Zeitreise durchs Kellerfenster - Gaby Rhode - E-Book

Zeitreise durchs Kellerfenster E-Book

Gaby Rhode

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Beschreibung

Der zehnjährige Frederik zieht mit seinen Eltern um. Er findet heraus, dass er in das Jahr 1920 gelangt, wenn er durch das Kellerfenster des neuen Hauses klettert. In der Vergangenheit trifft Frederik auf einen Zirkus, bei dem er sich mit der 15-jährigen Artistin Dina anfreundet. Er beschließt, eine Weile mit dem Zirkus mitzureisen, und versteckt sich als blinder Passagier im Zirkuswagen...

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Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Für Enrico

Inhaltsverzeichnis

Das neue Haus

Der Keller

Die alte Straße

Mittagspause

Das Plakat

Die erste Begegnung

Ungeahnte Möglichkeiten

Der Zettel

Dina

Frederik beeindruckt

Das Einrad

Die Freikarte

Die Vorstellung

Der Plan

Blinder Passagier

Der Direktor und die anderen

Zirkusalltag

Das Geständnis

Alles auf einmal

Das Unglück

Die Lösung

Ein klärendes Gespräch

Viel zu viele Gefühle

Das Foto

Greco revanchiert sich

Jede Menge Unterstützung

Frederiks Auftritt

Die Show muss weitergehen

Zeitreisen-Regeln

Eine Überraschung für Greco

Die Heimfahrt

Der letzte Abend

Zurück

Ein Brief

Das neue Haus

Der erste Tag im neuen Haus begann für Frederik mit einer Katastrophe.

Voller Neugier stürmte er in den ersten Stock, um sein eigenes Reich in Besitz zu nehmen. Seine Eltern hatten ihm bislang nur von dem Zimmer erzählt, denn jedes Mal, wenn das Haus besichtigt werden konnte, war Frederik entweder in der Schule oder beim Fußballtraining gewesen.

„Die Treppe hoch, gleich geradeaus, die Tür in der Mitte“, hatte ihm sein Vater gesagt.

Da stand er nun aufgeregt vor der Zimmertür und drückte voller Vorfreude die Klinke herunter. Die Tür schwang auf, und Frederik musste mühsam einen entsetzten Aufschrei unterdrücken: Das Zimmer war ganz rosa gestrichen!

Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Frederik knallte die Tür hastig wieder zu, denn er vermutete, dass es sich wohl doch nicht um das Kinderzimmer handelte. Allerdings hatte dieses Haus nur ein einziges Kinderzimmer, dazu ein Elternschlafzimmer, Wohnzimmer und natürlich Küche und Bad. Wenn dieser rosa Albtraum nicht sein Zimmer war, was war es denn dann?!

Frederik öffnete eine Tür nach der anderen im oberen Flur. Rechts war ein größerer Raum mit gelber Tapete (auch nicht so toll), Abdrücken von einem Doppelbett in der Mitte des Teppichs und zwei Steckdosen links und rechts davon in Kniehöhe. Eindeutig ein Schlafzimmer.

Letzte Chance. Die linke Tür. Entgegen jeder Logik, denn erstens hatte Papa ‚mittlere Tür‘ gesagt und zweitens musste ja auch irgendwo ein Badezimmer sein, öffnete Frederik auch die dritte Tür. Nein, ganz klar war dies nicht sein Zimmer: Badewanne, Waschbecken, Toilette. Mist!

Also wieder zurück zur Mitte. Vielleicht war das Grauen ja nicht so gewaltig, wie es Frederik im allerersten Moment erschienen war. Vorsichtig, als könnte ihn ein rosa Monster angreifen, steckte er den Kopf durch den schmalen Türspalt. Erste Wand: rosa.

Frederik öffnete die Tür etwas weiter und trat vollständig ein. Gegenüber der Tür befand sich das Fenster. Die Wand darum herum: ebenfalls rosa. Nein!

Auf das Schlimmste gefasst drehte sich Frederik nun einmal um sich selbst, um das ganze Ausmaß des Schreckens zu begutachten. Rosa, rosa, rosa! Wie furchtbar konnte eine Farbe sein? Wer war denn so bescheuert und malte die Wände seines Zimmers rosa an?

Diese Frage hätte sich Frederik besser nicht gestellt, denn im selben Augenblick wurde ihm die Antwort klar: In diesem Zimmer musste vor ihm ein kleines Mädchen gewohnt haben! Er konnte sie förmlich vor sich sehen, wie sie auf ihrem Bett saß und mit Barbie-Puppen spielte.

