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Die Zeit spielt eine der größten Rollen in unserem Leben. Durch sie werden unsere Entscheidungen beeinflusst und unsere Wege geformt. Sie verändert uns, bringt uns weiter und in manchen Momenten stoppt sie uns. Aber was tun wir, wenn wir in einer Welt leben, in der Zeit relativ ist? In der sie jeglichen Einfluss verliert? Stell dir vor, du wirst in genau diese Welt hinein katapultiert, ohne Vorwarnung und ohne irgendwelche Kontrolle darin zu haben. Plötzlich ist Zeit greifbar. Und trotzdem kannst du ihr nicht mehr entkommen.
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2023
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„Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.“
- Lucius Annaeus Seneca
„Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.“
- Marie von Ebner-Eschenbach
„Die Zeit verweilt lange genug für denjenigen, der sie nutzen will.“
- Leonardo da Vinci
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Zeit. Die Zeit ist unendlich und obwohl der Mensch seit jeher die Meinung vertritt, er könne sie beherrschen, ist es nie so gewesen. Ganz im Gegenteil: Die Zeit beherrscht den Menschen. Sie gibt und nimmt Leben, sie ist der ewige Kreislauf, der nicht unterbrochen werden kann. Das Einzige, was ein Mensch mehr begehrt als Geld und Macht, ist die Zeit. Und sie ist das Einzige, was der Mensch nicht besitzen kann. Das dachte ich zumindest mein Leben lang.
Jeder macht sich zu viele Gedanken über die Zeit. Welchen Verlauf hätte mein Leben angenommen, hätte ich diese eine Entscheidung nicht getroffen?
Oder wie würde ich meine Zeit nun verbringen, hätte ich sie getroffen?
Es würde jeder lügen, würde er nicht zugeben, dass er schon öfter als einem lieb ist, daran gedacht hat, wie seine Zukunft aussieht und wie man sie gestalten könnte. Ebenso gilt dies für die Vergangenheit. Wie oft lag man bereits nachts hellwach in seinem Bett und hat sich gewünscht, die Vergangenheit rückgängig machen zu können. Sie beeinflussen zu können, zu kontrollieren.
Die Vergangenheit lässt sich nicht kontrollieren, genauso wenig die Gegenwart und die Zukunft. Könnte man die Zeitgeschichte verändern, hätten wir doch schon längst all die Tragödien rückgängig gemacht, die dem Menschen so viel Leid und Not gebracht haben, oder?
Das menschliche Gehirn ist grenzenlos, wenn der Mensch es zulässt. All die Dinge, die wir geschaffen haben und die wir schaffen werden, zeigen, wie gigantisch das Vorstellungsvermögen des Menschen eigentlich ist. Ein paar Beispiele hierfür: Aus dem Nichts heraus, hat der Mensch Feuer erfunden, Schießpulver, das Flugzeug, Elektrizität, die Pyramiden, Impfstoffe, das Rad, das Internet, Schriften, die Röntgenstrahlung, die Lokomotive … Ich könnte den ganzen Tag so weiter philosophieren.
Jedenfalls sind die Möglichkeiten des Menschen mit dem Umfang seiner Fantasien und Kreativität grenzenlos. Ob dies nun positiv oder negativ wahrzunehmen ist, ist umstritten, aber der Mensch ist mächtig.
Verbindet man nun diese zwei Einzelheiten miteinander, die unkontrollierbare Zeit, die alles und jeden beherrscht, und das menschliche Gehirn, welches das noch so kleinste Detail nur für sich beanspruchen will, kommt es zu Chaos.
Wir haben dem Raum-Zeit-Kontinuum einen Namen gegeben. Das heißt noch lange nicht, dass es eine Erfindung des Menschen ist. Leider sehen das nicht alle so. Nicht ohne Grund gibt es eine Rangfolge. Sie existiert in der Natur, unter den Tieren, sie existiert in Religionen, in Familien, schon seit Jahrhunderten. Rangfolgen haben schon immer unsere Leben bestimmt. Es kann nie mehrere an der Spitze einer Rangfolge geben, nur einen.
Was würde also passieren, wenn Zeit und Mensch sich gegenübertreten und versuchen beide an der Spitze zu sein?
Es wäre schlichtweg nicht möglich. Es wäre der Weltuntergang.
Die großen steinernen Kreaturen, die mich wie so oft an kleine Drachen erinnerten, lächelten prunkvoll am Eingangstor und boten Eintritt zum Vorhof der Universität.
Jeden Morgen fand in meinem Kopf eine Diskussion darüber statt, ob ich diese Steinfiguren mögen oder gruselig finden sollte. Sie waren putzig klein mit einem langen Schnurrhaar an jeder Seite ihres Gesichtes und wie eine Katze hockten sie jeweils auf einem Podest und bewachten das eiserne Tor der Universität von Champingwell. Zugegeben, auf jenen ersten Blick wirkten sie ganz friedlich, doch ihre Augen waren das, was mir die Nackenhaare aufstellen ließ- zornig funkelnd und geheimnisvoll. Ich konnte nicht lange in diese Augen hineinsehen.
Mittlerweile gehörte es zur Gewohnheit, einen Schritt schneller an den Skulpturen vorbeizugehen und im Hof erleichtert auszuatmen.
Für die herbstliche Jahreszeit grünten die Bäume noch besonders und Laub lag auch noch recht wenig auf dem Boden verteilt.
Früher, so erzählte man es sich zumindest, hatten die Bäume und Sträucher ihre Blätter sogar verloren und es hatten eisige Temperaturen geherrscht, so kalt, dass es undenkbar gewesen war, ohne eine Jacke und Handschuhe aus dem Haus zu gehen. Und im Winter, da hatte es geschneit … Schnee, ein Wort, das heutzutage gar nicht mehr in unserem Wortschatz verankert ist.
Weißes gefrorenes Wasser war vom Himmel getropft und hatte sich in kleinen Flöckchen auf dem Boden verteilt. Dann war es noch kälter geworden und die Welt ruhiger.
Schnee wurde das letzte Mal vor achtundneunzig Jahren in Norwegen gesichtet, am damals noch kältesten Punkt der Erde, nachdem die Antarktis sich aufgelöst hatte. Seitdem kannten die Menschen keinen Schnee mehr, geschweige denn einen Winter.
Ironischerweise kitzelten zu meinen eisigen Gedanken Sonnenstrahlen mein Gesicht. Es war noch früh am Morgen und mein Zustand konnte man höchstens als physisch anwesend bezeichnen. Der erste Tag war doch bisher immer recht ermüdend gewesen und jedes Mal dasselbe: Die Neuankömmlinge staunten über das alte Gebäude und liefen überall herum, wie kleine Kinder, auf die man besonders aufpassen musste. Die schon etwas länger Studierenden gähnten und rieben sich die Augen, genervt von der frischen Motivation aller Neuen.
Und ebenfalls immer das Gleiche war der Vortrag, der von Professor Edward Houston persönlich gehalten wurde. Dieser war der Urenkel von einem der Mitgründer der Universität von Champingwell, die nach dem großen Zusammenfall gegründet worden war.
Die ersten Jahrzehnte waren recht chaotisch abgelaufen. Man hatte versucht Pläne einzuhalten, optimistisch in die Zukunft zu schauen und die Universität sowie auch ihren historischen Hintergrund als Motivation für eine Verbesserung zu nutzen.
Den drohenden Zusammensturz der damals, wenn auch in kleinster Form, intakten Infrastruktur, hatte man erfolgreich verdrängt.
Mit der Zeit hatte sich aber alles wieder beruhigt und der Hauptgründer dieses Institutes – Ronald Ricks- Gefallen an der Wissenschaft gefunden. So hatte er seine Kumpane dazu bewegt, zusammen mit ihm die Forschung zu revolutionieren und damit die Universität aufzurüsten. Nach den ersten Erfolgen in der Wissenschaft und den ersten Durchbrüchen, folgten die ersten Berichterstattungen in Vorlesungen und irgendwann hatte es sich eingebürgert, dass zu jedem Semesterstart ein Vortrag von den Gründern und später deren Nachfolgern über die aktuellen Forschungsentwicklungen gehalten wurde – zum Leiden aller.
