu öffnen.

„Scht... Lass deine Augen zu und schlafe ein bisschen. Ich bin ganz in der Nähe. Hab keine Angst, ich passe auf dich auf.“

Sophronia wurde ruhiger. Rooney hatte nicht den Eindruck, dass es an ihren Worten lag. Die Professorin hatte schlicht und einfach den Kampf gegen die Betäubung verloren. Rooney deckte die hübsche Frau behutsam zu und verließ die Kajüte.

Das Schiff, in dem sie waren, hing unter einem gigantischen, ellipsenförmigen Ballon und flog kilometerhoch über das Land hinweg. Rooney betrat die Kommandobrücke, einen großen Raum mit riesigen, nach außen gewölbten Fenstern, der voller Schalttafeln und Displays war. In der Mitte der Kommandobrücke waren zwei Steuerräder, von je etwa einem halben Meter Durchmesser angebracht. Das linke Steuerrad war das Seitensteuer, mit dem die Richtung eingeschlagen werden konnte, das Rechte war das Höhensteuer, mit dem das Luftschiff hoch und runter gesteuert werden konnte. Die zwei Räder standen in einem Winkel von einhundertzwanzig Grad zueinander, sodass eine einzelne Person durchaus in der Lage war, beide gleichzeitig zu bedienen. Rooney startete zunächst die vier Außenbordmotoren sowie die zwei Motoren im Maschinenraum unter der Brücke durch mehrere Schalter. Die Motoren brummten auf und trieben vier Propeller an, die das Schiff allmählich höher und vorwärts brachten. Sie warf einen Blick in das dicke, auf einem seitlich stehenden Kartentisch liegenden Buch. Dann betätigte sie einen weiteren Schalter, der einen Apparat im Maschinenraum bediente, über dessen Wirkweise sich die junge Frau noch nicht ganz im Klaren war. Die Vibrationen der Motoren übertrugen sich erstaunlicher Weise kaum auf das überwiegend hölzerne Schiff. Eine Reihe von Instrumententafeln gleich über den Schaltflächen zeigte an, dass alle Antriebe die volle Leistung erbrachten und das Schiff setzte sich träge in Bewegung. Das Luftschiff – die Queen Victoria, kurz Vicky – gewann schnell an Höhe und bewegte sich immer zügiger vorwärts. Mehrere Nebelmaschinen produzierten dichte Wolken, die das gesamte Luftschiff einhüllten und es für alle Menschen unsichtbar machten. Auch auf Radargeräten würde es höchstens eine leichte Anomalie verursachen, doch niemandem auffallen. Rooney steuerte Vicky aus der Stadt. Als sie die hohen Dächer hinter sich gelassen hatte und bloß noch Vororte passierte, schaltete sie den an der hinteren Wand der Kommandobrücke liegenden Bordcomputer ein und versorgte ihn, so wie sie es in dem „Logbuch“ gelesen hatte, mit den merkwürdig langen Koordinaten ihres Reiseziels. Dann bezog sie erneut zwischen den Steuerrädern Position und beobachtete aus den großen, konvexen Frontscheiben, wie die Landschaft unter ihr vorbeizog. Der Ausblick war unglaublich und nie zuvor hatte die Detektivin etwas Vergleichbares gesehen. Obwohl dies nicht ihr erster Flug mit der Queen Victoria war (schließlich hatte sie das Schiff auch hierher geflogen) und die Sicht durch die dichte Wolkenhülle größtenteils verborgen war, hatte der Ausblick etwas ungemein Fesselndes. Rooney fühlte sich mit einem Mal frei und federleicht. Sie atmete tief ein und ein beruhigtes Lächeln legte sich auf ihre in letzter Zeit eher ernsten, angespannten Züge.