Barbie-Puppen! In seinem Zimmer!! Gut, das war vor seiner Zeit. Doch Frederik war ein zehn Jahre alter zukünftiger Fußballprofi, saucool und knallhart. Nun wohnte er also in einem Zimmer, das offensichtlich von Barbies besudelt worden war. Das war ein ernstes Problem.

Farbe musste her. Weiß, grün, blau, grau oder auch schwarz – egal, Hauptsache, das Rosa war nicht mehr zu sehen. Doch da fiel Frederik wieder ein, wie sich seine Eltern über den Preis des Hauses unterhalten hatten. Es kostete ein gutes Stück mehr, als sie ursprünglich geplant hatten. So war beschlossen worden, nicht zwingend notwendige Renovierungsarbeiten auf später zu verschieben.

Jahaa, nicht zwingend notwendige! Davon konnte in diesem Fall ja wohl kaum die Rede sein! Frederik raste die Treppe hinunter, um seinen Vater zu suchen und ihm zu erklären, wie super-wahnsinnig-Turbo-wichtig der Neuanstrich seines Zimmers war.

Natürlich hätte Frederik sich gleich denken können, dass er eine Absage kassieren würde. Wenn kein Geld da war, war eben keins da. Das war ihm auch klar, er war ja kein Dummkopf. Aber manchmal half es ja doch, wenn man ein bisschen herum quengelte, um etwas außer der Reihe durchzusetzen.

Wie schön war doch die Welt, wenn man keine Geschwister hatte! Verglichen mit seinen Freunden aus der Schule und aus dem Sportverein schnitt er eigentlich immer ganz gut ab, wenn es darum ging, Extrawünsche erfüllt zu bekommen. Das würde doch hoffentlich jetzt nach dem Kauf dieses Hauses (mit einem rosa Zimmer!) nicht anders werden?

Enttäuscht von seiner Niederlage in der Farb-Verhandlung mit seinen Eltern hatte Frederik erst mal keine Lust, seine Sachen in sein Zimmer zu räumen. Er sah sich stattdessen im Rest des Hauses etwas um.

Das Haus war ganz schön alt. Frederiks Mutter hatte geschwärmt, dass es sich um einen ‚Vorkriegsbau‘ handelte. Frederik hatte keine Ahnung gehabt, was das sein sollte, bis sie ihm erklärt hatte, dass das Haus 1920 (also vor dem Zweiten Weltkrieg) gebaut worden war. Seine Mutter fand so alte Sachen klasse. Sie wäre auch in eine Höhle gezogen, glaubte Frederik, wenn sein Vater da mitgemacht hätte.

Für Frederik war das Haus einfach nur ungewohnt. Die Fenster waren nach außen zu öffnen, dicke Heizkörper hingen darunter in einer Nische in der Wand. Dafür waren die Rohre an der Wand. Schon merkwürdig. Die Türen hingen alle ein bisschen schief und knarrten, aber das gefiel Frederik ganz gut.

Es gab auch einen Keller. Das fand Frederik besonders spannend, denn er hatte noch nie in einem unterkellerten Haus gewohnt. Er kannte so etwas überhaupt nur aus Gruselgeschichten, in denen ein Keller immer ein dunkler, unheimlicher Ort voller unsichtbarer Gefahren (z.B. Gespenster oder Spinnen) war. Zum Glück war Frederik aber ja, wie gesagt, saucool und knallhart. Also würde er jetzt gleich mal in den Keller hinuntergehen und nach dem Rechten sehen.

Die Tür zur Kellertreppe war dummerweise abgeschlossen. Der Schlüssel hing jedoch an einem Nagel gleich neben dem Türrahmen. Frederik steckte ihn ins Schloss und wollte ihn herumdrehen, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Offenbar war diese Tür seit langer Zeit nicht mehr geöffnet worden. Vielleicht war das Schloss inzwischen eingerostet. Doch davon ließ Frederik sich nicht aufhalten. Er rüttelte so lange an der Türklinke und stocherte mit dem Schlüssel im Schloss herum, bis er die Tür schließlich aufbekam. Er öffnete sie einen Spalt und zuckte zunächst zurück. Abgestandene, staubige Kellerluft strömte ihm entgegen und stank nach vergammelten Kartoffeln.

