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Eingeschlossen in der Beverly Vold Library und das mit einem Fremden. Janes erste Begegnung mit Samuel ist nicht besonders erfreulich. Doch dann entdecken die beiden ein lang gehütetes Geheimnis. Sie stellen fest, dass nicht nur die Liebe sie verbindet, sondern auch die Vergangenheit ihrer Familien. Sie machten sich auf die Suche nach Hinweisen zu jener Nacht und stossen dabei auf beunruhigende Neuigkeiten, die das Leben beider für immer verändert.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Die alte, schwere Holztür knarzte laut, als Jane sie öffnete. Ein angenehmer Duft empfing sie, der nach Büchern und Holz roch.
Die Tür fiel hinter Jane krachend zu, dann war es still. Einen Moment lang, stand sie da und horchte. Es war niemand hier. Die Stille hing schwer in der Luft.
Langsam schritt sie den langen Flur entlang. Ihre Schritte hallten an den hohen Wänden wider. Vor ihr ragten die holzigen Bücherregale auf, gefüllt mit etlichen Büchern. Romane, Biografien, Sachbücher und Gedichte standen in den Regalen und warteten darauf endlich gelesen zu werden.
Beeindruckt ging Jane zu einem der Regale hin und strich mit den Fingern über die Buchrücken.
Sie war oft hier, aber sie konnte nie aufhören zu staunen. Die Bücher faszinierten sie.
Die Bücher auf diesem Stockwerk waren alt. Ihre Seiten waren vergilbt und sahen benutzt aus. Trotz ihres Alters waren sie noch sehr gut erhalten.
Jane hätte am liebsten eines ausgeliehen und mit nach Hause genommen, aber sie hatte keine Berechtigung dazu. Die Bücher waren sehr wertvoll und nur Leute mit einem speziellen Ausweis durften sie mitnehmen.
Jane las die Bücher in der Leseecke, die aus einer antiken Couch bestand und somit ins Bild der Beverly Vold Library passte. Dort hatte sie schon etliche Stunden verbracht. Die Mitarbeiter der Bibliothek kannten sie mittlerweile. Schon oft haben sie ihr gesagt, dass sie auf das andere Stockwerk soll, dort wo es die modernen Bücher gab, aber Jane wollte das nicht. Zwar las sie auch gerne solche Bücher, aber sie hatten weitaus weniger an sich, dass Jane faszinieren könnte. Der Inhaber, der Bibliothek, Ben, erkannte ihre Begeisterung und erlaubte es ihr, die antiken Bücher zu lesen.
Mit glühenden Wangen suchte Jane das Buch, welches sie gestern angefangen zu lesen hat und setzte sich damit auf die Couch. Freudig schlug sie die Seite auf, bei der sie verblieben war. Es war eine Liebesgeschichte aus dem Jahre 1789. Es handelte sich um eine junge Frau, die ihren eigenen Kopf hatte. Sie wollte ihr Leben geniessen. Von einer Heirat wollte sie nichts wissen, aber als sie ihn traf, änderte sie ihre Meinung.
Die Zeit verstrich und draussen ging die Sonne unter. Es wurde langsam dunkel, aber davon merkte Jane nichts. Sie war so vertieft in das Buch.
«Jane, es ist fast acht Uhr. Wir schliessen in ein paar Minuten.» Das war Ben. Jane sah kurz auf und nickte, ehe sie sich wieder in das Buch vertiefte. Doch plötzlich merkte sie, dass sie dringend auf die Toilette musste. Sie klappte ihr Buch zu und suchte die Toiletten auf.
Befreit setzte sich Jane wenig später wieder auf die Couch. Sie wollte anfangen zu lesen, als sie merkte, dass jemand das Licht ausgemacht hat. Merkwürdig, dachte sie und schlug das Buch auf. Sie hatte gerade zwei Seiten gelesen, als sie sich plötzlich an die Worte von Ben erinnerte. Schnell stand sie auf und stellte das Buch zurück in das Bücherregal. Dann ging sie zum Ausgang und schaute sich um. Von Ben war nichts mehr zu sehen.
Jane drückte die Türklinke herunter und drückte. Die Tür liess sich nicht öffnen. Jane zog die Augenbrauen zusammen. Vielleicht musste sie ziehen? Sie versuchte es, aber die Tür blieb verschlossen. Verzweifelt rüttelte sie daran. Verdammt. Ben dachte wohl, sie sei gegangen, während Jane auf der Toilette war. Vielleicht war er auch noch da und hat abgeschlossen, damit niemand mehr reinkommt. Sie hoffte es. Sie begann, ihn zu suchen. Aber er war weder in seinem Büro, noch auf den beiden Stockwerken.
Nachdenklich ging sie zurück zu den Regalen. Ben ist gegangen und Jane ist hier eingeschlossen. Sie musste die Nacht hier verbringen. Das wollte sie nicht, auch wenn sie sich hier wie zu Hause fühlte. Die Couch konnte sie nicht mit ihrem Bett vergleichen. Ihr Bett war viel bequemer.
Hör auf zu flennen und reiss dich zusammen, dachte sie und atmete tief durch. Sie musste sich ablenken, also ging sie wieder zurück zum Bücherregal, um ihr Buch zu holen. Plötzlich nahm sie, durch den entstandenen Spalt des fehlenden Buches, auf der anderen Seite des Bücherregals eine Bewegung wahr. Wer war das? War sie etwa nicht alleine? Die Hoffnung, dass Ben noch da war, wuchs in ihr.
Schnell fasste sich Jane wieder. «Ben?» Sie spähte durch den Spalt und blickte direkt in die Augen eines jungen Mannes, etwa in ihrem Alter. Nein, das war nicht Ben.
«Ben? Wer ist denn Ben?», fragte der Mann.
«Der Inhaber der Bibliothek», erklärte Jane etwas verwirrt. «Was machen Sie da?»
«Lesen?», antwortete er verwirrt. «Wie jeder hier.»
«Sie wissen schon, dass die Bibliothek geschlossen ist, oder?»
«Geschlossen? Sie ist offen, sonst wäre ich ja nicht hier hereingekommen.» Der Mann legte seinen Kopf schief.