Einige Zeit später – das Luftschiff lag ruhig in der Luft und es gab keinerlei Turbulenzen, die den Flug störten – ging Rooney zurück zu Sophronias Kajüte. Die Professorin sah müde aus, ihr Gesicht wirkte jedoch entspannt und der Atem ging gleichmäßig. Die Detektivin beschloss, Sophronia in Ruhe schlafen zu lassen und ging zurück auf die Kommandobrücke. Auch wenn alles ruhig geblieben war, es keine Probleme mit Flugzeugen oder ähnlichem gegeben hatte, wollte sie alles im Blick und unter Kontrolle behalten. Bestmöglich unter Kontrolle…, korrigierte die Detektivin sich in Gedanken. Sie las immer wieder in dem Logbuch, um zu verstehen, wie dieses Konstrukt überhaupt in der Lage war zu fliegen. Sie verstand nur Bruchteile von all dem, was dort in überwiegend gut lesbarer Handschrift geschrieben stand. Eine Gebrauchsanweisung „Wie man fliegt“, nur leider deutlich weniger detailliert, als eine Anleitung zum Aufbau einer Einbauküche..., dachte Rooney. Sie war nervös. Die Landung stand ihnen bald bevor und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie diese bewerkstelligen sollte.

Gerade, als Rooney erneut zu Sophronia in die Kajüte ging, durchriss ein schrillender Alarm das leise Knarren des Schiffes, an das sich Rooney noch nicht gewöhnt hatte. Sophronia wurde wach.

„Was ist los?“, murmelte die Professorin und sah sich irritiert um. Der Alarm übertönte sie beinahe.

„Wir sind gleich da. Wie geht es dir?“

„Ich habe Kopfschmerzen. Der Krach macht’s nicht eben besser. Wo sind wir? Was ist hier los?“

Rooney zuckte mit den Schultern und half der Frau beim Aufstehen.

„Rooney, bitte sprich mit mir. Was ist hier los?“, verlangte Sophronia zu wissen. Ihre Stimme war vorwurfsvoll. Rooney öffnete die Türe. „Ich erkläre dir alles später, okay? Zunächst müssen wir landen. Kannst du selbst laufen?“

„Nur, wenn wir nicht wieder an der Strickleiter durch die Luft fliegen.“

Rooney schmunzelte. „Nein, keine Sorge.“ Sie verschwand auf die Kommandobrücke und Sophronia folgte ihr mit mulmigem Gefühl. Sie fühlte sich so wackelig auf den Beinen, als würde sie über weiche Matratzen laufen.

Während Rooney sofort nach dem Betreten der Kommandobrücke den Alarm ausschaltete und damit begann, an den unterschiedlichen Knöpfen und Schaltern herum zu werken, strikt den Anweisungen in dem großen ledernen Buch folgend, schließlich ihre Position zwischen den Steuerrädern einnahm, stand Sophronia vor den konvexen Fenstern und betrachtete die Wolkenlandschaft vor ihr. Ihr Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen ergriffenem Staunen und abgrundtiefem Unbehagen.

„Rooney, wo sind wir? In einem... Flugzeug?“, fragte die Archäologieprofessorin und sah die plötzlich nervös wirkende Frau hinter den Steuerrädern irritiert an.

„Ich erkläre dir alles, sobald wir unten sind. Versprochen. Aber jetzt setz dich besser hin, schnall dich an und halte dich gut fest. Und versuche, positiv zu denken, das ist meine erste Bodenlandung.“