Doch Frederiks Forscherdrang war stärker als sein Ekel vor dem Gestank. Er stellte sich vor, dass es jedem Archäologen in Ägypten beim Öffnen einer Grabkammer genauso gehen musste wie ihm. Da half es nichts – man musste ein Mann sein und sich überwinden. Für die Wissenschaft. Also hielt er sich die Nase zu und stieg vorsichtig die knarrende Holztreppe hinunter.

Der Keller

So furchtbar spannend war der Keller dann aber auch wieder nicht. Frederik hätte nicht sagen können, was genau er erwartet hatte. Aber etwas enttäuscht war er schon. (Nicht so sehr natürlich wie vorhin, als er sein rosa Schock-Erlebnis hatte!) Die Treppe führte zunächst in einen mittelgroßen Raum, der mit bis an die Decke reichenden Regalen vollgestellt war. Von diesem gingen zwei weitere Türen ab, eine links und eine rechts. Auf den Regalen standen komische, dicke Gläser, die irgendein ekliges Zeug zu enthalten schienen und die mit einer gewaltigen Staubschicht bedeckt waren.

Frederik überlegte gerade, ob es sich bei dem Inhalt der Gläser wohl um die abartige Horrorsammlung eines wahnsinnigen Wissenschaftlers handelte, als er hastig beschloss, doch lieber nicht darüber nachzudenken. ‚Saucool und knallhart‘ hin oder her – es gab auch für Männer wie Frederik Gedanken, die lieber nicht gedacht werden sollten.

Stattdessen wandte Frederik sich nun der linken Tür zu und überprüfte, ob sie sich öffnen ließ. Ja, das ging ganz leicht. Sie quietschte oder knarrte noch nicht einmal. Dahinter befand sich ein weiterer Raum, etwas kleiner als der vorherige. Direkt unter der Kellerdecke befand sich ein Fenster. Es war nicht besonders tief, aber dafür umso breiter. Die Scheiben waren vor Staub fast blind, aber man konnte schemenhaft erkennen, dass sich dahinter etwas bewegte!

Frederik blickte mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenem Mund eine Weile auf das seltsame Schauspiel, legte schließlich den Kopf schief und machte ein Doppelkinn. So hatte das keinen Zweck. Wenn er etwas sehen wollte, musste er näher an das Fenster heran. Und er brauchte etwas um die Scheibe abzuwischen. So weit war es nun schon mit ihm gekommen, dass er Fenster putzte! Na schön, es handelte sich ja gewissermaßen um die Entfernung von Staub auf einem interessanten Beobachtungsobjekt.

Nachdem sich Frederiks Augen an das Halbdunkel im Kellerraum gewöhnt hatten, entdeckte er nicht weit vom Fenster einen alten Stuhl. Er schob ihn genau darunter und putzte mit seinem Jackenärmel ein kleines Guckloch in die Staubschicht. Dann wollte er sich den Staub vom Ärmel abklopfen, doch der klebte und ging nicht wieder ab. Au weia, das konnte lustig werden, wenn seine Mutter die Jacke sah! Vielleicht konnte Frederik später noch selbst versuchen, den Ärmel mit Wasser und Seife im Waschbecken zu retten. Seine Mutter würde sonst bestimmt irgendetwas sagen wie:

„Das mit der neuen Farbe in deinem Zimmer kannst du jetzt ja wohl ganz vergessen!“

Sie musste immer Sachen vermischen, die gar nichts miteinander zu tun hatten.

Abgelenkt von seinem schmutzigen Ärmel hatte Frederik gar nicht darauf geachtet, was es durch das Guckloch hindurch Spannendes zu sehen gab:

Auf der Straße vor dem Haus fuhr eine Pferdekutsche und wurde von ein paar Jungen in merkwürdiger Aufmachung verfolgt! Die Jungen trugen seltsame Hosen mit hohem Bund, tiefem Schritt und Hosenträgern. Außerdem gingen die Hosen nur bis knapp über die Knie. Was waren das denn für Kasper? Wer zog denn solche Sachen an?

Die Schuhe gingen auch nicht: Das waren weder Sneakers noch Boots, sondern einfach nur braune Halbschuhe und dann auch noch mit Schnürsenkeln! Das da draußen mussten die absoluten Flachpfeifen sein – oder, halt mal! Vielleicht waren die bloß verkleidet und gehörten zusammen mit der Pferdekutsche zu einem Festumzug! Am Ende gab es draußen ausgerechnet heute ein Dorffest oder so etwas, mit Buden, Karussells und allem. Dann konnte der Tag (trotz des unsäglichen rosa Zimmers) ja doch noch gerettet werden!