Meistens beinhaltete dieser Vortrag dasselbe: Technologie, Erneuerungen und viele Wörter, die ich nicht verstand.
Ununterbrochen wurde nach neuen Wegen und Möglichkeiten geforscht, um die Welt wieder so herzustellen, wie sie einst gewesen war. Und obwohl es keiner ansprach, jedem war klar, dass wir in und mit dieser neuen Zeitgeschichte leben musste. Das Vergangene konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden.
Plötzlich verschwanden die Sonnenstrahlen und ich schaute verwundert auf.
Über mir fuhr die nächste Schwebebahn zum Campusinneren, um eine Ladung frischer Studenten hinauszulassen.
Seufzend begab ich mich in Richtung Inneres und beobachtete amüsiert die beeindruckten Gesichter der Neuen.
Dabei verstand ich bis heute nicht, was an dem Gelände so staunenswert war.
Das Gebäude erinnerte mich eher an ein Landhaus als an eine Universität.
Auch, wenn ich Landhäuser nur von Abbildungen aus Sachbüchern kannte.
Die Klinkerwände waren übersät mit Moos und Efeu, welche bis zum Schieferdach hinaufkrochen und die alten Holzfensterrahmen machten auf mich einen eher modrigen als eleganten Eindruck.
Auch Innen wurde die Architektur nicht besser. Die niedrige Decke machte klaustrophobische Menschen nervös, die zahlreichen Blumenmustern der Tapeten in Rosa und Blau ähnelten den Bildern in meinen Geschichtsbüchern und auch der Holzboden bedurfte einer Grundreinigung. Zusammengefasst mochte ich die Eingangshalle der Universität nicht besonders und fand sie alles andere als schön. Zum Glück hatte die Bekanntheit des Champingwell mit den Jahren so zugenommen, dass der Platz nicht mehr ausgereicht hatte und hinter der heutigen Eingangshalle- dem Landhaus- ein viel moderneres Gebäude erbaut worden war, in dem nun alle Vorlesungen abgehalten wurden.
So wie der Vortrag.
Ach ja, den hatte ich in meinen Gedanken völlig vergessen.
Vorbei an den Holzkommoden mit Blumenvasen verziert, was auch sonst, und an den Landschaftsgemälden, die an den Wänden zu begutachten waren, schlich ich mich durch den nächsten Türbogen und hinein in den neueren Gebäudeteil. Hier bestanden die Wände nicht mehr aus Klinker und kaltem Stein, sondern aus Beton mit hohen Fenstern, die die Räume lichtdurchfluteten. Der Boden war gefliest und nirgendwo war ein Blumenmuster in Sicht. Herrlich! Der Flur spaltete sich, manche bogen nach links ab, andere nach rechts. Ich nahm den geraden Weg, der sich bis zum großen Hörsaal zwar etwas länger zog, dafür hatte ich jedoch meine Ruhe vor lästigen Fragen oder vor aufgeregtem Herumgequietsche.
Dass ich Ruhe und Frieden präferierte, konnte ich wohl kaum verbergen.
Vier Treppen und eine Verschnaufpause später, kam ich am großen Hörsaal an. Er trug seinen Namen nicht ohne Grund. Hunderte Studenten fanden dort einen Platz.
Ohne zu zögern, lief ich zu einem der obersten Stühle und sicherte mir einen Platz, bei dem es mit Sicherheit nicht auffiel, falls ich einschlafen würde.
Eine Locke hatte sich aus meinem Haarknoten gelöst und rutschte penetrant in mein Gesicht. Erfolglos pustete ich sie fort. Damit war ich so lange beschäftigt, bis ein lautes Räuspern zu vernehmen war.
Die lauten Stimmen, die zuvor den Raum erfüllt hatten, verstummten abrupt.
Aufregung und Neugierde legten sich über den Saal. Ein Kribbeln auf der Haut verbreitete sich. Es stank nach muffiger Luft, Schweiß und ungemeiner Vorfreude.
„Herzlich willkommen!“, ertönte eine dunkle brummende Stimme.
Gleichzeitig wurde die Person, die sprach, nämlich Professor Edward, links und rechts an den Rand jeder Sitzreihe projiziert sowie in den Mittelgang und vorne auf die große Wand. Projizierungen faszinierten mich noch immer, obwohl es sie bereits seit etlichen Jahren gab. Für Technologie war ich nicht geschaffen, keine Frage, aber allein der Gedanke, dass die Gestalt eines Menschen genommen und vor deine eigene Nase kopiert wurde, das ließ mich erstaunen- und nicht die Fassade eines einsturzgefährdeten Gebäudes.
Dabei musste erwähnt werden, dass die Technik vor dem Zusammenbruch noch weitaus entwickelter gewesen sein musste als heute. Wir nutzten bloß die Überreste.
Professor Edward hieß alle neuen Studenten Willkommen und wünschte ihnen einen guten Start in ihren neuen Lebensabschnitt. Es folgten Floskeln über allgemeine Informationen, Regeln und Organisatorisches. Als ich auf meine Uhr stierte, waren erst fünfzehn Minuten vergangen, dabei fühlte es sich wie eine Stunde an.
„Kommen wir nun zum interessanten Teil dieser Sitzung“, verkündete er.
Ich konnte schwören, jemand hätte laut Luft abgelassen und von irgendwo war ein leises Schnarchen zu vernehmen, zwar ganz leise, aber ich hörte es!
„Seit rund dreiunddreißig Jahren forscht das Institut für Wissenschaft und Forschung Englands nun schon an Zeitebenen und dem Raum-Zeit-Kontinuum. Vor zwölf Jahren gelang uns der Durchbruch: Das Durchbrechen eines Zeitstrahls. Seitdem ist viel passiert. Jetzt können wir erstmals über die aktuellen Forschungsprojekte sprechen.“
Die Langeweile im Raum verflog innerhalb einer Sekunde. Einige setzten sich sogar auf, andere verzogen keine Miene, doch in jedem Gesicht war eine Spur von Neugier zu entdecken, sogar in meinem.
Ich hatte bereits von der Zeitforschung gehört und ich wusste, dass auch schon einige Zeitsprünge praktiziert worden waren. Das waren keine neuen Informationen, ganz im Gegenteil. Zeitsprünge waren seit mehreren Jahren möglich.
Seitdem hatte man allerdings nicht viel über die Entwicklungen dieser Forschung vernommen. Gelegentlich gab es ein oder zwei Berichterstattungen über kleine Gerätschaften, die man erwerben und selbst einen Zeitsprung wagen konnte. Was es mit ihnen auf sich hatte, wusste ich nicht. Keiner wusste das. Lediglich die Höhergestellten besaßen solche Geräte, aber für den Rest waren solche Nachrichten bloß eine Fantasie, die niemals zur Realität werden würde.
„Einen Zeitstrahl zu durchbrechen, dürfen Sie sich nicht so einfach vorstellen.
Sehen Sie die Zeit als eine Wand. Und diese Wand besteht aus tausenden und abertausenden kleineren Zeitwänden, die wiederrum aus Zeitwänden bestehen und diese bestehen nochmals aus Zeitwänden… So geht das immer weiter.
Als es dem Institut für Wissenschaft und Forschung Englands gelang, den Zeitstrahl zu durchbrechen, lagen alle Zeitwände frei. Nach und nach hatten wir mehr über sie herausgefunden und mit ihnen gearbeitet.“
Er hielt ein kleines rundes Gerät in die Höhe. Es war silbern und gerade mal so groß wie die Anzeige meiner Armbanduhr. Eigentlich sah es nicht sehr spektakulär aus.
„Zeitwände bestehen aus dutzenden von Molekülen, die sich zu einem Ganzen zusammensetzen lassen. Nun müssen Sie wissen, dass diese molekulare Ebene so winzig ist, dass wir für deren Forschung und Bearbeitung die extremsten Methoden heranziehen mussten. Aber: es ist uns gelungen den Raum und die Zeit zu trennen und jede Zeitwand für sich zu beanspruchen. Kurz gefasst, um Sie nicht mit langweiligen Informationen zu quälen: Wir haben die Zeitwand in Ihrer Struktur auseinandergenommen und neu zusammengesetzt.