Sophronia folgte den Anweisungen augenblicklich, lediglich das „positiv denken“ fiel ihr ausgesprochen schwer. Sekunden, nachdem die Professorin sich auf den Sessel gesetzt und den Gurt umgelegt hatte, brach das Luftschiff durch die Wolken und die Erde war plötzlich viel näher, als Sophronia vermutet hatte. Und sie rasten deutlich schneller auf eine grüne Wiese zu, als ihr lieb sein konnte. Rooney fluchte lautstark und umfasste das Höhensteuer so feste sie konnte, um den unvermeidlichen Aufprall zu überstehen. Im nächsten Augenblick krachte das Schiff auch schon auf die Erde und schlitterte schreiend noch etliche Meter weiter, bevor eine Ansammlung kleiner Bäume und Sträucher am Ende der Wiese es schließlich zum Stehen brachte. Sophronia öffnete die Augen. Ihr Herz schlug bis zum Hals und eine Woge der Übelkeit überkam sie. Sie kämpfte gegen den Drang an, sich zu übergeben und folgte Rooney taumelnd durch den schmalen Korridor, an den Kajüten vorbei, hinaus an die frische Luft. Vornübergebeugt, auf ihre Knie gestützt, wie nach einem Marathon, atmete die Archäologin mehrmals tief ein und aus, bis die Übelkeit und der Schwindel nachließen. Rooney schien die Bruchlandung weniger nahe gegangen zu sein. Zwar war sie noch blasser als üblich und eine unschöne, bläuliche Verfärbung verunzierte ihr Kinn, aber das hinderte sie nicht daran, das Schiff zu umrunden und gründlich zu inspizieren. Sie hatten wohl noch einmal Glück gehabt. Entgegen Rooneys Erwartungen war jedenfalls äußerlich nicht so viel zu Bruch gegangen, lediglich ein Propeller und der dazugehörige Außenbordmotor qualmten, ein Höhenruder stand in einem seltsamen Winkel ab und die Kufen waren zerschrammt. Welche Schäden die Maschinerie hatte, konnte sie als Laie mit Buch unmöglich abschätzen. Als die Detektivin von der Umrundung zurückkam, saß Sophronia auf einer Stufe vor dem Eingang. Sie wischte sich mit dem Handrücken durch das verdächtig feucht schimmernde Gesicht. Rooney hatte einen Kloß im Hals. Hatte Sophronia ihretwegen geweint? War sie womöglich verletzt? Sie setzte sich neben der Professorin auf die Holzstufe, reichte ihr ein Taschentuch und Sophronia trocknete die Tränen.

„Bist du verletzt?“, fragte die Detektivin schließlich.

„Nein. Ich denke nicht. Bitte erkläre mir jetzt endlich, was hier los ist.“ Ihre Stimme bebte. Rooney hatte sie noch nie so wütend erlebt. Sie schluckte.

„Ich weiß nicht genau, womit ich anfangen soll.“

„Warum bin ich hier?“

„Ich habe herausgefunden, dass jemand hinter dir her ist und bin ihm zuvorgekommen.“

„Wie bitte?“

„Komm mit rein, ich zeige dir, womit wir es zu tun haben und warum ich dich nicht vorwarnen konnte.“

Die Detektivin reichte Sophronia die Hand und half ihr auf die Beine. Gemeinsam traten sie ein und Rooney führte sie in einen großen Raum an Heck des Luftschiffes. Der hintere Teil dieses „Gesellschaftsraums“ war in zwei Etagen geteilt, die durch eine Wendeltreppe miteinander verbunden waren. Der Raum war ausgestattet mit verschiedenen Ersatzteilen, diversen Apparaturen, Instrumenten und zahlreichen Büchern. Sogar ein kleiner Laborbereich war eingerichtet. Eine bequeme Sesselgarnitur war um einen kleinen Tisch angebracht. Erstaunlicherweise war trotz der unsanften Landung zwar einiges durcheinandergeworfen worden, aber offenbar kaum etwas zu Bruch gegangen. Rooney führte Sophronia die Wendeltreppe hinauf und bot ihr einen Platz an einem hölzernen Schreibtisch an. Sophronia setzte sich. Rooney klappte ein auf dem Tisch stehendes Notebook auf und setzte sich neben die Archäologieprofessorin. Sie öffnete eine Videodatei. Sophronia erschrak. Sie erkannte ihre Wohnung und sich selbst.

„Was ist das? Hast du mich ausspioniert?“, fragte die Professorin entsetzt, als sie sah, wie sie sich auf der Aufnahme auszuziehen begann. Rooney stoppte das Video, bevor es peinlich wurde.