«Nein, ich meine, wir sind hier eingeschlossen», versuchte Jane ihn aufzuklären.
«Glaube ich nicht.» Der Mann hob verdutzt eine Augenbraue.
«Na ja, die Tür geht jedenfalls nicht auf.»
«Das will ich selber sehen.» Der Mann warf ihr einen misstrauischen Blick zu und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Sie ging um das Regal herum und folgte ihm zum Ausgang. Er rüttelte an der Tür, so wie es Jane auch schon tat. Sie liess sich immer noch nicht öffnen.
Der Mann liess seine Arme sinken. «So ein Mist! Was machen wir jetzt?»
Jane zuckte mit den Schultern. «Sieht so aus, als müssten wir die Nacht hier verbringen.» Sie drehte sich um und ging zur Couch. Der junge Mann folgte ihr seufzend.
«Beschäftigung haben wir genug.» Jane deutete auf die hohen Bücherregale.
«Vergiss es. So schnell geben wir nicht auf.» Er ging wieder zurück zu den Bücherregalen und blieb in der Mitte stehen.
«Was hast du vor?», fragte Jane.
«Es muss doch irgendeinen Hintereingang geben», meinte der Mann hoffnungsvoll.
Jane presste die Lippen aufeinander. «Dann lass uns suchen.»
Der Mann ging voraus. Er und Jane durchsuchten das ganze Gebäude, aber sie waren erfolglos. Es gab weder einen Hintereingang noch einen Eingang in einen Keller.
«Das kann nicht sein. Jedes Gebäude hat einen Hintereingang.»
«Ich hätte noch nie einen gesehen.»
Er glaubte ihr nicht.
«Setzten wir uns einfach auf die Couch und schmieden einen Plan», schlug Jane vor.
«Du hast ja selbst gesagt, dass es keinen anderen Weg gibt als den Haupteingang.»
«Ich habe auch nicht gesagt, dass ich einen Plan habe. Wir denken uns gemeinsam einen aus.» Jane ging zur Couch und setzte sich.
«Na gut.» Genervt drehte er sich um, und setzte sich neben sie. Der junge Mann atmete tief ein und wieder aus, um sich zu beruhigen. «Ich bin Samuel.» Er hielt Jane die Hand hin. Sie schüttelte sie.
«Jane. Freut mich.» Neugierig musterte sie ihn. Er hatte blaue Augen, welche durch das blond-braune Haar besonderes hervorstachen. Seine vollen Lippen wurden umrahmt von kantigen, klaren Gesichtszügen. Er sah attraktiv aus. Sehr sogar.
«Tut mir leid, wenn ich so angespannt bin.» Er zwang sich ein Lächeln auf. «Das ist nicht gerade das, was mir jeden Tag passiert.»
«Schon in Ordnung. Ich verstehe dich. Mir passiert das auch nicht jeden Tag.»
«Hast du eine Idee?», fragte Samuel zögernd. Jane schüttelte den Kopf.
Jane und Samuel dachten eine halbe Stunde lang nach, wie sie am besten rauskamen. Sie variierten zwischen der Idee, eines der Fenster einzuschlagen oder die Tür aufzubrechen. Schliesslich fanden beide, dass es eine andere Lösung geben musste. «Ich möchte keinen Sachschaden bezahlen», begründete Jane und Samuel stimmte ihr zu. «Es würde eine riesige Sache geben und es ist unmöglich, dass Ben nicht miteinbezogen werden muss. Ich möchte nicht, dass er Probleme hat.»
«Ein grosses Herz für Menschen hast du», stellte er fest. «Das ist schön.»
Jane strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr, welche sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hat.
Er musterte sie mit einem Lächeln. «Hast du dein Smartphone dabei?», fragte er dann.
«Nein. Ich nehme es nie mit in die Bibliothek.»
Samuel lächelte wieder. «Ich auch nicht. Sonst kann ich mich nicht konzentrieren und bin abgelenkt.»
«Geht mir genauso. Wer hätte gedacht, dass es uns diesmal nützlich sein würde», dachte Jane laut. Nach einer kurzen Schweigepause sagte sie: «Ich weiss nicht, ob Ben noch da ist oder nicht. Vielleicht haben wir Glück und er ist noch irgendwo.»
«Dann hätten wir ihn doch bestimmt schon lange gesehen. Wir haben schliesslich das ganze Haus durchsucht.»
Samuel kniff niedergeschlagen seine Lippen aufeinander. «Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als zu lesen. Bücher hat es hier ja genug.»
«Liest du gerne?» Jane bereute diese Frage sofort. Sie ergab keinen Sinn. Wer kam in die Bibliothek, wenn er nicht gerne las?
«Ich liebe es.» Samuels Augen glitzerten vor Leidenschaft. Er schien ihr die Frage zum Glück nicht übelzunehmen.
«Ich habe noch nie einen Mann angetroffen, der Lesen liebt.» Das stimmte wirklich.
«Ich auch nicht», schmunzelte Samuel. «Meine Freunde lachen mich immer aus.»
«Wieso?» Jane verzog mitleidig mein Gesicht.
«Sie denken, es ist langweilig und nur für Mädchen. Sie sagen, ich sollte besser mit ihnen Basketball spielen.»
«Das stimmt doch gar nicht.»
«Das verstehen sie nicht.» Samuel seufzte.
«Wenn jemand etwas von Herzen gerne tut, haben andere nichts dagegen einzuwenden.»
«Ist schon in Ordnung.» Samuel lächelte. «Niemand konnte mir bisher das Lesen ausreden.»
«Das hoffe ich doch.» Jane sah Samuel in die Augen. Er wich ihrem Blick aus und liess ihn über die Bücherregale schweifen.
«Bist du oft hier?»
«Fast jeden Tag», erklärte sie lächelnd.
«Dann liest du auch gerne, nehme ich mal an.» Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
«Ja, ich verbringe fast meine ganze Freizeit damit. Wie oft bist du hier?», wollte sie wissen.
«Ich bin heute zum zweiten Mal da. Meine Eltern und ich sind vor zwei Wochen hierhin gezogen.»
«Gefällt dir die Stadt?», fragte Jane neugierig.