Aufgrund dieser Trennung spielt der Raum für die Zeit keine Rolle mehr. Die Zeit liegt offen und frei für uns, neue Möglichkeiten zu entdecken, unsere Vergangenheit nicht nur in Büchern zu lesen, sondern mitzuerleben und unsere Zukunft zu gestalten, wie wir es wollen!“ Ein Raunen ging durch die Menge, gefolgt von Gewisper.
Jetzt hatte auch ich meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf den Vortrag gelenkt.
„Das Gerät, welches Sie in meiner Hand sehen, nennen wir schlichtweg Simulanten. Das Raum-Zeit-Kontinuum hängt nicht ohne Grund miteinander zusammen. Das eine braucht das andere, um zu funktionieren. Zusammen ergeben sie eine Struktur und trennt man sie, bricht diese Struktur auseinander. Die Simulanten haben die Aufgabe, der Zeit vorzutäuschen, Raum zu sein, mit der sie sich verknüpfen kann. Aber weil wir die Simulanten steuern, sind wir automatisch der neue Raum für die Zeit. So können wir bestimmen, wohin und wann wir in die Zeit springen wollen. Wir täuschen die Zeit!“
Professor Edward lachte. Es war ein grunzendes Lachen und steckte einige Studenten in der ersten Reihe an.
„Wir haben dem Parlament unsere neueste Entdeckung vorgestellt und nach vielen Verhandlungen stehe ich nun heute hier, um feierlich verkünden zu dürfen, dass die neueste Zeitforschung publik gemacht werden darf! Wir, das Institut für Wissenschaft und Forschung Englands als auch das Parlament sind uns einig, dass die Bildung unserer jungen Bürger noch mehr gefördert werden kann, wenn die Vergangenheit zur Gegenwart wird, wenn Geschichte hautnah miterlebt werden kann.“
Das Gewisper wurde zu lauteren Diskussionen.
Mir pochte das Herz und in meinem Kopf begann ich wieder zu diskutieren, wie morgens vor den Steindrachen. Gefiel mir diese Vorstellung oder nicht?
Zeitsprünge für jeden … Eine Möglichkeit, die zuvor nur für den Staat, die Forschung und wenige andere Menschen gegeben war.
Und jetzt für jeden.
Aber was war denn mit all den Gefahren? Der große Zusammenbruch? Die Schmelze, die Überflutung von Inseln, die berühmten brennenden Wochen, die uns viele Länder gekostet hatten?
Und noch weiter zurück: Eine Welt ohne Technologie, ohne Hilfsmittel und Grundversorgung.
„Natürlich sind viele Zeitebenen für Sie blockiert, weil es viel zu gefährlich wäre“, sagte Professor Edward als hätte er meine Gedanken gelesen. „Die sicheren Zeitabschnitte dürfen Sie jederzeit besuchen. Und wie es der Name bereits verrät: Sie sind ein Simulant. Sie werden lediglich eine Projektion sein, kaum wahrnehmbar. Für sie bestehen keinerlei Gefahren oder Bedenken.
Aber ich kann mir vorstellen, dass in dem einen oder anderen Kopf Fragen herumschwirren. Also, immer her damit!“
Sofort meldeten sich dutzende Hände. Er kam gar nicht hinterher mit Antworten. Manche wollten wissen, ob die Zeit, in die gereist werden konnte, denn veränderbar war- nein, so seine Antwort. Schließlich wären wir alle bloß Projektionen ohne jeglichen Einfluss. Andere fragten sich, was passieren würde, wenn ein Simulant während eines Zeitsprungs einen Defekt bekommtdas wäre nicht möglich, meinte er.
„Die Simulanten wurden jahrelang geprüft und von unseren besten Leuten selbst für Zeitsprünge verwendet, mehrfach. Ich kann ihnen versichern, dass alle wieder heil heimgekehrt sind. Und sollte der Fall eintreten und ein Simulant würde nicht so funktionieren, wie er sollte, dann finden Sie einen kleinen Notfallknopf an Ihrem Simulanten. Dieser schickt ein Signal in unsere Zentrale, wodurch wir sie orten können. Aber wie ich bereits sagte, machen Sie sich keine Gedanken. Unsere Simulanten sind allesamt in einem einwandfreien Zustand.“
Es ist ein Angebot des Staates an Sie. Sie müssen nirgendwohin. Wir möchten, dass die Zeitgeschichte besser verstanden wird. Diese Evolution soll verdeutlichen, dass trotz all der Schicksalsschläge, die die Menschheit eingeholt hat, Fortschritt an erster Stelle steht. Wir sind in der Lage dazu, vieles wieder so aufzubauen, wie wir es heute nur noch aus Büchern und von Erzählungen kennen. Natürlich müssen wir realistisch bleiben: Es ist vieles nicht mehr herstellbar und mit den neuen Begebenheiten müssen wir zurechtkommen. Aber wir können das Beste daraus machen.“
Mit den neuen Begebenheiten waren wohl die gewohnten Wetterkatastrophen gemeint oder dass wir, zumindest hier in England, kein Land mehr betreten durften. Stattdessen hatten wir das Leben in die Lüfte verlegt und neue Städte an Hochhäusern herangebaut. Es war uns untersagt, die Landschaften unterhalb der schwebenden Städte zu besichtigen. Dort unten hatte sich wohl sämtliche Gifte abgesetzt, welche für viele vergangene Verpestung gesorgt hatten.
Irgendwo in den Tiefen Europas- oder besser gesagt der Reste des Kontinentes- gab es noch einen Flecken Natur, den man betreten konnte.
Weiden, die bewirtschaftet wurden und Felder, durch die man laufen konnte.
Ich malte mir ständig aus, wie sich dies wohl anfühlen musste.
Aber das war bloß ein winziger Ort auf der gesamten Welt. Ansonsten lebten nicht nur die Menschen hier in England in den Lüften, nein, auch auf der restlichen Welt hatte man keine andere Wahl gesehen.
In den ersten Jahren nach dem großen Zusammenbruch, so sagte man sich, hatten die Menschen noch versucht, ihre Felder wiederaufzubauen und ihr Leben einigermaßen weiterzuleben. Doch der Boden war so verpestet gewesen, und ist es noch immer, dass es unmöglich gewesen war, sich auf dem Land ein neues Leben aufzubauen.
Die Folge: Die Natur war langsam aber sicher gestorben und zuvor hatte sie die Menschen noch mit sämtlichen Krankheiten angesteckt.
Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben als das Leben nach oben zu verlegen. Die Menschen hatten ihre Welt kaputtgemacht und wir lebten jetzt mit den Konsequenzen.
„Wir erhoffen uns ein besseres Verständnis für die Dinge, die passiert sind.
Ein reines Erzählen nützt nichts. Vor allem nicht bei den neuen Generationen.
Evolution bedeutet, Entwicklung. Weiterentwickeln können wir uns aber nur, wenn wir verstehen. Fangen wir also an zu verstehen und es besser zu machen!“, rief Professor Edward über den aufkommenden Lärm im Saal hinweg. „Ab morgen können Sie sich einen Simulant abholen. Probieren Sie sich aus, wagen Sie den ersten Schritten und verstehen Sie, weshalb wir so leben, wie wir leben.“
Immer mehr Leute begannen über diese Chance zu diskutieren, andere freuten sich gigantisch.
Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass ich gegen Ende des Vortrages gar nicht mehr richtig zugehört hatte.
Ich hasste Lärm und besonders hasste ich Unruhe. Als diese beiden Faktoren immer extremer im Hörsaal aufkamen, drang sich in mir das Bedürfnis nach Flucht auf. Ich hetzte hinaus und rang nach frischer Luft, nachdem zehntausend Menschen eine Zeit lang dieselbe Luft verbraucht hatten.