„Natürlich nicht. Du wurdest massiv überwacht. Aber nicht von mir. Ich wurde eher zufällig im Rahmen eines anderen Auftrags vor wenigen Tagen auf die Existenz dieser Aufnahmen aufmerksam. Es gibt noch diverse andere Filme von dir. Im Büro, im Auto, sogar beim Einkaufen...“

„Wer hat mich beobachtet? Und warum?“

„Das konnte ich bisher nicht herausfinden, tut mir leid. Ich weiß auch nicht, wie lange das schon so geht. Aber ich habe Gespräche von deinen Verfolgern mitgehört.“

„Wie das?“

„Ich wollte gestern zu dir kommen, um dir von allem zu erzählen. Ich bin an deinem Auto vorbeigekommen und daneben standen zwei Männer, die miteinander sprachen. Da ich dies nicht für einen Zufall hielt, bin ich näher an die Typen ran und habe sie belauscht. Sie sprachen davon, ihr Zielobjekt in zwei Tagen einzusacken und zu ihrem Auftraggeber zu bringen. In Verbindung mit den Videoaufnahmen und der Tatsache, dass sie an deinem Auto standen, lag der Schluss nahe, dass du dieses Zielobjekt bist und entführt werden solltest.“

Rooney sah Sophronia erwartungsvoll an. Die Professorin starrte auf das Standbild und atmete schließlich tief durch. „Also hast du mich entführt, um einer möglichen Entführung vorzubeugen? Warum hast du mich nicht einfach gewarnt, oder die Polizei verständigt? Gott, ist mir schlecht.“

„Wie hätte ich dich vorher verständigen sollen? Ich wusste es ja selbst noch nicht lange. Und da du professionell überwacht wurdest, vermute ich, die hätten jede meiner Nachrichten abgefangen. Es war schon riskant, dir heute zu schreiben. Aber ich musste sichergehen, dass du im Büro bist, sonst hätte ich dich schlecht abholen können. Und die Polizei wollte ich nicht einschalten, weil ich nicht sicher bin, in was du da hineingeraten bist. Wahrscheinlich hätte mir dort sowieso niemand ein Wort geglaubt. Und außerdem halte ich die Methoden der Polizei für völlig unzureichend. Sie hätten dich niemals angemessen schützen können.“

Sophronia schwieg. Wie paralysiert starrte sie auf den Bildschirm. Sie konnte die Informationen nur schwer verdauen.

„Hast du denn gar keine Ahnung, wer ein Interesse an deiner Überwachung und Entführung haben könnte?“, wollte Rooney nach einer Weile wissen. Die Archäologin schüttelte den Kopf. „Nein. Überhaupt keine. Könntest du mir jetzt bitte endlich verraten, wo wir hier sind? Und wie kommst du an dieses fliegende Ungeheuer von Schiff?“

„Zur Frage Nummer eins: Ich bin mir selbst nicht wirklich sicher, wo wir sind. Und zu Frage Nummer zwei: Das ist eine etwas längere Geschichte. Ich versuche, mich kurz zu fassen. Ich war vor einer Weile in einem Wald, um einen Auftraggeber zu treffen und bin bei meiner Wanderung buchstäblich über die Strickleiter des Schiffs gestolpert. Ich bin daran hochgeklettert und fand einen Brief auf dem Kartentisch. Warte kurz, ich habe ihn aufgehoben.“

Rooney holte den vergilbten, mehrfach gefalteten Brief aus ihrer Manteltasche und reichte ihn der Professorin. Sie faltete ihn auf und las:

Sehr geehrte Miss O’Hara,

Ihre Dienste werden dringend benötigt! Bitte bringen Sie mein Luftschiff, die Queen Victoria, zu Doktor Jasper Miller (Koordinaten finden Sie im Logbuch). Ich stecke in der Klemme. Allem Anschein nach wurde ich vergiftet und nun läuft mir die Zeit davon. Auch Ihre Freundin Professor Sophronia MacKenzie befindet sich in erheblicher Gefahr. Passen Sie gut auf sich und auf mein Schiff auf. Bitte helfen Sie mir! Ich hoffe, dass wir noch das Glück haben werden, uns persönlich kennenzulernen.

