Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Elodie hat sich in ihrer Welt nie wirklich richtig gefühlt, bis Jaron in ihrem Leben auftauchte. Gemeinsam versuchen sie das lange gehütete Geheimnis von Jarons Großvater zu enträtseln und landen dabei in einer äußerst verworrenen Situation. Mit ihren neu gefundenen Freunden müssen sie nun gleich zwei Welten vor einem mächtigen Gegner retten. Ein Fantasyroman mit hohem Einfühlungsvermögen in die verliebte Seele einer Teenagerin und überdies ein Schmöker für Liebhaber der Fantasy mit Schlachten, atemberaubenden Kampfszenen unter all diesen Fantasy-Wesen, mit einem ganzen Mikrokosmos an Freunden und Feinden und einer Heldin, die bis zum Schluss versucht, die seelischen Beweggründe auch ihrer Feinde zu verstehen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 566
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für meinen Opa, der mich mit meinen Geschichten immer unglaublich unterstützt hat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Jaron
Tigres
Louisiana
Felix
Elodie
Jaron
Elodie
Louisiana
Kapitel 26
Jaron
Louisiana
Kapitel 27
Elodie
Tigres
Felix
Elodie
Kapitel 28
Tigres
Elodie
Kapitel 29
Kapitel 30
Amir
Elodie
Kapitel 31
Kapitel 32
»Männer sind schrecklich! Nein, eigentlich stimmt das so nicht ganz. Es gibt wirklich nette männliche Geschöpfe da draußen und ich bin tatsächlich auch schon ein paar wenigen davon begegnet. Aber trotzdem ist das Wort Liebe für mich noch immer ein Fremdwort. Stimmt irgendetwas nicht mit mir?
Alle meine Freunde benehmen sich bereits seit der siebten Klasse wie liebestolle Idioten und ich stehe daneben und schaue zu. Meine beste Freundin Marie verdreht immer nur die Augen und murmelt etwas wie ‚Deine Ansprüche sind einfach viel zu hoch, Elodie!‘. Aber fair kann das doch trotzdem nicht sein!
Aber es ist ja nicht nur das. Ich habe mich allgemein schon immer anders gefühlt. Als würde ich in diese Welt gar nicht richtig reinpassen. Als würde ich hier eigentlich gar nicht wirklich hingehören.«
»Elodie!« Der Ruf meiner Mutter zog mich unsanft aus meinem Gedankenschwung. Immer wieder ließ ich mich zu diesen Gedanken hinreißen und es war dabei vollkommen egal, wie oft mir meine liebevolle Mutter gut zuredete, dass meine Zeit schon noch kommen würde. Ich hatte es satt eine Außenseiterin zu sein. Natürlich hatte ich Freunde, ich war nicht allein, aber anders zu sein, macht einen trotzdem irgendwie einsam.
Ich war inzwischen siebzehn Jahre alt und würde in nicht allzu ferner Zukunft achtzehn und damit erwachsen werden. Und doch fühlte ich mich immer noch wie ein kleines Kind, dass den Erwachsen bei so Sachen wie Küssen und Liebe nur angeekelt zusieht!
Meine Mutter rief erneut nach mir und erst da bemerkte ich, dass ich mich schon wieder in meinen Gedanken verloren hatte.
»Jetzt komm endlich, Elodie. Du musst in die Schule. Ich will nicht schon wieder eine Entschuldigung schreiben müssen oder von einem Lehrer angerufen werden, weil du zu spät in den Unterricht gekommen bist«, drang ihre leicht genervte Stimme zu mir durch.
Frustriert raffte ich meine Sachen zusammen und hüpfte die knarrende Treppe hinunter. Ich schnappte mir noch schnell einen Apfel aus der Obstschale auf dem Küchentisch, gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und war auch schon aus der Haustür verschwunden.
Mein Vater war bereits auf der Arbeit und meine nervtötenden Brüder Philip und Louis hatten natürlich mal wieder nicht auf mich gewartet. Ich war es inzwischen gewohnt, dass ich ohne die beiden fahren musste.
»Mit dir kommen wir immer zu spät!«, konnte ich die Stimme meines kleinen Bruders regelrecht hören, als ich mein Fahrrad aus der Garage holte.
Aber letztendlich konnte ich ihnen das schlecht übelnehmen, denn ich war tatsächlich meistens ziemlich spät dran. Und heute war dabei definitiv keine Ausnahme.
Mit meinem knallgrünen Mountainbike, das mich so gut wie immer begleitete, machte ich mich nun also schnell auf den Weg. Und schon bald darauf erblickte ich das rote, zweistöckige Backsteingebäude, das den stolzen Namen ‚Schule an der Neuburgküste‘ trug und in zwei Nebenflügel und einem Hauptflügel eingeteilt war.
Links befanden sich die Klassenräume für die Klassen fünf bis sieben in der Mitte die Klassen acht bis zehn und rechts war vor wenigen Jahren ein neues Gebäude für die Oberstufenklassen errichtet worden. Die Mittelstufe und Oberstufe waren theoretisch zwei getrennte Schulen, aber praktisch gesehen, lief alles über einen Tisch. Den Tisch des Drachen, wie die Dekanin der Schule von den meisten hinter ihrem Rücken bezeichnet wurde.
Als ich das erste Läuten über den großen Schulhof klingen hörte, schloss ich schnell mein Fahrrad an den Fahrradständern an und rannte mit dem zweiten Gong zum Eingang des Oberstufengebäudes. Die hellblau gestrichenen Wände flogen nur so an mir vorbei, während ich mir den Weg zu meinem Klassenzimmer bahnte.
Ich kam genau in dem Moment endlich an der richtigen Tür an, als der Mathelehrer Herr Hasemeier diese hinter sich schließen wollte und es zum letzten Mal läutete. Er ließ mich mit ernster Miene dann doch noch rein und ich nahm schnell auf meinem Stuhl neben Marie Platz.
Die blonde Schönheit, die ich aus irgendwelchen seltsamen Gründen als meine beste Freundin bezeichnen durfte, warf mir einen ungehaltenen Blick zu, während sie mir einen zusammengefalteten Zettel über den Tisch zuschob.
Ich faltete das Papier auseinander, während Marie mich unentwegt ansah. Als ich endlich das Chaos entfaltet hatte, prangten mir drei Worte entgegen.
WIR MÜSSEN REDEN!!!!!!!!!
In Großbuchstaben und mit insgesamt acht Ausrufezeichen geschrieben, das war was Ernstes. Schnell holte ich einen meiner fast kaputten Bleistifte aus meinem Mäppchen, das inzwischen neben meinem Mathebuch auf dem Tisch lag und kritzelte eine Antwort unter die verwackelte Handschrift meiner Freundin.
In der Pause, du Verrückte!
Lächelnd schob ich den Zettel zu ihr zurück und schaute noch kurz dabei zu, wie sie meine Antwort mit einem zufriedenen Nicken bedachte.
Ich wollte mich gerade dem beginnenden Unterricht zuwenden, als Marie mir doch noch einmal den Zettel rüberschob und ich meine Aufmerksamkeit wieder darauf richten musste. Würde ich den Zettel nämlich nicht lesen, würde das Mädchen neben mir ganz schnell zu einer unerträglichen Nervensäge werden.
Ich kann es kaum erwarten, dir davon zu erzählen. Du musst nicht zufällig auf Toilette? Oder soll mir vielleicht schlecht werden?
Lachend verdrehte ich die Augen. Wie hatte ich bloß erwarten können, dass meine beste Freundin problemlos eine komplette Doppelstunde Mathe durchhalten würde, bevor sie mir die Neuigkeiten verkünden konnte, die Großbuchstaben und acht Ausrufezeichen verdient hatten.
Nein! Geduld ist eine Tugend, meine Liebe ;)
Als Marie diesmal meine Antwort las, musste sie selbst die Augen verdrehen und schaute mich dann mit einem herausfordernden Blick an.
»Nein!«, wiederholte ich noch einmal so leise, aber gleichzeitig so streng wie möglich.
Doch leider war ich wohl nicht leise genug gewesen, denn plötzlich schnitt die Stimme unseres Lehrers in unser Gespräch: »Wenn euer Thema so interessant ist, die Damen, wollt ihr es doch bestimmt mit der ganzen Klasse teilen.«
Marie wurde neben mir sofort knallrot im Gesicht und stammelte vor sich hin, während ich in meinen Gehirnwindungen nach einer passenden Ausrede stöberte. Solche Situationen waren mir noch nie peinlich gewesen, aber bei meiner besten Freundin sah das ganz anders aus. Also konnte ich schlecht einfach die Wahrheit sagen, wie es mein erster Impuls gewesen wäre, sondern musste mir schnell eine kleine Notlüge einfallen lassen.
Glücklicherweise fielen mir da die Hausaufgaben wieder ein, die wir bis heute aufhatten, und bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, plapperte mein Mund auch schon drauf los: »Wir haben uns nur über die Mathehausaufgaben ausgetauscht, da ich nicht genau wusste, ob ich die Aufgabe richtig verstanden habe. Es tut uns leid, wenn wir den Unterricht gestört haben. Das kommt nicht wieder vor!«
»Dann lass uns das doch gemeinsam herausfinden. Elodie, schreib doch bitte deine Lösung der ersten Aufgabe an die Tafel. Dann können wir sie berichtigen«, forderte mich der Lehrer auf.