Samuel nickte.
«So ein Neuanfang ist bestimmt schwer, oder nicht?»
«Geht so. Ich war schon vorher oft in der Stadt und kenne daher einige Leute. Das erleichtert es mir ein wenig.»
«Verstehe. Warum seid ihr denn umgezogen?»
«Mein Vater hat Job gewechselt.»
Jane nickte kurz und schwieg. Sie wollte nicht nachhaken, wieso er Job gewechselt hat und wohin er geht. Sie fand das etwas unpassend und wollte Samuel nicht unnötig nerven.
«Darf ich dir etwas vorlesen?», fragte er.
Jane nickte erfreut und Samuel ging zu einem der Bücherregale, um ein Buch auszusuchen. Als er wieder neben Jane sass, schlug er es auf und begann zu lesen. Seine Art wie er vorlas, packte Jane und sie hörte ihm aufmerksam zu. Er erweckte die Wörter mit seiner Stimme und zog Jane in eine erfundene Welt. So verging eine Stunde.
«Wir müssen nach einer verborgenen Nachricht suchen», las er vor. Er stutzte. «Wir müssen nach einer verborgenen Nachricht suchen», murmelte er die Worte immer wieder vor sich hin. Jane setzte sich gerade hin und sah ihn verwirrt an. Samuel stand auf und ging nachdenklich umher. Was ging in ihm vor?
«Sie müssen nach einer verborgen-, Jane, wie alt ist die Bibliothek?», fragte er und drehte sich zu ihr um. Diese zuckte mit den Schultern.
«Ich glaube ungefähr zweihundert Jahre alt. Warum fragst du?»
«Vielleicht gibt es irgendwelche Geheimgänge.»
Jane musste fast ein bisschen lachen. «Du hast zu viele Bücher gelesen», versuchte sie ihm die Idee gleich wieder aus dem Kopf zu schlagen. «Das ist real und kein Roman.»
«Wir sind hier in einer Bibliothek, Jane. Eine Bibliothek hat die besten Ressourcen, eine Tür zu verstecken.» Samuel warf ihr nur kurz einen Blick zu, ehe er begann, die Wände abzutasten und an allem zu drücken und ziehen, was eine geheime Tür öffnen könnte.
«Aber sie wurde bestimmt schon fünf Mal restauriert. Hier gibt es immer wieder Sanierungsarbeiten.»
«Es ist ja auch ein Geheimgang, den sollte man nicht finden.»
Jane war immer noch nicht überzeugt von seiner Idee, aber sie raffte sich auf und half mit. Ohne grosse Überzeugung etwas zu finden, klopfte sie an die Wände, schob Bücher zur Seite und drückte überall, wo es etwas zu drücken gab. Nach zehn Minuten taten ihre Fingerknöchel weh und waren gerötet. Irgendwann war sie kurz vor dem Aufgeben, als sie bei einem Regal, welches an die Wand gebaut wurde, einen veränderten Klang vernahm.
«Samuel», rief sie. «Ich glaube, ich habe etwas.» Samuel war schnell zur Stelle.
«Du hast recht», meinte er, als auch er geklopft hat. «Es klingt hohl. Da könnte sich etwas dahinter befinden. Wie öffnet man das?» Er rüttelte und zog am Regal und bewegte alle Bücher, die darin standen. Nichts.
Jane trat zurück und betrachtete das Regal von weiter weg. Plötzlich fiel ihr etwas auf. «Findest du nicht, dass dieses Regal anders aussieht wie die anderen?»
Samuel trat zu Jane und legte seinen Kopf schräg. «Was meinst du? Ich finde, es sieht genau gleich aus.»
«Von dort aus, wo du stehst schon, aber schau es dir von der Seite an. Hinten ist das Holz dunkler als vorne.»
«Du hast recht.» Samuel trat näher heran. «Es sieht irgendwie feucht aus.
«Merkwürdig», murmelte Jane.
«Warum?»
«Vielleicht wurde es nicht so gut behandelt wie andere.»
«Das glaube ich nicht.»
«Worauf willst du hinaus?» Samuel drehte sich verwundert zu ihr um.
«Ich weiss es nicht. Vergiss es einfach.» Jane winkte ab und tastete wieder am Regal herum. Plötzlich bekam Jane einen Knopf zu spüren. Er hatte dasselbe Material wie das Regal und war klein, dennoch konnte sie ihn gut ertasten. Sie drückte darauf und tatsächlich: Das Regal bewegte sich, als sie es in ihre Richtung zog. Samuel machte grosse Augen. «Es lässt sich öffnen wie eine Tür», stellte er fest und streckte seinen Kopf durch die Öffnung.
«Pass auf», meinte Jane ängstlich. «Du weisst nicht, was sich dahinter befindet.»
«Da ist ein Gang.» Samuels Kopf tauchte wieder aus der Öffnung heraus und sah Jane an. Ihre Worte ignorierte er. «Hast du ein Feuerzeug oder eine Taschenlampe dabei?», fragte Samuel. Jane schüttelte den Kopf. «Mist, ich auch nicht.»
«Beim Eingang hat es eine Kerze», fiel ihr auf einmal ein. «Warte!» Sie stieg die kleine Treppe empor, die zum Eingang führte. Tatsächlich stand da eine Kerze, allerdings brannte sie nicht. Irgendwo muss es ein Feuerzeug geben, dachte Jane und begab sich hinter den Tresen. Es dauerte nicht lange und fand eine Schachtel Streichholz. Sie zündete die Kerze an, steckte die Streichholzschachtel ein und ging wieder zu Samuel.
Jane gab ihm die Kerze und Samuel schlüpfte durch die Tür. Jane folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Sie stand auf einer kleinen Steintreppe, die ungefähr zwei Meter in die Tiefe führte.
«Die Tür ist feucht», fiel ihr auf, als sich die Tür hinter ihr schloss. Sie bestand nur aus einer dünnen Schicht Beton und dem Holz des Regals.
«Das erklärt, warum auch das Holz vom Regal feucht war. Die Wände des Ganges sind nur aus Stein und halten das Wasser nicht vollständig zurück.»