Verbindliche Grüße

der Konstrukteur

Sophronia gab Rooney den Brief zurück. „Und du willst jetzt zu diesem Doktor Miller? Wie lange sind wir überhaupt geflogen?“

„Wir waren gut zwölf Stunden unterwegs. Ja, Doktor Miller müsste hier irgendwo anzutreffen sein. Die Koordinaten scheinen nach dem Bordcomputer jedenfalls zu stimmen. Ist alles in Ordnung?“, Rooney bemerkte, dass die Professorin ihre Tränen kaum noch zurückhalten konnte.

„Ehrlich gesagt: Nein! Das ist alles zu viel für mich. Ich möchte wieder zurück nach Hause. Bitte bring mich zurück.“

„Tut mir leid, das kann ich nicht. Nach dieser Landung fliegt das Schiff wohl erst einmal nirgendwohin.“

Sophronia schluckte erneut die Übelkeit herunter. Dann nahm sie ihr Smartphone aus der Hosentasche. „Ich habe kein Netz“, stellte sie mit zitternder Stimme fest.

„Das darf doch alles nicht wahr sein.“ Rooney legte eine Hand auf Sophronias zitternde Schulter.

„Denkst du, du schaffst es, mit zu Doktor Miller zu gehen? Oder möchtest du lieber hierbleiben?“, wollte sie leise wissen. Die Professorin zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Lass uns gehen, vielleicht bekomme ich unterwegs Empfang“, meinte sie schließlich und stand auf. Rooney schüttelte kaum merklich den Kopf und murmelte: „Eher unwahrscheinlich.“

Sophronia kräuselte die Stirn. „Was meinst du?“

„Erkläre ich dir später. Komm, lass uns gehen.“

Widerwillig folgte Sophronia der jungen Frau aus dem Luftschiff hinaus. Ihr gefiel das alles überhaupt nicht. Die gesamte Situation war zu absonderlich, um wahr zu sein. Am liebsten hätte sich die Blonde zurück in die Koje gelegt, um das alles zu verschlafen. Aber in ihr regte sich auch Neugier. Was ging hier vor? Wer war dieser Doktor Miller? Und was verheimlichte die Detektivin?

Sophronia folgte Rooney über eine saftig grüne Wiese. Sie steuerten auf eine große, dunkle Bockwindmühle zu.

DIE MÜHLE – AUFBRUCH IN EIN ABENTEUER

– 1890 –

Sophronia blickte sich um. Der riesige, ellipsenförmige Ballon, der vor wenigen Minuten noch das Luftschiff getragen hatte, war deutlich geschrumpft und lag wie eine überdimensionale Rosine über dem Schiff. Die fischgrätenähnliche Konstruktion, über die die Außenhülle gespannt war, war nun deutlich zu erkennen. Rooney wusste aus dem Logbuch, dass in diesem Skelett – aus ultraleichten Aluminium- und Karbonfachwerkträgern – vierundzwanzig große Gaskapseln angebracht waren, die nach Bedarf durch verschiedene Hebel in der Kommandobrücke befüllt oder entleert werden konnten. Der Ballon war in der Lage, bis zu 55.000 Kubikmeter Traggasinhalt aufzunehmen. Um welches Gas es sich handelte, war Rooney noch nicht ganz klar. Sie hoffte inständig, dass es nicht brennbar war. Das Skelett unter der Ballonhaut ließ sich durch einige Schalter auf der Kommandobrücke nahezu vollständig zusammenfalten. Wahrscheinlich diente diese Technik dazu, am Boden nicht durch den gigantischen Ballon aufzufallen, falls die Nebelmaschinen ausgeschaltet waren. Auch jetzt war das Schiff weithin sichtbar. Doch in dem Logbucheintrag war vermerkt, dass hier keinerlei Gefahr drohte. Die Landung hatte tiefe Furchen auf der ansonsten leicht hügeligen, wild bewachsenen Wiese hinterlassen. Der Himmel war ungewöhnlich blau, die Sonne stand hoch und es waren kaum Wolken zu sehen. Rooney fiel auf, dass Sophronia sich umschaute. Sie schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, der Archäologin die ganze Wahrheit zu erzählen.