Draußen war die Sonne von Wolken bedeckt und ein leichter Wind war aufgekommen. Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust und bei dem Gedanken an Zeitsprüngen, stellten sich meine Nackenhaare auf. Vielleicht lag es ja an meinem Wesen, das sich für Risiken und Abenteuer nur wenig begeistern konnte oder es war dieser unvorstellbare Gedanke daran, in der Zeit springen zu können. Aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Oder anders gesagt: Ich hatte Angst davor.
Hastig lief ich am Außengelände des Campus entlang und eine lange Treppe hinauf zum Bahnhof der Schwebebahn. Der erste Tag war mit dem Vortrag bereits geschafft.
Es tummelten sich bereits viele Studenten an einer Stelle herum, um schnellstmöglich einsteigen und den besten Platz ergattern zu können.
Das große gläserne Dach des Bahnhofs schenkte ein wenig Schutz vor dem Wind, der sich leicht zu einem Sturm entwickelte. Einige Mädchen und Jungen standen etwas abgelegen und tippten auf ihren Simulanten herum. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab.
Auf einmal ertönte das Pfeifen der Schwebebahn, um ihre Ankunft zu signalisieren. Ich stellte mich zur Reihe und wartete bis die Ersten, die ohnehin den Weg versperrten, eingestiegen waren. Die Schwebebahn ließ kurz Dampf ab und wirbelte meinen Lockenkopf auf. Meine Haare hatten sich nun endgültig aus dem Knoten gelöst.
Die Fahrt zur Innenstadt schien heute besonders schnell. Meine Gedanken schweiften immer wieder zum Vortrag ab und zu meiner Skepsis darüber. Wie war so etwas nur möglich? Das fragte ich mich seit vor vielen Jahren verkündet worden war, dass die Wissenschaft an Zeitsprüngen arbeitete.
Schon damals hatte ich es nicht verstanden und heute konnte ich es mir genauso wenig vorstellen. Dabei klang die Erklärung von Professor Edward so plausibel. Raum und Zeit wurde getrennt, die Zeit wurde ausgetrickst und die Zeitebenen gespalten … unfassbar.
Als ich aus dem Fenster blickte, fuhr die Schwebebahn gerade parallel unter uns zur anderen Seite der Stadt zu den Feldern und Weiden, die am Horizont noch zu erkennen waren.
Ebenfalls kaum vorstellbar, aber auch dies hatte man möglich gemacht: Die gesamte Wirtschaft war nach oben in die Höhe verfrachtet worden. Das Leben, das sich früher unten abgespielt hatte, wurde nun an den oberen Dritteln etlicher Hochhäuser weitergeführt.
Wieso Hochhäuser? Sie waren damals die einzige Lösung gewesen. Die verpestete Erde hatte sich durch sämtliche Mauern durchgefressen und zum Einstürzen gebracht. Hochhäuser waren in Großstädten eine normale Konstruktion gewesen. Auch sie waren befallen worden, allerdings hatte sich das ätzende Gift im Boden nie weiter als nur ein paar Meter durcharbeiten können.
Die Schwebebahn hielt in der Innenstadt an und ich stieg aus. Draußen musste ich mein Sauerstoffspray betätigen. Es war ein kleiner Inhalator, den jeder Einwohner besitzen musste. Hier oben war der Sauerstoffgehalt in der Luft dünner und hin und wieder brauchte selbst die stärkste Lunge eine ordentliche Ladung Sauerstoff. Jeden Monat bekamen wir ein neues Spray.
Vorbei an den Läden und dem Gläserpark, der zu meinen liebsten Orten in Champingwell gehörte, spazierte ich eine ganze Weile geradeaus die Straße entlang und beobachtete weitere Schwebebahnen über und unter mir, Menschen vom einen zum anderen Ort transportieren.
Der Gläserpark bestand aus dutzenden Bäumen und Sträuchern, aber es war etwas anderes, was diesen Platz so besonders machte: Hier hatte man die Stromversorgung der gesamten Stadt erbaut und geschickt mit der Natur verknüpft. Glasfaser strömten in jegliche Richtungen, zwischen Bäumen hindurch, unter Wurzeln oder Gestrüpp … Die Natur war nicht zugrunde gemacht worden, um etwas Neues zu errichten, sondern man hatte sie mit der Technik verbunden. Zusammen ergaben diese beiden Elemente ein wunderschönes Schauspiel. Gerade an Tagen wie heute, wenn die Sonne schien und das Glas im Park strahlte.
Kurz vor der Bäckerei, in der ich mir jeden Morgen mein geliebtes Croissant holte, bog ich links um die Ecke und befand mich damit direkt vor der Haustür meiner Wohnung.
Sie lag im vierten Stock und die Treppenstufen waren alles andere als angenehm hinaufzusteigen, aber ich wollte nicht jammern. Ich konnte froh sein überhaupt eine Wohnung gestellt bekommen zu haben.
Charles, mein kleiner Hund, begrüßte mich in der Sekunde, in der ich die Tür zu meiner Wohnung aufgeschlossen hatte. Ich kniete mich hin und schloss ihn in meine Arme. Wie sehr ich dieses kleine Kerlchen doch liebte! Meine Wohnung war klein, so wie jede andere Wohnung in Champingwell auch. Es gab nicht viel Spielraum für Größe und Luxus. Jeder musste mit dem Minimum zurechtkommen. Mir reichte der Platz, den ich hatte.
Unvorstellbar, dass die Menschen früher sogar mehrere Anwesen besessen hatten! Wie hatten sie das geregelt? Man erzählte sich, dass manche sogar eine Unterkunft nur für das Wochenende benutzt hatten. So etwas gab es hier nicht. Die Menschen vor meiner Zeit hatten wirklich im Luxus geschwelgt.
Nachdem ich mir und Charles etwas zu essen gemacht hatte, dachte ich nochmal gründlich über den Simulanten und den Vortrag von Professor Edward nach. Morgen früh konnte man sich direkt seinen eigenen Simulanten abholen. Sollte ich es wagen? Schließlich wäre man ohnehin nur eine unsichtbare Projektion, wenn man in der Zeit reiste.
Aber was waren die Risiken? Die Gefahren? Laut Professor Edward gab es keine. Dem Ganzen konnte ich aber keinen Glauben schenken. Es gab immer Risiken.
Ich entschied mich dazu, morgen spontan zu entscheiden. Schließlich konnte ich einen Simulanten besitzen, aber musste ihn ja nicht benutzen.
*
*
Heute war es extrem kühl.
Temperaturschwankungen waren nichts Neues. An einem Tag herrschten dreißig Grad und am nächsten Morgen musste der dicke Mantel ausgepackt werden. Das Wetter spielte schon lange verrückt und war nicht mehr zu kontrollieren. Wir konnten uns nur noch anpassen.
Meine Morgenroutine sah ganz gewöhnlich aus: Zuerst eine Runde mit Charles spazieren gehen und danach zum Bäcker, mein Frühstück abholen. Es folgten fünfzehn Minuten Hetzerei, weil ich wie jeden Morgen getrödelt hatte, und danach eilig zur Schwebebahn hastete, um noch pünktlich zur ersten Vorlesung zu erscheinen.
Heute Morgen hatte ich es geschafft, extra etwas früher aufzustehen. Sollten die Simulanten vor der Universität verteilt werden, wollte ich die Gelegenheit ausnutzen. Zumindest wollte ich die Möglichkeit haben, sie auszunutzen.
Nicht, dass am Ende die Nachfrage größer war als das Angebot.
Es war ungewöhnlich ruhig für Champingwell. Die Schwebebahn war nicht überfüllt wie sonst und auch am Bahnhof waren kaum Menschen zu sehen.
Erst vor den Toren der Universität tummelten sich langsam immer mehr Leute. Sie hatten sich vor einem Lastwagen versammelt und lösten sich nach und nach auf: Die Simulanten.
Natürlich war der Ansturm gigantisch. Ich hatte nichts anderes erwartet und bei dem Anblick hatte ich absolut keine Lust mich anzustellen.
Doch gerade als ich die Tore schon fast durchquert hatte, durchzog mich ein Gefühl, das mich nicht loslassen wollte. Mein Blick wanderte wieder zum Lastwagen. Meine Beine zogen sich automatisch in dessen Richtung, ich konnte sie gar nicht stoppen.