«Dann muss es diesen Geheimgang aber schon seit Jahrzehnten geben», überlegte Jane laut.
«Davon können wir ausgehen. Vielleicht auch Jahrhunderte, wie die Bibliothek auch. Los, komm!» Samuel schritt die Treppe runter. Die Kerze erleuchtete, den mit Steinplatten abgedichtete Gang. Er war ungefähr so hoch, dass ein mittelgrosser Mann, wie Sam, hindurchgehen konnte, ohne dass er sich ducken musste.
Ihre Schritte knirschten durch die Erde bei jedem Schritt, die sich von den Wänden gelöst und auf dem Boden verteilt hat, und hallten an den Wänden wider. Die flackernde Kerze warf unheimliche Schattenbilder an die Wände.
«Es ist kalt hier unten», wisperte Jane und zog ihre Jacke enger. Der Gedanke, dass sich hier Ratten und Fledermäuse aufhielten, liess sie erschaudern und sie fror noch mehr.
«Warte, du kannst meine Jacke haben. Ich habe einen dicken Pullover an.» Samuel stoppte, drückte Jane die Kerze in die Hand und zog seine Jacke aus. Dankbar nahm sie sie entgegen. Sie war von ihm schon vorgewärmt und gab Jane schnell wärmer.
«Danke», lächelte sie.
«Keine Ursache.» Er erwiderte ihr Lächeln und ging weiter. Jane folgte ihm. Wo dieser Weg wohl hinführen mag? Vielleicht zu einer Höhle? Oder zu einem Haus? Eigentlich war es Jane egal, die Hauptsache war, dass sie hier irgendwann wieder herauskamen. Sie wollte nach Hause und nicht in einer Höhle herumspazieren. Samuel schien das ganz anders zu sehen. Er redete ständig fasziniert vom Gang und der geheimen Tür. Jane verdrehte die Augen.
Sie gingen etwa zehn Minuten, als Jane allmählich die Hoffnung aufgab, dass dieser Gang überhaupt jemals endete. «Wollen wir nicht langsam zurückkehren?», schlug sie vor. «Dieser Weg führt nirgendwo hin.
«Alles hat ein Ende», zitierte Samuel. Jane verdrehte wieder nur die Augen.
Sie gingen weiter. Keiner der beiden sagte mehr ein Wort. Vielleicht kam es ihr auch nur deshalb so lange vor.
Irgendwann, Jane wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, sagte Samuel plötzlich: «Da vorne endet der Gang.»
«Wo?» Jane schaute über seine Schulter. Tatsächlich.
«Da ist eine Tür.» Samuel ging schneller. Jane musste mit ihren kurzen Beinen fast rennen.
Samuel hatte die Tür erreicht. «Sie sieht genau gleich aus, wie die der Bibliothek», bemerkte er. Er hatte recht, stellte Jane fest, als sie hinter ihm zum Stehen kam.
Samuel legte seine Hand auf die Türklinke und drückte sie runter. Die Anspannung in Jane wuchs schlagartig. Sie wusste nicht, was sich hinter der Tür befand. Samuel wollte davon nichts wissen und machte die knarzende Tür auf. Samuel trat hindurch, gefolgt von Jane. Sie befanden sich in einem Raum. Er war klein und es war stockdunkel. Samuel suchte nach dem Lichtschalter. Die, an der Decke hängende Glühbirne, flammte auf und erfüllte den Raum mit spärlichem Licht. Jetzt konnte Jane mehr erkennen. In der Mitte lag ein roter Teppich. An der einen Wand stand eine alte Kommode und auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Tisch mit einem Stuhl. Die Geheimtür wurde durch ein Bücherregal versteckt, welches sich über die ganze Wand erstreckte. Die Luft war stickig und roch abgestanden. «Da wohnt jemand, lass uns verschwinden», flüsterte Jane und wollte zurück.
«Nein, da war schon jahrelang niemand mehr», versuchte Samuel sie zu beruhigen. «Schau, alles ist verstaubt, auch der Boden. Wäre hier jemand drin gewesen, würde man Fussspuren sehen. Da sind aber keine.»
«Aber dieser Raum bringt uns nicht weiter. Es gibt weder eine Tür, noch ein Fenster. Wenn ich zwischen der Bibliothek und dieser Kammer wählen müsste, würde ich lieber in die Bibliothek zurückgehen.»
«Es muss einen Ausgang geben. Der Aufwand für diesen Geheimgang wurde nicht betrieben, um in einem mickrigen Raum wie diesem zu enden.
Jane musste ihm seufzend recht geben.
«Lass uns suchen.» Samuel lächelte ihr aufmunternd zu. Jane nickte und sie begannen wieder die Wände und die Rücken der Bücherregale abzuklopfen. Das schien heute kein Ende nehmen zu wollen. So vergingen Minuten, aber weder Jane noch Samuel wurden fündig.
«Merkwürdig», murmelte Samuel. Er tigerte im Raum auf und ab, während er nachdachte. Jane machte das nervös, aber sie sagte nichts. Er versuchte sie hier rauszubringen und da fand es Jane unangebracht, ihn wegen dieser Kleinigkeit zu kritisieren. Sie entschloss sich einzubringen und überlegte mit. «Wir haben in der Bibliothek einen Weg gefunden, der hinter einem Bücherregal begann. Dann sind wir in einem unterirdischen Gang in einen Raum gelangt. Der Gang endet auch hier hinter einem Bücherregal. Der Ausgang kann aber unmöglich hinter einem Bücherregal sein, denn wir haben alles abgeklopft», rief sie sich alles zurück ins Gedächtnis.
Samuel schaute sich im Raum um. Dann begann er unter den Teppich zu schauen und verschob die Kommode. «Nichts.» Er kratzte sich am Kopf. Plötzlich schien ihm etwas aufzuleuchten. «Du hast gesagt, wir sind unter der Erde hierhin gelangt. Dieser Raum befindet sich ebenfalls unterirdisch. Das heisst, es macht eigentlich mehr Sinn, wenn der Ausgang oben wäre, damit wir wieder an die Oberfläche gelangen!» Seine Augen leuchteten.