„Weißt du, das ist alles ziemlich kompliziert zu erklären. Ich versuche es trotzdem. Also, die Luft hier ist anders, die Sonne steht höher, es gibt keine von Flugzeugen verursachten Kondensstreifen, weil-“

„Guten Tag zusammen!“, die Begrüßung unterbrach Rooney mitten im Satz. Sophronia war erschrocken zusammengezuckt. Die beiden Frauen hatten den Mann gar nicht bemerkt, der nur aus dem Schatten der Mühle zu ihnen ins Sonnenlicht trat. Das für sein offensichtlich hohes Alter untypisch feuerrotes Haar stand wirr in alle Himmelsrichtungen ab. Er war kaum größer als Sophronia. Mit breitem Lächeln im faltigen Gesicht schüttelte er zuerst Rooneys, dann Sophronias Hände mit festem Griff, wobei er die beiden intensiv musterte.

„Ihr habt es tatsächlich hierhergeschafft!“, stellte der Mann dann mit leichtem Lispeln in seiner quäkenden Stimme feierlich fest und erweckte den Eindruck, die Frauen erwartet zu haben.

„Sind Sie Doktor Miller?“, fragte Rooney.

„Ja, der bin ich. Aber bitte nennt mich einfach Jasper. Und ich halte Duzen für förmlich genug. Nun kommt mit rein, die liebe Vicky-“, der alte Mann deutete auf das Luftschiff „-werde ich dann später in Augenschein nehmen.“

Jasper führte Rooney und Sophronia die schmale, wackelige Holztreppe hinauf in die Mühle. Insgeheim war die Detektivin froh, von dem Rothaarigen unterbrochen worden zu sein, denn so konnte sie es sich – jedenfalls für den Moment – ersparen, von Sophronia für unzurechnungsfähig gehalten zu werden.

Jasper lotste die Frauen durch das chaotische Innere der Mühle, die offenbar schon lange nicht mehr als solche genutzt wurde. Die Räume glichen einer gewaltigen Werkstatt. Überall lagen verschiedene Werkzeuge und Apparaturen, oftmals simple Holzkonstruktionen und einfache Metallgeräte, herum. Ebenso türmten sich stapelweise Bücher links und rechts von ihrem Weg durch die Räumlichkeiten.

Sie kamen in ein geräumiges Wohnzimmer. „Bitte, setzt euch“, bot Jasper den beiden an und deutete auf eine bequeme Sitzgruppe vor einem Kamin. Auch hier war es nicht besonders ordentlich, aber es war leichter begehbar als der Rest der Mühle. Sophronia setzte sich zu Rooney auf eine Couch, während Jasper auf einem verschlissenen Sessel Platz nahm. Er drückte auf einer klobigen Fernbedienung herum. Sophronia beobachtete ihn mit gekräuselter Stirn. Was bediente er damit? Es gab augenscheinlich keine elektrischen Geräte in diesem Raum. Weder Fernseher noch Radio oder sonstiges. Schließlich legte er das Ding beiseite und wandte sich freundlich lächelnd an seine Gäste.

„Ich habe vor etwa zwei Wochen ein Schreiben von Edward bekommen, in dem er den Besuch einer Detektivin namens Rooney O’Hara ankündigte. Ich vermute, das bist du?“, fragte er und blickte Rooney aus seinen hellen, grünen Augen fragend an. Sie nickte.