Vielleicht wagte ich es ja doch. Was war schon dabei? Ich besaß dieses Teil lediglich, benutzen würde ich es ohnehin nicht.
Ehe ich mich versah, stand ich direkt vor einem Mann, der eine weitere Kiste voll mit Simulanten aus dem Wagen zog und schnaufend vor sich abstellte.
Relativ genervt starrte er mich an.
„Name?“, fragte er atemlos.
„Luna Adaire“, antwortete ich ohne groß drüber nachzudenken, warum er meinen Namen wissen wollte.
Er schrieb etwas auf ein Blatt Papier in einem Klemmbrett und drückte mir ungeduldig einen Simulant in meine Hand.
„Haben Sie sich meinen Namen notiert?“
„Nichts ist umsonst, Kleine.“
„Aber…“
„Ich hab jetzt keine Zeit für sowas! Siehst du die Schlange hinter dir? Du kannst meinen Job auch gerne übernehmen. Oder du gibst mir das Ding zurück und ich streiche deinen Namen.“
Überrumpelt von seiner Unfreundlichkeit schwieg ich.
„Na also. Los, die Nächsten sind an der Reihe.“
Unsicher entfernte ich mich vom Wagen und schaute hinter mich. Er hatte Recht, hinter mir hatte sich bereits eine ellenlange Schlange gebildet.
Nachdenklich ging ich zurück zum Innenhof der Universität und betrachtete den Simulant in meinen beiden Händen genau.
Er glänzte silbern und war kalt. Mehr nicht.
Auf den ersten Blick konnte ich keinen Ein-und Abschaltknopf sehen und auch sonst gab es keine Zeichen, die auf eine Betätigung hinwiesen. Wie funktionierte er also?
Damit würde ich mich heute Nachmittag auf jeden Fall beschäftigen.
Spektakulär sah er jedenfalls nicht aus.
Die Hysterie um diese Simulanten verstand ich nicht wirklich. Na ja, außer, dass sie es möglich machten, ein anderes Zeitalter zu besuchen. Aber heutzutage war alles möglich, sodass selbst das Außergewöhnliche die Note einer gewissen Langeweile bekam.
*
*
Nach einem ganzen Tag voller Vorlesungen und einschläfernden Vorträgen freute ich mich riesig auf Charles, meine warme Bettdecke und Ruhe.
Als ich das Gelände verließ, musste ich meinen Mantel enger an mich ziehen.
Den Simulanten hatte ich bedenkenlos in meine Jackentasche gesteckt und spielte gedankenverloren mit meiner Hand damit herum, während ich auf die nächste Schwebebahn wartete.
Ich war müde und erschöpft und die Euphorie von heute Morgen, mir den Simulanten unter die Lupe zu nehmen, war verflogen.
Warum auch immer, konnte ich mir nur schwer für Neues begeistern. Selbst, wenn es sich um Zeitsprünge handelte.
Die Bahn fuhr den Bahnhof hinein und kam schrill pfeifend zum Stehen.
Sofort stürzten sich die ersten auf die langsam öffnenden Türen und ich konnte nur den Kopf schütteln über die Ungeduld der Menschen.
Als alle eingestiegen und ihren Platz gefunden hatten- ich musste leider stehen- fuhr die Bahn weiter. An der Universität fuhr die höchste Schwebebahn zur Innenstadt und wie jedes Mal genoss ich den Ausblick: Die Schwebebahnen unter uns, die in verschiedene Richtungen fuhren, die Felder, die bewirtschaftet wurden und das Leben der Menschen auf unterschiedlichen Ebenen, alles in einem Blick.
Champingwell war einzigartig! Alles an dieser Stadt war wunderschön und evolutionär.
Die Stadt war in drei Ebenen unterteilt.
Auf der untersten Ebene wurden die Felder und Weiden bewirtschaftet, Viehherde gehalten und ebenso geschlachtet. Kurz zusammengefasst, wurde hier Landwirtschaft betrieben. Dort gab es die meisten Grünflächen, natürlich.
Eine Ebene oben drüber, die mittlere Ebene, setzte man die Produktion fort, die mit der Landwirtschaft einherging, damit die Versorgung der Stadt intakt gehalten wurde.
Auf der letzten Ebene … Nun ja, da lebten wir. Und wir konnten alles beobachten, was sich unter uns abspielte. Fast alles. Es gab bestimmte Punkte der Stadt, in denen die Flächen nicht vollständig ausgebaut waren, sodass gewisse Löcher im Boden einen guten Blick auf die unteren Ebenen bescherten.
Zum Beispiel dieses direkt an der Universität.
Es war interessant das Leben unter uns zu beobachten und zu wissen, dass sich jeden Morgen Menschen aus der obersten in die unterste Ebene begaben.
Eine Gruppe von Kühen lief gerade über eine grüne Wiese. Zusammen ergaben sie einen einzigen großen braunen Fleck, der sich langsam in lauter kleinere Sprenkel auflöste.
Kühe hatte ich noch nie von Nahem gesehen. Generell kannte ich keine anderen Tiere als Hunde, Katzen und Vögel. Mehr Tiere waren in der oberen Ebene nicht erlaubt. Sie nahmen zu viel Platz ein und in Anbetracht der Tatsache, dass der Platz hier nur begrenzt war, mussten wir eben auf andere Lebewesen größtenteils verzichten.
Generell gab es kaum noch Tiere. Insekten waren mitunter als erstes ausgestorben. Aus diesem Grund wurden sämtliche Pflanzen künstlich bestäubt.
Der Dampf von Maschinen stieg durch eine bodenlose Fläche zum Bahnhof hinauf und verflog direkt am unteren Teil der Schwebebahn.
Immer wieder faszinierte mich das neue Leben, das die Menschen in all den Jahren geschaffen hatten. Es war so surreal.
Aber genauso wenig war man davon ausgegangen, dass die Menschheit mal zugrunde gehen würde.
Ich liebte Champingwell. Das Leben war idyllisch und jeder hatte seine Aufgabe. Trotz der Grenzen und Regeln, die uns alle letztendlich als Gemeinschaft zusammenhielten, konnte sich jeder frei entfalten und sein eigenes kleines Leben gestalten.
Obwohl ich mich oft genug nach etwas Neuem sehnte, konnte ich mir nicht vorstellen Champingwell zu verlassen.
Es war ohnehin nicht gestattet, zumindest nur unter bestimmten Bedingungen.
Was war das?
Etwas brummte und vibrierte auf einmal laut los, so laut, dass selbst die anderen Fahrgäste sich verwundert umdrehten und mich aus meinen Gedanken riss.
Verdutzt umklammerte ich den Simulant in meiner Manteltasche. Von ihm kam das starke Vibrieren.
Ich zog ihn heraus und drehte ihn stirnrunzelnd in meinen Händen hin und her. Was hatte ich getan? Ich hatte nichts gedrückt oder betätigt. Lediglich damit herumgespielt hatte ich.
„Schalte ihn wieder aus!“, befahl mir ein Mädchen meines Alters neben mir.
Sie hatte die Augen erschrocken aufgerissen, so wie ich.
„Wie funktioniert das?“
Das Mädchen öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch ich hörte sie nicht mehr. Stattdessen flüsterten mir tausende leise Stimmen etwas zu, was ich nicht verstand. Es war als würde eine Menschenmenge auf mich einreden.
Plötzlich riss es mir den Boden unter den Füßen weg.
Mich umgab ein so starkes Gefühl, von etwas angezogen werden, ich konnte es gar nicht richtig beschreiben.
Um mich herum wurde alles zuerst völlig verschwommen. Das Gesicht des Mädchens in der Bahn verzehrte sich und verschwand am Ende vollkommen.
Alles um mich herum löste sich auf, einschließlich mich selber.
Entsetzt schrie ich auf und sah machtlos zu, wie jede Faser meines Körpers zerbröselte und wieder neu zusammensetzte. Ein unangenehmes Kribbeln durchfuhr mich.
