Zeiten und Räume – Rhythmus und Region -  - E-Book

Zeiten und Räume – Rhythmus und Region E-Book

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Beschreibung

Parallel zur 'Wiederentdeckung' des Raumes in der Geschichte ist auch das Interesse an historischen Zeitordnungen, Zeitbegriffen und Zeitgefühlen gewachsen. Der Frage aber, ob und wie sich Raum und Zeit jeweils aufeinander beziehen, wird dabei nur selten konsequent nachgegangen. Im vorliegenden Band – der Dokumentation einer Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte im Jahr 2013 – steht dagegen die konkrete Verräumlichung abstrakter Zeitlichkeit – die Rhythmisierung von Zeit im Raum, von Raum durch Zeit – im Zentrum. Kultur- und Regionalgeschichte begegnen einander in Beiträgen über landwirtschaftliche und kirchliche bzw. religiöse Rhythmen, zu Zeitordnungen gesellschaftlicher Sondergruppen, zu Jugend und Alter, zur Konfessionalisierung der Zeiten in der Region – vom Kalenderstreit und der Normaljahrsregelung bis hin zur konfessionskulturellen Prägung von Arbeit und 'Muße' – oder zu den Konsequenzen, die sich aus der Industrialisierung nicht zuletzt für das Verhältnis von Stadt und Land ergaben. Die Fallbeispiele veranschaulichen Zeitlichkeitsphänomene, stellen makrogeschichtliche Thesen auf den Prüfstand und in Frage und sie lassen erkennen, was der Umgang mit „Zeit“ zur Entstehung von Räumen und Regionen beiträgt.

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FORUM SUEVICUM

Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen

Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V.

Band 11

Vorwort

Selbst wenn wir es könnten: Wie unsere Welt ohne ›Zeit‹ aussähe, sollten wir uns nicht vorstellen wollen. Denn ohne Zeit gäbe es weder Geschichte noch Historiker. Und weil es dann logischerweise auch keinen Zeitdruck gäbe, würde es auch nicht zu Tagungsbänden wie diesem kommen. Dabei interessieren sich die Geschichtswissenschaften keineswegs für die Zeit an sich, die es eher Mathematikern, Physikern oder Philosophen angetan hat. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 14. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e. V. fanden sich vom 15. bis 17. November 2013 also nicht deshalb im Rathaussaal der ehemaligen Reichsstadt zusammen, um der Zeit beim Vergehen zuzuschauen und so – ähnlich wie der Gelehrte auf dem Schutzumschlag dieses Bandes – über deren Wesen durch beharrliches Fokussieren vorrückender Stundenzeiger und rieselnden Sandes zu meditieren. Vielmehr interessierte sie die Frage, was Menschen früher mit der Zeit machten, wie sie mit ihr umgingen und was das wiederum für sie bedeutete: ›Zeitordnungen – Zeitbegriffe – Zeitgefühle‹ war das Thema, dem sich die Referentinnen und Referenten in unterschiedlichen Zugängen, aber mit einer ganz speziellen Perspektive auf Räume und Regionen als konkreten ›Bezugsgrößen‹ von Zeitlichkeit näherten. Das konnte ein kleines Damenstift, die Allgäuer Kleinstadt Immenstadt, die Reichsstädte Memmingen und Augsburg, die Herrschaft Engelberg in den Schweizer Bergen oder Schwaben und der deutsche Südwesten sein. Immer ging es darum, ›Zeit‹ am Raum konkret werden zu lassen und dadurch zugleich das Individuelle des Raumes und der Region sichtbar zu machen.

Ich danke vor allem den 15 Referentinnen und Referenten – für die Drucklegung entfiel ein Beitrag, zwei weitere kamen neu hinzu –, die sich auf diese Ausgangsüberlegung einließen und bereit waren, sie in ihren Aufsätzen nochmals zu vertiefen. Den Vorstandskollegen im Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte e. V., insbesondere dessen Geschäftsführer Dr. Hans-Wolfgang Bayer, Leiter des Memminger Kulturamts, und seinen Mitarbeiterinnen Julia Mayer M. A., Gerlinde Stanzel und Stefanie Vetter gilt mein Dank für die versierte Organisation und Hilfe bei der Durchführung der Tagung, der Stadt Memmingen, ihrem Oberbürgermeister Dr. Ivo Holzinger und dem Stadtrat, für Gastfreundschaft und großzügige finanzielle Förderung. In gleicher Weise ermöglichten die Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau sowie die Lechwerke AG durch ihre Unterstützung die Drucklegung dieses Bandes. Herrn Vorstandsvorsitzenden Dipl.-Volkswirt Thomas Munding sowie Herrn Ekkehard Wruck und Frau Gertrud Abt gebührt dafür ebenfalls mein ganz herzlicher Dank. Das Memminger MedienCentrum hat, wie auch in den vergangenen Jahren, den Druck des Bandes sorgfältig und ansprechend durchgeführt – herzlichen Dank!

Schließlich bin ich ganz besonders dankbar, daß auch der 11. Band der Reihe Forum Suevicum mit der erfahrenen, verläßlichen und stets freundlichen Hilfe von Lektorin Angela Schlenkrich M. A. und Uta C. Preimesser vom UVK-Verlag verwirklicht werden konnte.

Den Leserinnen und Lesern dieses Buches wünsche ich Vergnügen bei der Lektüre und – wie es der Duden formuliert – jene »freie Zeit und innere Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht«: Muße.

Weingarten, im September 2015 Dietmar Schiersner

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

D

IETMAR

S

CHIERSNER

Zeit im Raum. Zur Regionalität von Zeitphänomenen – eine Einführung

I. Gemeinsame Rhythmen

W

ERNER

R

ÖSENER

Bäuerliches Zeitverständnis im Rhythmus von Natur, Jahreslauf und Alltag in der Vormoderne

A

NKE

S

CZESNY

Differierende Zeiten in ländlichen Gesellschaften der frühneuzeitlichen Gewerbelandschaft Ostschwaben

G

ERHARD

D

OHRN

-

VAN

R

OSSUM

Glocken und Uhren. Zeitmessung und Zeitordnungen in der Stadt

G

ERHARD

A

MMERER

Alle Zeit der Welt? Zeit als Dimension von Bewußtsein, Erfahrung und ökonomischem Kalkül von Nichtseßhaften am Beispiel des Habsburgerreiches im 18. Jahrhundert

D

IETMAR

S

CHIERSNER

Zeit und Frömmigkeit. Schwäbische Damenstifte am Ende des 18. Jahrhunderts

II. Geteilte Zeiten

B

ARBARA

R

AJKAY

Zeiten des Abschieds, Zeiten des Rückzugs. Kindheit, Jugend und Alter in der Augsburger Oberschicht 1500–1800

N

ICOLAS

D

ISCH

Im Gewebe der Zeiten. Ländliche Zeitvorstellungen in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Herrschaft Engelberg

R

OLF

K

IESSLING

Juden und Christen im konkurrierenden Zeittakt. Zum Umgang mit den Alltagsabläufen in den schwäbischen Judengemeinden im 17./18. Jahrhundert

W

OLFGANG

S

CHEFFKNECHT

Von der Lokalisierung zur Globalisierung. Kalenderzeit, ideologische Zeit und Zeitpraxis im Bodenseeraum in der Frühen Neuzeit und im ›langen‹ 19. Jahrhundert

G

ERHARD

K

LEIN

Bürger, Bauern, Arbeiter. Unterschiedliche Lebensrhythmen in einer Allgäuer Kleinstadt

III. Kontroverse Zeiten

W

OLFGANG

P

ETZ

Doppelt Calender halten

.

Kalenderreform und Konfessionalisierung der Zeit im ländlichen Raum

R

ALF

-P

ETER

F

UCHS

Ein Termin als Rechtsgrundlage für die Konfession. Das Normaljahr 1624 in der Region

S

ABINE

H

OLTZ

Lob der Muße? Barocke Konfessionskulturen im deutschen Südwesten

G

EORG

S

EIDERER

Aufgeklärte Zeiten. Von der Feiertagsreduktion zur ›Verbürgerlichung‹ der Zeit

A

NDREAS

L

INK

Die ›chiliastischen Träumereien‹ des Ignaz Lindl. Radikalisierung am Rande der Allgäuer Erweckungsbewegung im Elendsjahr achtzehnhundertunderfroren

K

LAUS

W

OLF

Die fünf tausent iaur wurden verloren

.

Zeitordnungen, Zeitbegriffe und Zeitgefühle in schwäbischer Literatur des Mittelalters – ein Votum regionaler Literaturgeschichtsschreibung

Autorenverzeichnis

Nachweis der Abbildungen

Abkürzungsverzeichnis

AA

StaatsA Augsburg, Damenstift Edelstetten, Amtsbücher und Akten

AdBA

Archiv des Bistums Augsburg

Augsburger Stadtlexikon

Augsburger Stadtlexikon, hg. von GÜNTHER GRÜNSTEUDEL u. a., 2. neu bearb. Aufl. Augsburg 1988

BayHStA

Bayerisches Hauptstaatsarchiv

Bh.

Beiheft(e)

cgm

codex germanus monacensis

clm

codex latinus monacensis

d. Ä.

der Ältere

d. J.

der Jüngere

EKG

Evangelisches Kirchengesangbuch

ETP

Engelberger Talprotokolle

FA

Fuggerarchiv Dillingen

FS

Festschrift

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

HAB S

Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben

HHStA

Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien

HistA

Historisches Archiv

HoA

Hohenems Akten

HZ

Historische Zeitschrift

IPO

Instrumentum Pacis Osnabrugensis

LA

Landesarchiv

MF

Ministerium der Finanzen

MK

Ministerium für Unterricht und Kultus

MüB

StaatsA Augsburg, Augsburg Damenstift St. Stephan, Münchener Bestand

NA

Neuburger Abgabe

ND

Nachdruck

NF

Neue Folge

RGG

K

URT

G

ALLING

u. a. (Hg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 1957f.

RHR

Reichshofrat

s. l.

sine loco

StaatsA

Staatsarchiv

StadtA

Stadtarchiv

StadtA Imm

Stadtarchiv Immenstadt

StiAr

Stiftsarchiv

StiBi

Stiftsbibliothek

SuStBA

Staats- und Stadtbibliothek Augsburg

TLA

Tiroler Landesarchiv

u. d. T.

unter dem Titel

Veröff.