Jane sah ihn erstaunt an. «Du hast recht!» Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah an die Decke. Dann ging sie in eine Ecke zum Bücherregal und begann von diesem Winkel die Decke zu inspizieren. Auf einmal meinte sie einen Schlitz in der Steindecke gesehen zu haben. Er war oberhalb vom Bücherregal, neben dem sie stand. Sie drückte sich gegen die Steinwand, um ihn nochmal sehen zu können, doch plötzlich bewegte sich ein Teil davon ruckartig nach hinten und verschob sich um einen knappen Meter. Jane verlor das Gleichgewicht und krachte unsanft dagegen. Ihr Herz raste und sie atmete schwer.
«Jane, alles okay?», fragte Samuel und kam besorgt auf sie zugeeilt.
Jane atmete tief durch und sagte geschockt mit zittriger Stimme: «Ja, alles bestens.» Das war gelogen, denn die Wand war uneben und zum Teil spitzig und verursachte beim Aufprall üble Schmerzen im Rücken.
Samuel hielt ihr die Hand hin und zog sie auf. Jane drehte sich um, um zu sehen, was mit der Wand passiert ist. Ein Teil von ihr hat sich nach hinten verschoben. Ein Stück in der Wand fehlte. Es hatte die Höhe und Breite des Bücherregals und sah aus wie ein Rechteck. Jane drehte sich um. Dann entdeckte sie eine Leiter. Sie hing an der Seite des Regals. Das war der Grund, weshalb dieses Rechteck in der Wand war. Die Leiter ergänzte es perfekt und wenn die Wand zugeschoben wurde, konnte man sie nicht sehen.
«Jane, schau, was du entborgen hast!» Jane sah zu Samuel, welcher den Kopf in den Nacken gelegt hat. Sie folgte seinem Blick. An der Decke ist ein Holzbrett zum Vorschein gekommen. Samuel stellte vorsichtig seinen Fuss auf die grossen Stufen der Leiter. Flink stieg er empor und drückte am Brett auf. Er stieg aus und verschwand ausser Janes Sichtweite. Dann ging oben das Licht an und Samuels Kopf tauchte auf. Er sah zu Jane runter. «Komm», ermutigte er sie. Jane kletterte zu ihm hoch.
«Fass nicht zu viel an, es ist alles ziemlich staubig hier», warnte Samuel sie. Jane nickte und sah sich um. Sie befanden sich in einem Raum, der aussah wie ein Büro. Am Fenster, welches verstaubt und vergilbt war, stand ein Schreibtisch und ein Stuhl, der nur noch drei Beine hatte. Am Schreibtisch krabbelten Spinnen in ihren Netzen herum. Oberhalb des Schreibtisches hing die Hälfte eines Bildes, auf dem ein Mann zu sehen war. Neben ihm hat offenbar eine Frau gestanden, denn es waren kastanienbraune, lockige Haare zu sehen.
Der Boden bestand aus altem Holz, das mit den Jahren vermoderte und die Wände hatten ihre Farbe verloren.
«Es scheint ein verlassenes Haus zu sein», stellte Samuel fest.
«Dort ist eine Tür.» Die Tür hing nur noch an einer Angel. Sie vorsichtig gingen in den nächsten Raum. Darin stand eine alte, staubige und zerrissene Couch. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Kommode mit einem Röhrenfernseher. Was aber am meisten auffiel, war die kaputte Vitrine. Sie hatte nur noch eine intakte Türhälfte. Die andere lag am Boden, das Glas, welches früher von einem Holzrahmen umrahmt wurde, lag in kleinen Stücken am Boden. Die kaputten Weinflaschen, die früher wohl darin gestanden sind, lagen über dem ganzen Boden verteilt und hatten ihren Inhalt über den alten Teppich geschüttet, dass dort Flecken entstanden.
«Entweder war derjenige, der hier gewohnt hat, betrunken und hatte sich selbst nicht mehr im Griff, oder da waren Streuner und hatten Spass daran, ein altes Haus chaotisch und zerstört zu hinterlassen.» Jane verzog angeekelt ihren Mund.
«Ich tendiere eher auf die eins.»
«Lass uns verschwinden.» Jane nahm Samuels Arm und zog ihn zur Eingangstür. Er kam bereitwillig mit, liess seinen Blick aber erst vom Haus ab, als sie draussen auf der Veranda standen. «Wer da wohl gewohnt hat?», murmelte er gedankenverloren.
«Das ist jetzt egal. Hauptsache, wir sind draussen.» Jane war so froh. Allerdings bangte sie vor dem Rückweg. Sie konnte am Horizont die Stadt leuchten sehen. Rund um das Haus befanden sich weite Wiesen, die sich über Kilometer erstreckten. Sie bestanden aus hohem Gras, Unkraut und Blumen. Selbst die Wege waren grün und kaum mehr zu erkennen. Sie konnten fast nichts mehr erkennen, denn sie Dämmerung ist eingebrochen und die Sonne ist schon bevor die beiden ins Haus gelangt sind, hinter dem Horizont verschwunden.
«Hier hat wohl schon lange niemand mehr gemäht.» Jane seufzte. «Vielleicht ist es besser, wenn wir hier übernachten. Wir werden nichts sehen, es ist zu dunkel.»
«Es ist furchtbar staubig in diesem Haus. Willst du da wirklich drin schlafen?», fragte er skeptisch.
«Nein, eigentlich nicht, aber wir haben einen langen Weg vor uns, den wir im Dunkeln zurücklegen müssen.»
«Diesen Weg müssen wir früher oder später sowieso zurücklegen.»
Jane sah ein, dass es keinen Zweck hatte, mit ihm darüber zu diskutieren. Sie wusste, dass er recht hatte.
«Fürchtest du dich im Dunkeln?», fragte er.
«Nein», log Jane. Und ob sie das tat, aber ihr würde nicht im Traum in den Sinn kommen, ihm das zu sagen. «Wir haben kein Licht», warf sie ein.
«Es ist heute Nacht Vollmond.» Samuel sah auf seine Uhr. «Wir müssen noch etwa zehn Minuten warten, bis er aufgeht.»