Schnell zog ich mein Matheheft, das ich zuvor vergessen hatte, aus meinem Rucksack und ging damit nach vorne zur Tafel. Das Blöde war nur, dass ich vergessen hatte meine Hausaufgaben zu machen, weshalb ich die Aufgabe jetzt spontan direkt an der Tafel rechnen musste.
Glücklicherweise hatte ich in der letzten Stunde schon die Aufgabenstellung in mein Heft geschrieben und die Aufgabe war tatsächlich gar nicht so schwer.
Ein bisschen blöd kam ich mir schon vor, dass ich gerade bezüglich dieser Aufgabe behauptet hatte, dass ich sie nicht verstanden hätte. Denn ich war alles andere als schlecht in Mathe und konnte die Aufgaben so sogar relativ einfach an der Tafel ausrechnen.
Nachdem ich die Lösung angeschrieben hatte, ging ich zurück zu meinem Platz, von dem aus Marie mir nervös entgegenblickte und mit zitternder Stimme ein Danke flüsterte. Die Klasse begann mein Ergebnis zu kontrollieren. Ich hatte zwar einen kleinen Rechenfehler gemacht, aber sonst war alles richtig.
Während die Klasse die restlichen Aufgaben an der Tafel besprach, hing ich wieder in meinen Gedanken fest. Ich überlegte fieberhaft, worüber Marie mit mir sprechen wollte. Wenn sie so aufgeregt war, musste es etwas Weltbewegendes sein. Als mir dann eine Idee kam, worum es sich handeln könnte, verdrehte ich automatisch genervt die Augen.
Wenn Marie so drauf war, dann ging es eigentlich fast immer um Jungs. Seit einigen Wochen schwärmte meine beste Freundin nun schon von diesem einen Typen aus unserem Jahrgang. Robin war diesmal der Auserwählte. Ein äußerst attraktiver Sportler mit strahlend blauen Augen, aber das war auch schon alles, was er zu bieten hatte.
Er war leider nicht besonders hell im Kopf und wiederholte derzeit zum zweiten Mal eine Klasse. Alles wofür er sich interessierte, war Fußball und entsprechend war das auch das Einzige, worüber er den lieben langen Tag redete. Trotzdem hingen ihm die Mädchen bei jedem seiner Worte an den Lippen, als würde er gerade eine unglaublich spannende Geschichte erzählen.
Ich hielt nicht viel von ihm, und das lag nicht nur daran, dass seine Anziehungskraft auf andere Mädchen mir immer wieder vor Augen führte, dass ich anders war. Ich war mir auch ziemlich sicher, dass er, obwohl niemand darüber redete, seine Freundinnen wie T-Shirts wechselte und entsprechend ein richtiger Playboy war.
Ich hatte Marie bereits bei mehr als einer Gelegenheit mitgeteilt, was ich von ihrem neusten Schwarm hielt, aber das schien meine beste Freundin relativ wenig zu interessieren. Sie verteidigte ihn vehement, als würde sie ihn gut kennen, dabei hatte sie ihn bisher nur aus der Ferne angeschmachtet.
Sie war bereits von dem letzten Kerl, in den sie sich verliebt hatte, ordentlich verletzt worden. Wie konnte ich bloß verhindern, dass das wieder geschah? Konnte sich dieses Mädchen nicht endlich mal in einen gescheiten Kerl vergucken. Wenn ich schon kein Glück in der Liebe hatte, dann doch wenigstens Marie.
Sie hatte es definitiv verdient. Sie war nicht nur wunderschön, mit ihren engelsgleichen blonden Locken, den haselnussbraunen Augen und dem süßen, kecken Lächeln. Sondern sie war auch intelligent und hatte ein unglaublich großes Herz.
Zumindest konnte ich mir anders nicht erklären, dass sie mich als ihre beste Freundin auserkoren hatte. Versteht mich nicht falsch, ich bin unglaublich froh darüber, dass Marie mich damals unter ihre Fittiche genommen hat. Ohne sie wäre ich spätestens in der Mittelstufe vollkommen verloren gewesen. Aber sie war hübsch und beliebt, und ich war definitiv nichts davon.
Nein, ich war gewöhnlich. Ich sah mit meinen widerspenstigen, roten Haaren, den einfachen hellgrauen Augen und der belanglosen Figur völlig unscheinbar neben ihr aus. Zudem hing mir dank der roten Haare auch immer die Beleidigung ‚Hexe‘ im Nacken, auch wenn ich mir nicht viel daraus machte.
Durch Maries strahlende Aura wurde sie von vielen Jungen auf unsere Schule verehrt. Die meisten würden sie wohl gerne an der Seite von Jack Colmar gesehen werden, der zusätzlich noch unsterblich in sie verliebt war, aber sie hatte ja nur Augen für Robin.
Der Gong riss mich nun aus meinen Gedanken. War tatsächlich schon so viel Zeit vergangen? Ich hatte ehrlich gesagt so ziemlich gar nichts vom Matheunterricht mitbekommen, hoffentlich würde mir das nicht irgendwie zum Verhängnis werden. Schnell schrieb ich noch die Hausaufgaben von der Tafel ab und packte dann meine Sachen zusammen.
Marie stand bereits ungeduldig vor unserem Tisch und tänzelte immer wieder von einem Bein aufs andere. Als ich endlich aufstand und mir den Rucksack auf den Rücken schwang, hatte sie bereits meinen Arm gegriffen und zerrte mich mit einem seltsam fröhlichen Quietschen aus dem Raum.
Herr Hasemeier rief uns noch mit einem Zwinkern hinterher: »Nächstes Mal machst du deine Hausaufgaben besser zuhause, wenn du sie im Unterricht als Notlüge verwenden möchtest, Elodie!«
Marie atmete hörbar die Luft ein und der Schreck stand ihr deutlich aufs Gesicht geschrieben.
»Versprochen, Herr Hasemeier!« rief ich gelassen zurück und zog dann meine in Schockstarre verfallene beste Freundin hinter mir her.
In der nächsten Stunde hatten wir bei Herr Strauß Sportunterricht. Herr Strauß war so etwas wie unser Klassenlehrer, da Marie und ich Sport als Leistungskurs gewählt hatten.
Arm in Arm liefen wir zwei Mädels Richtung Sporthalle, die ein ganzes Stück hinter dem Schulgebäude direkt neben einem großen Golfplatz stand. Ich wartete schon darauf, dass die Neuigkeiten aus Marie herausplatzten, aber sie brauchte noch einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen.
Auch wenn ein gewisser Teil von mir ja eigentlich gar nicht wissen wollte, was Marie mir für großartige Neuigkeiten erzählen wollte, fragte ich vorsichtig nach: »Also Mariechen, was ist so großartig, dass du deswegen beinahe unsere Mathestunde gecrasht hättest?«
Tatsächlich rüttelte sie das aus ihrer Trance und das strahlende Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück.
»Du kennst doch Robin? Der aus Spanisch?«, fragte sie mich.
Ich hatte es geahnt und leider mussten sich meine Befürchtungen mal wieder bewahrheiten. Ich bejahte ihre Frage etwas zögerlich, aber das schien sie gar nicht zu bemerken.
»Er hat mich gefragt, ob ich morgen zu seinem Spiel komme und wir danach ein wenig abhängen wollen!«, quietschte sie in den höchsten Tönen.
Ihre Reaktion ließ mich mal wieder unwillkürlich die Augen verdrehen, was sie aber zum Glück nicht bemerkte. Was sie aber bemerkte, war die Tatsache, dass ich nicht in das freudige Quietschen und Rumhüpfen mit einfiel, dass diese Neuigkeit bei ihr auslöste.
Sie hörte abrupt mit ihrem Freudentänzchen auf und fragte: »Hey, warum freust du dich nicht? Du weißt doch, dass ich total in Robin verknallt bin!«
Ich musste vorsichtig sein, mit dem was ich jetzt sagte, weil ich nicht wollte, dass Marie beleidigt reagierte. Aber trotzdem konnte ich auch nicht meinen Mund halten und wieder dabei zusehen, wie sie sich auf einen Typen einließ, der sie nicht verdient hatte.
»Tut mir leid, Marie. Ich freue mich, dass du dich freust. Wirklich! Aber du weißt, was ich von diesem Robin halte. Ich finde nicht, dass er gut für dich wäre. Du hast etwas Besseres verdient!«, sagte ich also.
Doch Marie hatte immer noch die rosarote Brille auf, weshalb sie das einfach nicht akzeptieren wollte.
»Du kennst ihn doch gar nicht! Also hör auf ihn direkt zu verurteilen. Ich habe ihn gern! Du bist doch nur eifersüchtig!«, antwortete sie und stürmte daraufhin davon.