Veröffentlichungen

VLA

Vorarlberger Landesarchiv

WA

D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe

(Weimarer Ausgabe)

HStAS

Hauptstaatsarchiv Stuttgart

ZAA

Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie

ZB

Zentralbibliothek

ZbKG

Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte

ZBLG

Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte

ZHF

Zeitschrift für Historische Forschung

ZHVS

Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (und Neuburg)

zit. n.

zitiert nach

ZWLG

Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte

DIETMAR SCHIERSNER

Zeit im Raum. Zur Regionalität von Zeitphänomenen – eine Einführung

1. Das Interesse an ›Fragen der Zeit‹

Mit dem Thema seiner im November 2013 veranstalteten Tagung ›Rhythmen und Region: Zeitordnungen – Zeitbegriffe – Zeitgefühle‹ lag das Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte offenbar im geschichtswissenschaftlichen Trend, um nicht zu sagen auf der Höhe der Zeit. In den vorangegangenen Jahren war ein eigenes Graduiertenkolleg zu ›Zeitkulturen‹ eingerichtet worden, hatten sich mehrere Netzwerke gebildet bzw. Forschungsgruppen zusammengeschlossen, die sich der ›Zeit‹ in der Geschichte widmen wollten, wurden zahlreiche Konferenzen zum Thema veranstaltet und fand sogar eine Ausstellung statt, die einen entsprechenden Tagungsband flankierte: Zwischen 2007 und 2012 förderte ein interdisziplinäres Konstanzer Doktorandenkolleg 14 Promotionsvorhaben unter anderem aus der Geschichtswissenschaft, die der »Forschungsfrage nach unterschiedlichen Modi der Herstellung und Organisation von Temporalität« nachgingen.1 Seit 2011 gibt es die Arbeitsgruppe ›Erfurter RaumZeit-Forschung‹, die 2015 zu ihrem mittlerweile achten Workshop einlud und bereits mehrere Tagungen veranstaltet hat.2 Ein weiterer Forschungsverbund, das Netzwerk der Deutschen Forschungsgesellschaft ›Zeitenwelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter‹, wurde im Sommer 2012 eingerichtet und wird bis zu seinem Abschluß Ende 2015 ebenfalls mehrere Arbeitstreffen organisiert haben,3um einem Desiderat abzuhelfen: Denn während sich die Mediävistik zwar am Forschungsdiskurs zum ›Raum‹ beteiligt habe, sei die »Kategorie der Zeit […] bislang weitgehend unberücksichtigt« geblieben.4 Mit neuester und Zeitgeschichte befaßte sich dagegen ein im November 2012 vom Deutschen Historischen Institut in London veranstalteter Workshop unter dem Titel ›Tales about time. Temporality, modernity and the order of time‹.5 Sukzessive wurde die Thematik durch kulturgeschichtliche bzw. anthropologische Fragestellungen, etwa nach »Zeitwahrnehmungen und -praktiken« oder nach den Zusammenhängen von Zeit und Emotionen erweitert.6

Hervorgehoben sei auch ein erst 2013 von den Berliner Kulturwissenschaftlern Christian Kassung und Thomas Macho herausgegebener Tagungsband ›Kulturtechniken der Synchronisation‹, der auf eine allerdings bereits 2007 veranstaltete Konferenz ›Adressieren, Speichern, Takten‹ zurückgeht.7 Im Kontext der Genese dieses Bandes stand auch ein disziplinübergreifendes studentisches Ausstellungsprojekt ›Synchron. Wie unsere Zeit unsere Kultur prägt‹, das zwischen Februar und April 2013 an der Humboldt-Universität realisiert wurde.8 Für die Fragestellung des vorliegenden Tagungsbandes höchst einschlägig sind schließlich die Erträge eines zwischen 2001 und 2011 bestehenden Münchener Sonderforschungsbereichs ›Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‹. Dem in diesem Rahmen 2007 publizierten Tagungsband ›Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit‹ kommt dabei eine Vorreiterrolle für die Erforschung der spezifisch frühneuzeitlichen Zeitkultur zu.9

Unschwer ließe sich diese Liste von Tagungen, Ausstellungen und Veröffentlichungen der letzten knappen Dekade zeitlich verlängern und quantitativ erweitern. Sichtbar würde dabei ein bestimmer Konjunkturverlauf. Während sich vor allem die Philosophie, aber auch die Historische Chronologie als Hilfswissenschaft kontinuierlich dem Zeit-Thema widmete,10 kann man beobachten, daß etwa ab den 1990er Jahren bis knapp nach der Jahrtausendwende das Phänomen starke Präsenz durch interdisziplinäre – auch populärwissenschaftliche – Veröffentlichungen gewann und Überlegungen aus Biologie, Physik und Nanochemie ebenso wie aus Medienwissenschaften, Pädagogik und Theologie in Sammelbänden gemeinsam präsentiert wurden.11 Gleichzeitig begann sich auch die allgemeine Geschichtswissenschaft immer stärker auf die Problematik zu konzentrieren,12 bis innerhalb der Disziplin ›Zeit‹ die eingangs skizzierte heutige Bedeutung erlangte. Breitere Aufmerksamkeit für das Thema im weiteren Sinne schien sich anzubahnen mit belletristischen Erfolgstiteln wie Sten Nadolnys ›Entdeckung der Langsamkeit‹ (1983), dessen Autor übrigens promovierter Historiker ist, oder auch Milan Kunderas ›Langsamkeit‹ (1994). In den Feuilletons ebenso wie in der Sparte Lebenshilfe-Literatur läßt das Interesse an Möglichkeiten zur Optimierung des persönlichen Zeitmanagements einerseits ebenso wenig nach wie andererseits das an alternativen Strategien der ›Entschleunigung‹. ›Zeit‹ bleibt aktuell; als Stichwort genüge der Hinweis auf gegenwärtige Diskussionen zum Thema ›Multitasking‹.13

Es hat einige Plausibilität für sich, wenn das Einsetzen der beobachteten Konjunktur in Verbindung gebracht wird mit dem Nahen der Jahrtausendwende, was ganz allgemein die Sensibilität für Zeitfragen, insbesondere aber auch das Bewußtsein für Wandel und Vergänglichkeit geschärft haben mag. Hinzu kommt, und bei einem großen Teil der Publikationen ist es offensichtlich, daß gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller Wandel zunehmend als Problem allgemeiner Beschleunigung, ja als Zerbrechen zeitlicher Ordnungen und als Herausforderung für das Leben in der Gegenwart begriffen und verarbeitet wird.14 Die Geschichtswissenschaft bzw. der einzelne Geschichtswissenschaftler ist als Teil der Geschichtskultur in diese Zusammenhänge verstrickt und agiert oder reagiert auf seine, historiographische Weise. Innerwissenschaftliche Pendel- und Gegenbewegungen – von der Raum- zur Zeitwende; vielleicht auch weg vom herrschenden Konstruktivismus hin zu einer (scheinbar) elementaren Universalie – und generationelle Zyklen – z. B. die ›Wiederentdeckung‹ der Texte Reinhart Kosellecks nach zum Teil rund 30 Jahren –15 entfalteten und entfalten dann ihre eigene Dynamik. Die eingangs beobachteten Institutionalisierungsvorgänge – Sonderforschungsbereiche, Netzwerke, Forschungsgruppen, Studiengänge – werden das Thema schließlich noch eine Weile auf der Agenda halten. Der vorliegende Tagungsband trägt ebenfalls dazu bei – auch indem sein Herausgeber tut, was im Grunde alle Tagungsorganisatoren, Herausgeber, Autoren und Antragsteller tun: Sie konstatieren ein Desiderat, das anzugehen sie sich vornehmen, freilich nicht ohne sogleich das Tentative, Vorläufige und Unabgeschlossene des Unternehmens einzugestehen.16 Worin liegt das Forschungsdesiderat aus der Perspektive der Regionalgeschichte bzw. aus der des Landeshistorikers?

2. Zeit und Raum – ein Desiderat

In Selbstbezeichnung und Rahmenpapier der ›Erfurter RaumZeit-Forschung‹ wird – mittels Binnengroßschreibung auch graphisch – eine besondere Verbindung von Raum und Zeit als Forschungsmethode und -ziel postuliert. So heißt es, man gehe davon aus, »daß Räumlichkeit und Zeitlichkeit in ihrer Konstruiertheit lebens- und alltagsweltlich nicht voneinander zu trennen sind«, und – besonders für den vorliegenden Zusammenhang hilfreich – man ziele auf »Regionalisierung und Historisierung der temporal-spatialen Praktiken« ab.17 Instruktive Beispiele für die Umsetzung des Ansatzes sind die einzelnen Beiträge etwa zu den Workshops der Forschungsgruppe im Juli 2013 oder im Oktober 2014.18 Sichtet man die Literatur zum Thema, können die Versuche, Raum und Zeit in der Geschichte zusammenzudenken, allerdings nicht immer überzeugen, sei es weil entweder nur über Raum oder nur über Zeit gehandelt wird bzw. die beiden Dimensionen kaum in eine engere Verbindung zueinander gebracht werden oder weil auch noch den entlegensten Themen ein räumlicher oder zeitlicher Aspekt ›abverlangt‹ wird. Warum ist das Unternehmen offenkundig so schwierig? Daß es letztlich an unübersteigbaren epistemischen Hürden liegen könnte, daran, daß die Raum-Zeit-Dimension unserer Erfahrung unzugänglich ist, mag sein. Doch scheint gerade der ›Blick über die Grenze‹ zu faszinieren und dazu herauszufordern, angemessene Formen der historischen – auch der sprachlichen – Darstellung zu suchen und zu erproben. Aber auch aus dem Alltagsverständnis drängt sich eine Begründung auf: So ist Zeit als universelles Phänomen etwas »geradezu gefährlich Allgegenwärtiges«, wie der Sammelband zur ›Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit‹ weiß, so daß man »die Zeit – einmal thematisiert – überall entdeckt und nicht mehr sinnvoll disziplinär eingrenzen oder wissenschaftstheoretisch zuordnen kann«.19 Mit dem ›Raum‹ als abstrakter Größe verhält es sich kaum anders – ein Problem, das nicht gerade einfacher wird, wenn man beide Begriffe zusammennimmt.20