Jane nickte und setzte sich auf die Verandatreppe. Samuel hockte sich neben sie.
Durch die hohen Gräser strich ein leichter Wind und verursachte ein beruhigendes Geräusch. Jane konnte das gut gebrauchen, denn sie war angespannt.
«Das Haus sieht im Dunkeln irgendwie gespenstig aus», bemerkte Samuel. Er hatte seinen Kopf umgedreht und betrachtete das Haus fasziniert. Jane warf einen Blick nach hinten. Es ragte über ihnen hoch in den Himmel. Er hatte recht. Jane konnte nicht genau sagen, was es so geisterhaft aussehen liess, vielleicht weil es ruhig da lag und eine unbekannte Geschichte mit sich trug, die niemand kannte, vielleicht aber auch, weil es einsam inmitten einer weiten Wiese stand und kein Mensch sich um das Haus kümmerte.
Jane konnte im Dunkeln nicht viel von den Äusserlichkeiten des Hauses erkennen, aber sie war sich sicher, dass das Haus von aussen bestimmt genauso heruntergekommen aussah, wie von innen.
«Du hast absolut recht.» Samuel rieb sich seine Hände an den Beinen. «Ich habe das Gefühl, dass dieses Haus irgendetwas verbirgt. Es trägt ein Geheimnis mit sich herum, das spüre ich.» Er klang nachdenklich.
«Es ist bloss ein altes Haus, das keiner mehr bewohnt. Das heisst noch lange nicht, dass es ein Geheimnis mit sich herumträgt», versuchte Jane Samuel aus seiner Fantasiewelt zu entreissen.
«Das ist bloss ein Gefühl», verteidigte Samuel sich.
Jane schwieg. Eine Weile sagte keiner etwas, aber es war eine angenehme Stille.
«Schau!» Samuel deutete plötzlich mit dem Finger auf den Horizont. «Siehst du den Mond?»
Jane kniff die Augen zusammen. Dann entdeckte sie ihn. Dort, wo sich Himmel und die Erde berührten, leuchtete ein immer grösser werdender Ball. Je mehr sie von ihm zu sehen bekamen, desto mehr staunte Jane an seiner Grösse. Er war gigantisch.
«Wow», hauchte sie und konnte den Blick kaum abwenden.
Jane und Samuel mussten während der nächsten halben Stunde so einiges auf sich nehmen. Überall befanden sich Brennnesseln und Dornen, die ihre nackten Beine demolierten. Dazu kamen noch die Mücken. Während sie über die hohen Gräser stiegen, wechselten die beiden kein Wort miteinander. Jane war müde und wollte nicht reden.
Nach einer halben Stunde, sie sind ungefähr die Hälfte der Strecke gegangen, stiessen Jane und Samuel auf eine Strasse.
«Lass uns warten, bis ein Auto kommt. Vielleicht nimmt uns jemand mit», schlug Samuel vor.
«Meine Mutter hat immer gesagt, ich sollte nie zu Fremden ins Auto steigen.» Jane bereute diese Worte sofort. Wie kam sie auf die Idee, so etwas zu sagen? Sie wollte sich instinktiv an die Stirn fassen, aber im letzten Moment merkte sie, dass sie es nur noch peinlicher machen würde.
«Willst du etwa nochmal eine halbe Stunde gehen?»
Jane schüttelte den Kopf und willigte ein. Sie warteten sicher zehn Minuten, bis das erste Auto um die Ecke gefahren kam. Jane wäre schon lange weitergegangen, aber Samuel hatte sich geduldig hingesetzt und wartete. Jane blieb nichts anderes übrig, als sich neben ihn zu setzen und zu warten. Um sich die Zeit zu vertreiben, spielte sie mit einem Grashalm.
Als das Auto kam, stand Samuel auf. Das Auto kam rasend schnell auf sie zu. Im ersten Moment schien es so, als würde es an ihnen vorbeifahren, doch dann bremste es abrupt ab. Die Frau im Auto liess die Fensterscheibe beim Beifahrersitz runter. «Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit?», fragte sie laut. Samuel nickte. «Los, steigt ein.»
Das liessen sich Jane und Samuel nicht zweimal sagen. Dass der Fahrer eine Frau war, beruhigte Jane. Sie würde sich bei der Anwesenheit eines Mannes in der Dunkelheit fürchten. Schon oft hatte sie gehört, wie die Frauen in ihrer Stadt verfolgt und belästigt wurden, vor allem in der Nacht.
Die Frau fuhr sie bis zum Stadtrand. «Ich muss noch eine Stadt weiter, ich hoffe, es ist für euch in Ordnung.» Samuel und Jane nickten und bedankten sich höflich, bevor sie ausstiegen.
«Ich muss da entlang.» Jane zeigte auf die Strasse, die sie nach Hause führte. Samuel musste in die entgegengesetzte Richtung.
«Soll ich dich noch begleiten?», fragte er. Jane schüttelte den Kopf. «Gut, bis dann», lächelte er. «Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.»
«Mich auch.» Jane erwiderte sein Lächeln. Dann bemerkte sie, dass sie noch seine Jacke trug. Sie zog sie aus und gab sie ihm zurück. Er streifte sich die Jacke über und breitete die Arme aus, um Jane zum Abschied zu umarmen. Jane dachte, er würde ihr die Hand geben, um ihre zu schütteln und nahm sie, als sie plötzlich merkte, dass er sie eigentlich umarmen wollte. Jane lief rot an. Zum Glück war es dunkel und er konnte es nicht sehen. Sie entschuldigte sich eilig und umarmte ihm.
«Bis dann», sagte er und erwiderte die Umarmung.