„Hilfe!“, brüllte ich hysterisch.
Keiner hörte mich.
Mittlerweile wurde ich durch völlige Dunkelheit geschleudert.
Immer weiter wurde ich hindurchgerissen, machtlos etwas dagegen zu tun.
Außer völlig zu verzweifeln.
Ganz plötzlich erhellte sich das dunkle Nichts. Grelle Lichtstrahlen näherten sich mir und blendeten mich. Ich hielt die Hand gegen die Strahlen und kniff die Augen zusammen.
Sie wurden immer stärker und stärker. Und mit ihnen kam der Sog.
Ich wurde förmlich in sie hineinkatapultiert. Was geschah hier nur? War das etwa ein Zeitsprung? Aber wie war das möglich, wenn ich den Simulant gar nicht benutzt hatte? So einfach konnte er doch gar nicht ausgelöst werden, oder? Wohin wurde ich nur transportiert?
All die Fragen in meinem Kopf wurden von den dutzenden flüsterten Stimmen übertönt, die in der Zwischenzeit zu einem regelrechten Schreien wurden. Stattdessen konnte ich nur zusehen, wie mich die Lichtstrahlen immer weiter auffraßen und presste die Hände gegen meine Ohren, um diesem Lärm irgendwie entgegenzuhalten.
Während der Sog mich immer weiter anzog.
Kälte und Nässe. Das waren die ersten beiden Dinge, die ich spürte.
Ich zitterte am ganzen Körper und wagte es erst nach vielen vergangenen Sekunden die Augen aufzuschlagen.
In meiner Hand spürte ich den Simulanten. Er war kalt und schwer und vibrierte nun nicht mehr. Ich ließ ihn schnell in meiner Hosentasche verschwinden ehe wieder etwas passierte.
Wie lange ich so durch die Unendlichkeit gezogen worden war, wusste ich nicht. Ob es sich um Minuten oder Stunden handelte, war unmöglich zu sagen- für mich fühlte es sich an wie Tage. Tage, in denen mir dutzende Stimmen zugeflüstert hatten. Noch immer hielt ich meine Hände an meine Ohren gedrückt.
Schwindel füllte meinen Kopf, gefolgt von Übelkeit.
Wo war ich? Was war geschehen? Wieso hatte mein Simulant vibriert? Was bedeuteten diese Streifen? War das etwa ein Zeitsprung gewesen? Aber ich hatte den Simulanten doch kaum berührt.
Fragen über Fragen bildeten sich mit jedem Augenblick mehr.
Die verschwommenen Umrisse wurden nun immer schärfer, bis ich meine Umgebung genau erkannte.
Eine Kuh blinzelte mich neugierig an, während sie gemütlich graste und schmatzte. Eine Kuh! Sie wirkte ganz ruhig und friedlich, fast schon ein wenig schläfrig.
Keuchend drehte ich mich einmal um mich selbst. Gänsehaut überzog meinen Körper. Ich war nicht länger in Champingwell. Nirgendwo dort gab es solche Gegenden wie hier.
Egal wohin ich blickte, ich entdeckte nur eine endlose Wiese mit Kühen und vereinzelt auch ein paar Schafen. Der Boden unter meinen Füßen war schlammig und hatte beinahe die Konsistenz eines Moors. Nebelschleier erschwerten eine weite Sicht.
Und es herrschten eisige Temperaturen, die ich nicht kannte.
Früher hatte man uns von einer Zeit erzählt, in der die Erde so heruntergekühlt war, dass die Welt gefroren gewesen war, dass Tiere Winterschlaf gehalten hatten und die Menschen Pullover und Jacken hatten tragen müssen, um nicht zu erfrieren, sobald sie sich hinausgewagt hatten. Diese Zeit existierte schon lange nicht mehr.
Der große Zusammenbruch hatte zu Temperaturanstiegen geführt, durch die wir eine solche Welt nicht mehr kannten. Frost und Kälte waren zwei Fremdwörter. Natürlich führten die extrem Temperaturschwankungen dazu, dass wir an Tagen wie heute gezwungen waren, einen Mantel überzuziehen.
Allerdings betrugen diese seltenen Tage immer noch zweistellige Grade.
Ansonsten waren wir eine solche Hitze gewohnt, dass sich mildere Morgen anfühlten wie ein eiskalter Winter. Doch wusste ich von Erzählungen, dass die früheren Winter härter gewesen waren. Kälter und mit einem Naturschauspiel, was sich Schnee nannte.
Und nun stand ich hier, in meinem ärmellosen Shirt und fror das allererste Mal in meinem Leben. Ein Gefühl, welches ich nie wieder spüren wollte.
Orientierungslos begann ich umherzuwandern. Doch da war nichts als Weide.
„Hallo?“, rief ich ein paar Mal. „Hallo? Kann mich jemand hören?“
Keine Antwort.
Selbst die Uhrzeit konnte ich nicht deuten, denn die Sonne versteckte sich hinter Wolken. Vielleicht war ich ja doch noch in Champingwell. Womöglich befand ich mich in der unteren Zone, die nur für Arbeiter betretbar war. Wer wusste denn schon, welche Temperaturen unterhalb der Schwebestadt herrschten, wenn sich noch keiner dorthin gewagt hatte?
„Hallo?“, brüllte ich nun.
Auf einmal hörte ich von irgendwo leise Stimmen. Ob sie von vorne oder von hinten, von rechts oder von links zu mir drangen, konnte ich nicht erkennen.
Welche Stimmen waren das? War das etwa das Geflüster, welches ich mich noch vor wenigen Augenblicken zuvor zum Schreien gebracht hatte?
„Ich bin hier! Ich brauche Hilfe!“ Erneute Panik schwemmte in mir auf und ich streckte meine Arme in die Höhe, damit man mich besser erkennen konnte.
Die Stimmen wurden etwas lauter. Ein merkwürdiges Geräusch mischte sich mit und der Boden begann seltsam zu vibrieren.
Zwischen Panik und Euphorie, dass ich nicht völlig verlassen auf dieser endlosen Weide war, überkam mich nun auch Misstrauen.
Das hier war nicht Champingwell, nicht einmal die untere Zone davon.
In der Ferne tauchten zwei riesige Tiere auf, die sich rasant näherten.
Meine Euphorie verblasste. Mit zittrigen Beinen rannte ich los -wohin konnte ich selber nicht sagen. Hauptsache schnell fort von hier und diesen Tieren, die nun deutlich hinter mir herliefen.
„Stehen bleiben!“, brüllte eine dunkle Stimme. Sie klang drohend und zornig.
Das veranlasste mich dazu noch schneller zu rennen.
Die Übelkeit, die mich soeben überkommen hatte, wurde noch stärker und mein Schwindelgefühl hatte sich mittlerweile in starke Kopfschmerzen verwandelt.
„Bleib sofort stehen!“, rief eine andere Stimme, die ebenfalls zu einem Mann gehörte.
Zwei Schafe wichen mir vorwurfsvoll aus und einige Kühe beobachteten mich verwirrt.
Alles an meinem Körper schrie nach Flucht, und zwar so schnell es nur möglich war.
„Ich hab gesagt, du sollst stehen bleiben!“ Jemand packte mich grob an meinem Nacken und rammte mir seine Fingernägel in meine Haut, sodass ich schmerzerfüllt aufschrie, und warf mich hart zu Boden. Ich kugelte einige Meter vorweg, bis ich zum Liegen kam und stöhnte auf.
Jeder Muskel verlangte nach einer Verschnaufpause und brannte bis zu den Knochen. Mein Herz schlug so schnell, dass ich das Gefühl hatte, es explodierte jeden Moment in meiner Brust.
Ich rollte mich auf den Rücken und blinzelte unter Tränen. Ein Tier, welches ich noch nie zuvor gesehen hatte, senkte seinen Kopf und beschnupperte mich. Es war gigantisch mit vier Beinen und einem langen schmalen Kopf.
Zwei kleine Ohren spitzten unter langen dunklen Haaren hervor und am Hinterteil des Tieres wedelte … ein Schwanz? Nein, es waren ebenfalls Haare.