Andererseits läßt sich theoretisch der Zusammenhang zwischen Raumerfahrung und Zeitteilung gerade für vormoderne ›Anwesenheitsgesellschaften‹ nicht von der Hand weisen und verlangt nach systematischer Aufarbeitung, weil dadurch zugleich die Rahmenbedingungen für Interaktion und Kommunikation bewußt gemacht werden können.21 Gemeinsamer Raum und geteilte Zeit bedingen sich gegenseitig, Utopie korrespondiert mit Achronie ebenso wie Synchronie mit Syntopie. Austauschbar wirkende »Nicht-Orte«, wie sie der Soziologe Marc Augé für unsere Gegenwart beschreibt, sind dementsprechend zugleich Stätten hochgradiger zeitlicher Individualisierung.22 Es sind Supermärkte, Autobahnen, Tankstellen oder die virtuellen Räume des Internets, an denen Menschen grundsätzlich ungleichzeitig anwesend sein können und es idealerweise auch sein sollten – weil es andernfalls zu Staus kommt. Für die Betrachtung je geschichtlicher Koinzidenzen von Raumerfahrung und Zeitteilung bietet sich deshalb der Begriff der ›Synchronisation‹ an. Die »Kulturtechniken« ihrer Herstellung zu untersuchen hieße demnach, der geforderten Historisierung von Raum-Zeit-Phänomenen näher zu kommen.23

Tatsächlich eingelöst wurde dieser Anspruch jedoch bislang eher selten.24 Gerade die Landesgeschichte könnte dagegen als von konkreten Räumen ausgehende Disziplin wichtige Beiträge leisten und die abstrakten soziologischen Begriffe mit lebendiger Anschauung füllen. Hier nun setzt der vorliegende Band an. Seine Erträge lassen sich aufgrund zweier unterschiedlicher Erkenntnisrichtungen sortieren: Ein mikrohistorischer Ansatz zielt darauf ab, Zeitlichkeitsphänomene anhand eines Raumes in den Blick zu nehmen, ein regionalgeschichtlicher Ansatz fragt umgekehrt anhand der Zeit nach dem Raum, genauer: nach der Prägung eines Raumes durch Zeitordnungen, -begriffe und -erfahrungen. Wendet man Michel de Certeaus praxeologisches Raumverständnis auf beide Fragerichtungen an, dann entstehen sowohl Räume als auch Zeiten erst durch Handeln, d. h. durch ›Umgehen‹ mit Raum bzw. Zeit, sind also nicht schon ›an sich‹ existent. Dem doing space läßt sich ein doing time zur Seite stellen.25 Deren Verschränkung könnte dann – um im Jargon zu bleiben – mikrohistorisch als spacing time, als Verräumlichung von Zeit, regionalhistorisch als timing space, als Verzeitlichung von Raum, lesbar sein.

3. Zeit im Raum: ein mikrohistorischer Ansatz

In einem Beitrag für die ›Historische Zeitschrift‹ hat sich neuerdings Matthias Pohlig mit der geschichtstheoretischen Problematik von Beispiel und Fallstudie beschäftigt.26 Pohlig ruft einige wesentliche, doch in den meisten Fällen nur implizierte Voraussetzungen historischen Arbeitens in Erinnerung, die für die Regionalgeschichte als Disziplin von grundlegender Bedeutung sind: Dem deduktiven, von der Regel herkommenden ›Beispiel‹ kommt demnach eine belegende, wenigstens aber illustrierende Funktion in der Argumentation zu, das Gegenbeispiel besitzt dementsprechend widerlegende Wirkung oder kann als Ausnahme verbucht werden. Die induktive, zur Regel hinführende Fallstudie dagegen will modellhaft erklären oder verstehen helfen, was als allgemeines Phänomen gilt oder gelten soll. Bezugspunkt des mikrohistorischen Zugriffs ist deshalb immer die allgemeine Geschichte, der die Beschäftigung mit regionaler oder Ortsgeschichte ihren Stoff liefert.27 In diesem Sinne kann es auch als Aufgabe der hier versammelten Beiträge gelten, Illustrationen und Belege für ansonsten häufig leer bleibende Begriffe zu zeigen und nach der konkreten Verräumlichung abstrakter Zeitlichkeit (spacing time) zu fragen, etwa wenn vom Übergang von der ›Zyklizität‹ zur ›Linearität‹ des Zeitverständnisses im 18. Jahrhundert die Rede ist (D. Schiersner) oder von der ›Globalisierung‹ der Zeitvorstellungen (W. Scheffknecht).28 Nimmt man es methodisch genau, lassen sich allerdings die Postulate der allgemeinen Geschichte nur falsifizieren und – auch nicht durch noch so viele bestätigende Beispiele und Fallstudien – verifizieren. In diesem Sinne stellt nicht zuletzt die Dekonstruktion verbreiteter Interpretationen und modernisierungstheoretischer Meistererzählungen einen besonderen Reiz bei der regionalgeschichtlichen Arbeit an den hier behandelten Themen dar:

Verlief – um beispielhaft einige revisionistische Fragen aufzuwerfen – in der Vormoderne das Leben auf dem Land wirklich in den von Witterung und Vegetation vorgegebenen Geleisen nach ›natürlichen‹ Rhythmen und Strukturen (W. Rösener) oder zeigen die Verhältnisse vor Ort nicht vielmehr erheblich differenziertere, ›polyrhythmische‹ Zeitordnungen – vom Ablauf des Tages bis zur Ordnung biographischer Abschnitte (A. Sczesny)? Waren alter evangelischer und neuer katholischer Kalender im Alltag bikonfessioneller Räume tatsächlich so inkompatibel, daß sie abweichende Zeit- und Raumerfahrungen hervorbrachten, oder bewirkten nicht zuletzt ökonomische Motive die Etablierung geschmeidiger Kompromißlösungen, während umgekehrt die Konfliktlinien auch innerhalb ein und derselben Konfession verlaufen konnten? Ja, führte die kalendarische Spaltung am Ende sogar zu ungeahnten ›positiven‹ Effekten, z. B. bei der Intensivierung und Bürokratisierung von Herrschaft vor Ort (W. Petz und W. Scheffknecht)? Werden – zuletzt noch einmal sehr prominent gemacht durch Peter Hersches fulminante Darstellung des europäischen Barockzeitalters –29 die komplementären Meistererzählungen von der katholischen Mußepräferenz einerseits und der protestantischen Verfleißigung andererseits den konkreten regionalen Befunden, z. B. in Ostschwaben, überhaupt gerecht? Werden nicht insbesondere theologische Unterschiede und Entwicklungen innerhalb des Protestantismus zu wenig wahrgenommen (S. Holtz)? Erproben ließe sich auch eine andere Perspektive: Möglicherweise handelt es sich bei den konstatierten Gegensätzen ja eher um theologisch sekundär legitimierte Varianzen, die letztlich von unterschiedlichen agrarstrukturell-ökonomischen Grundlagen bedingt waren und sich im Spannungsfeld von vorkonfessionellem Askeseideal bzw. Kampf gegen sündhafte acedia und gewissermaßen anthropologisch konstantem Fest- und Feierbedürfnis ausprägten. Schließlich: Zu welchen tatsächlichen Veränderungen in der Lebens- und Arbeitspraxis führten die Feiertagsreduktionen im ausgehenden 18. Jahrhundert bei den Katholiken (G. Seiderer)? Möglicherweise werden ja sowohl die Vakanzwirkung des vorgängigen Feiertagskalenders als auch der Verfleißigungseffekt des neuen weit überschätzt. Ohnehin scheint die Entwicklung dann eine andere Richtung genommen zu haben. Denn das sich im 19. Jahrhundert ausprägende – bürgerliche – Konzept von ›Freizeit‹ war mit den ländlich-bäuerlichen Strukturen kaum in Einklang zu bringen.

Die skizzierten Fragestellungen sind dabei – trotz eines unverkennbaren Schwerpunktes auf der Frühen Neuzeit – nicht epochen-, sondern raumbezogen: In regionalen Grenzen unbegrenzte Längsschnitte vom Mittelalter bis zur Gegenwart können den Blick für Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten der (auf den jeweiligen Raum bezogenen) Zeitordnungen, -begriffe und -erfahrungen schärfen und ebenfalls zur Relativierung gängiger Topoi beitragen. Zumindest für zwei Jahrhunderte von 1600 bis 1800 hat beispielsweise Nicolas Disch in seiner Dissertation einen entsprechenden Versuch unternommen und die Zeitkultur der Menschen einer alpinen Region untersucht;30 in seinem Beitrag zu den Zeitvorstellungen in der Herrschaft Engelberg kann er aus der Fülle eigener Forschungsergebnisse schöpfen. Noch ungeschrieben ist dagegen die Fallstudie, die den Wandel von Zeitlichkeit auf allgemeingeschichtlicher Ebene am überschaubaren, zugleich aber hinreichend heterogenen, nicht nur herrschaftlich, sondern auch wirtschaftlich, sozial und konfessionell-kulturell kleingekammerten Modell ›Ostschwaben‹ verständlich machen kann. Die hier versammelten Aufsätze lassen sich aber zum Teil – auch – als Beiträge oder Vorarbeiten dazu verstehen.

4. Raum in der Zeit: ein regionalgeschichtlicher Ansatz

In der Dissertation von Nicolas Disch fungiert Zeit umgekehrt aber auch als Sonde, um sich einer vergangenen Lebenswelt zu nähern und sie besser zu begreifen. Die Auseinandersetzung mit Zeit vermag wichtige Einsichten über die Beschaffenheit jenes Raumes zu vermitteln, auf den sie sich bezieht: In der Zeit lesen wir den Raum, könnte man sagen. Timing space im Sinne des regionalgeschichtlichen Ansatzes nimmt auf diesen Zusammenhang Bezug. Zeitordnungen, -begriffe und - gefühle der Menschen – so wird vorausgesetzt – besitzen raumschaffende Wirkung und tragen zur Genese spezifischer und charakteristischer Räume bei, sei es der Raum eines Klosters, eines Mietshauses, eines Stadtviertels, einer Reichsstadt oder einer flächigen Region: Zu den Räumen, die sie sind, werden sie durch Stundengebet, Kehrwoche, Sabbat, Schwör- und Markttage oder Eisenbahnzeit. Die Ambivalenz der Vorgänge liegt auf der Hand: Gemeinsame Raumerfahrungen führen zu untereinander geteilten Zeiten, umgekehrt bringen gemeinsame Zeiten auch wieder untereinander geteilte Raumerfahrungen mit sich.