«Bis dann», verabschiedete sie sich, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie sich je wiedersehen würden…
Janes Eltern wussten, dass Jane am gestrigen Abend in die Bibliothek gegangen ist. Sie wussten auch, dass die Bibliothek nicht so lange geöffnet hatte, wie Jane weg war. Ihre Eltern hatten schon geschlafen, als sie nach Hause gekommen ist und werden sich bestimmt fragen, wo sie gesteckt hatte. Jane hatte nicht die Absicht ihnen am nächsten Tag zu erzählen, was am gestrigen Abend passiert ist. Nicht weil sie ihnen nicht vertraute oder ein schlechtes Verhältnis mit ihnen hatte, im Gegenteil! Sie hatte keine Lust sich anzuhören, wie gefährlich diese Aktion war und dass sie so etwas nie wieder tun soll. Sie wollte nicht, dass sie erfuhren, dass sie mit einem jungen Mann unterwegs war, den sie kaum kannte. Auch wenn sie sich sicher war, dass ihre Eltern ihn mögen würden. Aber sie kannten ihn nicht und wären misstrauisch. Sie müsste sich stundenlange Vorträge anhören und mit ihnen diskutieren und auf das konnte sie verzichten.
Jane hasste es, ihre Eltern anzulügen, und sie tat es auch nie, aber diesmal musste sie es tun. Sie sassen am Frühstückstisch. Ihre Mutter, ihr Vater und Jane.
«Wo warst du gestern Abend so spät noch?», fragte ihr Vater, während er sich sein Brot mit Butter bestrich.
«Ich war im Park», schwindelte Jane.
«Aha.» Ihre Mutter beäugte sie misstrauisch. «Was hast du dort gemacht?», fragte sie.
«Gelesen.»
«Im Dunkeln?»
«Nein, es hatte eine Laterne neben der Bank, auf der ich gesessen bin.»
Janes Mutter nickte und lächelte. «Ich hoffe, es hat sich gelohnt, so lange wegzubleiben.»
«Ja, das hat es sich. Das Buch war sehr spannend.» Sie biss erleichtert, dass ihre Eltern ihr geglaubt haben, in ihr Brot.
«Was hast du heute noch vor?», fragte ihr Vater.
«Ich weiss es noch nicht. Ich bin wahrscheinlich zu Hause.»
«Gut.» Er schluckte. «Heute Abend kommt Besuch. Ich finde, du solltest hier sein.»
«Wer kommt denn?», fragte Jane. Sie hatte eigentlich keine Lust, mit vier oder fünf anderen Personen am kleinen Esstisch zu sitzen und danach mit nervigen fünfjährigen Kindern in ihrem Zimmer zu spielen, nur um es eine halbe Stunde lang wieder aufzuräumen, weil sie eine Unordnung hinterlassen.
«Mein neuer Angestellter und seine Frau.» Er rieb sich die Stirn. «Ich glaube, er hat einen Sohn. Ich muss ihn fragen, ob er auch kommt. Soviel ich weiss, ist er in deinem Alter.» Er sah Jane an. Diese nickte desinteressiert.
Janes Vater führte einen kleinen Laden mit Gesundheitsprodukten wie Ernährungsergänzungen, Geräte um Verspannungen zu lösen und noch vieles mehr. Sie war stolz auf ihn, denn er hatte alles selbst aufgebaut und hatte heute Erfolg.
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Es war ungefähr sechs Uhr, als es an der Tür klingelte. Jane hörte, wie unten die Haustür geöffnet wurde und es ertönten Stimmen. Sie öffnete ihre Zimmertür und schritt langsam die Treppe runter. Im Flur konnte sie ihre Eltern erkennen. Der Besuch hatte ihr den Rücken zugekehrt, sodass sie keine Gesichter erkennen konnte. Es waren drei Personen. Ein grosser Mann mit einem weissen Hemd und einer schwarzen Hose, eine kleine Frau mit braunen Locken und ein junger Mann, der ebenfalls ein weisses Hemd trug.
Sie ging hin und stellte sich neben ihre Eltern.
«Ah, du musst Jane sein», lächelte der Mann. Er hatte einen dunklen Teint, der seine blauen Augen hervorstechen liess, dass sie schon fast ein bisschen erschrak. «Ich bin Chad.»
«Freut mich.» Jane erwiderte sein Lächeln. Dann sah sie zu seiner Frau.
Sie strahlte und umarmte Jane. Ein bisschen überrumpelt erwiderte sie die Umarmung. «Jane, was für eine Freude.» Sie löste sich aus der Umarmung und hielt sie an den Schultern fest. «Ich bin Elizabeth, aber nenn mich ruhig Liza.» Jane lächelte sie an. Sie wollte gerade etwas sagen, als sie plötzlich den jungen Mann neben Liza sagen hörte: «Hey Jane.»
Jane wandte ihren Kopf zu ihm. Erstaunt riss sie die Augen auf. «Samuel?»
«Richtig erkannt», grinste er und umarmte sie. «Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen würden.»
«Ihr kennt euch?», fragte Janes Mutter überrascht.
«Ja. Wir haben uns gestern in der Bibliothek kennengelernt.»
«So ein Zufall.» Janes Mutter lächelte. «Lasst uns ins Wohnzimmer gehen», schlug sie vor. «Dort ist es ein bisschen gemütlicher.» Sie folgten ihrem Vorschlag und setzten sich auf die Couch. Auf dem Couchtisch stand eine Platte mit Chips, Salzstangen und Tomaten-Mozzarella-Stäbchen.
«Bedient euch.»
«Danke für die Einladung.» Samuels Vater griff nach einer Salzstange.
«Gern geschehen.» Mr Larkley, Janes Vater, stand auf und verschwand kurz. Dann kam er in das Wohnzimmer mit einer Flasche Champagner zurück. «Was ist besser, als mit einem Glas Wein», er setzte sich, «einen neuen Teamkollegen einzuweihen und zu feiern.» Es ploppte leise und die Flasche öffnet sich. Mr Larkley schenkte Mr Portbell ein Lächeln und füllte danach sechs Champagnergläser mit dem Champagner. Dann verteilte er die Gläser und hielt seines in die Luft. «Auf Chad und eine gute Zukunft mit ihm.»
Die Gläser klirrten und alle hiessen ihn herzlich willkommen.
«Es ist mir eine Ehre», lächelte Mr Portbell und nahm einen Schluck. «Der ist gut. Sehr gut sogar.» Er begutachtete den Wein und nahm noch einen Schluck.
«Wann fangen Sie an, Chad?», fragte Jane.
«Oh, sag du zu mir.» Er lächelte wieder. «Am ersten Tag des nächsten Monates, also in zwei Wochen.»