Das war ja mal wieder super gelaufen, dachte ich genervt und folgte ihr weiter Richtung Sporthalle. Als ich in der Umkleidekabine ankam, hatte sich Marie bereits demonstrativ einen Platz zwischen zwei anderen Freundinnen gesucht, sodass ich nicht neben sie konnte.
Ich ignorierte ihre etwas passiv aggressive Art und zog mich einfach schnell um. Ich kannte meine beste Freundin, sie brauchte manchmal einfach ein wenig Zeit, um wieder runterzukommen. Ich würde mit ihr reden, wenn sie sich etwas abreagiert hatte, aber ich würde mich nicht für meine Meinung entschuldigen. Wenn sie nicht von seinem Aussehen und der Beliebtheit geblendet wäre, würde sie selbst erkennen, dass Robin ein ziemlicher Arsch war.
Da wir zurzeit das Thema Golfen hatten, standen wir bald mit ein paar anderen Klassenkameraden in Grüppchen auf dem Golfplatz. Das saftige grüne Gras sprießte in vielen verschiedenen Farben aus dem Boden. Die Sandbecken und kleinen Wasserlöcher ergaben weitere kleine Farbtupfen in der Landschaft. Trotz dieser vermeintlichen Schönheit gefiel es mir nicht, weil es so unnatürlich war.
Marie hatte sich ein ganzes Stück von mir entfernt hingestellt und unterhielt sich mit Claire. Ich warf ihr ein vorsichtiges Lächeln zu, aber sie schien sich noch nicht abgeregt zu haben, denn sie drehte sich weg.
Endlich kam Herr Strauß auf den Platz und plötzlich war alle Aufmerksamkeit in seine Richtung gerichtet. Jeder hatte seinen Blick auf den circa 1,85m großen Jungen mit strubbeligen braunen Haaren, wunderschönen, strahlend blauen Augen und sportlicher Figur gerichtet.
Der Junge hatte seinen Blick leicht gesenkt und den Rucksack rücksichtslos über die Schulter geworfen. In dem schwarzen, chaotisch mit Farben bespritzten T-Shirt und der kurzen beigefarbenen Shorts sah er ein wenig fehl am Platz und völlig verloren aus. Trotzdem zog er mich mit seinem wirklich atemberaubend guten Aussehen und seiner strahlenden Aura sofort in seinen Bann.
Die Beiden blieben vor der Klasse stehen und der Junge hob seinen Kopf. Schnell suchte ich seinen Blick in den schönen blauen Augen und er hielt ihm auch eine Weile stand, doch dann sah er sich schnell weiter im Rest der Klasse um.
Erst als sein Blick weiterwanderte, fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte und ich versuchte verzweifelt, nicht zu laut nach Sauerstoff zu schnappen. Was war das denn bloß? So eine Reaktion war ich von mir gar nicht gewohnt.
Hilflos suchte ich automatisch nach Maries Blick, doch die hatte ebenfalls nur Augen für den Jungen, der sich so langsam fühlen musste wie ein Zootier, so wie er von allen begafft wurde.
In dem Moment erhob Herr Strauß das Wort: »Guten Morgen, Schüler. Ich würde euch gerne euren neuen Mitschüler vorstellen. Das ist Jaron. Er ist erst vor kurzem mit seinen Eltern hierhergezogen. Ab sofort wird er auf unsere Schule gehen und mit euch den Leistungskurs Sport besuchen. Elodie, würdest du bitte einen Schritt nach vorne treten? Ich würde dich bitten, dass du Jaron in den ersten Tagen mit Rat und Tat zur Seite stehst, damit er sich gut einfindet.«
Ich war immer noch so in Gedanken versunken, dass mich Laura, die neben mir stand, erst anstupsen musste, damit ich reagierte. Ich stolperte einen Schritt nach vorne und winkte Jaron schüchtern zu, bevor ich mich wieder in die Reihen meiner Mitschüler flüchtete.
»Gut, dann haben wir ja auch das geklärt«, meinte Herr Strauß, »beginnen wir nun mit dem Unterricht.«
Daraufhin liefen alle plötzlich durcheinander und fanden sich in ihren Teams zusammen, um Golf zu spielen. Währenddessen versuchten sie so unauffällig wie möglich, über den Neuen zu reden.
Dieser kam gerade auf mich zu gelaufen. Sein Blick war wieder nach unten gerichtet, als hätte er Angst über irgendetwas zu stolpern. Schüchtern begann er mit rauer, aber sanfter Stimme zu sprechen: »Hey, du bist Elodie richtig? Wo kann ich denn meine Sachen hinlegen?«
Die Art und Weise, wie er auf mich zuging und mich ansprach, spiegelte meine Reaktion auf fremde Menschen fast exakt wider und das machte ihn mir automatisch sympathisch.
Mein Vater hatte eine Zeit lang an einem anderen Ort arbeiten müssen, weshalb ich die fünfte bis siebte Klasse an einer anderen Schule verbracht hatte. Ich hatte schreckliche Probleme gehabt, mich an der neuen Schule einzufinden und war zu Beginn genauso schüchtern und verschlossen gewesen.
Erst mit der Rückkehr zu dieser Schule und zu meiner besten Freundin, hatte ich mein Selbstbewusstsein in der Interaktion mit Menschen, die mich mögen sollten, wiedergewonnen. Aber mit fremden Menschen glich ich meist immer noch einem scheuen Reh.
Doch die Sympathie, die ich für diesen Jungen empfand, ließ mich das für einen kurzen Moment vergessen und ich bedeutete ihm selbstbewusst, mir zu folgen. Ich zeigte ihm die Umkleidekabine der Jungen und erklärte ihm, dass er sich einfach einen freien Platz aussuchen und seine Sachen in den entsprechenden Spind packen konnte.
Es dauerte nicht lange, bis Jaron wieder herauskam und er schaute dabei noch immer auf den Boden vor sich. Fieberhaft überlegte ich, wie ich Jaron dazu bringen könnte, sich wohler mit mir zu fühlen, während wir zurück zu den anderen liefen. Ich beobachtete ihn aufmerksam und musste erneut daran denken, wie attraktiv er war.
Seine braunen Haare schimmerten im Sonnenlicht, als wären sie mit Gold durchzogen. Die hohen Wangenknochen gaben seinem Gesicht eine markante, aber doch irgendwie sanfte Form. Und seine Lippen sahen so unglaublich küssbar aus.
»Konzentrier dich, Elodie!«, schimpfte ich mich leise selbst. Ich kannte den Jungen gerade einmal wenige Sekunden und wir hatten so gut wie noch kein Wort miteinander gewechselt. Was war bloß los mit mir?
Ich kniff mir etwas unsanft in den Arm, um mich in die Realität zurückzuholen und beschloss dann, etwas zu sagen: »Jaron, richtig? Ich freue mich, dass du zu uns an die Schule gewechselt bist. Ich denke es wird dir hier gefallen und du wirst dich schnell einleben. Woher kommst du eigentlich?«
Seine bis eben immer noch auf den Boden gerichteten Augen, wanderten nun zu mir. Ein leises Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und mir blieb ein weiteres Mal der Atem stehen. Beinahe wäre ich schon wieder über meine eigenen Füße gestolpert, so sehr verlor ich mich in diesen eisblauen Augen. Aber ich konnte mich gerade noch so davor retten, dass ich komplett peinlich vor ihm auf dem Boden landete.
»Ja, Jaron ist richtig«, antwortete er nach einem unterdrückten Lachen wegen meiner Stolperaktion, »ich habe die letzten drei Jahre mit meinen Eltern in Kanada gelebt. Mein Vater hatte dort einen wichtigen Job zu erledigen. Ich komme aber ursprünglich aus Hamburg und habe da bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag gelebt.«
»Oh wow, cool. Ich wollte schon immer mal über einen längeren Zeitraum in ein anderes Land reisen. Das ist mein großer Plan, nachdem ich das Abitur geschafft habe! Ich habe die siebte Klasse auch an einer anderen Schule verbringen müssen, weil mein Vater wegen der Arbeit für ein Jahr dorthin musste. Leider habe ich es nicht ganz so weit geschafft, denn der Job meines Vaters war nur in Leipzig«, antwortete ich.
»Kann ich voll verstehen. Kanada war wirklich schön, aber ich bin trotzdem froh wieder hier zu sein!«, sagte er.
Wir waren inzwischen bei den anderen auf dem Golfplatz angekommen und ich wollte mich eigentlich zu Marie gesellen, weil wir beim Golfen normalerweise ein Team bildeten. Meine beste Freundin schien sich aber immer noch nicht beruhigt zu haben, denn sie hatte sich bereits eine andere Partnerin gesucht. Auch wenn mich das ein wenig verletzte, war ich auch irgendwie froh darüber, dass ich daraufhin von Herr Strauß mit Jaron in ein Team eingeteilt wurde.
Also gab ich mich geschlagen, warf Marie noch einen letzten suchenden Blick zu und wandte mich dann wieder an Jaron.
»Sieht so aus, als würden wir ein Team bilden«, sagte ich und schnappte mir eine Golftasche.