Zu fragen ist deshalb nach der Genese der Repräsentationen und Praktiken von Zeitregimen und Zeitverhalten, an denen herrschaftliche Setzungen, kollektive Übereinkünfte, provozierende Gegenmodelle und subversive Taktiken jeweils ihre sich wandelnden Anteile besitzen. Kirchlich oder obrigkeitlich bzw. staatlich verordnete Zeit(en) – die Londoner Tagung ›Tales about time‹ sprach von programmatischen »chronopolitics« und pragmatischer »chronopolicy« –31 wie die beiden konfessionellen Zeitstile seit 1582 (W. Petz; vgl. W. Scheffknecht) oder das Normaljahr 1624 (R.-P. Fuchs) bzw. die zahllosen Policeyordnungen, Predigten und Traktate mit ihren Vorstellungen von moralisch-sittlich definierter ›Recht-Zeitigkeit‹ bzw. gebotener Zeit-›Nutzung‹ (S. Holtz; G. Seiderer)32 sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie jene kosmologisch-biologisch sich aufdrängenden Zeitabläufe, die sich z. B. aus Jahreslauf und Vegetationsperiodik (W. Rösner) oder aus den biographischen Eckdaten von Geburt und Tod und dem Heranwachsen und Altern dazwischen (B. Rajkay) ergaben. Provozierende Gegenzeiten konnten nicht nur einem gemischtkonfessionellen Raum seinen spezifischen Charakter verleihen, auch das Nebeneinander von Christen und Juden in Schwaben (R. Kießling), von heterogenen sozialen Schichten in den vormaligen Ackerbürgerstädten seit der Industrialisierung (G. Klein) oder die von den Seßhaften als Achronie empfundene ›Eigenzeit‹ der Nichtseßhaften (G. Ammerer) lassen sich unter dieser Zeit-Perspektive betrachten. Gerade Ostschwaben als in Spätmittelalter und Früher Neuzeit charakteristischer Wirtschaftsraum hat dazu angeregt, die enge Verbindung von ökonomischen und temporalen Strukturen freizulegen und etwa nach den raumschaffenden Wirkungen zeitlich aufeinander bezogener, getakteter lokaler und regionaler Märkte zu fragen; Rolf Kießling hat die Zusammenhänge als »komplexe[s] System von Marktorientierungen« beschrieben.33 Der Blick auf die lokalen ländlichen Verhältnisse zeigt, welche Folgen ökonomisch bedingt unterschiedliche – in ihrer Gesamtheit komplexe – temporale Orientierungen für das gemeinsame Leben vor Ort im 18. Jahrhundert haben konnten (A. Sczesny).

Die hier vorgestellten Zeit-Sonden ließen sich zweifellos ergänzen: Substantielle Erweiterungen wären vor allem im Bereich der Historiographie wünschenswert: Die Geschichtsschreibung eines Bezugsraumes, die Stadt- oder Klosterchronistik, aber ebenso auch die moderne Landesgeschichte leisteten und leisten einen kaum zu unterschätzenden Beitrag zur Raumkonstitution, indem sie die geschichtliche Darstellungszeit auf ihren (Untersuchungs-)Raum beziehen, sie entsprechend strukturieren und interpretieren und dabei zugleich die Erinnerung der Rezipienten mit diesem oder jenem Raum verknüpfen. Vergangene Zeit wird vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, im Medium der Historiographie zur gemeinsamen Geschichte eines Raumes.34 Generell als hilfreich könnte sich bei den behandelten Fragestellungen auch eine systematische Einbeziehung der Zeitbegrifflichkeit in Dialekt bzw. Sprachgeschichte erweisen.35 Schwerer als solche Fehlanzeigen wiegt jedoch das methodische Problem einer latenten Zirkularität des regionalgeschichtlichen Ansatzes, geradezu zwangsläufig den einmal der Untersuchung zugrundegelegten Raum auch hinsichtlich seiner Zeitlichkeit einmal mehr als historisch konsistent zu bestätigen. Nicht prinzipiell aufgehoben, aber entschärft wird die Problematik dort, wo der Vergleich mit anderen Räumen und Regionen geleistet werden kann und darüber hinaus vermutliche Grenzräume und -säume Berücksichtigung finden (vgl. insbesondere W. Scheffknecht).

5. Rhythmus und Region – das praxeologische Verständnis

Nicht nur dem Reiz der Alliteration geschuldet ist die Formulierung in der Überschrift des Tagungsbandes ›Rhythmus und Region‹. Denn die begriffliche Engführung bringt Schärfe in das abstrakte Raum-Zeit-Konzept und wird der faktischen Integration der Dimensionen von Raum und Zeit eher gerecht. Was die spatialen Begrifflichkeiten angeht, liegen die Dinge etwas komplexer, weil ›Raum‹ sowohl als Abstraktum entsprechend ›Zeit‹ verwendet wird – in diesem Sinn häufiger noch das Adjektiv ›räumlich‹ und vollends dann das lateinische ›spatial‹. Andererseits aber wird dieser abstrakte Sinn an vielzitierter, übersetzter Stelle, nämlich in Michel de Certeaus (1925–1986) ›Kunst des Handelns‹, mit dem Begriff ›Ort‹ apostrophiert, während ›Raum‹ bei ihm den bereits durch (menschliches) Handeln veränderten ›Ort‹ bezeichnen soll: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«.36 In dieser Einführung und auch in den meisten Beiträgen wird dagegen der ›Raum‹-Begriff auf beiden Bedeutungsebenen, der abstrakten wie der konkreten, benutzt, zum einen – um einer begrifflichen Differenzierung Maurice Merleau-Pontys (1908–1961) zu folgen – im Sinne eines ›geometrischen Raumes‹, zum anderen im Sinne eines ›anthropologischen Raumes‹. Durch ursprüngliche Bewegung oder schließlich jede Art der Kommunikation wird der eine geometrische Raum erschlossen und in viele, von einander unterschiedene anthropologische Räume gegliedert. Die Problematik muß an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.37 Es genügt vorerst festzuhalten, daß eine ›Region‹ in jedem Fall – weil durch je historische Konstruktionsleistung hervorgebracht – ein solcher certeauscher ›Raum‹ ist.

In vergleichbarer Weise läßt sich auch die temporale Dimension differenzieren und ›Rhythmus‹ von ›Zeit‹ abgrenzen. Denn ›Rhythmus‹ ist nichts anderes als das Ergebnis einer Strukturierungsleistung des Menschen oder doch die Kultivierung einer – kosmologischen, klimatischen, vegetativen oder sonstigen – natürlichen Struktur.38 Die zugrundeliegende Ordnungsvorstellung wird in der – meist lateinisch zitierten – musiktheoretischen Definition Platons vom ›Rhythmus‹ im Sinne von ›Rhythmisierung‹ als ordo motus bzw. im Sinne des Rhythmisierungsergebnisses als motus ordinatus greifbar, während das Künstliche – ›Artifizielle‹ – jeder Kultivierung in Augustins Formel vom Rhythmus als einer ars bene movendi anklingt.39 In ähnlicher Weise umschreibt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht (geb. 1948) in einem – allerdings literaturwissenschaftlich argumentierenden Essay – über ›Rhythmus und Sinn‹ den »Rhythmus« als »das Gelingen von Form unter der (erschwerenden) Bedingung von Zeitlichkeit«.40

Im ›Handbuch Historische Anthropologie‹ findet sich unter dem Stichwort ›Zeit‹ ein inspirierender Essay von Wolfgang Kaempfer (1923–2009), der den Rhythmus von der nicht-rhythmisierten Zeit abgrenzt.41 Auf der Grundlage von Edmund Husserls (1859–1938) Überlegungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins unterscheidet Kaempfer eine – dem Rhythmus entsprechende – reversible, weil in Zyklen und Phasen wiederholbare ›Verkehrszeit‹ von einer irreversiblen bzw. einzigartigen, als »Zeitpfeil« visualisierbaren ›Geschichtszeit‹:

»Während die Verkehrszeit formbildend und -bewahrend ist, d. h. die Systeme erhält, stabilisiert, konstituiert und restituiert, sorgt die Geschichtszeit für die Veränderung der Systeme, für Wachstum und Verfall, Entstehen und Vergehen. Die Geschichtszeit wird also nicht wiederkehren können, die Verkehrszeit muß dagegen wiederkehren können, weil sich die Systeme anders nicht erhalten könnten.«42

Kaempfer versucht im folgenden, die komplementäre Dichotomie von Verkehrs- und Geschichtszeit zu historisieren und schreibt der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ›entfesselten Verkehrszeit‹ den ›Bruch des Zeitgetriebes‹ zwischen 1890 und 1914 zu,43 also einem Abschnitt der deutschen und europäischen Geschichte, der auch schon als ›Zeitalter der Nervosität‹ (Joachim Radkau) bekannt gemacht wurde.44 Man muß dieser auch aufgrund der essayistischen Form zugespitzt vorgetragenen Interpretation nicht unbedingt folgen, um zu bemerken, daß das Erkenntnisinteresse dieses Sammelbandes auf die hier so bezeichnete ›Verkehrszeit‹ gerichtet ist, auf reversibel gemachte und gedachte Zeiten. Ihre je historische Konstruktion ist nicht nur Ausdruck einer kulturellen Leistung des Menschen, sondern offenbar auch seines anthropologischen Bedürfnisses nach »Wiederholung«, die der Philosoph Bernhard Waldenfels »Rettung aus der Zeit«, also wohl der kaempferschen ›Geschichtszeit‹, nennt, weil das Wiederholen – die Nähe zum ›Ritual‹ ist offenkundig – den »hartnäckige[n] Versuch« darstelle, »dem Wandel, der alles Bestehende und Erworbene bedroht, mit einer Ordnung des Wandels zu begegnen. Man hebt etwas heraus oder hervor, das in seiner Selbigkeit beharrt und auf diese Weise dem Wandel entrückt ist.«45

Wiederholen indes bedeutet nicht nur striktes Repetieren, sondern läßt das – auch zeitliche – Variieren und Modifizieren, das Steigern und sogar das die Ordnung im Hiatus noch bestätigende Entfallen-Lassen zu. Ergebnis sind Rhythmen mit langer Phase – päpstliche Jubeljahre, Reformationsjubiläen oder Millennien – ebenso wie kurz getaktete – Stundengebete, Schichtbetrieb oder Unterrichtsstunden. Teilen Menschen diese Rhythmen, leben sie in ›Gemeinsamen Rhythmen‹ (I.) – womit zugleich die erste Gruppe der Beiträge zu diesem Buch überschrieben sei – und es liegt – in der Begrifflichkeit der Rhythmusanalyse Henri Lefebvres – ›Isorhythmie‹ vor.46 Von ›Polyrhythmie‹ läßt sich dagegen sprechen, wenn die allen gemeinsame ›Zeit‹ geteilt und in unterschiedliche Rhythmen gegliedert ist, also synchronisierte Verschiedenheit herrscht. Das zweite Kapitel faßt deshalb Aufsätze zusammen, die sich mit ›Geteilter Zeit‹ befassen (II.). Verläuft die Teilung der gemeinsamen Zeit dabei reibungsfrei und harmonisch, waltet ›Eurhythmie‹, andernfalls verweist die unmögliche oder sehr erschwerte praktische Synchronisation der Ordnungen, die ›Arrhythmie‹, auf dahinter stehende divergierende Zeitkonzepte: Die gemeinsame Zeit wird kontrovers und zerfällt – so das dritte Kapitel – in konkurrierende ›Kontroverse Zeiten‹ (III.). Es ist dabei nur eine Frage des Blickwinkels, ob – beispielsweise – die ›Zeit‹ der Nichtseßhaften (G. Ammerer), der Juden (R. Kießling) oder der Arbeiter (G. Klein) aus der Binnenperspektive als die Zeit einer homogenen Gruppe betrachtet wird (Isorhythmie) oder im Hinblick auf die mit den Seßhaften, den Christen oder den Bauern geteilten Zeit (Polyrhythmie) bzw. ob dabei sogar das Konfliktpotential ihrer kontroversen Zeitbegriffe überwiegt (Arrhythmie).