Frederik jagte die Kellertreppe wieder hoch und rannte zur Haustür hinaus. Da war nichts außer dem geliehenen LKW mit den Möbeln und seinem keuchenden und schimpfenden Vater darauf, der sich mit irgendeinem störrischen Schrank abkämpfte. Komisch. Frederik hätte schwören können, dass das Kellerfenster in dieser Richtung lag! Er umrundete das ganze Haus, obwohl er dazu durch den Garten gehen musste und die Pferdekutsche doch auf der Straße gefahren war. Doch hier war nirgends eine Kutsche, verkleidete Leute oder überhaupt irgendetwas zu sehen, das nach Festumzug aussah.

„Papa!“

„Jetzt nicht!“

„Papa!“

„Jetzt nicht, Mensch! Oder hilf mir erst mit diesem Schrank hier, der klemmt fest. Bist du mit deinem Zimmer etwa schon fertig?“

„Noch nicht ganz.“

Frederik hatte im Augenblick keine Lust, seinem Vater zu erzählen, dass er noch nicht einmal angefangen hatte. Im Moment gab es Wichtigeres!

„Papa, hast du den Umzug gesehen?“

Frederiks Vater starrte ihn verständnislos an.

„Was?“

„Ob du den Umzug gesehen hast.“

„Den Umzug. Sag mal, geht’s noch? Was ist denn das für eine Frage?“ Er klang ziemlich ärgerlich.

Erst jetzt bemerkte Frederik die doppelte Bedeutung des Wortes ‚Umzug‘ und begriff, warum sein Vater so genervt reagiert hatte.

„Hier ist doch eben ein Festumzug vorbeigekommen!“

„Hier? Quatsch. Wieso soll denn hier ein Festumzug vorbeikommen? Meinst du, die Leute hier im Ort freuen sich so sehr, dass wir da sind?“

Er musste nun doch grinsen, weil auch er das Wortspiel mit dem ‚Umzug‘ komisch fand. Und weil Frederik manchmal wirklich die unmöglichsten Ideen hatte. Ein Festumzug in diesem kleinen Ort in dieser abgelegenen Nebenstraße! Wie kam Frederik nur auf so etwas?

In diesem Augenblick kam auch Frederiks Mutter aus dem Haus. Erschrocken versteckte Frederik schnell den schmutzigen Jackenärmel hinter seinem Rücken. Seine Mutter bemerkte das natürlich sofort. Sie behauptete sogar, dass sie hinten Augen hätte, wenn sich Frederik einmal öfter nicht erklären konnte, warum sie ihn bei einer Sache erwischt hatte.

„Schatz, hast du den Umzug gesehen?“ fragte Frederiks Vater und konnte sich kaum das Lachen verkneifen.

Für einen Moment von Frederiks Versteckspiel abgelenkt, sah seine Mutter ihren Mann an, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden.

„Ob ich was gesehen habe?“

Er konnte doch nicht ‚Umzug‘ gesagt haben, oder?

„Den Umzug. Frederik wollte eben von mir wissen, ob ich den Umzug gesehen habe!“

Das war wieder einmal typisch. Frederik drückte sich einmal nicht ganz so passend aus, und schon machten sich seine Eltern den ganzen Tag darüber lustig.

„Mann, ich hab‘ doch schon gesagt, dass ich den Festumzug meinte!“ maulte Frederik, eigentlich aber ganz dankbar für die Ablenkung von seinem Ärmel.

Frederiks Mutter konnte mit einem Festumzug allerdings genauso wenig anfangen wie sein Vater und konzentrierte sich daher wieder auf Frederik und auf das, was er hinter seinem Rücken verbarg.

„Was versteckst du da?“

„Nichts.“

Wenig originelle Antwort und immer bestens dazu geeignet, Mütter wütend zu machen. Nur fiel Frederik im Moment nichts Besseres ein, weil er nicht mit seiner Mutter gerechnet hatte und immer noch verwirrt war, weil es hier draußen überhaupt nichts gab, das nach einem Fest aussah.