Leider schien meine Enttäuschung über Maries Verhalten von Jaron missverstanden zu werden, denn er antwortete: »Du musst kein Team mit mir bilden. Wenn ich den Lehrer frage, kann er mich bestimmt auch jemand anderem zuteilen!«
»Nein, nein. So ist das nicht. Ich habe wirklich kein Problem damit, mit dir zusammenzuarbeiten. Ich freue mich sogar darauf, dich ein wenig besser kennenzulernen. Zudem weiß ich ja, wie es ist der Neue zu sein und bin deswegen gerne bereit dich in unsere chaotische Schule einzuführen.
Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Meine etwas mürrische Reaktion gerade, hatte so gar nichts mit dir zu tun. Ich bin nur normalerweise mit meiner besten Freundin in einem Team. Die ist grade aber irgendwie nicht so gut auf mich zu sprechen, weil ich ihr meine Meinung zu etwas gesagt habe und sie wollte diese Meinung definitiv nicht hören. Aber das wird schon wieder!«, redete ich mich um Kopf und Kragen, in dem Versuch ihn zu beruhigen.
Jaron musste erleichtert lachen. Schließlich unterbrach er meinen verzweifelten Versuch, indem er lachend fragte: »Wollen wir dann nicht einfach anfangen?«
Erleichtert holte ich tief Luft. Alle anderen hatten tatsächlich inzwischen bereits mit dem Golfen begonnen und wir standen allein am Anfang des Golfplatzes. Ich brauchte noch einen kurzen Moment, um mich zu fassen, fragte dann aber: »Kannst du eigentlich golfen?«
Während ich auf seine Antwort wartete, führte ich ihn schon einmal zu dem erstbesten Startpunkt. Als er auf meine Frage antwortete, wurde ich sofort von seiner sanften, aber auch festen Stimme in den Bann gezogen. Warum, war mir das vorher nicht bereits aufgefallen?
»Richtig golfen kann ich nicht. Ich habe bis jetzt nur ein paar Mal Minigolf ausprobiert und darin bin ich eigentlich ganz gut«, sagte er.
»Okay. Ich bin auch nicht die beste Golfspielerin, aber um es dir zu erklären, werden mein Wissen und meine Fähigkeiten hoffentlich ausreichen«, erwiderte ich, nachdem ich mich wieder gefasst hatte.
Während ich mir also einen GolfTee und ein geeignetes Eisen aus der Tasche holte, erklärte ich Jaron schnell die Grundlagen des Golfspiels und demonstrierte es anschließend an einem geübten Schlag.
Sein erster Schlag ging noch ein wenig in die falsche Richtung, aber dann erwies er sich als ein wahres Naturtalent. Er schaffte es mit drei weiteren Schlägen den Ball einzulochen, während ich Ewigkeiten brauchte. Nachdem wir eine Weile gespielt hatten, schaffte er es sogar einmal mit nur zwei Schlägen.
Wir hatten eine Menge Spaß, was vor allem daran lag, dass ich meinen Ball immer wieder unabsichtlich in eine völlig falsche Richtung schlug. Einmal landete mein Ball sogar in dem einzigen wirklich großen Teich auf dem ganzen Campus, weswegen wir uns bei Herr Strauß einen neuen holen mussten.
Der war sehr froh darüber, dass Jaron sich mit mir wohlzufühlen schien. Er öffnete sich mir gegenüber immer mehr und wir verstanden uns wirklich fantastisch. Er erzählte mir von seiner Zeit in Kanada und wir berichteten beide von unseren jeweils etwas chaotischen Familien.
Jaron war total begeistert, dass wir so viele Haustiere hatten und fragte sofort, ob er meinen Hund mal kennenlernen dürfte. Er habe sich bereits sein ganzes Leben lang einen eigenen Hund gewünscht, aber sein Vater war leider allergisch und hielt allgemein nicht sehr viel von Haustieren.
Als er nach seinem Handy griff, um mir ein Foto von dem Hund seiner Tante zu zeigen, bemerkte ich, dass er immer noch seinen Rucksack mit sich rumschleppte.
Ich war ziemlich verwundert darüber, dass es mir nicht früher aufgefallen war, machte mir aber nicht weiter Gedanken darüber.
Trotzdem konnte ich es nicht lassen, ihn zu fragen: »Warum hast du eigentlich noch immer deinen Rucksack bei dir? Du hättest ihn doch vorhin in der Umkleidekabine ablegen können. Er wäre auch nicht geklaut worden, falls du davor Angst hattest, denn Herr Strauß schließt die Umkleiden immer ab.«
»Das geht dich überhaupt nichts an!«, fuhr er mich daraufhin völlig aus dem Nichts plötzlich an. Ich war total geschockt und trat vor Schreck einen Schritt zurück.
Mir schien der Schock zudem auch deutlich ins Gesicht geschrieben zu stehen, denn Jaron fügte schnell hinzu: »Entschuldigung. Das wollte ich nicht. Ich wollte dich nicht anschreien. Tut mir leid. Es ist einfach nur so, dass das etwas ist, über das ich nicht so gerne rede. Tut mir wirklich richtig leid!«
»Das ist schon in Ordnung. Das verstehe ich. Das geht mich wirklich nichts an. Wir kennen uns ja kaum. Freunde?«, erwiderte ich immer noch ein wenig zerstreut.
»Freunde«, sagte er.
In dem Moment läutete es zur Pause und wir beeilten uns zu den Umkleiden zurückzukommen. Als ich in die Mädchenumkleide kam, war ich sofort von meinen Klassenkameradinnen umzingelt, die mich mit allen möglichen Fragen bombardierten, wie zum Beispiel: »Wie ist der Neue?«, »Ist er nett?« und »Stellst du mich ihm vor?«.
Andere stritten sich darum, für welches Mädchen in der Klasse er sich am ehesten interessieren könnte.
In der Hoffnung die Meute damit zu besänftigen, meinte ich: »Er kommt aus Hamburg, hat aber die letzten drei Jahre in Kanada gelebt. Er kann verdammt gut Golf spielen und er ist wirklich sehr nett, aber jetzt lasst mich bitte in Ruhe.«
Als ich nun immer noch umzingelt war und weitere Fragen auf mich einprasselten, kam mir Marie zur Hilfe, an deren glänzenden Augen ich sah, dass dies nicht ganz uneigennützig war. Scheinbar hatte sie sich inzwischen wieder beruhigt und ihre eigene Neugier siegte über die Wut auf mich.
Nachdem wir es endlich aus der Menge geschafft hatten, wollte auch sie mich mit Fragen bombardieren, doch ich brachte sie mit einem Handzeichen zum Schweigen. Ich fügte noch schnell hinzu: »Ich erkläre dir nachher alles. Wir sollten sowieso miteinander reden. Aber jetzt lass mich bitte erstmal in normale Kleidung wechseln.«
Ich zog mich um und verschwand dann erst einmal schnellstmöglich aus der Kabine. Ein Stück entfernt stand Jaron und kam sofort auf mich zu, als er mich bemerkte.
Als er vor mir stand, sprudelte es nur so aus ihm heraus: »Ich wollte mich nochmal für vorhin entschuldigen. Das war nicht so gemeint. Ich habe ein wenig überreagiert. Und ich wollte dich fragen, ob ich dich vielleicht als Entschuldigung auf ein Eis einladen darf?«
»Das musst du nicht. Ich verstehe dich und es ist schon verziehen«, erwiderte ich vorsichtig.
»Dann frag ich dich eben einfach so, ob du Lust hättest mit mir ein Eis essen zu gehen. Im Gegensatz zu deinen Mitschülerinnen, die mir teilweise ein bisschen Angst machen, weil sie mich so gruselig anstarren, finde ich dich nämlich echt nett. Ich würde dich gerne näher kennenlernen und meine Reaktion vorhin irgendwie wieder gut machen.
Und es wäre echt schön, wenn du mir vielleicht bei der Gelegenheit ein bisschen von der Gegend zeigen könntest. Ich kenne mich hier kaum aus und bin vor lauter Umzugsstress noch nicht einmal dazu gekommen mir den Strand anzusehen, dabei liebe ich das Meer. Ich weiß auch nicht, wo es hier ein Eiscafé gibt, das müsstest du mir dann auch verraten. Bitte sag ja.«
»Okay. Du hast mich überredet. Mir ging es damals an der neuen Schule ziemlich ähnlich. Kaum hatte ich mich halbwegs eingerichtet, da ging auch schon die Schule los und ich hatte mich noch kein bisschen umgesehen. Als ich dann aber einen richtig schönen Waldsee gefunden hatte, fand ich auch die Tatsache, dass ich meine ganzen Freunde und die Nordsee hatte zurücklassen müssen, etwas weniger schlimm.
Vielleicht lasse ich mich nach dem Eis essen sogar dazu überreden, dass ich dir meinen Lieblingsplatz am Strand zeige. Diesen Ort habe ich vermutlich am meisten vermisst, während ich weg war. Man kann dort so schön einfach nur dem Rauschen der Wellen zuhören. Und man hat dort einfach mal für eine Weile seine Ruhe.«
»Jetzt machst du mich neugierig, denn so einen Ort brauche ich definitiv dringend! Ich hasse diesen ganzen Stress. Meine Freunde haben mich bei einigen Gelegenheiten als verrückt betitelt, weil ich lieber allein irgendwo in der Natur gesessen habe, als mit ihnen auf irgendeine idiotische Party zu gehen.«
Ich wollte gerade etwas erwidern, als uns Maries Stimme unterbrach.