Untersucht werden dabei jeweils ›Zeitordnungen‹, die, unterschiedlich dicht gestaltet und in irgendeiner Weise be- und gemessen, ganz wörtlich, mit bestimmten Begriffen beschrieben werden und die sich, in abstrakterer Lesart, jeweils auf einen Begriff, eine Vorstellung, ein Konzept von Zeit zurückführen lassen: Es sind astronomische, kalendarische und horologische Maße, aber auch Zeitregime und -politiken. Unter ›Zeitbegriffe‹ werden daher auch alle – religiösen bzw. konfessionellen und säkularen – Letztbegründungen für diese oder jene Zeitordnung subsumiert oder, allgemeiner, alle jeweils kulturell denkmöglichen und legitimen Deutungsangebote. Sie bringen – ganz umfassend – ›Recht-Zeitigkeit‹ und natürlich deren inkriminiertes Gegenteil hervor.47 Die ›Entdeckung‹ der Pünktlichkeit beispielsweise, der Rechtzeitigkeit im engsten Sinne, bedurfte nicht nur eines uhr-zeitlichen Begriffes vom Zeitpunkt, sondern auch einer das Zuspätkommen sanktionierenden kulturellen Norm.48 ›Zeitgefühle‹ schließlich meint die vor dem Hintergrund der normativen Zeitbegriffe immer auch emotional konnotierten Erfahrungen der Menschen mit Zeitlichkeit, mit der Endlichkeit ihres Lebens hin zum Tod (B. Rajkay) ebenso wie mit der Vergänglichkeit der geschichtlichen Welt hin zur Apokalypse (A. Link). Dazu zählen religiös grundierte Vanitasempfindungen und Endzeitängste, aber auch profane Beschleunigungsgefühle, chronomane Rauschzustände oder die Auserwähltheitssuggestion bestimmter Generationen.

Wie nun hängen Raum und Zeit zusammen? Rhythmus und Region, Rhythmen und Regionen sind jeweils Konstrukte, die durch Handeln im weitesten Sinne erst entstehen, kulturelle Schöpfungen, Gliederungen von Ort bzw. geometrischem Raum und Zeit. Das Ordnen der Zeit, ihr ›Rhythmisieren‹ findet immer innerhalb konkreter Räume oder im Hinblick auf konkrete Räume statt, auf die sich das Rhythmisieren als Handeln im Sinne eines spacing time bezieht. Der Umgang mit Zeit – das Messen und Strukturieren, das Entstehen und Vergehen begründender Konzepte und die jeweils damit verknüpften Erfahrungen der Zeit-Genossen – prägt dabei aber auch den Raum im Sinne eines timing space, genauer: Es bringt den anthropologischen Raum allererst hervor. Insofern gilt: Regionen sind rhythmisierte Räume.

1https://exzellenzcluster.uni-konstanz.de/zeitkulturen.html?&L=1Andreas (aufgerufen am 28.3.2015).

2 Insbesondere fand im Juli 2013 ein Symposium ›Taktungen. Zeiten. Rhythmen. Räume‹ statt (5. Workshop der Erfurter RaumZeit-Forschungseinheit, 26.7.2013–27.7.2013 Erfurt, in: H-Soz-Kult, 4.7.2013, http://www.hsozkult.de/event/id/termine-22288). – Mitinitiiert wurde die Arbeitsgruppe von der 2009 an der Universität Erfurt eingerichteten Heisenberg-Professur mit der Denomination ›Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit‹, die Susanne Rau bekleidete.

3 Unter anderem eine Konferenz zu ›Praxen der Zeitlichkeit‹: Thema waren »Techniken der Zeitmessung« ebenso wie »konkrete Handlungsvollzüge, in denen Zeitkonzepte zum Ausdruck gebracht wurden« (Tagungsbericht: Arbeitstreffen des DFG-Netzwerks ›Zeitenwelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter‹, 12.4.2013–13.4.2013 Göttingen, in: H-Soz-Kult, 24.7.2013, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4936).

4 ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter. Abschlußtagung des DFG-Netzwerks, 16.4.2015–18.4.2015 Essen, in: H-Soz-Kult, 20.2.2015, http://www.hsozkult.de/event/id/termine-27193.

5 Tagungsbericht: ›Tales about time‹. Temporality, modernity and the order of time, 29.11.2012–30.11.2012 London, in: H-Soz-Kult, 23.3.2013, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4731.

6 Tagungsberichte: ›Zeit-Geschichte(n)‹. Zeitwahrnehmungen und -praktiken (ca. 1400– 1700), 21.6.2013 Berlin, in: H-Soz-Kult, 14.1.2014, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5172; Zeit – Planung – Emotionen. Zur Anwendbarkeit temporaler Analysekategorien in der Planungs- und Emotionsgeschichte, 22.11.2013 München, in: H-Soz-Kult, 27.3.2014, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5259. – Vgl. – als glänzendes Beispiel für die gelungene Integration von Zeit- und Emotionsforschung – die Studie von MARTINA KESSEL, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001, sowie die Beiträge aus unterschiedlichen Fachdisziplinen im Sammelband von HARTMUT HELLER (Hg.), Gemessene Zeit – Gefühlte Zeit. Tendenzen der Beschleunigung, Verlangsamung und subjektiven Zeitempfindens, Münster 2006.

7 CHRISTIAN KASSUNG/THOMAS MACHO (Hg.), Kulturtechniken der Synchronisation (Reihe Kulturtechnik), München 2013.

8 Die Eröffnung der Ausstellung ›Synchron. Wie Zeit unsere Kultur prägt‹ fand am 6.2.2012 im neu eröffneten Pergamon-Palais in Berlin statt (https://www.hu-berlin.de/pr/pressemitteilungen/pm1201/pm_120131_00 [aufgerufen am 26.3.2015]).

9 ARNDT BRENDECKE/RALF-PETER FUCHS/EDITH KOLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung und Autorität 10), Berlin 2007. – Vgl. die verschiedenen Beiträge des Mitherausgebers mit einem Schwerpunkt auf der historischen und historiographischen Wahrnehmung von Jahrhundertwenden und Zeitschwellen, z. B. ARNDT BRENDECKE, Fin(s) de siècle und kein Ende. Wege und Irrwege der Betrachtung von Jahrhundertwenden, in: HZ 268 (1999), S. 107-120; DERS., Die Erfindung des Jahrhunderts, in: KLAUS PETER DENCKER (Hg.), Die Politik der Maschine. Computerodyssee 2001 (Interface 5), Hamburg 2002, S. 114–123. – Vgl. jetzt auch ACHIM LANDWEHR (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 11), Bielefeld 2012, sowie darin insbesondere die Einleitung von DEMS., Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, S. 9–40, sowie speziell zu Zeitvorstellungen in der Aufklärung WOLFGANG SCHMALE (Hg.), Time in the Age of Enlightenment. 13th International Congress for 18th-Century Studies (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 27), Bochum 2012.

10 Grundlegend bereits JOHANN CHRISTOPH GATTERER, Abriß der Chronologie, Göttingen 1777; vgl. HERMANN GROTEFEND, Abriss der Chronologie des deutschen Mittelalters und der Neuzeit (Grundriss der Geschichtswissenschaft, Reihe 1: Historische Hilfswissenschaften und Propädeutik 3), 2. Aufl. Leipzig 1912; DERS., Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 14. Aufl. Hannover 2007 (1. Aufl. 1898); ANNADOROTHEE VON DEN BRINCKEN, Historische Chronologie des Abendlandes. Kalenderreformen und Jahrtausendrechnungen. Eine Einführung, Stuttgart 2000; THOMAS VOGTHERR, Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, 2., durchges. Aufl. München 2006; speziell zum Kalender darüber hinaus THOMAS SCHMIDT, Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit, Göttingen 2000; WOLFGANG HAMETER/META NIEDERKORN-BRUCK/MARTIN SCHEUZ (Hg.), Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen im Abendland von der Antike bis zur Neuzeit (Querschnitte 17), Innsbruck 2005. Vgl. neuerdings die umfangreiche – insbesondere auch hilfswissenschaftlich orientierte – Studie von DIRK STEINMETZ, Die Gregorianische Kalenderreform von 1582. Korrektur der christlichen Zeitrechnung in der Frühen Neuzeit, Oftersheim 2011.

11 Besondere Beachtung fand über Jahre hinweg das Thema in ›Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft‹, hg. von CHRISTIAN ROTTA. Das Aprilheft 1993 hatte den »Schwerpunkt: Ökologie der Zeit«, und im selben Jahr erschien in der ›Edition Universitas‹ auch ein eigener Sammelband zum selben Thema: MARTIN HELD/KARLHEINZ A. GEISSLER (Hg.), Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße, Stuttgart 1993. – Vgl. als neueres Beispiel für eine multidisziplinär-populäre Publikation zum Thema ADAM HARTDAVIS, Das Buch der Zeit, Darmstadt 2012 (engl. Original London 2011).

12 Seine seit 1982 erschienenen Vorträge und Texte zum Thema stellte Reinhart Koselleck im Jahr 2000 zu einem Sammelband zusammen: REINHART KOSELLECK, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/ Main 2000. – Trotz des Titels ohne Reflexion der Zeit- Problematik ist PHILIPPE ARIÈS, Zeit und Geschichte, Frankfurt/ Main 1988 (franz. Original u. d. T. ›Le temps de l’histoire‹, Paris 1986). – GERHARD DOHRN-VAN ROSSUM, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, Köln 2007 (Originalausgabe München 1992), bezieht im zeitlichen Längsschnitt von der Antike bis zur Moderne Beobachtungen zur Sachkultur bzw. Technikgeschichte und kulturgeschichtliche Fragestellungen aufeinander. – Für den vorliegenden Zusammenhang besonders hervorzuheben ist ein mediävistischer Sammelband: PETER DILG/GUNDOLF KEIL/DIETZ-RÜDIGER MOSER (Hg.), Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenver-bandes in Göttingen 1993, Sigmaringen 1995; vgl. WERNER SULZGRUBER, Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters 4), Hamburg 1995; TRUDE EHLERT (Hg.), Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, Paderborn 1997.