„Gut, dass du hier bist. Dürfte ich fragen, wer du bist?“, wandte er sich nun mit neugierigem Blick an Sophronia, die von allem derartig überrumpelt war, dass sie nicht einmal daran dachte, auf irgendwelche Förmlichkeiten zu achten.

„Sophronia MacKenzie“, antwortete sie knapp. Sie vergaß sogar, ihre Titel zu nennen, wie sie es eigentlich gewohnt war.

„Sehr gut“, er wandte sich wieder an Rooney und sprach weiter: „Gab es an Bord des Luftschiffes irgendwelche Instruktionen? Oder Hinweise, wohin Edward verschwunden ist?“

„Ist Edward der Konstrukteur?“, fragte Rooney.

Der quirlige Jasper nickte und die Detektivin überreichte ihm das Schreiben, welches sie auf dem Kartentisch gefunden hatte. Der alte Mann überflog die Zeilen. Nachdenklich rieb er sich das stoppelige Kinn. „Das klingt nicht gut. Ist das alles?“, wollte er schließlich wissen. Sein Lächeln war nachdenklicher geworden, er wirkte besorgt.

„Ja. Bis auf das Logbuch. Soll ich es holen?“

„Nein, erst einmal nicht nötig. Es wundert mich, dass ihr es bis hierher geschafft habt. Eine Zeitreise ist eine unglaublich komplizierte Sache. Und Vicky kann bisweilen wirklich eine Diva sein.“

„Zeitreise?“, Sophronia sah verwirrt von Jasper zu Rooney. Die Detektivin sah nicht überrascht aus.

„Na klar. Was denkst du denn, wie ihr ins Jahr 1890 gekommen seid?“, meinte Jasper breit grinsend.

„Ach quatsch. Das ist doch völlig unmöglich“, erklärte sie im ersten Reflex. Dann sah Sophronia den Alten an, als sei sie nicht sicher, wer soeben dabei war, den Verstand zu verlieren. Zu allem Überfluss kam just in diesem Augenblick ein kleiner, etwas zerbeulter Roboter in den Raum gefahren und servierte Tee. Sophronia lachte kurz und leicht hysterisch auf. Rooney ergriff sachte ihre Hand, die Professorin entzog sich ihr jedoch sogleich und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht.

„Das ist alles nicht wahr, oder? Das ist bloß irgendein verrückter Fiebertraum. Ich bin doch bestimmt die bescheuerte Treppe runtergefallen und liege im Koma!“, meinte Sophronia mit zitternder Stimme und Tränen in den weit aufgerissenen Augen. Rooney schüttelte den Kopf.

„Ich denke, du solltest ihr alles zeigen und erklären, Rooney“, sagte Jasper mit besorgtem Blick auf die Archäologin.

„Ich verstehe nicht einmal einen Bruchteil von dem, was in dem Logbuch steht“, gab die Detektivin hilflos zu.

„Und dennoch bist du hier. Aber wenn es euch hilft, komme ich mit. Ich muss das Schiff ohnehin in Augenschein nehmen, um zu schauen, was repariert werden muss.“

„Gut, dann mal los“, gab Rooney mit gezwungenem Lächeln zurück.

„Robeta, ich denke, du kannst den Tee später servieren“, sagte Jasper zu dem kleinen Roboter, der gerade eben erst mit dem Eindecken fertig geworden war und nun ein enttäuschtes Summen von sich gab.

„Sei nicht beleidigt. Wir haben gerade etwas anderes zu erledigen. Nun mach schon.“

Mit empört klingenden Fieptönen wackelte der Roboter aus dem Raum. Rooney hatte die Konversation zwischen dem alten Mann und der Maschine mit zunehmender Begeisterung verfolgt.

„Versteht der Roboter, was du sagst?“

„Ja, und meistens befolgt sie auch meine Anweisungen“, meinte Jasper schmunzelnd.