»Elodie, kommst du?«, rief sie. Ich drehte mich um und sah sie bei dem alten Nussbaum stehen.
»Ich komme gleich«, rief ich zurück und wand mich noch einmal zu Jaron um.
»Willst du meine beste Freundin kennenlernen oder zählt sie für dich im Moment noch zu den Kandidaten alla ‚Gruseliges Anstarren‘?«, fragte ich ihn lachend, »sie ist eigentlich der netteste Mensch der Welt, aber manchmal ein wenig zu offen und direkt. Aber sie hat mich in der Grundschule unter ihre Fittiche genommen und ich verdanke ihr mein Überleben in dem MittelstufenAlbtraum.«
»Das musst du nicht, ich will euch nicht stören. Ich finde den Klassenraum bestimmt auch irgendwie allein«, antwortete er und sofort war wieder dieser schüchterne Ausdruck auf seinem Gesicht.
Doch so leicht entwischte er mir nicht, denn ich hatte auch ein bisschen die Hoffnung, dass mir das Ausfragen erspart blieb, wenn ich die beiden einfach einander vorstellte.
Ich nahm ihn fröhlich beim Arm und zog ihn mit den Worten mit: »Jetzt mach dich doch nicht lächerlich, wie solltest du uns denn stören? Das zählt nicht als Ausrede. Komm schon, du musst den Rest doch sowieso irgendwann kennenlernen!«
Mit einem Lachen willigte er ein und ließ sich von mir mitziehen. Nachdem ich die beiden einander vorgestellt hatte, schlenderten wir zusammen zum nächsten Raum, in dem wir nun Deutsch hatten.
Marie und Jaron verstanden sich zwar ganz gut, aber ich sah ein, dass die beiden nicht ganz auf einer Wellenlänge waren. Ich stellte Jaron noch die restlichen Mitschüler vor, die ihn alle freundlich willkommen hießen. Während er sich aber von den anderen ein wenig distanzierte, freundeten wir uns immer mehr an.
Wir verbrachten so ziemlich den Rest des Tages miteinander und ich ließ ihn nur für einen kurzen Moment allein, um mich mit Marie auszusprechen. Marie bestand weiterhin darauf, dass Robin ein guter Fang sei und ließ sich nicht davon abbringen, mit ihm auszugehen. Aber immerhin akzeptierte sie die Tatsache, dass meine Meinung über ihren neuen Schwarm eine andere war, und wir beließen es schließlich dabei.
Am Ende des Schultages hatten Jaron und ich dann schon die ersten InsiderWitze und verabredeten uns für halb vier bei der Strandbar. Jaron hatte zwar logischerweise keine Ahnung, wo die Strandbar war, aber ich erklärte ihm schnell, dass wenn man über den Hauptzugang den Strand betrat, die Strandbar und der Surfbrettausleih kaum zu übersehen waren.
Wir verabschiedeten uns gerade voneinander, als uns auffiel das wir beide in die gleiche Richtung fahren mussten.
»Du wohnst auch in die Richtung?«, fragte er lachend, als wir uns an der Fußgängerampel wiedertrafen.
»Wie es der Zufall so will, ja!«, erwiderte ich ebenfalls lachend. Also schwangen wir uns gemeinsam wieder auf unsere Fahrräder, als die Ampel auf Grün sprang, und fuhren in einem gemütlichem Tempo nebeneinanderher.
Auf dem Weg beantwortete ich alle seine Fragen zu unseren Mitschülern und Mitschülerinnen und dem Lehrkörper. Ich erzählte ihm, dass wir die Dekanin in der Schülerschaft alle als Drachen bezeichneten. Und er pflichtete mir bei, dass dieser Name, obwohl er die Dekanin erst zweimal gesehen hatte, mehr als hundertprozentig zu dieser Frau passte.
Die Dekanin war eine große, kräftig gebaute Frau mit kohlrabenschwarzem Haar, dass sie immer in einem strengen Dutt trug. Neben ihrem etwas furchteinflößenden Äußeren hatten auch ihr Blick und ihr gesamtes Gebaren dazu beigetragen, dass sie sich den Spitznamen Drachen eingehandelt hatte.
Sie sah einen immer an, als würde sie jeden Moment Feuer spucken, um die ganze verdammte Schule in Brand zu stecken. Zudem war sie alles andere als freundlich und hütete ihr Büro und die ihr anvertrauten Unterlagen, wie ein Drache seinen Schatz.
Schließlich mussten wir uns trennen. So gut, wie es möglich war, umarmte er mich über unsere Fahrräder. Mit einem letzten Lächeln schob er sein Fahrrad in den Hinterhof eines großen, weiß getünchten Hauses mit dem klassischen roten Ziegeldach.
Trotz der traditionellen Elemente, die in dem Haus verbaut waren, wirkte es unglaublich modern und vor allem kostspielig. Aber darüber machte ich mir nicht weiter Gedanken, sondern trat wieder in die Pedalen.
Er wohnte nur zwei Blocks weiter, weshalb ich nicht mehr lange fahren musste, bis auch ich zu Hause war.
Ich hatte ziemlich gemischte Gefühle. Ich wusste nicht, was ich über unsere Freundschaft denken sollte. Jaron war echt verdammt nett und so was von süß, aber irgendwie war er auch ein wenig komisch. Besonders die Reaktion auf meine Frage wegen seines Rucksacks bereitete mir immer noch ein wenig Kopfschmerzen.
Zuhause traf ich nur meinen kleinen Bruder Louis und unsere schwarze, dreijährige Katze Minka an. Meine Mutter Nicole war mit unserem Hund Spike zum Impfen beim Tierarzt, mein großer Bruder Philip noch in der Berufsschule und mein Vater David auf der Arbeit.
Der Duft des Mittagessens hatte mich geradewegs in die Küche gelockt. Louis saß am Küchentisch und lud sich gerade eine große Portion vegetarische Spaghetti Bolognese auf seinen Teller. Die vegetarische Bolognese meiner Mutter gehörte definitiv zu meinen Lieblingsspeisen, weshalb ich es kaum erwarten konnte, mir ebenfalls einen Teller zu nehmen.
Ich bugsierte also schnell meinen Rucksack in die Ecke neben der Tür und gesellte mich zu meinem Bruder an den Tisch. Während ich mir ebenfalls eine große Portion auf einen Teller lud, fragte ich ihn neckend: »Na, wie geht es Kathi?«
Kathi ist ein Mädchen aus Louis Klasse und er war furchtbar in sie verliebt. Die beiden sind eigentlich ganz gute Freunde, aber Louis traute sich nicht sie nach einem Date zu fragen, geschweige denn ihr seine Liebe zu gestehen.
Ja klar, ich hatte leicht reden. Ich hatte nicht wirklich ein recht, ihn dafür zu verurteilen, weil ich damit ja nicht einmal ansatzweise Erfahrungen hatte. Ich hatte es schließlich bisher nicht nötig gehabt einen Jungen, in den ich verliebt war, zu fragen, ob er mit mir ausgehen will.
Aber komplett unerfahren war ich auch nicht, schließlich musste ich jeden Tag die Schwärmereien meiner Freundinnen ertragen und wurde gelegentlich sogar zu Doppeldates gezwungen.
Louis war dagegen nicht so gut auf das Thema zu sprechen, weshalb ich einen bösen Blick erntete. Mit gespielt genervter Stimme fügte er hinzu: »Das geht dich überhaupt nichts an. Das ist mein Ding. Aber wenn du es so genau wissen willst: Ihr geht es sehr gut.«
Ich lachte: »Ist ja gut, kleiner Bruder. Beruhige dich. Es macht einfach so unglaublich viel Spaß, dich ein wenig zu necken. Aber okay, wechseln wir das Thema. Wie war es in der Schule? Habt ihr vielleicht irgendeine Klausur zurückbekommen oder so?«
»Ja, ich habe in Englisch eine zwei plus geschrieben. Und wie lief es bei dir so?«, erwiderte er.
»Super! Tja, ich kann dir leider nicht das Wasser reichen. Ich habe in Deutsch nur eine drei zurückbekommen, aber dafür haben wir seit heute einen neuen Mitschüler. Sein Name ist Jaron und ich bin für den Anfang für ihn zuständig. Das heißt, ich soll ihm alles zeigen und so weiter. Er ist echt nett und hat mich gebeten ihm ein wenig die Stadt zu zeigen, da er sich noch nicht wirklich gut auskennt. Wir treffen uns nachher an der Strandbar.