13 Vgl. anstelle vieler weiterer Hinweise z. B. STEFAN RIEGER, Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung, Berlin 2012. – Unter den Beiträgen philosophischer Provenienz sind aktuell zwei wegen ihrer breiten Rezeption besonders hervorzuheben: RÜDIGER SAFRANSKI, Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015; sowie in 3. Auflage innerhalb eines Jahres RALF KONERSMANN, Die Unruhe der Welt, Frankfurt/Main 2015.

14 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Beschleunigungserfahrung der Moderne insbes. HARTMUT ROSA, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/ Main 2005; ALEIDA ASSMANN, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013. Im diagnostischen Urteil letztlich vergleichbar sind auch FRANÇOIS HARTOG, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, 2. Aufl. Paris 2012 (1. Aufl. 2003), sowie der Tenor der Sammelbände von ELIZABETH SHOVE/FRANK TRENTMANN/RICHARD WILK (Hg.), Time, Consumption and Everyday Life. Practice, Materiality and Culture, 2. Aufl. Oxford 2013 (1. Aufl. 2009), oder von CHRIS LORENZ/BERBER BEVERNAGE (Hg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future (Schriftenreihe der FRIAS School of History 7), Göttingen 2013. Vgl. auch R. KONERSMANN, Unruhe (Anm. 13).

15 R. KOSELLECK, Zeitschichten (Anm. 12). – Vergleichbare Wirkung auf die Rezeption könnte auch von der Neuedition von zwischen 1984 und 2004 erstmals publizierten Texten von HANS ULRICH GUMBRECHT, Präsenz, Berlin 2012, ausgehen.

16 Vgl. den erfrischend (selbst-)ironischen Essay von ANNETTE VOWINCKEL, Kritik der Forschungslücke, in: Werkstatt Geschichte 22 (2013), S. 43–48.

17 Rahmenpapier der Erfurter RaumZeit-Forschung vom 21.2.2012, 7 S. (https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/public-docs/Ostasiatische_Geschichte/Rahmenpapier%20Erfurter %20 RaumZeit_Forschung.pdf [aufgerufen am 28.3.2015]), hier 4 (Hervorhebung im Original).

18 Tagungsberichte: Taktungen. Zeiten. Rhythmen. Räume., 26.7.2013–27.7.2013 Erfurt, in: H-Soz-Kult, 28.8.2013, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4982;Raumzeitlichkeit des Imperialen, 8.10.2014–11.10.2014 Erfurt, in: H-Soz-Kult, 13.1.2015, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5790.

19 A. BRENDECKE/R.-P. FUCHS/E. KOLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 9.

20 Zeit und Raum kombinierende Veröffentlichungen finden sich dementsprechend zahlreich auch in den Nachbardisziplinen. Anstelle vieler Einzelnachweise nur beispielhaft zitiert sei ein literaturgeschichtlicher Beitrag von LUTZ GÖTZE, Zeit-Räume – Raum-Zeiten. Gedanken über Raum und Zeit in den Kulturen (Im Medium fremder Sprachen und Kulturen 18), Frankfurt/ Main 2011.

21 Vgl. jetzt grundlegend RUDOLF SCHLÖGL, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, bes. S. 111–115.

22 MARC AUGÉ, Nicht-Orte, 3. Aufl. München 2012 (Originalausgabe Paris 1992).

23 Vgl. CHR. KASSUNG/TH. MACHO (Hg.), Kulturtechniken der Synchronisation (Anm. 7).

24 Vgl. als Beispiele für konkreten Raumbezug JAKOB MESSERLI, Gleichmässig – pünktlich – schnell. Zeiteinteilung und Zeitgebrauch in der Schweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 1995; RALF-PETER FUCHS, Die Autorität von ›Normaljahren‹ bei der kirchlichen Neuordnung nach dem Dreißigjährigen Krieg – Das Fürstbistum Osnabrück und die Grafschaft Mark im Vergleich, in: A. BRENDECKE/R.-P. FUCHS/E. KOLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 353–374; HANS-BERND SPIES, Zeitrechnung und Kalenderstile in Aschaffenburg und Umgebung. Ein Beitrag zur regionalen historischen Chronologie (Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, Bh. 3), Aschaffenburg 2009, S. 52–56.

25 Vgl. ANDREAS RUTZ, Doing territory! Politische Räume als Herausforderung für die Landesgeschichte nach dem spatial turn, erscheint vorauss. 2015 in: SIGRID HIRBODIAN/ CHRISTIAN JÖRG/SABINE KLAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1). Beiträge zur Tagung vom 6.–8.6.2013 in Tübingen.

26 MATTHIAS POHLIG, Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem, in: HZ 297 (2013), S. 297–319.

27 Vgl. zu beiden Erkenntnisrichtungen bzw. zum Zusammenhang von Regional- und allgemeiner Geschichte mit Beispielen auch DIETMAR SCHIERSNER, Überblick von unten – oder: ein kleines Reich. Was hat die Regionalgeschichte der Reichsgeschichte zu sagen?, in: JOHANNES BURKHARDT/MAX SAFLEY/SABINE ULLMANN (Hg.), Geschichte in Räumen FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 295–322; DERS., Alter Zopf oder neue Chance? – Regionalgeschichte in Historiographie und Geschichtsunterricht, in: GWU 62 (2011), S. 50–60.

28 Vgl. auch die kritischen Anmerkungen zur scheinbaren Evidenz solcher ›Paradigmenwechsel‹ in der Forschung von A. BRENDECKE/R.-P. FUCHS/E. KOLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 13 (Einleitung).

29 PETER HERSCHE, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg/ Br. 2006; vgl. DERS., Gelassenheit und Lebensfreude. Was wir vom Barock lernen können, Freiburg/ Br. 2011.

30 NICOLAS DISCH, Hausen im wilden Tal. Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600–1800) (Norm und Struktur 41), Wien 2012. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt bereits CORNELIA BRINK, Zeiterfahrung im Paderborner Land vor der Industrialisierung, Büren-Wewelsburg 1998, in einem ›Themenheft‹ des Historischen Museums des Hochstifts Paderborn.

31 Vgl. den Tagungsbericht (Anm. 5).

32 Vgl. KARL HÄRTER, Zeitordnungen und ›Zeitverbrechen‹: Reglementierung, Disziplinierung und Fragmentierung von Zeit in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: A. BRENDECKE/R.-P. FUCHS/E. KOLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 187–232. – Siehe auch die Quellensammlung von PAUL MÜNCH (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«, München 1984.

33 ROLF KIESSLING, Kleinräumige Jahrmarktzyklen in Schwaben. Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes im Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit, in: HANS-PETER BECHT/JÖRG SCHADT (Hg.), Wirtschaft – Gesellschaft – Städte. FS für Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag, Ubstadt-Weiher 1998, S. 139–156, hier 139.

34 Erinnert sei nur an das immer neu zitierte Diktum von der »glückhaften Rückständigkeit« Oberschwabens, mit dem die zeitgenössische Geschichtsschreibung (und Literatur) einer Region im Grunde den sie – ob tatsächlich oder vermeintlich, ist hier unerheblich – charakterisierenden ›Zeit-Stempel‹ aufgedrückt hat. Dazu zusammenfassend ELMAR L. KUHN, Glückhafte Rückständigkeit?, in: Mitteilungen der Gesellschaft Oberschwaben 9 (2010), S. 180–191; vgl. auch die Tagung ››Glückhafte Rückständigkeit‹? Kulturregion Oberschwaben‹ am 23.11. 2001 in Schwendi. Konzeption und Beiträge der Tagung sowie ein Resümee liegen vor in: Mitteilungen der Gesellschaft Oberschwaben 4 (2002), S. 9–85 (http://www.oberschwaben-portal.de/inhalte-ausgabe/items/oberschwaebische-modelle.html [aufgerufen am 8.9.2015]).

35 Zur historischen Sprechgeschwindigkeit des Engelberger Dialektes finden sich Bemerkungen bei N. DISCH, Hausen im wilden Tal (Anm. 30), S. 490f.

36 MICHEL DE CERTEAU, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218. – Vgl. MARIAN FÜSSEL, Tote Orte und gelebte Räume. Zur Raumtheorie von Michel de Certeau S. J., in: Historical Research 38,3 (2013), S. 22–39; sowie jetzt auch im Zusammenhang und Überblick SUSANNE RAU, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt/ Main 2013.

37 Zum unterschiedlichen Gebrauch der Raum-Begriffe vgl. DIETMAR SCHIERSNER, Räume der Kulturgeschichte – Räume der Landesgeschichte: Affinitäten, Divergenzen, Perspektiven, in: S. HIRBODIAN/CHR. JÖRG/S. KLAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Anm. 25).

38 Vgl. als wichtigen Markstein für die Erforschung von historischen Rhythmen P. DILG/ G. KEIL/D.-R. MOSER (Hg.), Rhythmus und Saisonalität (Anm. 12).

39 Vgl. FRANCISCO DE SALINAS, De musica libri septem in quibus eius doctrinae veritas tam quae ad harmoniam, quam quae ad rhythmum pertinent, iuxta sensus ac rationis iudicium ostenditur, & demonstratur, Salmanca 1577, S. 235–237 (Volltext online verfügbar: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10148098_00249.html).

40 HANS ULRICH GUMBRECHT, Rhythmus und Sinn, in: DERS., Präsenz (Anm. 15), S. 223– 239, hier 227.

41 WOLFGANG KAEMPFER, Zeit, in: CHRISTOPH WULF (Hg.), Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim 1997, S. 179–197.

42 W. KAEMPFER, Zeit (Anm. 41), S. 183.

43 W. KAEMPFER, Zeit (Anm. 41), S. 190, 194.

44 JOACHIM RADKAU, Technik, Tempo und nationale Nervosität. Die Jahrhundertwende als Zäsur im Zeiterleben, in: M. HELD/K. A. GEISSLER (Hg.), Ökologie der Zeit (Anm. 11), S. 151–168; JOACHIM RADKAU, Geschichte der Nervosität, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 49 (1994), S. 533–544.