„Zeig!“

Widerstrebend streckte Frederik seine Hand vor und zeigte seinen Ärmel. Doch nichts geschah. Kein Donnerwetter. Keine Fragen nach dem Ursprung der Sauerei.

„Sehr witzig“, meinte Frederiks Mutter. „Veralbere du mich auch noch!“

Frederik verstand gar nichts mehr. Er schaute auf seinen linken Jackenärmel, dann auch auf den rechten. Er drehte die Arme in alle Richtungen und suchte nach dem großen Fleck von der Fensterscheibe, aber da war nichts!

Einerseits war Frederik froh, dass er nun keinen Ärger wegen der Jacke bekam. Andererseits war ihm die ganze Angelegenheit etwas unheimlich. War er im Keller eingeschlafen und hatte sowohl den Umzug – also den Festumzug, ha-ha! – als auch den Fleck nur geträumt? Das gab es doch nicht, dass alles, was er im Keller eben noch gesehen hatte, hier draußen vor dem Haus auf einmal nicht mehr existierte! Frederik musste sofort wieder in den Keller zurück und nachsehen, ob er sich etwa das ganze Kellerfenster nur eingebildet hatte.

Die alte Straße

Als er in den linken Kellerraum zurückkam, fand er alles genauso vor, wie es gewesen war, als er nach oben gegangen war, um sich den Umzug anzusehen. Der Stuhl stand unter dem Fenster, ein Loch war in der Staubschicht auf der Scheibe, und als Frederik erneut auf den Stuhl stieg und hinaussah, erblickte er eine weitere Pferdekutsche. Diese fuhr jedoch in die entgegengesetzte Richtung.

War der Umzug inzwischen vorbei? Fuhren alle wieder zurück nach Hause oder woher sie gekommen waren? Aber es hatte doch überhaupt keinen Umzug gegeben! Jedenfalls nicht, solange Frederik oben nachgesehen hatte.

Frederik konnte es nicht lassen: Er zog seinen Jackenärmel bis weit über die Fingerspitzen und wischte ein wesentlich größeres Stück der staubigen Scheibe frei. Der Staub schien ja sowieso keine Flecken im Stoff zu hinterlassen. Frederik musste der Sache hier unbedingt auf den Grund gehen. War eventuell eine Art Bildschirm hinter diesem Fenster, auf dem ein alter Film aus der Zeit der Pferdekutschen gezeigt wurde? Oder ein neuer Film, der in jener Zeit spielte?

Nein, das war Quatsch. Wer würde denn einen Fernseher vor ein Kellerfenster stellen? Es hatte ja noch nicht einmal jemand damit rechnen können, dass er, Frederik, oder auch sonst jemand anderes um diese Zeit in den Keller kommen und das Fenster putzen würde. Es musste also eine andere Erklärung geben.

Wieder fuhr eine Kutsche vorbei. Ein Mann in einem weiten grauen Anzug und mit einem Hut auf dem Kopf ging einen Moment später zügig vorüber. Dann kam ihm auch noch eine Frau in einem geblümten Kleid mit einem Kinderwagen entgegen.

Das Aussehen dieser Frau war nun eindeutig zu viel! Frederiks Mutter war ja schon manchmal für seinen Geschmack zu altmodisch angezogen. Nein, eigentlich nicht richtig altmodisch, aber auch nicht ‚normal‘, so wie die Mütter seiner Freunde. Die liefen auch schon mal in Jeans und T-Shirt herum, aber Frederiks Mutter sah immer ein bisschen zu schick aus.

Die Frau dort draußen auf der Straße jedoch hatte ein Kleid an, das nicht einmal Frederiks Großmutter getragen hätte! Dazu trug sie Schuhe, wie Frederik sie noch nie gesehen hatte. Sogar ihre Frisur war komisch. Halblang und zurückgesteckt, so wie er es eigentlich nur von den kleinen Mädchen aus dem Kindergarten kannte. (Autsch, da war wieder der Gedanke an das rosa Zimmer und die Barbie-Puppen!)

Das Ulkigste von allem war dann aber doch der Kinderwagen, den die Frau schob. Die Räder waren riesig, der Wagen war aber trotzdem sehr niedrig. Es schien eine Art grauer Korb zu sein, kein Bisschen Farbe daran, kein ‚Hello Kitty‘-Dekor, ‚Spongebob‘ oder wenigstens ‚Teletubbies‘. Manche Leute hatten wirklich einen eigenartigen Geschmack. Das Kind in diesem Kinderwagen würde noch seine Freude haben!