Ein Pferd, schoss es mir automatisch durch den Kopf. Ebenfalls etwas, das ich nur durch Bücher kennengelernt hatte.
Regungslos blieb ich liegen und wartete bis es mit dem Schnuppern fertig war. Es war so groß, angsteinflößend groß.
Auf dem Pferd saß ein Mann mit roten zotteligen Haaren und stierte mich unter seinem Bart grimmig an. Seine Kleidung war außergewöhnlich und wie ich es noch nie gesehen hatte. Zwar trug er ein Leinenhemd sowie eine Leinenhose, doch waren sie beide über und über mit Dreck bedeckt, sodass sie kaum als solche zu erkennen waren. Die Hose hatte er in knielange Stiefel gesteckt, welche ebenfalls von Schlamm übersät waren. Auch seine Hände waren schmutzig und seine Fingernägel bereits schwarz gefärbt. Sein Gesamtbild erweckte Ekel in mir.
„Wer bist du?“, wollte mein zweiter Verfolger wissen, der so wie sein Kumpan auch auf einem Pferd saß und genauso wenig von Hygiene zu halten schien. Er strich sich eine schwarze, fettige Strähne aus dem Gesicht und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Verstehst du mich, Mädchen?“
Ich schluckte und nickte zögerlich.
„Na also, dann hast du ja verstanden, was ich dich gefragt habe.“
„L-Luna.“
„Das ist dein vollständiger Name?“
„Luna Adaire.“
„Und von wo stammst du, Luna Adaire?“
„Champingwell. Wissen Sie, wie ich dorthin zurückkomme?“
„Champingwell?“ Die beiden Männer tauschten untereinander stirnrunzelnde Blicke aus. „Noch nie davon gehört.“
„Was trägst du da für eine Kleidung?“, wollte der Rothaarige wissen.
Er zeigte auf meine Turnschuhe und meine Jeanshose. Darauf hatte ich keine Antwort.
Knurrend stieg er von seinem Pferd und lief um dieses drum herum, um sich mir zu näheren.
Ich rutschte im schlammigen Boden weiter weg und stellte fest, dass sich die Fortbewegung auf einem moorähnlichen Grund mehr als schwierig darstellte.
„Nein, bitte!“, bettelte ich fast weinend. „Bitte!“ Alle möglichen Szenarien spielten sich in meinem Kopf auf einmal ab. Keine Frage, der Simulant hatte ohne mein Zutun einen Zeitsprung veranlasst und mich in eine fremde Zeit katapultiert, von der ich rein gar nichts wusste. Diese Tatsache konnte ich nicht länger leugnen. Champingwell war so weit entfernt wie die Hoffnung, mich in diesem Augenblick in Luft aufzulösen.
Ausgeraubt, verprügelt, vergewaltigt in der Vergangenheit, in einer Zeit, von der ich nicht einmal wusste, in welcher ich mich befand.
Zurückgelassen, alleine und ohne Perspektive. Ohne zu wissen, wohin ich nun konnte oder wie ich überhaupt zurück kam in meine Zeit, nach Champingwell.
Der Fremde konnte sich problemlos auf dem sumpfigen Boden fortbewegen und war in wenigen Schritten bei mir angelangt.
Angst erfüllte mich, mehr als je zuvor.
Seine dreckige Hand umklammerte fest meinen Arm und er schüttelte mich erbarmungslos, bis ich wirklich zu weinen anfing.
„Was suchst du hier? Bist du eine Spionin?“, schrie er mich an.
Bei jedem Schrei kniff ich meine Augen mehr zusammen.
„Ich glaube, wir müssen die Wahrheit aus ihr über einen anderen Weg herausbekommen“, schlug der zweite Mann vor.
„Nein!“, schluckste ich. „Bitte … Ich sage euch alles! Alles!“
„Aber ob das die Wahrheit ist, ist nochmal was anderes, Mädchen.“
„Was meinst du, Slade? Erinnert sie sich an die Wahrheit, wenn sie ihre merkwürdige Kleidung abgelegt hat?“
Der Rothaarige, Slade, grinste, aber es war kein fröhliches oder amüsiertes Grinsen, eher heimtückisch und boshaft.
„Das hat bisher jedem auf die Sprünge geholfen.“ Seine Hand an meinem Arm wanderte weiter hoch zu dem Ärmel meines Shirts.
Meine Angst und Panik wurden so langsam von Wut belagert. Keiner fasste mich an, niemals.
Schnaubend riss ich meinen Arm zurück. Slade hatte mit einer solchen Reaktion meinerseits nicht gerechnet und erstarrte abrupt. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich wirklich, dass ihn das beeindruckte. Doch dann erwachte er aus seiner Starre mit einem doppelt so großen Zorn wie zuvor.
„Na schön, du bist also ein widerspenstiges Biest“, knurrte er und riss an meinen Haaren.
Schreiend vor Schmerzen zappelte und schlug ich um mich, einmal traf ich ihn im Gesicht und verpasste ihm einen blutigen Kratzer. Doch Slade war nicht aufzuhalten. Er versuchte immer wieder mein Oberteil herunterzureißen und durchlöcherte es an manchen Stellen tatsächlich auch.
„Hilf mir mal, Oswald!“, schimpfte er mit dem Dunkelhaarigen.
„Wirst du mit einem kleinen Mädchen nicht fertig?“, lachte dieser und stieg von seinem Pferd.
Slade allein war schon stark, aber mit Oswald dabei hatte ich keine Chance.
Ich konnte so viel schreien, wie ich wollte, gegen zwei Männer konnte ich nichts tun.
Beide zerrissen sie mein Shirt und lachten triumphierend, während sie darüber zankten, wer das Stück Stoff als Trophäe behalten durfte.
Schließlich packte mich Slade erneut an beiden Armen, so fest, dass ich mir sicher war, blaue Flecken davon zu tragen, und schüttelte mich heftig.
„Weißt du jetzt, was du hier verloren hast? Welche Informationen wolltest du herausfinden?“, schrie er mich an und hauchte mir mit seinem widerlichen Mundgeruch ins Gesicht.
„Fort von ihr!“, kläffte eine gewaltige und strenge Frauenstimme zu uns herab.
Wir alle drei, Slade, Oswald und ich, fuhren geschockt herum – ich wohl mehr erleichtert als erschrocken.
Vor uns baute sich ein Pferd mit schwarz-glänzendem Fell auf. Es wieherte und funkelte die Männer an. Seine Reiterin war eine ältere schlanke Frau von großer Statur. Sie blickte genauso missachtend drein wie ihr Pferd.
Mein Körper kapitulierte und bot einen erbärmlichen Anblick vor lauter Zittern.
„Sofort weg von dem Mädchen!“, befahl die Frau. Sie schrie nicht, noch wurde sie laut, aber ihre Stimme hatte solch eine Bestimmtheit, dass die Männer mich sofort losließen und einen Schritt zurücktraten.
Wer auch immer diese Frau war, sie hatte mich gerettet.
„Was fällt euch ein? Seht sie euch an! Fast noch ein Kind!“
Sie stieg von ihrem Pferd. Dies tat sie auf eine elegante Art und Weise.
Generell war ihre gesamte Haltung von Eleganz definiert.
Ihr Haar war so schwarz wie das ihres Pferdes, bloß dass ihres bereits deutlich ergraut war. Grau waren auch ihre Augen, doch obwohl ihr faltiges Gesicht erzürnt dreinblickte, lächelten mich ihre Augen freundlich an.
Um ihren Hals trug sie einen Pelzkragen, der zu einem knöchellangen schwarzen Mantel gehörte. Sie entfernte ihn von sich und warf ihn, ohne zu zögern um mich.
Erst jetzt kam mir in den Sinn, dass ich halbnackt vor ihr saß.
„Verzeiht uns, Herrin“, murmelte Slade mit gesenktem Kopf. Von Selbstbewusstsein geschweige denn Triumph keine Spur. „Sie ist in Euer Land eingedrungen und wollte nicht verraten, weshalb.“
„Und da dachtet ihr, dass ihr euch an einem Kind vergreift? Ihr Dummköpfe.