45 BERNHARD WALDENFELS, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt/Main 2009, S. 176.

46 HENRI LEFEBVRE, Eléments de Rythmanalyse. Introduction à la Connaissance des Rythmes, Paris 1992; englische Übersetzung: DERS., Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life, London 2004. Vgl. die instruktiven Ausführungen im Vortrag von SUSANNE RAU, Rhythmusanalyse nach Lefebvre am Beispiel eines Messekalenders aus dem 16. Jahrhundert auf der Tagung ›Taktungen. Zeiten. Rhythmen. Räume‹ (Tagungsbericht Anm. 18).

47 Vgl. STEFAN EHRENPREIS, Zeitkonzepte im frühneuzeitlichen Erziehungs- und Schulwesen, in: A. BRENDECKE/R.-P. FUCHS/E. KOLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 171–186; K. HÄRTER, Zeitordnungen und ›Zeitverbrechen‹ (Anm. 32); EDITH KOLLER, Die Suche nach der richtigen Zeit – Die Auseinandersetzung um die Autorisierung der Gregorianischen Kalenderreform im Alten Reich, in: A. BRENDECKE/R.-P. FUCHS/ E. KOLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 233–255; KLAUS SCHREINER, »Abwuerdigung der Feyertage« – Neuordnung der Zeit im Widerstreit zwischen religiöser Heilssorge und wirtschaftlichem Fortschritt, in: A. BRENDECKE/R.-P. FUCHS/E. KOLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 257–304.

48 Vgl. WOLFGANG BEHRINGER, Pünktlichkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit 10 (2009), Sp. 555–557.

I. Gemeinsame Rhythmen

WERNER RÖSENER

Bäuerliches Zeitverständnis im Rhythmus von Natur, Jahreslauf und Alltag in der Vormoderne

1. Einleitung

Vor mehr als hundert Jahren, und zwar im Jahre 1892, stellte Gustav Bilfinger in einer interessanten Studie fest, daß die Technikgeschichte allein nicht in der Lage sei, den Übergang von der mittelalterlichen zur modernen Zeitrechnung zu erklären.49 Vielmehr sei dabei neben dem technischen Aspekt ein sozialer und kulturgeschichtlicher Gesichtspunkt viel allgemeinerer Art ins Auge zu fassen. Denn der Übergang habe nicht nur von der antiken zu einer modernen Stunde, sondern zugleich von einer kirchlichen zu einer weltlichen Zeiteinteilung stattgefunden.50 Am Beispiel der oberitalienischen Stadtkommunen und besonders der Stadt Florenz hat Jacques Le Goff 1963 im Anschluß an Bilfinger auf den fundamentalen Wandel der Zeitordnung im Rahmen der Stadtwirtschaft des 14. Jahrhunderts hingewiesen.51 Nach Auffassung von Le Goff war es vor allem die städtische Gesellschaft des 14. Jahrhunderts in Oberitalien, die im Rahmen ihrer Wirtschaftsformen das Zeitmaß veränderte und es an die neuen Arbeitsbedürfnisse mit regelmäßigen Arbeitszeiten anpaßte. Als Instrument dieser Disziplinierung der Arbeitsverhältnisse diente besonders die Arbeitsglocke, die die Länge der Arbeitszeiten vor allem in der Textilindustrie der Städte lautstark determinierte.52 Was die Arbeitsglocke oder die Verwendung der Stadtglocke mit ihrem Stundentakt für die Arbeit an Neuem brachte, war offensichtlich eine regelmäßige, lineare Zeit an Stelle einer »Ereigniszeit, die sich nur episodenhaft und ausnahmeweise« zeigte. Die Arbeitsglocke war nach Le Goff zwar ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine genauere Bemessung der Arbeitszeit, aber noch entscheidender war die Erfindung und Verbreitung der mechanischen Uhr, die eine exakte Einteilung der Tageszeit in 24 Stunden gewährleistete.53 Das späte 14. und das 15. Jahrhundert brachten dann eine Verbreitung der Uhren in den großen Städtelandschaften, von Norditalien über Frankreich und Flandern nach England und Deutschland.

Weite Teile des ländlichen Raumes blieben aber noch lange von den natürlichen Rhythmen der agrarischen Welt und von den landwirtschaftlichen Arbeiten zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang beherrscht, die je nach Jahreszeit und Bodenverhältnissen variierten.54 Bis zum 19. Jahrhundert, als sich im Zuge der industriellen Revolution allmählich die moderne Industriegesellschaft ausbreitete, blieb Deutschland eine Agrargesellschaft, in der 60–70 Prozent der Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt waren.55 Seit der ersten Phase der Urbanisierung im Hochmittelalter spielten die Städte zwar eine wichtige Rolle in Handel und Gewerbe, doch die Masse der Bevölkerung lebte weiterhin im ländlichen Raum, der von der Agrarwirtschaft und bäuerlichen Lebensformen geprägt war. Von welchem Zeitgefühl wurden die Bauern während des Mittelalters und der Frühneuzeit bestimmt? Welche Unterschiede bestanden hinsichtlich der Zeitdimension zwischen den Bauern im ländlichen Raum und den Bewohnern der städtischen Zentren? Von welchem Zeitverständnis waren die Bauern, die im Rhythmus von Naturabläufen und Jahreszeiten ihr alltägliches Leben gestalteten, geleitet? Es geht hier also nicht um das Zeitbewußtsein der Stadtbürger, der Kaufleute und Handwerker, sondern um die Frage, wie die Zeit im Denken und Handeln der Bauern, der Hauptakteure im ländlichen Raum, wahrgenommen wurde.

Im folgenden sollen zunächst das Zeitempfinden und Epochenbewußtsein der Menschen des Mittelalters im allgemeinen behandelt werden, um so die Andersartigkeit der damaligen Epoche im Unterschied zur Moderne aufzuzeigen. In einem zweiten Schritt wird das Verhältnis der Bauern zum Naturzyklus und zur Umwelt untersucht, bevor drittens die Zeitordnung der Bauern im saisonalen Ablauf von Jahreszeiten und Monatszyklen erläutert wird. In einem vierten Schritt wird die Einbindung des bäuerlichen Lebens in den Zyklus des kirchlichen und weltlichen Festkalenders untersucht, bevor dann auf Veränderungen im bäuerlichen Arbeitsrhythmus durch neue Wirtschaftsformen und ihre Auswirkungen auf das bäuerliche Leben hingewiesen wird. In einem abschließenden Teil wird schließlich auf das Eindringen der städtischen Zeitrechnung seit dem Spätmittelalter eingegangen und der Kontrast von städtischem und bäuerlichem Zeitempfinden herausgestellt.

2. Zeitgefühl und Epochenbewußtsein im Mittelalter

Das Weltbild der Menschen wurde im Mittelalter und noch weit bis in die Neuzeit hinein vom Christentum und dessen Geschichtsauffassung geprägt.56 Der Mensch als Ebenbild Gottes wird demnach seit der Vertreibung aus dem Paradies sündig und erst durch Christus erlöst. Die Urquelle des Seins, die Macht Gottes, ist mit Christus aus der Zeitlosigkeit in die Zeit gekommen und erlöst die Menschen gemäß den Aussagen des Evangeliums. Letztlich ist demnach die Weltgeschichte die Verwirklichung der göttlichen Weisheit gegen das diesseitige Wirken der Menschen. Vor allem in den Schriften des Apostels Paulus erscheint das Schicksal der Menschheit als Heilsgeschichte, die den einzelnen Menschen in die Entscheidung zwischen Gut und Böse zwingt. Mit der Wiederkehr Christi und dem Endgericht kommt dann die dritte Geschichtsepoche nach der Zeit des Alten und Neuen Testaments. Diese Dreiteilung der Geschichte wirkte über Hieronymus bis zu Hegel und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein.

Einen großen Einfluß auf das Zeitverständnis des Mittelalters hatte vor allem der Kirchenvater Augustinus (354–430 n. Chr.), der den Ablauf der Geschichte mit der Anschauung von den verschiedenen Zeitaltern erklärte.57 Er wurde zum geistigen Vollender und Überwinder der Antike und zur theologischen Autorität aller christlichen Kirchen bis ins 17. Jahrhundert. Seine Lebensgeschichte, die ›Confessiones‹, schrieb er als persönliche Bekenntnisschrift, die viele Autobiographien der nachfolgenden Zeit beeinflußte. Von großer Bedeutung war auch seine 24 Bücher umfassende Weltgeschichte ›De civitate Dei‹, in der er den Dualismus der Geschichte der beiden Staaten zu erfassen suchte. Gegen das antike Persönlichkeitsbild stellte er das Bild des Heiligen, gegen den antiken Begriff der Vernunft die göttliche Vorsehung, die das römische Weltreich wegen seiner Sündhaftigkeit gestraft habe und die den gläubigen Christen zum ewigen Heil führen werde.58 Gegen die antike Lehre vom ewigen Kreislauf entwarf Augustinus eine Entwicklungsgeschichte der Welt in sechs Geschichtsepochen, die den sechs Tagen der Erschaffung der Welt durch Gott entsprechen. Für das Mittelalter wurde seine Lehre maßgeblich, daß durch den Kreuzestod Christi das Zeitalter der Kirche begonnen habe und das Zeitalter der Erlösung vorbereitet werde. Damit war der Gegensatz von Civitas Dei (Gottesstaat) und Civitas Mundi (Weltstaat) theologisch und geschichtsphilosophisch begründet.59 Beide Staatsformen erscheinen in der Welt ebenso vermischt wie die göttliche und menschliche Natur Christi. Erst am Ende der Zeit wird nach Auffassung von Augustinus mit der Wiederkunft Christi eine klare Scheidung beider Staatselemente erfolgen; im Wandel der Zeit ist die Kirche das bleibende Element und damit Garant für das ewige Heil der Menschen. Von Augustinus war Otto von Freising stark beeinflußt, der in seiner ›Weltchronik‹ im 12. Jahrhundert die Lehre von den beiden Staaten und der Abfolge der Zeitalter übernahm.60