Deswegen wollte ich dich ganz lieb fragen, ob du heute noch nichts vorhast und bitte mit Spike gehen könntest. Ich weiß, ich wäre heute eigentlich an der Reihe, aber ich hatte es in dem Moment total vergessen und wie gesagt Jaron versprochen, ihm die Stadt zu zeigen!«
»Oh ho. Läuft da etwa was?«, rief er lachend und zwinkerte mir schelmisch zu, »und tut mir leid, aber ich kann leider nicht mit Spike gehen. Kevin und ich wollten nachher in irgendeinen Park fahren.«
Das hatte ich jetzt wohl verdient, nachdem ich ihn vorhin mal wieder mit seiner Liebe zu Kathi aufgezogen hatte. Trotzdem konnte ich mich nicht zurückhalten und antwortete vermutlich etwas zu schnell: »Ich will ihm nur die Stadt zeigen, Louis! Da läuft gar nichts!«
»Wenn du dich schon so zierst, dann scheint da ja tatsächlich etwas dahinter zu stecken. Ich wollte dich eigentlich nur ein bisschen aufziehen. Elodie liebt Jaron, Elodie liebt Jaron.«
»Hey, das ist nicht fair. Ich darf nicht über Kathi sprechen, aber du darfst solche Gerüchte in die Welt setzen. Das nennst du Gerechtigkeit?«
»Also liebst du ihn wirklich!«
»Nein!«
»Dooooch!«
Ich hätte meinem kleinen, nervigen Bruder am liebsten den Mund gestopft, verdrehte aber stattdessen nur die Augen und widmete mich wieder meinem Teller Spagetti. Ich wusste, dass ich mich jetzt zusammenreißen musste, weil Louis das sonst nur falsch interpretieren würde.
Aber Louis gab einfach nicht auf. Den Rest des Essens zog er mich mit Sprüchen auf und bekam sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Da merkte man doch noch den Altersunterschied zwischen uns beiden, dachte ich genervt.
Nachdem ich meinen Teller leer hatte, schnappte ich mir schnell meinen Rucksack und Minka und stiefelte hoch in mein Zimmer.
Mein Zimmer war so gesagt der Dachboden. Als Kind hatte ich es gehasst, weil ich immer diese blöde Leiter hochklettern musste, um in mein Zimmer zu kommen. Und dann waren da noch diese nervigen Dachschrägen, die das Platzieren von Möbelstücken und das aufrechte Gehen an einigen Stellen echt erschwerten.
Inzwischen liebte ich aber die Ruhe, die mir die Abgeschiedenheit hier oben bot. Zudem war es der größte Raum im ganzen Haus und ich hatte mich inzwischen ganz gut mit den Dachschrägen arrangiert. Außerdem hat man durch das große Fenster einen fantastischen Ausblick auf den Strand. Aber manchmal war ich auch heute noch genervt.
Die Wände meines Zimmers waren in einem sanften hellgrünton gestrichen, was meiner Lieblingsfarbe entsprach. Wenn man darauf saß, konnte man direkt aus dem großen Fenster auf den Strand hinausschauen.
Mein Zimmer hatte so gut wie alles, was das TeenieHerz begehrte. Außerdem war es aufgeräumt und mit meiner persönlichen Note versehen. Alles drückte meine volle Persönlichkeit aus. Weshalb ich auch darauf bestanden hatte alles selbst einzurichten. Es hatte lange gedauert, aber ich war sehr stolz auf mich.
Schnell setzte ich nun Minka auf dem Bett ab, schnappte mir die Fernbedienung und warf mich zu der Katze.
Ich war total aufgewühlt und aufgeregt wegen der bevorstehenden Verabredung. Ich wusste überhaupt nicht, was ich denken sollte. Ich glaube, mein Bruder hatte Recht. Ich hatte mich wirklich ein wenig in den geheimnisvollen Jungen verguckt.
Minka schmiegte sich an mich, während ich ihr sanft über den Pelz strich. Ihr warmes, weiches Fell beruhigte meine Nerven. Mir schossen tausende Gedanken durch den Kopf. Ich war noch nie verliebt gewesen und dieses Gefühl machte mich irgendwie verrückt. Es war auf eine gewisse Weise fantastisch, aber, dass ich die ganze Zeit an Jaron dachte, machte mir auch ein wenig Angst.
Plötzlich fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit mit der Fernbedienung in der Hand auf den Fernseher starrte, obwohl ich diesen überhaupt nie angeschaltet hatte. Ich hatte vollkommen vergessen auf den Anschaltknopf zu drücken.
Aber das hatte sich nun sowieso erledigt, denn ich hörte in dem Moment unten die Türe und Spike, der, den Geräuschen nach zu urteilen, wieder wie verrückt durch die Gegend sprang. So drückte unser zweites Fellknäuel in den meisten Fällen seine Freude aus. Meine Eltern hatten lange Zeit versucht es ihm abzutrainieren, aber dieser Hund war einfach ein einziges Energiebündel und kaum zu bändigen, wenn er sich freute.
Ich lief schnell die Treppen runter, während die verwunderte Minka allein auf dem Bett zurückblieb. Die Katze hatte einen eigens für sie entwickelten Weg aus meinem Zimmer raus, weshalb ich mir keine Sorgen machen musste, dass sie nicht mehr runterkam.
Als ich die letzten Stufen hinabsprang, kam Spike sofort auf mich zu gestürzt. Er warf mich vor Freude fast um und ich konnte mich gerade noch so am Treppengeländer abfangen. Zu meiner eigenen Sicherheit hockte ich mich auf die unterste Stufe und begrüßte Spike ausgiebig. Schwanzwedelnd wollte er mir gerade das hundertste Mal versuchen, ein Küsschen zu geben, als ich meinen Bruder etwas sagen hörte, wofür ich ihn am liebsten erwürgt hätte.
»Ach so, Mama, stell dir vor Elodie hat heute ein Date!«
Um weitere Ausführungen seinerseits zu verhindern, platzte ich schnell in die Unterhaltung und legte Widerspruch ein.
»Louis!«, rief ich und funkelte meinen kleinen Bruder böse an.
»Mama, das stimmt gar nicht! Das ist kein Date«, fügte ich dann an meine Mutter gewandt hinzu.
»Und was ist es dann?«, erwiderte Louis, der wieder sein schelmisches Grinsen aufgesetzt hatte.
»Wie wäre es, wenn du Kathi endlich deine Liebe gestehen würdest, statt dich in das Leben anderer Leute einzumischen!«, pfefferte ich zurück.
»Das geht dich überhaupt nichts an!«, kam prompt seine Antwort und er schleuderte mir eine Spagetti, die er aus dem Topf geangelt hatte, entgegen. Ich fing sie auf und pfefferte sie direkt auf gleichem Weg zurück.
»Schluss jetzt! Hört auf damit! Elodie erzähl«, ging meine Mutter dazwischen.
Sie war schon immer die Streitschlichterin in unserer Familie gewesen und tatsächlich war ich ihr grade auch ein wenig dankbar dafür. Auch wenn ich eigentlich nicht vorgehabt hatte, die Geschichte mit Jaron vor meinen Eltern auszubreiten, bevor ich mir sicher war, was da eigentlich genau abging.
Aber da mein kleiner Bruder mich jetzt nun mal in diese Lage gebracht hatte, erzählte ich es möglichst neutral meiner Mutter: »Heute ist ein Neuer in unsere Klasse gekommen. Er heißt Jaron und ich bin am Anfang dafür zuständig, ihm alles zu zeigen. Und er hat mich gebeten ihm die Stadt zu zeigen, da er sich hier noch kein bisschen auskennt. Das ist also kein Date!«
»Okay«, begann meine Mutter, »Louis, wenn es für Elodie kein Date ist, dann ist es auch keines. Aber es ist schön zu wissen, dass du endlich Interesse an Jungs zeigst, Elodie.«
»Mama. Ich dachte du wärest auf meiner Seite! Ich wurde ihm zugeteilt, mehr nicht!«, rief ich empört.
In dem Moment klingelte mein Telefon, was bedeutete, dass das Gespräch beendet war. Ich flitzte schnell die Treppe und die Leiter hoch und warf mich mit dem Telefon am Ohr aufs Bett.
»Hey, Elodie hier«, meldete ich mich.
»Hey, beste Freundin. Hast du Bock mit ins Kino zu gehen. Franzi, Dennis und ich wollten heute Nachmittag in den neuen SuperheldenFilm gehen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal genau wie der Film heißt, aber die beiden haben mich irgendwie dazu überredet und ich könnte ein wenig Unterstützung von einer weiteren Unwissenden gebrauchen!«, kam die Stimme von Marie aus dem Hörer.
»Oh, sorry. Ich würde super gerne mitkommen, aber ich habe leider schon was vor. Jaron hat mich gebeten, ihm die Stadt zu zeigen und hat mich auf ein Eis eingeladen«, antwortete ich.
»Oh okay, schade. Wo wir gerade von Jaron reden. Was läuft da zwischen euch?«, fragte sie vorwurfsvoll.