Schert euch davon! Oder das kostet euch eure Finger.“ Sie bot mir ihre Hand, um aufzustehen und warf den beiden einen letzten Blick zu. „Oder ich verschone eure Finger und lasse stattdessen etwas anderes abhacken.“
Alles passierte innerhalb von Sekunden. Ich hatte gar keine Möglichkeit richtig zu realisieren, was hier geschah.
Mit ihrer Hilfe erhob ich mich und wickelte den Mantel fest um meinen Körper. Er wärmte durch das Fell schön und bot mir Schutz vor der Nässe.
Slade und Oswald stiegen in höchster Geschwindigkeit auf ihre Pferde zurück.
„Herrin“, sagten sie wie aus einem Munde und ritten an uns vorbei, bis sie irgendwann nicht mehr zu sehen waren.
Wir schauten ihnen hinterher und erst nach einigen vergangenen Minuten, wandte sie sich wieder zu mir.
Der Zorn in ihrem Gesicht war verschwunden und nun lächelte, wie es ihre Augen ohnehin schon taten, auch der Rest ihres Gesichtes. Besonders auf der Stirn und an den Augen hatte sie Falten und um ihre Mundwinkel bildeten sich Grübchen beim Lächeln. Auf eine besondere Art und Weise strahlte sie Warmherzigkeit aus und obwohl sie, wie Slade und Oswald, eine Fremde für mich war, ängstigte ich mich nicht vor ihr.
„Nun komm, mein Kind. Du bist ja ganz durchgefroren.“
Sie drehte sich um und stieg ohne ein weiteres Wort zu sagen, auf ihr Pferd.
Erwartungsvoll streckte sie ihre Hand aus und sah mich an.
Keuchend vor Aufregung und Erschöpfung zugleich, wollte ich ihr meine Hand entgegenhalten, zog sie jedoch wieder zurück.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, lächelte sie. „Ich werde dir sicherlich nichts tun.“
„Ich habe Fragen.“
„Die hast du.“
„Eigentlich möchte ich nur zurück.“
„Natürlich.“
„Wer sagt mir, dass Sie nicht auch eine Gefahr sind?“
„Keiner. Ich schätze, du musst mir wohl vertrauen.
Immer noch zögerte ich. Diese Antwort reichte mir nicht. Wieder stellten sich mir neue Fragen. Wohin brachte sie mich? Was würde danach geschehen?
Wie kam ich nach Hause?
„Ich kenne ja nicht einmal Ihren Namen!“, meinte ich letztendlich.
Meine Aussage brachte sie zum Schmunzeln.
Ich hatte keine andere Wahl. Hier draußen in der Kälte konnte ich nicht bleiben, dann wäre ich bis zum Morgen erfroren. Oder mich würden andere Männer finden. So oder so wäre es mein garantierter Untergang, nicht mit ihr zu kommen.
Also packte ich ihre Hand und ließ mich hinter sich auf ihr Pferd ziehen.
„Mein Name ist Claire“, antwortete sie schließlich und ritt geschwind los.
Während des Ritts ließ der enorme Adrenalinschub, der zuvor durch jede Ader meines Körpers geflossen war, nach und die Müdigkeit setzte ein. Von all dem Geschehenen war ich extrem erschöpft und ich hatte noch keine Chance gehabt, alles zu realisieren.
Wir ritten eine ganze Weile über die Weide und ich bekam die Gelegenheit, so viele Kühe zu sehen, wie ich es mir niemals hätte erträumen lassen.
Von weitem erkannte ich vereinzelte Häuser mit stroh- und steinbedeckten Dächern und kleinen Gärten direkt daneben. Rauch stieg aus Schornsteinen und einige Frauen arbeiteten auf Feldern. Sobald sie uns erkannten, ließen sie alles fallen und senkten ihren Kopf. Ich empfand diese Darstellung als unangenehm.
Irgendwann gelangten wir auf eine gepflasterte Straße und nicht viel später türmte sich vor uns eine Steinmauer mit einem schwarzen eisernen Tor auf.
Vor dem Tor warteten bereits zwei Jungen, vielleicht gerade einmal dreizehn Jahre alt.
Als wir von dem Pferd gestiegen waren, überreichte Claire die Leine dem größeren Jungen, der sich mit dem anderen zusammen kurz verbeugte.
So langsam fasste ich klare Gedanken. Der Simulant hatte mich durch die Zeit springen lassen. Diese Vorstellung fand ich zwar nach wie vor gruselig, aber Zeitsprünge wurden, seit ich denken konnte, schon oft betrieben und waren nichts Ungewöhnliches mehr. Dass ausgerechnet ich damit einmal konfrontiert werden würde, hätte ich zwar nicht gedacht, aber nun gut.
Ich wusste also, dass ich mich in einer anderen Zeit befand. Jetzt war der nächste Schritt herauszufinden, wie ich den Simulanten betätigen konnte, um heimzukehren. Wie hatte er denn beim ersten Mal funktioniert? Ich hatte nichts gedrückt, nirgendwo etwas Auffälliges berührt …
„So“, seufzte Claire und ich hätte schwören können, den Klang von Stolz in ihrer Stimme hören zu können. „Willkommen auf dem Petworth Anwesen.“
Ich schaute mich um.
Die Steinmauer ragte meterlang in die Höhe und Breite und war besetzt von Moos und ein, zwei Sträuchern. Das große Tor war bogenförmig und mit kleinen spitzen Pfeilen an den oberen Enden der beiden Torflügel verziert.
Außerdem waren links und rechts auf jeweils einem Podest zwei Steinfiguren platziert, die dem Tor einen kleinen erschreckenden Anblick verliehen. Als ich die Skulpturen entdeckte, musste ich kurz schmunzeln. Diese Drachen erinnerten mich stark an jene vor dem Champingwell-Tor…Moment! War das möglich? Nein, das konnte nicht sein!
„Champingwell“, hauchte ich.
Claire musterte mich recht besorgt von der Seite.
„Ich denke, du solltest dich erst ausruhen bevor wir ein vernünftiges Gespräch führen.“
Ich atmete tief ein und wieder aus. Mein Atem gefror vor mir.
„Das hier ist Champingwell.“
Als hätten meine Worte eine Zauberformel ausgesprochen, öffneten sich die Tore ruckartig. Zwei Männer in Uniform zogen die Torflügel zu sich in den Innenhof und boten uns so einen freien Passierweg.
Vielleicht täuschte ich mich auch und mein Geist spielte mir einen Streich.
Bestimmt. Ich wusste, dass die Champingwell Universität viele hundert Jahre alt war, aber dass sie so weit in die Vergangenheit zurückzuverfolgen war, das hätte ich sicherlich nicht geahnt.
„Lady Claire“, begrüßten sie die ältere Dame und verbeugte sich kurz.
Nachdem wir das Tor passiert hatten, wurde es auch direkt wieder verschlossen.
Der Innenhof war atemberaubend.
Vor uns führte ein Weg aus Pflastersteinen zu einem Landhaus mit hohen Fenstern und hölzernen Fensterrahmen, die von einem akkurat zurecht geschnittenen Efeu geschmückt wurden.
Die Mauer führte ellenweit zum Haus und noch dahinter. Obstbäume verdeckten die Sicht auf die Steinwand und boten so etwas Abwechslung.
Links stand zwischen einem Apfelbaum und einer Eiche eine Holzbank, auf der man es sich bei wärmeren Temperaturen bestimmt recht gemütlich machen konnte.
Auf der rechten Seite des Innenhofs plätscherte Wasser in einem Springbrunnen. Er war nicht prunkvoll oder besonders groß und trotzdem verzauberte er mich mit den kleinen Figuren, die sich überall auf ihm befanden und aussahen als würden sie tanzen. Gleich daneben hatte man aus zwei Sträuchern Figuren gestutzt, zwei Hasen, die sich mit ihren Näschen berührten.
Um den Weg herum waren Rosensträucher gepflanzt, die gerade jedoch nicht blühten. Ich stellte mir sie in der Sommerzeit in ihrer vollen Pracht vor,