3. Naturzyklus und bäuerliche Zeitordnung

Von welchen Charakteristika und Besonderheiten war in der vormodernen Gesellschaft das Zeitgefühl der Bauern bestimmt? Die ländlich-bäuerliche Welt war lange Zeit besonders eng mit dem Naturzyklus verbunden, der das bäuerliche Leben intensiv beeinflußte. Zeitgefühl und Arbeit der Bauern orientierten sich an der Natur, die mit ihren jahreszeitlichen Zyklen periodisch wiederkehrende Tätigkeiten wie Einsaat und Ernte vorschrieb.61 Dem Rhythmus der Natur verhaftet, floß die Zeit der Bauern nicht gleichförmig dahin, sondern kannte große Belastungsunterschiede, etwa wenn durch Dürre oder Regenfälle Arbeitsvorgänge sich verzögert hatten und die Zeitressourcen knapper wurden. Zu den Launen von Natur und Witterung traten in Notzeiten der Abgaben- und Leistungsdruck der Grund- und Gerichtsherren. Ein nachlässiger Umgang mit der Zeit war unter solchen Umständen ausgeschlossen, so daß die Bauern auf eine sinnvolle Nutzung ihrer Arbeitszeit bedacht sein mußten. Die in der vormodernen Landwirtschaft zyklisch auftretenden Getreideausfälle und Mißernten führten zudem immer wieder zu Versorgungskrisen und Hungerkatastrophen, die heftig auf das bäuerliche Leben einwirkten.62

Bäuerliche Selbstzeugnisse, die während des 17. und 18. Jahrhunderts immer häufiger in Gestalt von Hofchroniken, Anschreibeheften und Tagebüchern auftauchen, verzeichnen neben den Naturereignissen und Witterungsabläufen bereits die Erfahrungen im Umgang mit der eigenen Arbeitszeit.63 Die aufgabenbezogene Zeiteinteilung forderte von den Bauern ein sorgfältig geplantes Zeitmaß, das Ruhepausen nur im Kontext der Naturereignisse und der Witterungsverläufe erlaubte. Die städtisch-bürgerliche Zeitordnung, die sich auf eine klar gegliederte Tageseinteilung nach Stunden stützte, berücksichtigte zu wenig die Perioden unterschiedlicher Arbeitsintensität im Agrarbereich und das Bedürfnis der Bauern nach Mußezeiten und Warteperioden. Die bürgerlichen Klagen über die »Zeitvergeudung« und »Untätigkeit« der Bauern spiegelten daher ein Zeitempfinden, das den wirtschaftlichen Vorgängen im ländlichen Raum wenig angemessen war und die starke Verflechtung der Bauern mit den Naturvorgängen nicht beachtete.64

Die bäuerliche Zeitordnung entsprach dem Rhythmus der Natur, der von den sich zyklisch wiederholenden Phasen in der Pflanzenvegetation und im Leben der Haustiere gekennzeichnet war. Das Erblühen bestimmter Pflanzen, das Abfallen von Früchten und Blättern sowie die Fortpflanzung und Ernährung der Tiere schufen einen natürlichen Kalender, der mit dem Wirtschaftsleben und den Gewohnheiten der Agrargesellschaft jahrhundertelang übereinstimmte. Die bäuerliche Zeitrechnung konnte daher nur ungenau und ungleichmäßig sein, da die sich wiederholenden Perioden und Momente weder gleich waren noch sich in gleiche Zeitabschnitte einteilen ließen. Auch nach Übernahme des Julianischen Kalenders im Frühmittelalter blieb die bäuerliche Zeitordnung in der Agrargesellschaft in ihrem Kern erhalten, so daß zwischen der linearen Zählung des Kalenders und dem beweglichen Rhythmus der natürlichen Zeitabläufe weiterhin eine erhebliche Distanz bestand.65 Im Alltagsleben der Bauern spielten die Schwankungen der natürlichen Zyklen und besonders der Wechsel von Winter und Sommer eine viel größere Rolle als die abstrakte Diktion des Kalenders. Wechselnde Saat- und Erntezeiten waren für die bäuerliche Bevölkerung bedeutsamer als exakt festgelegte Kalenderdaten, zumal der astronomische Kalender mit dem natürlichen Jahresablauf nicht übereinstimmt. Die längsten Tage im Jahr sind nämlich keineswegs die wärmsten und die kürzesten Tage nicht die kältesten. Das Sonnenjahr ist außerdem abhängig von der geographischen Lage, so daß man in der gemäßigten Zone Mitteleuropas vier Jahreszeiten, in den Tropen aber nur zwei unterscheidet, nämlich die Trockenperiode und die Regenzeit.

4. Bäuerlicher Arbeitsrhythmus im Jahreslauf

Welche Zeitabläufe prägten nun das Arbeitsleben der Bauern, das eng mit dem allgemeinen Naturzyklus verbunden war? Der Ackerbau vollzog sich in Mitteleuropa seit dem Hochmittelalter in erster Linie im Betriebssystem der Dreifelderwirtschaft,66 wobei die Ackerfelder der Dörfer im jährlichen Wechsel von Wintergetreide, Sommergetreide und Brache bebaut wurden. Im Frühmittelalter wurden die Äcker der Siedlungen noch überwiegend in der extensiven Form der Feldgraswirtschaft mit längeren Ruhezeiten zwischen den Getreidebaujahren bestellt und das Weideland nur für begrenzte Zeit umgebrochen und ackerbaulich genutzt. Die Dreifelderwirtschaft, die sich seit dem Hochmittelalter allmählich durchsetzte und als Betriebssystem bis zu den Reformen des 19. Jahrhunderts andauerte, besaß gegenüber den älteren Formen der Bodenbewirtschaftung den Vorteil, daß sie einerseits zu einer beträchtlichen Steigerung der Ernteerträge führte und andererseits die saisonalen Arbeiten des Pflügens, Säens und Erntens gleichmäßiger über das ganze Jahr verteilte und so die Arbeitskraft der Bauern insgesamt stärkte: Die Erntearbeiten bei der Winter- und Sommerfrucht folgten in den Monaten Juli und August jetzt nacheinander und entzerrten die bäuerliche Arbeitsbelastung. Im Frühjahr war es notwendig, das Sommerfeld rechtzeitig zu bestellen, und im Herbst mußte vor allem das Winterfeld für die Einsaat vorbereitet werden. Das Brachfeld aber konnte im Juni oder Juli zu einer Zeit gepflügt werden, in der auf den beiden anderen Feldern keine Feldarbeiten anstanden. Neben der Dreifelderwirtschaft gab es in den unterschiedlichen Agrarzonen Mitteleuropas selbstverständlich auch andere Anbausysteme wie die Zweifelderwirtschaft oder die Einfelderwirtschaft im nordwestdeutschen Raum in Gestalt des kontinuierlichen Roggenanbaus auf den Eschflächen der Dörfer und Höfe.67

Die bäuerliche Arbeit verteilte sich insgesamt relativ ungleichmäßig über das ganze Jahr und wechselte mit ihren verschiedenen Schwerpunkten von Monat zu Monat. Sicherlich gehörte in den meisten Gebieten die Ernteperiode zu den Spitzenzeiten der bäuerlichen Arbeitsbelastung, wenn alle verfügbaren Arbeitskräfte des Dorfes auf den Feldern benötigt wurden, um bei der Heu- und Getreideernte zu helfen. Die Sommermonate waren bei den Bauern zweifelsohne die arbeitsintensivste Zeit, während man im Winter deutlich weniger Aufgaben zu erfüllen hatte.68 Der Rhythmus des bäuerlichen Lebens beruhte demnach vor allem auf dem Gegensatz von sommerlicher Aktivität und winterlicher Arbeitspause auf den Feldern. Man muß in diesem Zusammenhang aber bedenken, daß die Arbeit der Bauern auch viele Tätigkeiten umfaßte, die ohne saisonale Höhepunkte in den zeitlichen Rahmen eines Jahres eingefügt waren. Sie bildeten ein buntes Ensemble bäuerlicher Aktivität und erstreckten sich über das ganze Jahr, wie die Monatsbilder der Kalender verdeutlichen.69 Dazu gehörten neben den Feldarbeiten die vielfältigen Tätigkeiten in Haus und Hof sowie die regelmäßige Versorgung der Haustiere. Bis auf wenige Wochen mußten das ganze Jahr hindurch die Kühe gemolken und die Milch verarbeitet werden. In den Ställen wurde regelmäßig gestreut und der Mist in bestimmten Zeitabständen auf die Felder gebracht. Die Haustiere mußten getränkt und mit Futter versorgt werden, und dazu kamen die immer wiederkehrenden Hausarbeiten und die Zubereitung des Essens, die vor allem zu den Pflichten der Bäuerin gehörte. All dies bescherte der bäuerlichen Bevölkerung einen Grundbestand an kontinuierlicher Tätigkeit.

Trotz dieser häuslichen Arbeiten markierten Beginn und Ende der Vegetationsperiode und der allgemeine Naturzyklus den Bauern die wichtigsten Einschnitte im Jahresverlauf, in denen die Arbeit keinen Aufschub duldete, um die Ernährung sicherzustellen. Entsprechend den Vegetationsphasen ergaben sich passende Zeitmomente für Düngung, Einsaat und Pflege der Äcker und auch die Zeittermine für die Erntearbeiten, ob auf Wiesen und Feldern, in den Gärten oder im Wald, von wo Laub geholt wurde. Diese saisonalen Bodenbestellungs- und Erntearbeiten besaßen insgesamt eine vorrangige Stellung, da der Ertrag der Ernten für das ganze Jahr die entscheidende Existenzbasis darstellte und auch in Bezug auf die Viehbestände den Winter hindurch reichen mußte, bevor im Frühjahr die Wiesen von neuem zu grünen begannen und die neue Weidesaison eröffnet wurde. Der zusätzliche Arbeitsanfall, den das Sommerhalbjahr mit sich brachte, konnte aber teilweise durch die Verlegung einiger Arbeiten auf das Winterhalbjahr ausgeglichen werden. Die bäuerliche Bevölkerung des ländlichen Raumes hatte anders als die Stadtbevölkerung mit ihrer Handels- und Gewerbetätigkeit ohne Zweifel ein enges Verhältnis zum Boden und zur natürlichen Umwelt. Nur bei günstiger Witterung konnten die Bauern die Ernte sichern und mit Getreideverkäufen auch Gewinne erzielen. Starke Regenfälle, Hagelschauer und lange Winterfröste verminderten aber häufig die Höhe der Ernteerträge, so daß die Existenz bedroht war. Die Höhe der Ernteerträge war außerdem abhängig von der Güte des Bodens, vom Verlauf der Witterung und von der Intensität der Bearbeitung. Die Düngung war in der vormodernen Landwirtschaft in der Regel unzulänglich, das Saatgut nur partiell tauglich und hohe Verluste traten bei der Ernte auf, so daß die Produktivität gering blieb. In günstigen Sommerperioden und in fruchtbaren Agrarzonen gab es in guten Jahren ergiebige Erträge, aber in der Regel ernteten die Bauern nur das Vier- bis Sechsfache der Aussaat, was sich vom Hochmittelalter bis zum 18. Jahrhundert nicht wesentlich änderte.70