»Da läuft gar nichts. Und überhaupt, was meinst du damit?«
»Erzähl keine Scheiße. Ich kenne dich gut genug, um zu sehen, dass du ihn wirklich magst. Ihr habt heute den ganzen Tag wie Kletten zusammengehangen, habt heute Mittag sogar ein Date und jetzt willst du mir weißmachen, dass da nichts läuft. Mein liebste beste Freundin, ich fordere jetzt sofort die Wahrheit.«
»Die Wahrheit ist einfach nur, dass wir uns sehr gut verstehen. Und er hat mich einfach nur gefragt, ob ich ihm die Stadt zeige. Das ist also kein Date!«
»Verdammt Elodie, sieh es ein. Das ist definitiv ein Date. Ich wünsche dir ganz viel Spaß. Tue nichts, was ich nicht auch tun würde! Bis morgen.«
Ich konnte das Zwinkern durch den Hörer regelrecht hören und ihr Grinsen vor meinem inneren Auge deutlich sehen. Aber ich ignorierte ihre Andeutungen einfach und antwortete: »Danke! Ich wünsche euch auch viel Spaß. Bis morgen.«
Tatsächlich verstand ich mich mit Dennis sowieso nicht so gut, weshalb ich froh darüber war, dass ich einen guten Grund hatte, um abzusagen. Marie war leider ziemlich gut mit ihm befreundet, weshalb ich mich gelegentlich damit abfinden musste, dass er dabei war.
Wir hatten inzwischen schon kurz vor drei Uhr. Ich musste mich so langsam fertig machen, denn ich wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Aber meine immer weiter ansteigende Nervosität ließ meine Gedanken und Gefühle regelrecht Achterbahn fahren. Ich wusste gar nicht mehr wohin mit mir und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Wieder einmal fragte ich mich, was bloß los mit mir war. Ich verhielt mich doch sonst auch nicht so. Bei meinem letzten Doppeltdate, zu dem mich Marie mitgeschleppt hatte, hatte ich mir einfach schnell fünf Minuten bevor ich losmusste, irgendetwas übergeschmissen. Aber dieser verdammte Junge brachte mich völlig aus dem Konzept.
Die Kommentare meiner Familie und meiner besten Freundin, die ich in der vergangenen Stunde über mich hatte ergehen lassen müssen, waren auch nicht unbedingt zuträglich zu meinem emotionalen Zustand gewesen. Bevor alle angefangen hatten, auf mir herumzuhacken, war ich wirklich der festen Überzeugung gewesen, dass es bei diesem Treffen einfach nur darum ging, dass ich Jaron die Stadt zeigte.
Aber nachdem nun alle so sehr davon überzeugt waren, dass dahinter mehr steckte, begann auch ich so langsam an dieser Tatsache zu zweifeln. Vielleicht war Jarons Einladung tatsächlich nicht nur freundschaftlich und eigennützig gewesen.
Im nächsten Moment zweifelte ich aber auch schon wieder daran, dass ein Junge irgendetwas anderes als Freundschaft für mich empfinden könnte. Er wollte sich ganz sicher nur für seine unhöfliche Reaktion entschuldigen und die Stadt gezeigt bekommen.
Aber trotzdem blieb die Nervosität. Sollte ich ganz normal in T-Shirts und Shorts gehen oder doch lieber ein luftiges Sommerkleid anziehen? Sollte ich die Haare offen oder in einem Zopf tragen? Sollte ich etwas von dem Makeup auflegen, dass seit Monaten unbenutzt in meinem improvisierten Schminktisch herumlag oder sollte ich es lieber lassen, weil es ein falsches Signal vermitteln könnte?
Da es mitten im Sommer war und es zurzeit abends immer noch ziemlich warm blieb, entschied ich mich für ein Sommerkleid. Doch welches von den vielen, die meinen Kleiderschrank bevölkerten, sollte ich anziehen? Ich sprang also vom Bett auf und hüpfte in meinen Kleiderschrank.
Ich liebte diesen begehbaren Schrank. Vor dem Umzug auf den Dachboden hatte ich mir immer einen gewünscht, deswegen war das das Erste gewesen, was in mein Zimmer gemusst hatte.
Ich hatte auch hier drin eine strikte Ordnung, weshalb ich schnell das passende Kleid fand. Es war mein Lieblingskleid und ich war deshalb so vernarrt in dieses Kleid, da es in meiner liebsten Farbe erstrahlte. Die schmalen Träger gingen auf dem Rücken überkreuz und der Rock war leicht asymmetrisch geschnitten. Ein paar einfache Sneaker, die man am Strand leicht an und wieder ausziehen konnte, vollendeten das Bild.
Ich entschied mich die Haare zu einem seitlichen Zopf zu flechten, damit sie mir nicht ins Gesicht flogen, wenn der NordseeWind am Strand um uns fegte. Das Makeup würdigte ich letztendlich keines Blickes, da ich nicht mal so richtig gewusst hätte, was ich mit den Produkten machen sollte. Bei den wenigen Anlässe, zu denen ich Makeup aufgelegt hatte, hatte Marie sich um mein Gesicht gekümmert.
Mein Handy, ein wenig Geld, mein Fernglas, mein Notizbuch, das eigentlich immer bei mir war, um Sachen aufzumalen oder aufzuschreiben, und meine Kamera landeten in einer hellroten Tasche und fertig war ich.
Jetzt war es schon kurz nach drei und mir fiel siedeheiß wieder ein, dass ich noch mit dem Hund gehen sollte. Verdammt, wie sollte ich das in der kurzen Zeit noch schaffen, ich musste doch auch noch irgendwie zum Strand kommen. Und ich hatte nicht einmal die Handynummer von Jaron.
Da ich mich an die Begeisterung von Jaron erinnerte, als ich erwähnte, dass wir einen Hund hatten, entschied ich mich Spike vorerst mitzunehmen. Wenn er uns störte, konnten wir das wilde Monster auch einfach wieder schnell zurückbringen.
Ich hüpfte also die Treppen runter und rief den schwarzen Labradormischling zu mir. Mein Bruder hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und meine Mutter schien im Garten zu sein.
Spike kam auf meinen Pfiff sofort mit seinem Geschirr in der Schnauze angerannt. Er wusste genau, dass ich jetzt mit ihm spazieren gehen wollte.
Nachdem ich ihm das Geschirr mühevoll übergezogen hatte, da er wegen seiner schrecklichen Ungeduld einfach nicht stillhalten konnte, ging ich durch die Hintertür und rief schnell meiner Mutter zu, dass ich jetzt losging und den Hund mitnahm. Irgendwo zwischen den Rosenbüschen hob sich eine Hand und winkte mir.
»Viel Spaß«, rief sie mir noch hinterher, als ich schon auf dem Weg durch den Garten war.
»Danke!«, rief ich zurück und klinkte die Leine in Spikes Geschirr ein.
Wir wohnten ganz hinten in einer Sackgasse und man konnte durch ein Türchen aus unserem Garten auf die Düne kommen. Ich ging also hintenraus auf die Düne. Der Hauptzugang zum Strand befand sich links von mir, doch ich hatte lieber Lust durch den Sand zur Strandbar zu gehen. Deshalb ging ich auf der anderen Seite die Düne hinab, zog meine Schuhe aus und führte Spike über den Sand.
Langsam kam die Strandbar in Sicht. Ich hatte Spike bisher freilaufen gelassen, nahm ihn jetzt aber wieder an die Leine, da die Hunde ab hier an der Leine geführt werden mussten. Hinter der Strandbar durften Hunde tatsächlich gar nicht mehr auf den Strand. Für solche Regeln würde ich nie Verständnis aufbringen können.
Bei der Strandbar angekommen sah ich Jaron in einem der Strandkörbe sitzen, wo er es sich gemütlich gemacht hatte, um auf mich zu warten. Ich schlenderte gemütlich zu ihm, um Spike nicht den Eindruck zu vermitteln, dass diese Person ein Freund war, sonst wäre er zu Beginn schon kaum noch zu halten gewesen.
Als Jaron mich dann entdeckte, blickte er im ersten Moment verwundert und etwas verwirrt auf den Hund, der ihn inzwischen bemerkt hatte und am liebsten schwanzwedeln zu ihm in den Strandkorb gesprungen wäre.
Doch im nächsten Moment wandelte sich sein Gesichtsausdruck zu einem freudigen Strahlen und er rief: «Ja, was bist du denn für ein Süßer!«
Jetzt war Spike nicht mehr zu halten und ich flog regelrecht hinter ihm her auf den Strandkorb zu.
»Spike, du Höllenhund!«, fluchte ich und brachte das ungestüme Tier wieder unter Kontrolle.
»Tut mir leid, er ist noch ziemlich jung und etwas ungestüm. Ich hatte vergessen, dass ich heute an der Reihe war mit ihm rauszugehen und mich dann erinnert, dass du ihn gerne kennenlernen wolltest. Ich hoffe, es ist okay, dass ich ihn jetzt direkt so unangekündigt mitgebracht habe. Er ist ein ganz Lieber, also keine Angst. Er freut sich einfach immer ein bisschen zu doll.
Wir können ihn gleich auch direkt wieder heimbringen, ich denke er hatte dann mehr als genug Auslauf und vor allem Aufregung!«
Jaron lachte, streichelte Spike über den Kopf, während er versuchte der schleckenden Zunge auszuweichen, und sagte: »Keine Sorge. Ich liebe Hunde wirklich und es wäre für mich auch nicht schlimm, wenn er die ganze Zeit dabeibliebe. Du musst ihn also auch gar nicht wieder nach Hause bringen.«
»Aber ich wollte dir doch die Stadt zeigen und das wäre alles andere als einfach, wenn wir dieses Monster dabeihätten!«, erwiderte ich.