„Das ist ja unglaublich!“

Der alte Mann lachte. Die Falten um seine Augen wurden dabei noch tiefer und sahen aus, als hätte ein Vogel seine Krallen hineingegraben. Sophronia bekam das darauffolgende Gespräch zwischen den beiden nicht wirklich mit. Wie ferngesteuert begleitete sie Rooney und Jasper zurück zum Luftschiff. Sie war eine angesehene Wissenschaftlerin, hatte so viel Erfahrung und wusste über so viele Dinge Bescheid! Und nun kam sie trotz alldem gedanklich nicht mit. Zeitreisen? Wie sollte das funktionieren? Völlig absurd! Was wollte das Mädchen mit dieser wahnwitzigen Geschichte bezwecken? Hatte sie ihr noch mehr vorenthalten?

Die Detektivin führte sie erneut zu dem Schreibtisch, auf dem das Notebook stand.

„Ich halte es für sinnvoll, dass du das Logbuch liest. Darin steht eigentlich alles, was nötig ist um das mit dem Zeitreisen grob zu verstehen“, meinte Rooney und legte das große, in verschlissenes Leder gebundene Buch vor Sophronia auf den Tisch. Die Professorin nickte und zog das Buch näher zu sich.

„Ich werde mich draußen mal etwas umsehen. Nach dem ganzen Fliegen brauche ich mal etwas Entspannung. Oder jedenfalls etwas anderes. Möchtest du vielleicht mitkommen?“, Sophronia schüttelte den Kopf und Rooney fuhr fort: „Wenn du Fragen hast, kannst du dich ganz bestimmt an Jasper wenden. Ist das okay für dich?“

„Ja.“ Ihre Stimme klang schwach. Rooney hatte Bedenken, sie alleine zu lassen. Doch hier konnte sie ihr wohl kaum weiterhelfen. Außerdem war ihre Neugier längst größer, als ihre Sorgen es sein könnten.

„Ich bin bald zurück. Versprochen.“

Sophronia nickte. Sie wirkte völlig erschöpft. Rooney lächelte ihr zum Abschied aufmunternd zu, berührte ihre Schulter und verschwand. Während Sophronia damit begann, in dem Logbuch zu blättern und Jasper im Maschinenraum unterhalb der Kommandobrücke des Luftschiffes arbeitete, machte Rooney sich auf den Weg, die Umgebung zu erkunden. Um zufällig vorbeikommenden Einheimischen nicht aufzufallen, trug sie abgenutzte Männerkleidung, wie sie zu dieser Zeit für einen Bauernjungen üblich war. Ihre Haare hatte sie unter einer braunen Kappe versteckt. Die Kleidungsstücke hatte sie bereits vor ihrem ersten Flug in einer schrankgroßen Truhe im Frachtraum des Luftschiffs gefunden, wo noch etliche andere Verkleidungen verstaut waren: verschiedene Kleidungsstücke, Hüte, Perücken, alle möglichen Accessoires, jeweils mit der Jahreszahl versehen, in der sie üblicherweise getragen wurden.

Sie ging etwa eine halbe Stunde über Feld- und Waldwege und kam schließlich in ein kleines Dorf, bestehend aus unscheinbaren Backsteinhäusern, einer Schmiede, einer schmalen, überwiegend hölzernen Kapelle und einem Marktplatz. Rooney betrachtete das bunte Treiben auf dem Platz aus einiger Entfernung und war völlig überwältigt von den fremden Eindrücken. Die Gerüche schlugen ihr allerdings heftig auf den Magen. Eine Kanalisation war hier offenbar erst in Ansätzen vorhanden. Zu dem Gestank menschlicher und tierischer Ausscheidungen mengten sich die Ausdünstungen faulenden Abfalls, sowie ein beißender Rauch, der offenbar dem Schornstein der Schmiede entstieg. Rooney brauchte eine Weile, um den Würgereiz zu