Frederik untersuchte das Fenster, ob es sich öffnen ließ. An der rechten Seite war ein dünner Hebel, der nach oben zeigte. Frederik war darauf eingestellt, dass dieser Hebel genauso festklemmen würde wie das Schloss der Kellertür und zog sehr kräftig daran.

„Rumms!“

Der Hebel knallte nach unten, das Fenster klappte ihm entgegen, und vor lauter Schreck fiel Frederik von dem Stuhl.

„Aua!“

Frederik war sehr unsanft auf seinem Allerwertesten gelandet und hatte sich außerdem irgendwo den Kopf gestoßen. Ärgerlich murmelte er die übelsten Verwünschungen vor sich hin. Dann verstummte er plötzlich, als er von außerhalb des Kellers Geräusche hörte. Kamen die etwa von der Straße her?

Frederik stellte den Stuhl, der bei seinem Sturz umgekippt war, wieder hin und kletterte erneut darauf. Ja, jetzt, da das Fenster nur noch angeklappt war, konnte er deutlich das Klackern der Pferdehufe und die Fahrgeräusche der Kutschenräder auf der Straße hören. Ein Mädchen rannte von links nach rechts am Fenster vorbei, und er vernahm ihre Schritte genauso wie das gemurmelte Gespräch zweier erwachsener Personen, die auf der anderen Straßenseite entlangliefen. Sehr weit entfernt meinte Frederik nun sogar eine alte Autohupe auszumachen.

Wie gebannt lauschte Frederik all diesen Geräuschen, von denen fast alle aus einer vergangenen Zeit zu stammen schienen. Ganz klar, hier musste sich irgendjemand einen Witz mit ihm erlauben! Eine andere Erklärung konnte es doch nicht geben.

Oder?

Frederik durfte es nicht auf sich sitzen lassen, auf so einen billigen Trick wie einen Fernseher vor einem Fenster hereinzufallen. Er war schließlich kein Blödmann, dem man weismachen konnte, dass vor einem Kellerfenster Menschen, Tiere und Fahrzeuge aus einer anderen Zeit existierten! Er versuchte, das Fenster ganz zu öffnen.

„Uuhhh“, würgte Frederik hervor, kaum dass er das Fenster aufbekommen hatte.

Offenbar hatte in unmittelbarer Nähe ein Pferd einen Haufen Äpfel fallen gelassen, und der Gestank wehte nun natürlich in Frederiks Richtung.

Halt mal! Das war doch nicht möglich!

Bilder – okay. Geräusche – auch okay. Das ließ sich alles machen, um jemanden auf den Arm zu nehmen. Aber wie um alles in der Welt konnte jemand so verrückt sein und sogar frische Pferdeäpfel vor ein Kellerfenster legen, nur um jemandem einen Streich zu spielen?

Frederik beugte sich vor, um seinen Kopf aus dem Fenster zu strecken. Als seine Stirn den Fensterrahmen passierte, war es ihm, als überquerte er eine unsichtbare Grenze. Er hätte nicht beschreiben können, wie es sich genau anfühlte, doch es erinnerte ihn ein wenig daran, durch eine Drehtür in ein Kaufhaus zu gehen.

Frederik war dabei jedes Mal etwas angespannt, seitdem er einmal fast zwischen den drehenden Scheiben eingeklemmt worden war. Er hatte nicht auf die Tür, sondern auf die Spielsachen im Schaufenster daneben geachtet. An das Theater, das seine Mutter damals gemacht hatte, konnte sich Frederik heute noch gut erinnern, obwohl das Ganze über fünf Jahre her war.

Seine Mutter wäre wahrscheinlich begeistert gewesen, wenn sie geahnt hätte, welchen bleibenden Eindruck ihre Erziehungsmaßnahme auf ihren Sohn gemacht hatte. Frederik selbst war nicht ganz so begeistert von der lebendigen Erinnerung. Auf das mulmige Gefühl, das er jedes Mal beim Betreten einer Drehtür verspürte, hätte er gern verzichtet.

Der Übergang von drinnen nach draußen durch dieses Kellerfenster fühlte sich sehr ähnlich an. Vielleicht lag das aber auch daran, dass Frederik sich nicht ganz sicher war, ob sich das Fenster nicht jeden Moment von allein schließen würde – mit seinem Hals dazwischen.