»Das ist doch nicht weiter tragisch. Ich finde es sowieso viel interessanter dieses süße Fellknäuel näher kennenzulernen und mir reicht es vollkommen, wenn du mir nur kurz zeigst, wo ich die wichtigsten Orte finde. Genauer anschauen kann ich mir die Orte dann immer noch bei Bedarf!«
»Ist es wirklich nicht schlimm?«, fragte ich noch einmal.
»Nein. Aber wir sollten so langsam losgehen, statt zu diskutieren, sonst schaffen wir doch bestimmt gar nicht alles. Wo wollen wir überhaupt als erstes hin? Du musst mich doch führen«, antwortete er lachend.
»Also ich würde sagen, wir gehen als erstes zu meinem LieblingsEiscafé. Da können wir uns dann auch ein Eis kaufen. Danach gehen wir am besten zum Kino, der Jugenddisco und dem Kaufhaus und am Ende zeige ich dir den Strand und meinen Lieblingsplatz. Ich denke das wäre die sinnvollste Reihenfolge.«
»Okay, klingt gut! Dann gehen Sie mal voraus, Mylady.«
Seine förmliche Ansprache brachte mich unwillkürlich zum Lachen und ich wusste schon jetzt, dass das ein schöner Tag werden würde.
»Folgen Sie mir, der Herr«, konterte ich.
Ich führte ihn den Weg von der Strandbar zur Düne und über die Treppe in Richtung Altstadt. Wir liefen schweigend, während Spike uns immer ein Stück voraus war. Schnuppernd lief er auf dem Weg von Seite zu Seite und hätte so einmal beinahe eine Frau umgeschmissen, die uns entgegenkam. Das wäre dann aber ehrlich gesagt auch ein wenig ihre Schuld gewesen, da sie die ganze Zeit auf ihr Handy schaute.
»Meine Tante hat auch einen Hund und ich freue mich immer, wenn wir sie endlich mal wieder besuchen«, begann Jaron ein Gespräch, »er ist ein kleiner WestHighlandWhiteTerrier und noch ziemlich jung. Da er immer aussieht, als würde er lachen, haben wir ihn Lucky getauft. Was ist eigentlich Spike für eine Rasse. Er sieht ein wenig nach einem Labrador aus, aber gleichzeitig auch irgendwie wieder nicht.«
Froh darüber, dass er das Schweigen gebrochen hatte, antwortete ich ihm: »Du hast zum Teil recht. Spike ist ein Labradormischling. Wir wissen leider nicht, was die andere Rasse ist, aber wir wissen ja nicht einmal genau wie alt er ist und wo er überhaupt herkommt. Das liegt daran, dass wir ihn in Rumänien aus einer Tötungsstation gerettet haben. Warst du schon mal dort. Das ist schrecklich. Tausende von Hunden, die völlig eingeengt in verdreckten Zwingern auf ihren Tod warten.«
Ich musste immer wieder daran denken, wie wir den kleinen, verängstigten Hund gefunden hatten. Er hatte ganz allein in der hintersten Ecke gesessen. Der Boden seines dunklen Gefängnisses war mit Kot und toten Insekten bedeckt gewesen.
Außerdem war er von den anderen Hunden ziemlich schlimm zugerichtet worden. Er hatte überall an seinem Körper offene Wunden gehabt, die sich entzündet hatten und entsprechend nicht richtig heilten.
Ich hatte mich sofort in seinen süßen und treuen Blick verliebt. Auch meine Eltern und meine Brüder hatte er sofort in seinen Bann gezogen. Also hatten wir ihn mit nach Deutschland genommen, wo die zuvor notdürftig von uns versorgten Wunden von einem Tierarzt behandelt worden waren.
Zu Beginn hatte er nur mir wirklich vertraut, aber sein Misstrauen gegenüber anderen löste sich schon bald in Luft auf. Stattdessen wich das Misstrauen einer unendlichen Freude gegenüber anderen Menschen, was wir uns nicht einmal ansatzweise hatten erhoffen können.
Seitdem war er zu einem unglaublich wichtigem Teil der Familie geworden und wir würden ihn für kein Geld der Welt hergeben. Während ich in Gedanken an die Vergangenheit stecken geblieben war, war ein stilles Schweigen zwischen Jaron und mir ausgebrochen.
Kurz bevor wir nun beim Eiscafé ankamen, brach Jaron dies aber wieder: »Ja, ich bin auch schon einmal in Rumänien gewesen. Ich wollte auch so gerne einen Hund von dort retten, aber meine Eltern haben das mal wieder nicht zugelassen. Ich habe mich dann heimlich in eins der Tierheime geschlichen und mich um die Hunde dort gekümmert. Die Besitzerin kam ursprünglich aus Kanada und hat mich deswegen sehr gerne dort aufgenommen.
Meine Eltern dachten, dass ich in der Stadt unterwegs wäre, während ich mit den Hunden schmuste. Einen Hund hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Er war ein junger Boxer und wir haben ihn Balu getauft. Man habe ich diesen Hund geliebt.
Immer wieder habe ich meine Mutter die Bilder auf der Webseite gezeigt, aber ich konnte sie natürlich nicht überreden. Erst da habe ich erfahren, dass mein Vater allergisch ist. An meinem letzten Tag im Tierheim habe ich erfahren, dass Balu schwer krank ist. In Rumänien hatten sie nicht die Möglichkeiten ihm zu helfen.
Sonja, die Besitzerin, wollte ihn nach Kanada bringen, damit er behandelt werden konnte. Doch dafür benötigte sie einen Flugpaten, also jemanden, der die Verantwortung für den Hund für die Dauer der Reise übernimmt.
Tatsächlich schaffte ich es meine Eltern dann doch irgendwie zu überzeugen, zumindest diese Flugpatenschaft zu übernehmen, solange ich eben akzeptierte, dass wir Balu auch später nicht aufnehmen würden.
In Kanada habe ich ihn dann regelmäßig in der Tierklinik besucht, in der er behandelt wurde, weil ich einfach wissen musste, wie es ihm ging. Leider hat er den Kampf gegen seine Krankheit nicht überlebt.«
Tränen standen in Jarons Augen. Auch mir waren die Tränen gekommen. Ich versuchte ein paar tröstende Worte zu sagen und legte dabei vorsichtig meinen Arm um seine Schultern. Er ließ es zu und versuchte ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Doch ich konnte den Schmerz immer noch deutlich in seinen Augen sehen.
Wir waren inzwischen bei meinem LieblingsEiscafe angekommen und ich blieb in einiger Entfernung stehen, weil ich Jaron jetzt gerade nicht direkt in die Schlange davor zerren wollte.
»Ich sehe wir sind da«, sagte er und diesmal legte sich ein echtes Lächeln auf seine Lippen, was sogar seine Augen erreichen konnte.
»Ja genau. Wenn du willst, können wir uns hier erst einmal einen Moment auf eine Bank setzen. Ich kann verstehen, wenn du noch einen Moment brauchst!«
»Nein. Ist schon okay. Es geht wieder«, sagte er mit gebrochener Stimme, »tut mir leid, dass ich gerade die Stimmung ein wenig vermiest habe. Normalerweise erzähle ich sowas gar nicht. Vor allem nicht Menschen, die ich gerade erst getroffen habe. Aber irgendwie hast du so eine Ausstrahlung, die es einem leicht macht, dir Dinge anzuvertrauen.«
Ich wurde knallrot bei diesem Kompliment und starrte peinlich berührt auf meine Füße. Dadurch bemerkte ich auch gar nicht, dass Jaron wieder schüchtern auf den Boden blickte. Ihm waren die Worte einfach so herausgerutscht, ohne dass er vorher groß darüber nachgedacht hatte.
»Dann wollen wir mal schauen, ob dieses Eiscafé tatsächlich so gut ist, dass es den Titel ‚LieblingsEiscafé‘ verdient hat!«, durchbrach Jaron schließlich die peinliche Stille, die sich nach seinem Kompliment zwischen uns gebildet hatte.
»Oho, soll das etwas eine Herausforderung sein? Lass das bloß nicht Giuseppe hören! Du solltest niemals die Fähigkeiten eines Italieners bezüglich der Zubereitung von Eis in Frage stellen!«, antwortete ich lachend und stiefelte dann auf das Café zu.
Jaron folgte mir ebenfalls mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Die Schlange hatte sich zum Glück inzwischen etwas verkürzt, trotzdem mussten wir noch geschlagene zehn Minuten warten, bis wir endlich an der Reihe waren. Dieses Eiscafé war mehr als beliebt in der Stadt und die Wahl fiel hier auch nie leicht.
Es gab einfach eine unglaubliche Auswahl an unterschiedlichen Sorten, vom klassischen Milcheis bis hin zu fruchtigen Sorbets, sodass auch ich immer wieder Probleme hatte, mich zu entscheiden.