«Er ist im Büro eingestellt», erklärte Mr Larkley.
«Wo haben Sie vorher gearbeitet?», fragte Mrs Larkley interessiert.
«Na ja, vor über zwanzig Jahren war ich Polizist im Einsatz, danach habe ich ins Polizeibüro gewechselt, nachdem ich einen Unfall hatte und nicht mehr imstande war Einsätze zu machen. Als dann unser Sohn geboren wurde, wechselte ich zu einer Versicherung, die auch heute noch mein Arbeitgeber ist. Ich brauchte etwas Neues.» Er hob seine Arme. «Jetzt bin ich hier.»
Die Erwachsenen plauderten weiter. Jane und Samuel wechselten einen gelangweilten Blick. Jane stand auf und zog Samuel in ihr Zimmer.
«Diese Gespräche sind ja nicht auszuhalten», murmelte sie und setzte sich auf ihren Bettrand. Samuel kam zögernd ins Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
«Ich habe geahnt, dass du Bücher in deinem Zimmer stehen hast, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so viele sind.» Samuel ging auf Janes Bücherregale zu und staunte.
«Was denkst du, wie oft mir zum Geburtstag Bücher geschenkt wurden.» Das war keine Frage.
«Die Hälfte hast du wahrscheinlich selbst gekauft», grinste er.
«Ertappt», gab Jane zu.
Samuel setzte sich neben sie. Dann fiel sein Blick auf das Piano. Er betrachtete es bewundernd.
«Willst du mal versuchen?», fragte Jane.
Samuel sah sie mit grossen Augen an. «Darf ich?»
«Sonst hätte ich dich nicht gefragt», grinste sie und stand auf. Samuel folgte ihr. Jane deutete auf die Bank und er setzte sich. Dann klappte er vorsichtig die Klappe hoch und starrte ahnungslos auf die Tasten. «Kannst du mir etwas vorspielen?», fragte Samuel.
«Nein, kommt nicht infrage.» Jane trat einen Schritt zurück.
«Wieso nicht?»
«Ich kann es nicht perfekt.»
«Das muss es auch nicht sein. Bitte.»
«Nein. Wenn mir jemand zuschaut, bin ich gestresst und verspiele mich dauernd.»
Samuel seufzte. «Dann schaue ich eben nicht.»
Jane seufzte. «Ich möchte lieber nicht.»
Er nickte. «Ich verstehe. Ich möchte dich nicht zwingen.» Samuel lächelte Jane an.
«Danke.» Jane schob ihren Stuhl wieder zu ihrem Schreibtisch.
Plötzlich klopfte es und die Stimme von Mrs Larkley drang dumpf durch die Tür. «Das Essen ist fertig! Kommt runter.»
Jane und Samuel folgten der Anweisung von Janes ihrer Mutter und gingen runter. Die Erwachsenen sassen bereits am Tisch und plauderten angeregt miteinander. Jane und Samuel setzten sich dazu. Nur wenig später stellte Mrs Larkley den Topf auf den Tisch.
«Das ist ein Nudeleintopf mit Hackfleisch, Auberginen und Käse», verkündete sie und nahm einen Schöpflöffel in die Hand. «Ich hoffe, ihr mögt es.»
«Das klingt lecker», sagte Chad. Mrs Larkley schöpfte allen.
«Guten Appetit», wünschte Mrs Larkley, als sie sich ebenfalls gesetzt hat, und nahm eine Gabel Nudeln in den Mund.
Mr Larkley hielt sein Weinglas in die Höhe und stiess mit allen an. «Das Essen ist sehr gut, Janine», lächelte er, nachdem er sich nochmal eine Gabel in den Mund geschoben hatte. Die anderen stimmten ihm zu.
«Danke.» Mrs Larkley lächelte.
«Wie alt bist du jetzt, Jane?», fragte Liza Jane, die neben ihr sass.
«Achtzehn», erwiderte Jane.
«Eine wunderschöne junge Frau also.» Liza tupfte sich den Mundwinkel mit einer Serviette ab. «Mein Sohn ist auch achtzehn.»
«Sowas habe ich mir schon gedacht.» Jane beäugte Samuel von der Seite.
«Hast du? Ich hätte dich auf mindestens neunzehn geschätzt.» Samuel legte seinen Kopf schief.
«Das tun viele.»
«Du wirkst sehr reif auf mich», sagte Liza. «Wahrscheinlich ist es das, was dich älter aussehen lässt. Abgesehen vom Äusseren natürlich. Deinen Wellen und das kantige Gesicht helfen dabei auch.»
Jane lächelte gezwungen. Sie mochte es nicht, wenn sie zu viel Aufmerksamkeit bekam oder wenn sie im Mittelpunkt stand, so wie jetzt. Sie fühlte sich unwohl.
«Was arbeitest du?», fragte Janes Mutter Liza. Jane warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie erwiderte ihn kurz, bevor sie sich wieder Liza zuwandte.
Der Rest des Abendessens verging langweilig. Die Erwachsenen redeten und Jane und Samuel sassen gelangweilt am Tisch und warteten sehnsüchtig auf den Nachtisch.
«Meine Mutter hat Tiramisu gemacht», flüsterte sie ihm zu und er leckte sich die Lippen.
«Ich liebe Tiramisu.»
«Ich auch.» Jane lief schon, nur beim Gedanken daran, das Wasser im Mund zusammen. «Wenn sie so weiterreden, könnte es aber noch eine Weile dauern.»
«Sie müssen erst verdauen», klärte Samuel sie auf und verdrehte die Augen.
Jane lachte leise. «Dann esse ich eben noch eine Portion.» Sie öffnete den Deckel.
«Ich nehme auch noch ein bisschen.»
Jane schöpfte ihm und dann sich selbst. Die Beiden liessen es sich den mittlerweile lauwarmen Nudeleintopf schmecken.
Gerade als Jane den letzten Bissen heruntergeschluckt hat, klingelte es an der Tür. «Ich gehe», verkündete sie und stand auf.
«Grace?» Erstaunt zog sie ihre Augenbrauen nach oben, als sie ihre beste Freundin vor ihrer Haustür stehen sah.