Mit dem Kopf auf der Außenseite des Fensters konnte Frederik nun ein gutes Stück der Straße erkennen. Kleine, ländlich aussehende Häuser standen auf beiden Seiten, davor vereinzelt Laubbäume. Autos waren überhaupt nicht zu sehen, dafür aber in unregelmäßigen Abständen ‚verdächtige‘ Haufen auf der Straße. Die Straße selbst war nicht asphaltiert, sondern mit Kopfsteinen gepflastert. Zumindest in der Mitte, wo die Kutschen fuhren. Gepflasterte Gehwege gab es nicht, sondern einfach nur einen Streifen festgetretener Erde.

Die Sonne schien, und man konnte in den Baumkronen Vögel zwitschern hören. Neben dem durchdringenden Geruch von Pferdeäpfeln konnte Frederik auch noch Blumenduft und Kochdünste unterscheiden. Alles in allem gefiel Frederik die Aussicht sehr gut, und er blickte sich nach allen Seiten um, gespannt darauf, was es noch alles Tolles zu sehen gab.

Mit einem Schlag wurde Frederik klar, was er da gerade betrachtete. Dies war kein Foto aus vergangenen Tagen in einem Fotoalbum oder in einem Schulbuch. Dies war auch kein Spielfilm, der in früherer Zeit spielte.

Dies war eine richtige Straße mit allem, was dazu gehörte. Mit Vordergrund und Hintergrund, mit Geräuschen und Gerüchen und – Frederik zog seine Hand durch das Fenster und tippte mit dem Zeigefinger beinahe andächtig auf den festen Boden des Gehwegs direkt vor seinem Gesicht – das alles zum Anfassen!

Doch Frederik war vor wenigen Minuten ganz um das Haus herumgelaufen. Da hatte es überhaupt keine Straße mit Kopfsteinpflaster gegeben. Die Straße vor dem Haus war asphaltiert, und hinter dem Haus, da wo er nun hinschaute, lag der Garten!

Frederik begriff plötzlich, wie alles zusammenhing.

Es gab keinen Zweifel – dieses Kellerfenster musste ein Tor in die Vergangenheit sein. Und das Beste daran war: Er, Frederik Schmidt, hatte es entdeckt, und nur er allein wusste davon! Frederik fühlte sich wie ein Lottogewinner, und zum ersten Mal seit Stunden gefiel ihm das neue Haus ausnehmend gut. Ihm war auf einmal sogar die rosa Farbe in seinem Zimmer egal.

Mittagspause

Frederik zog seinen Kopf wieder zurück durch das Fenster. Er musste sich erst einmal sammeln und richtig begreifen, was er soeben entdeckt hatte. Doch da wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen. Vom Flur aus hörte er seine Eltern ungeduldig nach ihm rufen:

„Frederik! Wo steckst du denn, zum Donnerwetter?!“

Das war sein Vater. Wie es schien, hatte er ihn nicht zum ersten Mal gerufen. Auch seine Mutter klang reichlich genervt, als sie schimpfte:

„Wenn du nicht in zehn Sekunden hier auftauchst, fahren wir ohne dich in die Pizzeria!“

Oh, das durfte Frederik auf keinen Fall riskieren. Hastig schloss er das Fenster und beeilte sich, die Kellertreppe nach oben zu steigen. Eben hatte er die Kellertür hinter sich abgeschlossen, da hörte er seine Mutter vor dem Haus zu seinem Vater sagen:

„Also, mir reicht es jetzt. Wenn er bocken will, weil ihm seine Tapete nicht passt, dann: ‚Bitte sehr!‘ Ich schreie mir doch hier nicht die Lunge aus dem Hals. Er muss uns ja wohl gehört haben; wir rufen jetzt seit zehn Minuten. Ich habe Hunger, lass uns fahren.“

Doch Frederiks Vater antwortete:

„Meinst du, er bockt? Er hatte doch vorhin anscheinend wieder ganz gute Laune, als er diesen Unsinn mit dem Festumzug geredet hat. Vielleicht hat er uns nur nicht gehört.“

Frederiks Mutter seufzte.

„Also schön, dann gehe ich halt nach oben und hole seine Majestät persönlich aus seinem Zimmer ab. Allmählich habe ich aber wirklich die Nase voll. Wir rackern uns hier mit dem Umzug ab, und er hat nur Sonderwünsche und braucht auch noch eine Extra-Einladung.“